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RELA
TIONS
Inhalt
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RELATIONS
Literarisches Magazin
Zeitschrift der Kroatischen
Schriftstellervereinigung
1-2/2009
Das Wort des Redakteurs
Herausgeber
Kroatische Schriftstellervereinigung
Marina [ur Puhlovski
..............................................................................................................................................................
3
................................................................................................................................................................................................
7
JANUAR
Schlaflosigkeit
Redaktion
¹ Chefredakteurº
FEBRUAR
Roman Simi} Bodro`i}
Ivan Rogi} Nehajev
¹ Redakteurinº
Auszüge aus dem glagolitischen Fundus
Jadranka Pintari}
.......................................................................................................................
27
a A Z ¿ (A) ¹27º; E E S T ¿ (E) ¹28º; I I (I) ¹29º; S S L O V O (S) ¹30º;
U U K ¿ (U) ¹31º; O o n ¿ (O) ¹32º; D D O B R O (D) ¹33º; V v e d e (V)
¹34º; L LJ U D I E (L) ¹35º
Lektur / Korrektur
Marijana Mili~evi}
Redaktionsadresse
MÄRZ
Kroatische Schriftstellervereinigung
Basari~ekova 24
Tel.: (+385 1) 48 76 463
Fax: (+385 1) 48 70 186
Ratko Cvetni}
www.hdpisaca.org
[email protected]
APRIL
März
.........................................................................................................................................................................................................................
Aida Bagi}
Wenn ich Sylvia heiße
Preis 15 3
39
........................................................................................................................................................................
53
Proustische Zeiten ¹53º; Das Plakat ¹54º; „Es ist in der Tradition der
russischen Literatur, ¹54º; Es blitzte die ganze Nacht. Und es donnerte, ¹54º;
Und doch habe ich einmal auf dem Asphalt gesessen, ¹55º; Vanja sagt, ¹55º;
Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen ¹56º; Im Spiegel ¹56º; draußen ist es
besser ¹57º; meer angst und sturm ¹57º; vom backofen und von turteltauben
¹58º; nach dem regen, die conquista ¹59º; und tagelang übte ich auf den zehen
¹60º; häufigkeit des geschlechtsverkehrs ¹61º; natürliche methoden ¹62º; die
spinnräder drehen sich schnell ¹63º; geometrie des raumes, den ich bewohne II
¹64º; gedächtnisschwund ist kein gebrechen ¹65º; dysthymie ¹66º; ich würde
lieber wachsen ¹67º
Umschlag
„Crtaona“, Ivona \ogi} \uri}
Prepress
Kre{o Tur~inovi}
Gedruckt in Kroatien bei
„Profil“, Zagreb
ISSN 1334-6768
MAI
Die Zeitschrift wird vom Ministerium
für Kultur der Republik Kroatien und
vom städtischen Fond der Stadt Zagreb
finanziell unterstützt.
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Neven U{umovi}
Der Mohnsamen ........................................................................................................................................................................................
Vere{ ..........................................................................................................................................................................................................................
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Inhalt
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JUNI
Ma{a Kolanovi}
Die Traumhochzeit
...............................................................................................................................................................................................................................................................................
83
JULI
Bekim Sejranovi}
Nirgendwo, von nirgendwo her
.............................................................................................................................................................................................................................................
93
Licht im Haus ..............................................................................................................................................................................................................................................................................................
Ich sag es dir, wenn wir da sind ............................................................................................................................................................................................................................................
107
114
AUGUST
Damir Karaka{
SEPTEMBER
Vesna Biga
Poesie
.......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................
121
Morgenkinder ¹121º; In einem Zug ¹122º; Zehn verrostete Nägelchen ¹122º; Mein erster Satan ¹123º; Engel der
Schnelle ¹124º; Ich sah einen Menschen, der den Mond nicht sah ¹124º; Bonsai ZOO ¹125º; Neujahrsbaum in
der Pension Dr. Gaber ¹126º; Kindheitsübung ¹127º; Umfassend ¹127º; Dinge in Palermo ¹128º; Er, ich ¹128º;
Waldmensch ¹129º; Den Punkt schlagen ¹129º; Die Karte Kalabriens ¹130º
OKTOBER
Zvonko Todorovski
Die Winde Lampedusas ¹Abenteuerroman über das Leben der Seefahrerº
.........................................................................................................................
133
Ein konsequenter Gottloser ..........................................................................................................................................................................................................................................................
Memoiren über den Keim der Unsicherheit ¹oder der Komplex kleiner Völkerº ........................................................................................................
153
156
NOVEMBER
Igor Rajki
DEZEMBER
Boris Peri}
Der D’Annunzio Code ¹Romanauszugº ..................................................................................................................................................................................................................
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Naslov
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Das Wort des Redakteurs
Verehrter Leser,
vor euch liegt der zweite Teil des
Projekts Kalender der kroatischen
Literatur.
Auch dieses Mal steht hinter jedem
Monat ein Schriftsteller und hinter
dem Jahr stehen Mini-Porträts der
Zwölf, der Prosaisten und Dichter,
die – der Meinung sind wir – dem
kroatischen Literaturjahr 2009 ihr
Zeichen aufsetzen werden.
Was das Konzept angeht, so haben
wir nicht viel geändert. Die Reaktionen auf die letztjährige „Kalenderausgabe“ haben bestätigt, worauf wir
gehofft hatten – Pirelli liegt noch in
leiser Führung im Bezug auf Masse,
aber die Klasse, die Relations letztes
Jahr an den Tag gelegt hat, ging nicht
unbemerkt vorüber: Es ist daher nicht
weiter verwunderlich, dass sowohl
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die einen als auch die anderen (wenigstens noch ein kleines bisschen)
erprobte Formel und Kriterien beibehalten haben.
Was Relations angeht – unsere zwölf
Gesichter stellen auch dieses Mal
Autoren dar, dessen Werke nicht ins
Deutsche übersetzt sind und ohne
die die Darstellung der kroatischen
Literatur schwerlich komplett sein
kann. Sie sind Dichter und Prosaisten; poetisch und generationsmäßig
unterschiedlich, manchmal auch diametral gegensätzlicher literarischer
Interessen – und obwohl sie in diese
Auswahl aus unterschiedlichen Ecken
der kroatischen Literaturszene gelangten, gemeinsam haben sie, dass
sie dieser Szene mit ihrer Arbeit Lebendigkeit und Qualität verleihen.
Das, was wir ihnen mit diesem Pro-
jekt zu verleihen versuchen, ist – ein
Gesicht.
In der Hoffnung, dass euch die Gesichter der kroatischen Literatur und
das Jahr, dass sie präsentieren, gefallen werden, bleibt uns nur, uns bei
denen zu bedanken, ohne die es diesen ungewöhnlichen Kalender nicht
gäbe: den Übersetzern und Fotografen. Danke noch einmal an Marijana
Mili~evi}, Boris Peri}, Bla`ena Radas
und Silvija Sladi}, die die Texte der
kroatischen Schriftsteller ins Deutsche übersetzt haben, sowie an Martina Kenja, die den Texten ein Gesicht gab, ohne ihnen die Seele zu
rauben.
Wir wünschen euch alles Gute im
Jahr 2009!
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MARINA [UR PUHLOVSKI (1948, Zagreb) schreibt Romane, Erzählungen, Prosagedichte, Reiseberichte, Essays, Kurzgeschichten. Sie besuchte in Zagreb die Schule und beschloss dort ihre Ausbildung mit dem Diplom für vergleichende
Literaturwissenschaften und Philosophie an der Philosophischen Fakultät. Eine Zeit lang war sie als Journalistin tätig und
schrieb Literaturkritiken, aber kurz darauf widmete sie sich völlig dem Schreiben.
Sie veröffentlichte die Romane Die Trojanische Stute („Trojanska kobila“, 1991, zweite Auflage 2006), Der Nichtsnutz
(„Ni{tarija“, 1999), Schlaflosigkeit („Nesanica“, 2007); die Erzählsammlungen Der Hase auf dem Dachboden („Zec na
tavanu“, 1996), Das geheime Leben („Tajni `ivot“, 1997), Die Geschichte von der ehemaligen Sängerin..., („Pripovijest o
biv{oj pjeva~ici...,“, 2000), Unter dem Tisch („Ispod stola“, 2001), Die Goldbrasse („Orada“, 2002); die Prosagediche
Eingekerkertes Wissen („Zato~eno znanje“, 1998); die Reiseprosa Notizen von den Knien („Zapisi s koljena“, 2002),
Aufzeichnungen außerhalb des Tagebuches („Izvandnevni~ki zapisi“, 2003), Neue Notizen von den Knien („Novi zapisi s
koljena“, 2008), sowie eine Sammlung von Essays mit dem Titel Antiglossar („Antipojmovnik“, 2005).
Den Roman Schlaflosigkeit erzählt die Heldin Sofija, eine 57-jährige Schriftstellerin, gut situierte Zagreberin, verheiratet
und Mutter einer erwachsenen Tochter, mit einem gewissen Literaturopus hinter sich, der sie zwar nicht berühmt gemacht
hat, aber mit dem sie sich in großem Maße verwirklichen und Selbstbewusstsein erlangen konnte. Jedoch im Augenblick,
als sie beginnt, die Schlaflosigkeit zu schreiben, dessen Erzählspanne von spätabends bis frühmorgens, in einer Nacht, bis
kurz vor Morgengrauen, stattfindet, als sie leicht von Bedrücktheit und Kränklichkeit übermannt wird, die auch die durch
Alkoholismus verursachte Schlaflosigkeit potenziert, „stimmt“ ihr Leben nicht mehr: Sie muss einen Großputz des Lebens
vornehmen und ihre Illusionen wegwerfen. Dabei suchen sie alle Geister ihrer Vorfahren heim, so dass sich ihre Inventur
in eine Inventur des gesamten Stammbaums verwandelt.
Um einen Gedankenfluss-Effekt zu erzielen, bemühte sich die Autorin, ihren Stil auzuarbeiten, zu schleifen und zu feilen,
verzichtete auf überflüssige Interpunktion, beschwor Gedanken in einer assoziativen (die nicht immer auch eine logische
ist!) Folge, verfiel in (gesprächliche) Digressionen und wiederholte Refrains (auch um die Aufmerksamkeit der Leser
aufrecht zu erhalten).
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Marina [ur Puhlovski
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Schlaflosigkeit
Marina [ur Puhlovski
S
... eit meinem zehnten Lebensjahr
war ich immer in jemanden verliebt,
ich erinnere mich, fast gerührt, es
waren ja doch angenehme Zeiten,
als man träumte und sich was vorstellte, aber zum Genießen brauche
ich eine Frau und keinen Mann, keine schwachen Feiglinge, wie meine
Cousine, die sich lange vor mir entjungfern lässt, weil es ihr an Fantasie
mangelt und sie sich mit nichts aushelfen kann, nichts hat, womit sie
den Mann ersetzen kann, sie muss
ihn in sich lassen, und die mir mit
zwanzig Jahren, schon verheiratet
und Mutter, erklären wird, dass man
in „einer Ehe nur am Anfang genießt, später ist das nichts“, also ein
ständiges Nichts, wenn du keine Hure
bist, ich brauche jemanden, der so
couragiert ist wie ich und den der
Körper so verrückt gemacht hat, dass
er entzweit ist, also finde ich meine
nächste Partnerin in meiner Nachbarin Nata{a, befreundet schon seit
der Vorschule, seit der Kinderherberge, der gleiche runde Tisch ewig
voll geckleckert mit etwas, ewig klebrig, ohne Tischtuch, und Teller, die
mit Fleisch und Eintopf gefüllt werden, obwohl noch nicht einmal die
Suppe aufgegessen wurde, die gleiche
Pulvermilch in Wasser, vermischt
mit Zucker, Zichorie und Caro, zum
Erbrechen, Margarine, gelber Käse,
das immer gleiche gestrige Brot, was
wir alle trinken und essen, was nur
Nata{a ablehnt, sie und ihre Schwes-
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ter Mina, so dass beide Haut und
Knochen sind, wie man auf gemeinsamen Fotos von Vis sehen kann,
eine Insel am Ende der Welt, eine
ganze Tagesreise, zuerst mit dem Zug,
panierte Hähnchenschlegel, Tomaten und Kekse essend, dann mit dem
Schiff, wo wir mit der „Kollonie“ die
Sommer verbringen, in einer Kaserne im Wald, einem gepflegten, dichten Kiefernwald, ich habe sie unlängst
gesehen, diese Kaserne im Wald,
ganz dornenverwuchert, wie Dornröschens Burg, außer Betrieb noch
seit dem Unabhängigkeitskrieg, wir
schlafen auf dem Boden auf Strohsäcken, die wir von zu Hause mitgebracht haben und wo mich Nata{a
zum ersten Mal schief angesehen hat,
weil ich ständig nach der Mutter
weinend, von der ich behaupte, dass
sie „tot“ sei, „Wenn sie leben würde“, erzähle ich, „würde sich meine
Mutter bei mir melden“, das Mitgefühl der Herbergsdirektorin erweckt
habe, einer rassigen, dunklen Schönheit, mit schwarzem weichem Blick,
ein großer Haarknoten im Nacken,
deren Namen ich vergessen habe, an
Lelas erinnere ich mich, aber an ihren
nicht, das Paradox vom Nirgends,
die ich schon früher in Zagreb mit
dem Satz für mich eingenommen
habe, der während eines Gruppengesprächs am Montagmorgen ausgesprochen wurde und der mit der
Frage eröffnet wurde „Was haben
wir am Sonntag gemacht?“, und der
lautete „Ich mag keine Sonntage.
Dann nimmt mich mein Papa bei der
Hand und wir gehen von Neipe zu
Neipe“, ich habe nicht gesagt, dass ich
seine Gläser zähle, auf Mutters Geheiß, „drei und kein einziges mehr“,
und dass ich ihn Mutter verrate,
wenn er sich auch ein viertes genehmigt, trotz Bestechung mit Eiscreme
und Himbeersaft, wir nehmen alles,
aber wir betrügen Mutter nicht, „So
ein ehrliches Kind ist mir noch nicht
untergekommen“, sagt die Mutter
zur Direktorin, seitdem bin ich ihr
Liebling, ich, Sofija, zum ersten und
letzten Mal, und auf Vis erlässt sie
mir den täglichen Nachmittagsschlaf,
das Vortäuschen von Schlafen unter
der ewig aktiven Rute von Tante
Lela, und bringt mich in der Zeit in
ihr Büro mit Blick auf den Wald, wo
sie mich mit Keksen und Himbeersaft bewirtet und mit mir gemeinsam
einen Brief für die Mutter aufsezt,
die mir anwortet, sie lebt, ist gesund,
denkt an ihre Tochter, Gott sei dank,
wonach wir ihr wieder schreiben, jeden Nachmittag, ein Privileg, das
Nata{a auf keinen Fall ertragen kann,
als ob ich mir eigentlich etwas angeeignet habe, das ihr gehört, ebenso
wie das Herausreißen von Knöpfen
an den Mänteln, die im Gang der
Kinderherberge hängen, „Warum machen sie das?“, wunderte sich mein
Vater, denn Knöpfe braucht doch
niemand, das sind keine Murmeln,
„Das ist wegen der Pulvermilch und
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Januar
dem Eintopf in der Suppe, wegen
der Rute von Tante Lela“, antworte
ich ihm wortlos heute, ein halbes
Jahrhundert später, in dieser Nacht
meiner Schlaftlosigkeit, ich, eine Siebenundfünfzigjährige, die trinkt, wie
ihr Vater, den sie hasste, in der ersten Klasse sitzen wir in der gleichen
Bank, wir, die Verbündeten aus der
Kinderherberge, erste Buchstaben,
dünner, dicker, wir schreiben mit der
Feder, die wir in das in die Bank
eingebaute Tintenfass tauchen, Nata{a schreibt besser als ich, eine angelernte Rechtshändige, wie sich vierzig Jahre später zeigen wird, als ich
mich an den Computer setze, während meines Aufenthalts auf Brioni
regelmäßiger Briefwechsel, aber Umgang nur im Frühling und Winter,
Nata{a besucht mich nicht auf Brioni, weil ihr Vater „Sträfling auf Goli1
war“, wie ich von meinen Eltern gehört hatte, wie sie von uns Kindern
zu hören bekommt, wenn wir uns
wegen etwas kabbeln, wegen diesem
Vater ist Nata{a nichts, ebenso wie
ich nichts bin, weil mein Vater ein
Säufer ist, „Dein Vater war auf Goli
otok!“, „Und dein Vater ist ein Säufer!“, werfen wir uns bei Schlägereien an den Kopf, im Hof oder vor
dem Haus, es gibt noch keinen Verkehr, die Straße gehört uns, jeden
Tag Spielen bis zum Dunkelwerden,
wenn sie uns von den Fenstern oder
Balkonen nach Hause rufen, uns
Glückliche, wir haben keine Ahnung,
was Goli otok ist, oder was ein Säufer
ist, wissen wir eigentlich auch nicht,
wir wissen nur, dass es etwas Schimpfliches ist, sowohl Sträfling als auch
Säufer, was den anderen zu einem
wirklichen Taugenichts macht, und
uns gleich mit, ihr Vater ist Montenegriner, aufgerichtetes Schweigen,
so wie die Mutter, dunkle schlanke
Menschen, die mit niemandem verkehren und vom Umzug nach Belgrad träumen, in die Hauptstadt, so
1
weit wie möglich aus dieser Stadt, in
die sie nach dem Krieg gekommen
sind, aufrecht, aus dem Wald, und
wo sie später vernichtet wurden, obwohl nicht tödlich, wenigstens das,
tödlich vernichtet werden sie in Belgrad, was sie noch nicht wissen, die
Töchter sind dunkeläugige und dunkelhaarige Schönheiten mit weißer
Haut, besonders die ältere, Nata{a,
mit allen Merkmalen ihrer montenegrinischen Rasse, bei der jüngeren
Schwester Mina ist die Rasse schon
etwas abgeschwächt, auf Vis tragen
beide noch geflochtene Zöpfe um
den Kopf gewickelt, damit man einen Korb auf den Kopf stellen kann,
wie es ihnen ihre Mutter beigebracht
hat, später wird man Mina das Haar
bis zu den Ohren abschneiden, eine
Prinz-Eisenherz-Frisur, Nata{a niemals, denn die Rasse in ihr ist stark,
niemand traut sich, sie anzurühren,
nur das Schiksal, sie wird es dicht
und glänzend, im Pferdeschwanz gebunden tragen, nach der Rückkehr
von Brioni wieder die selbe Klasse,
die selbe Bank, fünfte Klasse, sechste, als wir begonnen haben, uns zu
verändern, wie ich begreife, als ich
neben ihr in der Bank sitze, auf der
Straße in Spielen, Ball, Brennball,
gemeinschaftliche Spiele, heute verschwunden, zusammen mit den Höfen und Straßen, „Wer hat Angst
vorm schwarzen Mann“, „Blindekuh“, „Himmel und Hölle“, „Fischer,
Fischer, wie tief ist das Wasser“, was
auch meine Mutter gespielt hat in
ihrem Hof in der Klai}-Straße, wo
wir als Kind wohnen, wir, Slavica,
keine zehn Minuten zu Fuß von der
Ka~i}-Straße, in der wir geboren wurden, wenn wir die Mutterschaft unserer Amme, der [inkova-Straße, nicht
anerkennen und der Druga-Pavlova-Straße, wohin wir über die Heirat
gelangten, das ganze Leben im Rahmen von ein paar Straßen, bis uns
die Tochter von hier umgesiedelt hat,
wenn ich Mutter nicht umgesiedelt
hätte, würde sie vielleicht noch leben,
sage ich manchmal zu mir selbst, als
ob ich sie mit diesem Umzug getötet
hätte, obwohl ich es nicht getan habe,
das Schicksal hat sie getötet, diese
weiße dunkelhaarige Nata{a war das,
was ich brauche, ein Gesicht mit perfekten Wangenknochen und einem
perfekten Oval, gerade Nase und gewölbte Lippen, als ob sie mit Silikon
aufgefüllt worden wären, von Natur
aus rot, runde weiße Stirn, dichte,
ein bisschen zusammengewachsene
Augenbrauen, heute noch kann ich
sie auf Fotos nicht genug bewundern,
eine Schauspielerin, keine Frau, der
Höhepunkt eines Typs, also locke
ich sie, wie auch die Cousine, in das
Netz meiner Lust, sie und noch ein
Dutzend Mädchen, alle aus den Gebäuden in der Straße, ich habe keine
Ahnung, wie ich das gemacht habe,
mit welcher Geschichte und Intrigen, wie das begonnen hat, ich war
dreißig, als ich das zum ersten Mal
jemandem erwähnte, und dann auch
nicht ausführlich...
„Warum schreibst du nicht darüber?“,
wunderte sich ein Freund, mein einziger, ein Schriftsteller ohne Schrift,
der angefangen hat zu trinken, begeistert von dieser Geschichte, erzählt auf der Straße vor dem Haus,
in dem das alles passiert ist, dem
neben meinem, mit der Hausnummer fünf, einst Eigentum von Viktor
Kova~evi}, entschwunden in der Irrenanstalt, einem gewöhnlichen Haus
und die Bewohner augenscheinlich
gewöhnlich, obwohl es solche nicht
gibt, außer in Worten, „Weil wir mit
dreißig keine Courage hatten“, antworte ich ihm heute, mit siebenundfünfzig, als alle Heiligtümer abgekrazt
sind, dem Gott sei dank, weil sie
sowieso alle falsch waren, keine Ahnung, was ich ihm mit dreißig geantwortet habe, wahrscheinlich habe
ich mich herausgeredet...
Abkürzung für die Insel Goli otok (die nackte Insel), auf der sich zur Zeit Jugoslawiens ein Strafgefangenenlager befand.
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TIONS
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Marina [ur Puhlovski
...Wir trafen uns bei Nata{a, wir, die
Mädchen aus der Straße, nur aus der
Straße, nicht aus der Schule, außer
mir und Nata{a, nicht auch meine
Cousine, schon abgeschrieben, wir
versammelten uns in ihrer Wohnung, im Haus neben meinem, im
zweiten Stock, in der Wohnung mit
identischer Raumaufteilung wie in
meiner, nur heller, doch auch in diesem Licht einer dunklen, denn die
Zimmer in den Wohnungen sind
nach Norden gewandt, nicht Licht
kennzeichnet sie, sondern Schatten,
von dem ich jahrelang weglaufe auf
die andere Seite, die südliche, die
Pflanze in mir will ohne Licht verenden, und ohne die Pflanze nichts,
alles soll sein, was wir sind und was
wir waren, und wir waren alles, der
Stein und die Pflanze und das Tier,
bevor wir all das wurden, was wir
jetzt sind, vergewissern uns einige,
und uns scheint das glaubhaft, bei
Nata{a treffen wir uns, wenn niemand zu Hause ist, Nata{as Eltern
arbeiten, alle müssen arbeiten, damit
die Minderheit bequem leben kann,
worüber sie keine Ahnung haben, die
Naivlinge glauben, dass sie sich für
sich opfern, wie sie das Nirgends
überzeugte, beziehungsweise seine
Besitzer, Mina ist in der Schule, sie
ist nicht dabei, vielleicht hat sie Nata{a mit einem Trick aus dem Haus
geschickt, wer weiß das schon, Leidenschaften sind immer einfallsreich,
wir sammeln uns zum „Arzt und Patient“ Spiel, wie wir es nennen, eingepfercht in der halbdunklen Halle,
in die die einzige Helligkeit durch
das Oberlicht eindringt, voll mit
angehäufem Müll, von dem wir uns
mit einem Vorhang wehren, alle Bewohner gleichermaßen, für den Anfang verteilen wir die Rollen der Ärzte und der Patientinnen, jedem Arzt
seine Patientin, wer einmal Arzt war,
der Mann, ist beim nächsten Mal
Patientin, die Frau, Veränderungen
sind Gesetz, ebenso wie die gerade
Zahl der Anwesenden, sonst wäre
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eine von uns übrig geblieben, wir
wissen noch nicht, dass am Verkehr
drei teilnehmen können, obwohl in
der Schule ein Bild mit einer Pyramide von Körpern, die miteinander
durch Paaren verbunden sind, die
Runde machte, De Sade und die Libertins, weiß heute meine Belesenheit, ein Schmutz, den ich sofort
weitergeleitet, nie vergessen habe,
manchmal kabbeln wir uns, wenn
jemand einen anderen will, nicht
den, der ihm zugeteilt wurde, bis wir
zur Wahl durch Auslosung übergegangen sind, die Gerechtigkeit des
Zufalls, vor der wir uns alle verneigen, wie es das Nirgends verlangt,
ich will jedes Mal Nata{a, aber ich
kann sie nicht bekommen, ich muss
mich mit einer anderen begnügen,
alle Namen habe ich vergessen, sogar
ihre Gesichter, von diesen Seancen
erinnere ich mich nur an Nata{a, jedes Mal will ich nur Nata{a und will
der Arzt sein, der Mann, aber es geht
nicht, sie lassen sich nicht manipulieren, die Biester, also muss ich mich
unterwerfen, die Frau sein, die Patientinnen ziehen sich zuerst aus, während die Ärzte noch angekleidet sind
und ihre Körper untersuchen, sogar
im Spiel sind Frauen die Opfer, so
viel wissen wir schon vom Leben,
die Männer herrschen und die Frauen müssen gehorchen, der Stärkere
muss dem Schwächeren gehorchen,
sonst wäre das Gleichgewicht angeschlagen, die Männer würden gleich
bei der Geburt mit einem gebrochenen Bein enden, alle verkrüppelt,
damit sie sich nichts einbilden, wie
in Griechenland in Zeiten der dreifaltigen Göttin, behauptet Graves,
und wir plappern es ihm nach, über
Krüppel lässt sich Herrschaft ausüben, unhaltbar auf zwei gesunden
Männerbeinen, deshalb brechen wir
sie, und wenn sie seinen Knüppel
braucht, legt ihn die Amazone einfach flach in die Bodenfurche, besteigt ihn, saugt ihn leer und nimmt
sich seinen Samen, wonach die Tren-
9
nung erfolgt, Krüppel, marsch zur
Arbeit und wir werden herrschen,
war einmal und ist nicht mehr, weil
nach den Krüppeln die Helden auftauchten, seitdem ist die Frau auf dem
Rücken, „Wo haben Sie Schmerzen?“, „Hier?“, fragen sie, betasten
ihre Brüste, dann den Bauch, rate
ich, denn ich erinnere mich an nichts,
nur an Körper, aufgetürmt im Halbdunkel der Halle, an ihr Weiß, den
intensiven Schweiß und unordentlich herumliegende Kleidungsstücke, dann immer tiefer, zuerst zögerlich, mit den Fingern über ihre erregte Haut gleitend, die noch sauber
ist, von unbestimmter Form, weder
Mann noch Frau, Frau werden wir
erst noch, dann beginnen sie sie fester anzupacken, wie richtige Herren
und Meister, quetschen ihre Brüste,
küssen sie, beißen sie, stecken endlich die Finger zwischen ihre Beine,
wo es feucht ist, reiben sie unten mit
ihren lüsternen Fingern, die noch
nicht ausgewachsen und nie sauber
sind, die schmutzigen Nägelchen
sind ununterbrochen in der Nase,
alle vor allen, was uns alle zusammen
aufgeilt, die Orgie steckt uns im Blut,
wenn man uns nicht hemmen würde,
würden wir alle Orgien feiern, denn
es ist möglich, jeder mit jedem, Erwachsene, Kinder, Tiere, im nirgendlichen Fest des Fleisches, wie es De
Sade schon längst bewiesen hat und
die vereinigte königliche Clique aller Rassen, von der schokoladigen
bis zur rosafarbenen und, wie heute
Filme und Bücher beweisen, nicht
nur die pornographischen, wir haben uns nach Jahrhunderten des Versteckens dazu ermannt, den Dreck
aus unseren Köpfen in die Welt zu
schütten, wir, schiere Möglichkeiten, während sie das tun, dürfen die
Patientinnen sie nicht anfassen, sie
müssen sich zurückhalten, das vergrößert den Genuss, die Ärzte küssen die vor Verlangen schon Wahnsinnigen, bis auch sie sich endlich
ausziehen, wir sind alle nackt, aber
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Januar
wir haben auch weiterhin unsere
Rollen, das sind wir nicht, Gott behüte, das ist alles ein Spiel, Schauspielerei, wie man in Filmen schauspielert, das ist ein Film, keine Wirklichkeit, wenn es Wirklichkeit wäre,
würden wir alle vor Scham sterben,
wir Zwölfjährigen, noch steht Keuschheit hoch im Kurs, alles andere sind
Möglichkeiten...
...Wenn die Ärzte sich ausziehen, stürzen sich die Patientinnen auf sie, ich
erinnere mich, die Bilder tauchen
vor meinen Augen wie aus einem
Nebel aus, in dem sie wieder ertrinken ohne scharf zu werden, jetzt küssen sie sie, quetschen, drücken ihre
frisch gewachsenen Büsche, diese Haare sind über Nacht erschienen, ebenso
wie die unter den Achseln, gewachsen wie Gras nach dem Regen, verflucht sollen sie sein, das Drücken ist
noch der Kern unserer noch ungelernten Berührungen, wir fassen dorthin,
wo der Genuss zu spüren ist, das
Spiel wird gegenseitig, die Paare erregen einander gleichzeitig, liegen
sich in den Armen, tanzen alles quetschend, was zu quetschen ist, küssen
sich in den Mund, und vielleicht
auch woandershin, auf Stühlen oder
dem Boden, hier gibt es kein Bett,
und die Zimmer sind uns verboten,
wir dürfen die Betten nicht entweihen, nicht einmal Nata{as, immer
eine Grenze, in allem, das ist der
Grundstein der Gesellschaft, du bist
erst dort grenzenlos, wohin du niemals
hingehst, weil sie es dir nicht beigebracht haben, aus böser Absicht, um
dich benuzten zu können, innerhalb
deiner selbst bist du nur für den anderen wichtig und das nur in Bewegung, nicht in deinem Ruhen, im
Ruhen bist du ein Verfluchter, der
gegen die Gesellschaft agiert, deshalb
marsch zur Arbeit für alles, was du
brauchst und nicht brauchst, und zur
Erholung renne, schwimme, dehne
2
dich, leg dir Muskeln zu, saufe, nimm
Drogen, ewige Aktivität, damit wir
ja nicht dahinter kommen, bis jede
von uns ihre Lust befriedigt hat, wie
dieser Zustand heißt, klar, falsch,
denn alle Worte sind falsch, etwas
Fabelhaftes solange es dauert, denn
endlich verlassen wir uns selbst, unsere Maske, den Lebenskerker von
Nirgends, zum ersten Mal frei, wenigstens für einen Augenblick, frei
vom anderen, nur uns selbst gehörend, doch ohne uns, denn darin liegt
der Witz, nicht zu sein, was du bist,
nur das Ich ohne irgendwas, ohne
Geschlecht und Namen, und ekelhaft, wenn es vorbei ist, weil wir zurück mussten ins Nirgends, in Lügen und Beziehungen, von denen wir
nicht einmal den Namen wissen, einen falschen, wie alle Namen sind,
Worte sind hier, um uns zu verstecken, nicht um uns zu entlarven, wir
wissen nur, dass „es“ passiert, dass
wir „es“ mithilfe unserer Körper hervorlocken können und dass wir bereit sind, uns für „es“ zu opfern, uns
der Angst preiszugeben, den Gewissensbissen, der Verurteilung und der
Strafe, ich erinnere mich an das düstere Ende dieser Orgien, jedes Mal
das gleiche...
...Wir befürchten alle, entdeckt zu
werden und fühlen uns schuldig, wir
Zwölfjährigen, geboren Mitte des letzten Jahrhunderts, Kinder der Nachkriegszeit und neu erdachter Heiligtümer, da die alten beschissen waren, wofür der Krieg sorgte, waren
schuldig, weil wir etwas tun, was verboten ist, was uns niemand verboten
hat, nicht mit Worten, wir sind keine Gläubigen, sondern Pioniere2,
aber dennoch ist es uns verboten,
weil es ihnen verboten war, unseren
Eltern, das heißt, es ist auch uns verboten, Verbote werden vererbt, wie
man auch die Form der Nase vererbt
bekommt, bis alles zum Teufel geht,
wenn alles fertig ist, trauen wir uns
nicht einmal einander anzusehen,
wir Delinquentinnen und Schamlosen, voreinander nackt, verschwitzt,
zersaust, mit verdächtigen Gerüchen,
noch mit Gesichtsausdrücken, die
wir, eine bei der anderen, bemerkt
haben, irgendwie abscheulich, nun,
als alles vorbei ist, als wir befriedigt
und unglücklich sind, völlig leer,
denn Lust ist keine Liebe, sie hat
nichts, um dich auszufüllen, sie wird
dich nur ausleeren, weiß die siebenundfünfzigjährige, die von Schlaflosigkeit geplagt ist und vom klaren
Gefühl, dass sie nach nirgendwo gelangt ist, nach all den siebenundfünfzig Jahren Bewegung, durch dies
und jenes, Gerümpel des Lebens, wie
sich jetzt zeigt, zertrümmerte Überreste, eingewickelt in Spinnweben,
die sich einst als wunderbare, kristallene Paläste darstellten, das ist das
Resultat des Verlangens, die Siebenundfünfzigjährige weiß das, die Zwölfjährige fühlt es nur, keine von uns
Mädchen spricht, wir trennen uns in
Stille, Nata{a will, dass wir uns beeilen, als ob sie uns jetzt erst bemerkt
hat, die Eltern werden kommen und
dann ist das ihr Untergang, wiederholt sie, wie in Trance, keine Chance,
dass sie kommen, aber doch gibt es
eine Chance, hat mein Vater nicht
gerade an jenem Morgen seinen Knöchel verstaucht, als ich ins Kino gegangen war, morgens um zehn, Matinee, was man mir verboten hat, eigentlich bin ich folgsam, aber diesmal
nicht, im Film ging es um den Ansturm von Termiten, Marabunta,
das muss ich sehen, seit dem achten
Lebensjahr bin ich verrückt nach
dem Kino, auf Brioni sitze ich jeden
Tag im Kino, sogar zweimal täglich,
unbedingt abends, aber auch in der
Nachmittagsvorstellung fürs Militär,
für Matrosen, die mir meine Mutter
verbietet, Matrosen vertrauen wir
nicht, denen könnte unsere Kleine
Mitglieder der politischen Pionierorganisation für Kinder im ehemaligen Jugoslawien.
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auffallen, Gott behüte, und sie können ihr später auflauern, „Was könnten sie mir antun?“, frage ich die
Mutter, aber zwecklos, es gibt keine
Antwort, die Mutter sagt das nur so,
rede ich mir ein, obwohl ich schon
ahne, was sie mir antun könnten,
mich auf den Boden werfen und mir
meine Beine spreizen, wie ich es in
Filmen gesehen habe und wie sie es
einer Kaja angetan haben, einer Fünfzehnjährigen, die sich herumtrieb, bis
sie von der Insel verschwand, ein gut
entwickeltes Mädchen, zum Untergang verurteilt, wie auch wir nicht
gut entwickelten, doch manchmal
kann ich dem Ruf des Kinos nicht
standhalten, ich gehe heimlich hin,
wie auch an diesem Morgen in Zagreb und während ich mir im Kino
den Ansturm der Termiten ansehe,
wie sie im Nu einen Mann aufressen,
sie überschwemmen dich und schon
bist du in ihnen verschwunden, nur
ein Schrei im Moment, als sie sich in
deine Augen und Ohren verkriechen
und dich aussaugen wie einen Krebs,
einen Hummer, zu dem mich mein
Vater als Achtjährige brachte, damit
ich sehe, „was Herrschaften essen“,
Hummer mit Mayonnaise und Scheiben gekochter Eier, ich habe es gesehen und begriffen, seitdem kann ich
so viele Krebse erträumen, wie ich
will, doch auf dem Tisch ist nie was,
wenigstens bis zur Erbschaft meines
Mannes, bis sie dahinschmolz, meinen Vater bringen sie nach Hause
mit verstauchtem Knöchel, den Vater, der vor dem Tag meines Ungehorsams noch nie etwas verstaucht
oder gebrochen hat, alles ist entdeckt,
dass ich ausgehe, dass ich nicht brav
bin, wir stellen uns vor, dass sie
Nata{as Vater ins Haus bringen und
dass er uns in seiner Wohnung in
Unordnung findet, uns Mädchen
von kaum zwölf Jahren, die Freundinnen seiner Tochter, die noch mit
Puppen und Ball spielen, mit roten
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Wangen, vom Schweiß verklebtem
Haar, das wollen wir uns gar nicht
vorstellen, es ist zu schrecklich...
...Wir trennen uns ohne Worte, wir,
die zwölfjährigen Delinquentinnen,
in Scham und Verachtung, jede für
sich, in Nata{as Wohnung kommen
wir weder noch verlassen wir sie zusammen, um nicht das Interesse der
Nachbarschaft zu wecken, zum Beispiel der [tefekica, die ständig in den
Hof pilgert, weil sie im Keller lebt,
wo sie die Wäsche aufhängt oder
Katzen vertreibt, die auf der Betonterrasse der Schuppen schlummern,
eigentlich Ställen, die in Schuppen
verwandelt wurden, die nach dem
Krieg der jetzt schon ehemalige Hausbesitzer Viktor Kova~evi} baute, mit
der Idee, darin Kühe zu beherbergen, mit deren Milch er das Viertel
beliefern wird, denn in der Stadt gibt
es keine Milch, die Kinder weinen,
die Mütter sind verzweifelt, meine
steht jeden Morgen um drei Uhr
morgens auf, sie muss weit gehen, an
den Stadtrand, wo gegen Karten Milch
verteilt wird, drei Stunden Gehen
und Warten in der Schlange, „Mach
dir keine Sorgen, Slavica“, sagt ihr
der ehemalige Hausbesitzer, „bald
werden wir Milch im Überfluss haben“, für die Ställe hat er all sein
verbliebenes Geld ausgegeben, das
er vom Staat bekommen hat für das
enteignete Eigentum, zwei Wohnhäuser, eine Villa auf Tu{kanac, eine
Werkstatt für die Herstellung von
Autokennzeichen, eine Goldschmiede, von all dem ist ihm nur eine
Wohnung im Dachgeschoss geblieben, in der einst meine Mutter „glücklich war“, wie sie wiederholte, Krieg
wird geführt auch damit Eigentum
verteilt wird, gib mir, der ich nichts
habe, was du hast, du verdammter
Hurensohn, hinaus aus meinem Haus,
und später werden wir mit unserem
Patriotismus großtun, gegen Ende
des Krieges tauscht Mutter diese Wohnung im Dachgeschoss gegen eine
größere im Nachbarhaus im Erdgeschoss mit dem Neffen des Hausbesitzers, einem Ustascha, Ferdo Kova~evi}, der beschloss, aus der Stadt
zu fliehen, wie auch der Poglavnik3,
weil der Krieg verloren war, wenigstens für diese Seite, die Partisanen
sind schon von östlicher Seite in die
Stadt marschiert, die Ustascha sind
nach Westen geflohen, „die einen
kamen hinein, die anderen hinaus“,
erinnerte sich meine Mutter, als ob
dieser Wechsel in einem Tag vonstatten ging, es ist höchste Zeit zum Fliehen, begriff der Neffe des Hausbesitzers, Ferdo Kova~evi} und lichtete den Anker, sagt die Phrase, und
tauschte vorher die Wohnungen mit
meiner Mutter, in der Hoffnung, dass
er durch diesen Tausch wenigstens
die Möbel, das Klavier, die Teppiche,
das Kristall, die Gemälde bewahren
würde, die, die geblieben sind, endeten in der Heimwehr-Ustascha-Kolonne, die auf einem Feld in Bleiburg
angehalten wurde, klar, mit Schnellfeuer, oder in der anderen Kolonne,
bestehend aus Überlebenden, die neun
Tage sinnlos im Land herumwandern, unter Kanonenbeschuss, bis alle
umgekommen sind, sechzig Menschen wurden in diesem Marsch getötet, flüsterte man, so diskret, dass
ich das erst ein halbes Jahrhundert
später erfahren habe und nicht glauben konnte, in meinem Kopf töteten
die Ustascha die Partisanen, und nicht
auch umgekehrt, außer in Selbstverteidigung, was man niemandem
verübeln kann, wenigstens nicht auf
den ersten Blick, auf den zweiten
dann doch schon, denn du kannst
dich immer opfern, sagen manche,
und uns scheint das plausibel, obwohl sich mit der Kolonne auch
Mutters Cousine Julija schleppte, mit
ihrem Mann Martin, einem Ustascha,
vier Kindern und einer Dienerin, die
Eigentlich „das Oberhaupt“, Ante Paveli}, Führer Staates Kroatien des Unabhängigen.
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RELA
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nicht nach Bleiburg gelangten, weil
ein Kind krank wurde, Gott segne
es, deshalb hielten sie auf halbem
Wege an, wo Martin einen Mann
trifft, dem er einstmals das Leben
verschonte, als er erschossen werden
sollte, indem er ihm sagte, er solle
wegrennen und er und sein Kompagnon schossen in die Luft, damals
ein Kommunist, jetzt Partisane, der
ihnen rät, nicht weiter auf dem Weg
fortzufahren, keinesfalls weiter, wo
sie Kanonen erwarten, was er nicht
sagte, aber Martin hat begriffen, so
dass sie zurückkehrten, sobald das
Kind einigermaßen wieder auf den
Beinen war, gesund und munter, und
Martin ergab sich der Obrigkeit,
nach dem Krieg kam die Tochter vom
Ustascha, um die Sachen zu holen,
mit ihrem Mann, einem Partisanenleutnant als persönliche Leibgarde,
ganz aufgeblasen von dieser Rettung,
bereit, meine Mutter zu erschießen,
wenn etwas verloren gegangen sein
sollte, das Kristall, ein Gemälde oder,
Gott behüte, ein Teppich, und vor
allen Dingen das Klavier, aber alles
war dort und sie nahm alles ohne ein
„danke“ mit, vermutlich wütend,
dass sie diese Wohnung verloren hatte, wenn ihr Vater ein wenig gewartet hätte, hätte sie sie behalten können, dafür hätte ihr Partisanenleutnant
gesorgt, auch wenn das ihren Vater
vielleicht den Kopf gekostet hätte,
sie wollte auch die Lüster in der Halle und im Elternzimmer haben, aber
meine Mutter sagte „nein“, trotz
Drohungen, ihre Lampen hinterließ
sie ihrem Onkel, dem ehemaligen
Hausbesitzer Viktor Kova~evi}, der
in der Wohnung seines Neffen gelandet ist, einer Einzimmerwohnung,
Halbmansarde, so dass diese jetzt die
ihren sind, weswegen der Partisanenleutnant „vor Scham in die Erde versinken wollte“, erzählte die Mutter,
außer ohne seine Besitztümer ist der
Hausbesitzer schon ohne seine Frau,
eine Schönheit, geblieben, bis zu dieser Hochzeit Besitzerin eines Mantels, mit zwei anständigen Kleidern
und mit zwei Paar Schuhen, die Kleidermenge, die zum Tragen in der
NDH4 erlaubt war, alles darüber war
schon ein Vergehen, was die Behörden
mit Einfällen in Wohnungen überprüfen, erinnerte sich meine Mutter,
in ihre niemals, als der Krieg zu Ende
war und der Hausbesitzer gerupft,
verschwand die Schönheit mit einem
anderen, einem Doktorbonzen, bei
dem sie ihre Unfruchtbarkeit behandeln ließ, selbstverständlich zwecklos, den Nachbarn eröffnend, dass
ihr Mann „Schon immer verrückt
gewesen ist“, „In der Hochzeitsnacht
hat er zwischen mich und sich ein
Messer gelegt“, vertraute sie meiner
Mutter an, „so dass ich ganz erstarrt
war“, „Trotzdem hat sie ihn erst verlassen, als er zugrunde gerichtet war,
nicht eher“, kommentierte meine
Mutter und sie nahm ihren Sohn
mit, den sie als Kozara-Weisen5 adoptierte, damit sie das Ende des Krieges in mehr Sicherheit erwarten konnten, der kluge Hausbesitzerkopf, bis
er sich geleert hatte, aber auch dann
funktionierte er, obwohl in die falsche Richtung, zuerst die Ställe für
die Kühe, dann das landwirtschaftliche Gut in seinen Wohnräumen,
Weizen und ein Ferkel, der präzise
Durchblick in das brennende Nahrungsmittelproblem, das die Chemie
lösen wird, während er im Irrenhaus
ist, oder uns könnte die Frau des
Metzgers bemerken, aus dem Hochparterre, deren mit einer Dauerwelle
verschönerter Kopf von unbestimmter Mausfarbe mit grünlichem sumpfigen Glanz ewig am Fenster herumlungert, das Gesicht sommersprossig, narbig und böse, Narbigkeit wirkt
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bösartig, sie sieht uns mit kleinen,
fiesen, fast unsichtbaren Augen an,
die in einem Netz dünner fächerartiger Falten verschwinden, und die
Geschichte, dass sie irgendwo einen
unehelichen Sohn hat, schwebt um
sie herum und macht sie noch bösartiger, es ist ein Wunder, wie solche
immer zahme Männer finden, so wie
ihr Metzger einer ist, ich erinnere
mich, ein sanfter schlaksiger Kerl mit
einer gewissen Traurigkeit in den
Augen, Metzger sehen immer sanft
aus, als ob sie ihre blutige Metzgerarbeit so macht, das Messer in fremdem Fleisch, das nicht verwüstet
werden will, als ob die Sanftheit eine
Entschuldigung für das Opfern von
Fleisch ist, dieser Sanftheit überließ
mein Vater auch das Ferkel, das er
betrunken irgendwo vor Weihnachten bekommen und nach Hause gebracht hat, damit wir es essen und
das wir später als Haustier halten,
wie einen Hund, obwohl in einer
Kiste, bis es zu einem dicken, stinkenden Schwein herangewachsen war,
das die Kiste völlig ausfüllte und uns
morgens mit seinem herzlichen verständigen Grunzen begrüßte, den
Napf in der Schnauze haltend, um
zu zeigen, das es hungrig ist, wer
würde das essen, das wäre das gleiche,
als ob wir unseren Hund essen würden oder, noch besser, ein menschliches Mitglied des Haushalts, wir
übergaben es unserem Nachbarn,
dem Metzger, seiner Traurigkeit und
Sanftheit und wir haben ihn nie gefragt, was er mit ihm gemacht hat,
vermutlich hat ihn dieser ondulierte
Kopf mit grünlichem sumpfigem
Glanz verdrückt, dachte ich, ganz
unglücklich, was ist das für ein Treffpunkt, hätten sich die Nachbarn fragen und die Eltern alarmieren können, wir haben alle vor den Nachbarn Angst, am meisten Nata{a, die
4
Nezavisna Dr`ava Hrvatska, Unabhängiger Staat Kroatien 1941-1945.
5
Kozara-Gebirge in Bosnien und Herzegowina, nach der Schlacht 1942 zwischen den Achsenmächten und Partisanen sind viele Weisenkinder hinterblieben;
eine Adoption brachte bei der jugoslawischen Regierung Pluspunkte ein.
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uns ihre Wohnung zur Verfügung
stellt, gegen ihre Eltern und damit
auch ihren Stamm, sie sind noch ein
Stamm, wir, die Bürger, sind das
nicht mehr, ihr Verrat geht tiefer als
der unsrige, ihre Schuld ist riesengroß, aber auch die unsrige ist nicht
klein, wir sind alle schuldig, sündig,
wir werden alle böse enden, obwohl
wir uns diese bösen Enden nicht vorstellen können, außer dass uns die
Eltern, wenn sie uns erwischen, „umbringen werden“, wie wir denken,
und worunter wir uns Prügel und
Strafen, Hausarreste, Taschengeldentzug, stundenlange Predigten vorstellen, weshalb die Abschiede bei
Nata{a immer erbärmlich und düster sind, nachdem wir es mit Schwierigkeiten schafften, unsere Kleidung
überzuziehen, die Körper sind verschwitzt, sie widersetzen sich dem
Anziehen, wir laufen voreinander
weg und vor uns selbst, ich zweifellos, die übrigen frage ich nicht, ich
beruhige mich erst im Schutz meiner Wohnung, wo ich alles vergesse,
darüber will ich gar nicht nachdenken, mein Erlebnis streife ich ab wie
eine Karnevalsmaske, die wir nach
Gebrauch in eine Kiste legen, nicht
nur wir, so lebt man, nichts ohne
Maske, außer Masken haben wir
nichts, weiß die Siebenundfünfzigjährige, die Zwölfjährige ahnt es erst,
heute ist meine Kiste voll von Karnevalsrequisiten, Tochter, Mutter, Ehefrau, Geliebte, Frundin, Schriftstellerin, Säuferin, was bin ich nicht alles, bald alte Frau, die vorletzte Maske, wenn wir die Todesmaske als letzte rechnen, das Leben ist ein Karneval, auch wenn es ernst erscheint, ein
Karneval, auch wenn sie uns den
Kopf abschlagen, wie Maria Stuart,
wenn wir zum ersten Mal über alles
lachen können, ehrlich, von Herzen,
weil wir uns zum ersten Mal sehen,
was wir in Wirklichkeit sind, in die
Kiste haben wir letztendlich auch
unseren Körper gelegt, ganz, mit allem innen und außen, mit dem Herz,
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den Lungen, der Leber, den Nieren,
dem Blut, dem Gehirn, was alles zusammen ebenfalls nur eine Maske
ist, Karnevalskleidung aus Knochen,
Blut, Fleisch, ein nächstes Treffen
wird es nicht mehr geben, schwöre
ich mir in der Sicherheit meiner
Wohnung, wie die übrigen Mädchen, nehme ich an, denn wir sprechen nicht darüber, weder Nata{a
noch ich sprechen über das, was wir
in ihrer Wohnung machen, so nahe
stehen wir uns nicht, wenn ich besser darüber nachdenke, wir stehen
uns überhaupt nicht nahe, trotz Kinderherberge, trotz der Rute von Tante Lela, etwas verhindert diese Nähe
vermutlich auf beiden Seiten, obwohl ich gerne für alles Nata{a die
Schuld geben würde, aber am Tag
des Treffens gehe ich wieder dorthin,
wie in Trance, um nichts in der Welt
würde ich das verpassen, ich muss
dort sein, wir alle müssen es, wir sind
alle gleich lüstern, denn wir sind alle
Tiere, einmal, zweimal wöchentlich
und so das ganze Jahr lang...
...In den Abständen unserer Nichttreffen sammeln wir unsere Kräfte, erinnere ich mich gleichgültig aus meinen siebenundfünfzig Jahren heraus,
als alle Heiligtümer krepiert sind, in
meinem zwölften Lebensjahr sind sie
noch lebendig, es ist keine Kleinigkeit
seine Körper entgegen allen möglichen Vorschriften zu gebrauchen,
deshalb gibt es auch die Tage des
Karnevals, sonst würden wir ihn jeden Tag praktizieren, und wer würde dann arbeiten, wer würde malochen für das Kapital, an das wir
letztendlich alle verkauft sind, wir
sind alle gleich als Sklaven des Kapitals, ich wäre lieber Sklavin in Rom,
kommt es mir so manches Mal in
den Sinn, oder in Griechenland, du
wusstest, wer du bist und wer dein
Herr ist, wenigstens das, Sklave bist
du immer noch, aber du hast keinen
Herren oder du kannst ihn wenigstens
nicht sehen, das Kapital ist unsicht-
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bar, also kannst du dir vieles einbilden, wie Kafkas Landmesser K., der
ins Schloss gerufen wurde, in das sie
ihn dann nicht hineinlassen, er kann
auch nicht zu seinem Herrn vordringen, um diese Frage zu klären, er gelangt nur zu seinem Diener Klamm,
mit beschränkten Befugnissen, der
dir nichts erklären will, bis uns Nata{a an Sonja verrät, die Einserschülerin, eine olivenfarbige Schönheit mit
mandelförmigen grünen Augen, obwohl durch eine Brille verdeckt, Gesichtsknochen zum Umfallen, der
Mund lieblich, wie bei Japanerinnen,
der Körper einer Venus, nur ihr Fleisch
ist sonderbar, wie sich in der Gymnastikstunde zeigt, weich wie Butter, wenn du es mit dem Finger berührst, fällt es hinein und es entsteht
eine Vertiefung, die sich zu langsam
schließt, sie ist seit Kurzem in der
Klasse, „Woher bist du gekommen?“,
„Aus Bitola“, erwidert sie hochmütig, als ob sie aus London gekommen
wäre, „Mazedonierin?“, frage ich,
„Mein Vater ist Serbe, meine Mutter
Mazedonierin“, antwortet sie noch
hochmütiger, ihre Zähne blitzen weiß,
sobald sie in die Klasse eingetreten
ist, hat sie mir Nata{a weggenommen, beide träumen vom Umzug in
die Hauptstadt, nach Belgrad, dieses
Thema bringt sie einander näher,
außerdem sind sie keine Konkurrentinnen füreinander, Sonja schreibt
nicht wie Nata{a und ich, sie schert
sich nicht um Poesie und Büher, mit
dem kleinen Finger bewältigt sie jeden möglichen Lehrstoff und träumt
von einem mit Perserteppichen ausgelegtem Haus, was sie auch erreichen
wird, denn das ist kein „Kunststück“,
insbesondere nicht für eine Schönheit, Perserteppiche haften sich an
solche, sie werden im Laden verkauft,
wie ein Ehemann und Kinder, wie
Häuser und Titel, alles Wunderbare
und Unwichtige kann man irgendwo
kaufen, man muss nur Moneten haben, habe ich schon längst begriffen,
obwohl zu spät, vermutlich ist Sonja
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RELA
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heute Nacht nicht irgendwo wie ich,
frage ich mich, sicher nicht, mit ihrem Mann, dem Ingenieur, ist sie
nach Amerika ausgewandert, die hat
nicht den Fehler gemacht, einen Verrückten zu heiraten, später dann einen Spieler, noch ist sie, wie Nata{a,
später unter einen Zug geraten, obwohl man auch auf Perserteppichen
nach Nirgendwo laufen kann, wissen wir aus Erfahrung, aber nicht in
Amerika, dort ist das Nirgendwo verboten, es gibt es nicht einmal in Filmen, du bist immer irgendwo, auch
wenn du weißt, dass du nirgendwo
bist, dafür sorgen Zeitschriften, Ratschläge für ein erfolgreiches Leben,
denk positiv, arbeite negativ, überlege ich, immer noch auf der Toilette,
als ob ich vorhabe, dort zu bleiben,
zu faul um aufzustehen...
Nata{a und ich sind Konkurrentinnen, weil wir beide schreiben, erinnere ich mich, grundlos, als ob ich
mir was zu erklären habe, was ich
nicht tue, denn es lässt sich wirklich
nicht erklären, nur noch mehr trüben, Gedichte und Prosa auf Bestellung, Kriegsthematik, für die verschiedensten Veranstaltungen, alle
zwei Monate jeweils eine, um eine
Gehirnwäsche vorzunehmen, an den
Gehirnen zukünftiger Arbeiter, Sklaven, die man Arbeiterschaft nennt,
wie ich während einer Produktionsarbeit in der zweiten Klasse6 des
Gymnasiums begriffen habe, in einer Schuhfabrik, in der einst auch
meine Mutter ackerte, vor Brioni,
zwar in einem Büro, mich steckten
sie in den Betrieb, damit ich „lerne,
was Arbeit ist“, Gymnasiasten unter
die Arbeitschaft, damit sie sich ja
nichts einbilden, damit sie verstehen, wo sie leben, jeden Morgen aufstehen um halb sechs in der Früh,
dann in die Straßenbahn mit ungewaschenen Zombies, die keine Ahnung vom Leben bei Tageslicht ha6
ben, im Dunkeln gehen wir hin und
im Dunkeln kommen wir zurück,
den Tag bewältigen wir unter dem
künstlichen Licht der Fabrik, streichen Klebstoff auf die vorbereiteten
Schuhsolen, benommen vom Kleber und vom Wiederholen der Bewegungen, die Sohlen erreichen uns
auf dem Band, Sohle, Streichen und
ewig so weiter, acht Stunden mit
Mittagspause in einer Mensa, die nach
Leder beim Gerben stinkt, abends
steckt ihn dir ein Arbeiter ins Loch,
dir, der Arbeiterin, damit du dich
daran erinnerst, dass du lebendig
bist, auf die Schnelle, denn man muss
sich ausschlafen, sonst würden wir
den Akkord nicht schaffen, und dann
lebwohl dem Geld für das Untermieterzimmer, die Flasche Branntwein und die Dauerwelle, lehrte mich
das Leben während dieser Produktionsarbeit, Klebstoff streichen nur
die Frauen auf die Sohlen, nicht auch
die Männer, ein Haufen Frauen, die
ununterbrochen reden, alle auf einmal, ihre Monatsregeln, Binden, Laufmaschen in ihren Strümpfen, ihre
Männer, Liebhaber, Bälger, Nachbarn, eine gute Schule, ich verlasse
sie, entschlossen, nie zu arbeiten, „für
nichts auf der Welt“, nicht nur in
keiner Fabrik, „nirgendwo“, schwöre ich, „niemals nirgendwo“, ich bin
nicht dafür geschaffen zu arbeiten,
jemand hat mich übers Ohr gehauen, ja zum Beruf, aber danach stop,
ja zum Schreiben, aber nichts anderes, ich weiß nicht, wie, aber stop,
ich weiß nicht, womit, aber stop, nie
ein Lohn, oder Rente, die Ideale meiner Mutter, Gewerkschaftskartoffeln,
-kohl und -schweinshälften, ein Verrat, den man mir bis zu meinem Tod
verübeln wird, wer sich um die Pflanzen kümmert, wird sich auch um
mich kümmern, wer sich um die Vögel kümmert, wird sich auch um mich
kümmern, fabuliere ich wie Jesus,
obwohl mit anderen Worten, aber
der Sinn ist wichtig, nicht die Worte, also komme ich durch, auch ohne
Arbeit, wenigstens die evidentierte,
ohne Arbeitsbuch, Dienstjahre und
Schweinshälften, bis zu diesen siebenundfünfzig Jahren und bis zum
Nirgendwo, das ich auch erreicht
hätte, wenn ich meine Rente verdient hätte, nur, dass ich mir das
damals nicht eingestehen wollte, wir
haben nicht fürs Nirgendwo gearbeitet sondern für die Rente, behaupten die Sklaven, die sich Arbeiterschaft nennen, weil das besser klingt,
auch der Arbeiterstaat klingt besser
als das Königreich, da können die
Arbeiter nicht meutern, wie sollten
sie auch gegen sich selbst meutern,
was für ein Trick, hier habt ihr einen
vermeintlichen Staat, damit ihr darin
arbeitet und wir darin herrschen,
Mehrheit und Minderheit, die Mehrheit sorgt wieder für den Unterhalt
der Minderheit, auf eigene Kosten,
egal, wie sich der Staat nennt, alle
zwei Monate wird etwas gefeiert und
verherrlicht, damit die Gehirne ständig gewaschen werden, damit sie nie
zu sich kommen, Tag der Republik,
Tag der Armee, Tag der Arbeit, Tag
der Befreiung, Tag der Jugend zum
Geburtstag des Präsidenten, wenn
wir auf dem Fußballstadion in einer
Koreographie auftreten, alle in gleicher Kleidung, die uns auslöschen
soll, du bist nur ein Gebrauchswert,
austauschbar mit ebenso einem, das
ist die Botschaft dieser Kleidung, in
der wir unsere Beine zeigen, wir Dreizehnjährigen, damit den Alten das
Wasser im Mund zusammenläuft,
sportliches Vieh rennt durch das
Land eine Staffel tragend, zum Zeichen von Brüderlichkeit und Einigkeit, die nie existiert haben, außer in
Worten und darin auch nicht lange,
damit man nicht vergisst, wer hier
gefallen ist, für was für eine Idee und
wen man verherrlichen soll, eure
Obrigkeit, die euch Diener angeb-
Zehnte Klasse.
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lich in Herren verwandelt hat, wie
ihr euch fühlen sollt, wenn euch der
Wecker um fünf Uhr morgens aus
dem Bett klingelt und wenn ihr noch
schläfrig zur Straßenbahn und zur
Arbeit rennt, nach der Arbeit könnt
ihr zu Hause malochen, wahrlich das
Leben eines Herren, denn ihr tut ja
angeblich alles für euch, sowohl in
der Arbeit als auch zu Hause, für
niemanden sonst, als für sich selbst,
verklikern sie euch ununterbrochen,
als ob sie nicht von eurer Arbeit leben würden, eure Politiker, euch
angeblich zu Diensten, überall gleichermaßen, das Kapital ist, was es
ist, die Rage der Materie, egal, wer es
angeblich verwaltet, eine Korporation oder der Staat, auch wenn er ein
Arbeiterstaat ist, denn niemand verwaltet es, wie auch die Naturgewalt
nicht, diese Gewalt ist künstlich, aber
das ändert nichts an der Sache, als ob
die Natur eigentlich auch künstlich
ist, nur sind ihre Erschaffer vergessen, also haben wir uns eingebildet,
dass es sie nicht gibt, wir, die fortschrittlichen Affen, die Verwalter sind
ewig gierig nach deinem Schweiß,
um den ihren nicht zu vergießen,
ohne den alles angeblich zusammenbrechen würde, ohne den Pöbel geht
es, ohne Verwalter keinesfalls, also
schwitzen wir, die Verwalter, nur auf
Jachten und auf Skiern, niemals bei
der Arbeit, ich bin geschickter im
Verherrlichen dieser Obrigkeit als
Nata{a, ich posaune besser als Nata{a
immer das gleiche Lied vom Kampf
und den Opfern, vom Sieg und der
Arbeit, vom Genossen Tito, von der
Brüderlichkeit und der Einheit, also
sind meine und nicht ihre Arbeiten,
Gedichte und Aufsätze gesucht, sie
verlangen immer nach meinen, befreien mich vom Unterricht, damit
ich schreiben kann, sie schicken mich
nach Hause, damit ich in Ruhe schaffen kann, in der Klasse packe ich meine Tasche zusammen, während mich
alle neidisch ansehen, insbesondere
Nata{a, was soll man machen, lache
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ich überheblich, während ich aus dem
Klassenzimmer voll falscher Größe
verdufte, du wirst schon noch dafür
bezahlen, aber jetzt verdufte, blas
dich auf, denke ernsthaft, dass wir
alle keine Genies sind, du dumme
Dreizehnjährige, ich bin Mozart, sie
Salieri, sie wird gesucht, damit sie
bei den Veranstaltungen meine Gedichte vorträgt, weil ihre Stimme
klangvoll ist, jedoch samtig, ohne
Mikrofon dringt sie bis zu den letzten Rängen im Saal, eine Wunderstimme, die alles um sich herum zum
Schweigen bringt, „Die orthodoxe
Mutter“ ist ihr Triumph, aber dieser
Triumph bedeutet ihr nichts, sie zerfrisst sich vor Neid, weil meine Arbeiten zu Stadtwettbewerben geschickt
werden, wo ich Gott sei dank nie
erste bin, immer zweite oder dritte,
ich bezahle schon und weiß, dass ich
bezahle, es gibt immer besser, mehr,
kraftvoller, sobald du vorne bist,
heißt das, dass du hinten bist, ewig
in der Falle...
...“Jemand hätte vielleicht mehr erreicht als du“, sagt Nata{a zu mir,
nach so einem Wettbewerb, an dem
sie nicht teilgenommen hatte, wie
üblich, offensichtlich an sich denkend, als ich zum ersten Mal das
Ausmaß ihres Neides begreife, bis
dahin blieb er mir irgendwie in ihrer
wunderschönen Gestalt verborgen,
ich sollte auf sie neidisch sein, ich
kann ihr wenn es ums Aussehen geht
nicht das Wasser reichen, weder ihr
noch Sonja, obwohl ich immer Verehrer habe, wahrscheinlich bin ich
ihnen sympathisch, sympathisch,
nicht schön, „Du wirst nie so schön
sein wie Sonja“, sagt ein Junge aus
der Klasse zu mir, hoffnungslos in
mich verliebt, „Nie schön“, damit
muss man sich abfinden, was mir
schwer fällt, ich möchte die schönste
sein, nicht nur „charmant“, wer würde das nicht wollen, ebenso wie Nata{a, die erste im Schreiben sein möchte, der Hofpoet, wie ich, alle möch-
15
ten etwas Anderes sein und nicht das,
was wir sind, wir sind schon zerstört
und nicht einmal fünfzehn Jahre alt,
wenn es möglich wäre, würde ich
gerne mit Nata{a tauschen, was hast
du vom Talent, wenn du keine Schönheit bist, ich bezweifle, dass Nata{a
dem Tausch zugestimmt hätte, sie ist
hochmütig, sie will alles, bekommt
einen ganz roten Kopf, wenn die
Lehrerin von mir verlangt, ich solle
meine Hausaufgabe vorlesen, immer
meine, nie ihre, in ihrer Wohnung
bei den Seancen verweigert sie mir aus
Rache ihren Körper, wann immer es
möglich ist, Streitigkeiten riskierend,
wegen dieser Streitigkeiten haben wir
uns mit der Zeit auf ein Los umorientiert, wir ziehen durcheinander
gemischte Zettel mit Namen aus einer Schüssel, keiner gewöhnlichen,
einer kristallenen, wenn ich Nata{a
herausziehe, wird sie ganz garstig,
presst wütend ihre Zähne zusammen, aber sie muss nachgeben, ich
möchte sie gnädig stimmen, deshalb
schlage ich der Kroatischlehrerin für
die nächste Veranstaltung das Lesen
ihres Arbeit vor, „Der Aufsatz ist ausgezeichnet“, sage ich ihr unter vier
Augen, zähle seine Vorzüge auf, aber
die Lehrerin begreift nicht, die blöde
Kuh, „Es ist schon beschlossen“, lehnt
sie ab, als ob das überhaupt irgendwelche Beschlüsse wären und nicht
ein Getue, an das keiner glaubt, außer gewaschenen Gehirnchen und
die werden es auch nicht lange tun,
Nata{a muss wieder meinen Aufsatz
lesen, die Vorbereitungen laufen,
Nata{a ist eingeschnappt, aber sie
lehnt es nicht ab, ihn zu lesen, bis
knapp vor der Veranstaltung, kurz
bevor sie auf die Bühne gehen muss,
als sie unmissverständlich erklärt,
dass sie „nicht vorhat, zu lesen“, sie
will und will nicht, es helfen auch
keine Drohungen, die Lehrerin ist
ganz außer sich, was für eine Unverschämtheit, sie auf diese Art zum Besten zu halten direkt vor der Aufführung, die Kleine wird ihr das büßen,
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auf die Schnelle wird eine Schülerin
gefunden, die lesen wird und Nata{a
bleibt ganz verweint vor der Tür der
Kinothek, wo die Aufführung stattfindet, in der Nachbarschaft unserer
Häuser, sieht mich hasserfüllt an mit
ihren wunderschönen Augen, die
Sternen gleich leuchten, wie sie die
Dichter beschreiben würden, die alten, heute ausgestorbenen, die Wimpern gebogen dank Mutter Natur,
nicht mithilfe einer Zange, denn ich
bin auch dort, ich bin draußen geblieben, um sie ein wenig zu beruhigen, doch sie will meine Hilfe nicht,
wie denn auch, wer geht hin und sucht
Hilfe bei der Schlange, die einen gebissen hat, Sonja hält sie im Arm, die
konnte es kaum abwarten, mich um
Kopf und Kragen zu bringen, sie will
auch niemanden zwischen sich und
Nata{a, warum zum Teufel schere
ich mich nicht davon, nach allem,
was ich getan habe, sagt mir ihr Ausdruck, eine angeekelte Grimasse...
...Am nächsten Tag zieht Nata{a aus
unserer Bank aus, nach vorne, in
Sonjas, erinnere ich mich, für nichts
und wieder nichts, denn das wird
nichts ändern, weder die Vergangenheit, noch die Zukunft und eine
Gegenwart haben wir sowieso nicht,
entweder erinnern wir uns oder wir
warten und dazwischen nichts, Sonja
sitzt vorne, klar, weil sie halbblind ist,
sie hasst Brillen, denkt, die „machen
sie hässlich“, sie denkt über Kontaktlinsen nach, ohne Kontaklinsen
wird es wohl mit den Perserteppichen nichts werden, nichts mit dem
Ingenieur-Ehemann, sie tauschte mit
Mirjana, der es egal ist, wo sie sitzt,
die schert sich weder um Nata{a noch
um Sonja, das Mädel hat eigene Sorgen, eine geschiedene Mutter mit
Liebhaber, einen seltenen Vogel, Mütter waren einst da, um sich für ihre
Familien zu opfern, nicht um es sich
recht zu machen, ich habe sie unlängst
getroffen, nach etwa dreißig Jahren
oder so, Markt, Frühling, sie ist aufs
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Haar gleich geblieben wie in der
Klasse, ein längliches Gesicht mit
hervortretendem Kinn, die Nase ein
wenig eingedrückt, das Doppelkinn
hervorstechend, honigfarbenes Haar
bis zu den Schultern, nach innen geföhnt, mit Haarlack gefestigt, alles
ist gleich, nur alt geworden, nicht
auch verändert und auf diese Weise
jung, immer noch eine Kopie der
Mutter, die sie auch als junges Mädchen war, eine Kopie der Mutter, die
mit dem Liebhaber zusammenlebt,
zur Schande ihrer Tochter, sie hat
mich nicht bemerkt oder erkannt,
ich wollte zu ihr gehen, dann habe
ich es mir anders überlegt, denn
Mirjana war mir nichts, nur ein Ersatz für das Unersetzliche, für Nata{a, sie zieht um und lässt mich erniedrigt in meiner Bank zurück, die
Verlassenen sind immer erniedrigt,
doch nicht einmal das ist ihr genug,
sie will mich völlig vernichten, auch
wenn sie damit auch sich vernichtet,
also erzählt sie Sonja von unseren
Seancen in ihrer Wohnung, von unseren Treffen, eine Verräterin aller
Verräter, ich habe keine Ahnung, wie
viel sie sich traute zu erzählen, doch
genug, damit uns Sonja zu Huren
erklärt...
...“Ihr Mädchen werdet Huren werden“, sagte Sonja, der die Jungs schon
damals die Hände in die Unterhose
steckten, was sie geschickt von uns
verbirgt bis zur Abschlussfahrt, als
sie uns eröffnet, dass sie schon längst
keine Jungfrau mehr ist, ebensowenig
wie ich, nur dass sie zwischen den
Beinen durchlöchert ist, wie es auch
sein soll, und ich nicht, ich bin im
Kopf durchlöchert, Hymena sollte
man bei der Geburt durchschneiden
und nicht, dass uns so ein selbstherrlicher Pimmel von riesenhaften Ausmaßen zerreißt, wie der von meinem
ersten Mann Pele, der Pimmel eines
Verrückten, der mich wie ein Tier
abgeschlachtet hat und wegen dem
ich heute die kleinen bevorzuge, wie
TIONS
sie glücklicherweise in der Mehrzeit
sind und vor den großen laufe ich weg,
wie der Teufel vor dem Weihwasser,
Sonjas Prognose macht uns Angst,
als Huren gibt es nichts Schlimmeres, wissen wir, das sind betrunkene
Frauen, die im Park Zrinjevac herumlungern, mit blau gewordenen,
aufgedunsenen Gesichtern, heiseren
Hälsern, alle krank, von feinen, teuren
Huren haben wir noch nicht gehört,
wenigstens nicht bei uns, die gibt es
in Romanen und Filmen, aber bei
uns in der Wirklichkeit nicht oder
man sieht sie nicht, klar, man sieht
sie nicht, erfahre ich als Erwachsene,
denn Damen huren hinter geschlossenen Türen von Villen herum, sie
breiten sich aus für Luxus, nicht für
trocken Brot wie jene jämmerlichen
Kreaturen, die sich auf den Gehsteigen anbieten, Ehefrauen und Töchter von Ärzten und Anwälten in den
Betten ihrer Bekannten, wie man begriffen hat, als die Schande herauskam, als sich ein Vater aufgehängt
hat, wegen seiner Frau und seiner
Tochter, als er ihre Fotos im Katalog
eines Bordells gefunden hatte, eines,
klar, geheimen, wohin er als Kunde
gekommen war, die Moral des Nirgends, und sie drohte, dass sie uns
„verpetzen würde, wenn wir nicht
damit aufhörten“, sie wird uns bei
der Klassenleiterin verpetzen, der
Hauswirtschaftslehrerin, denn das
lernte man einst auch bei uns in der
Schule, stricken, sticken, den Tee
richtig zubereiten, wenn die Kamille
taugen soll, darf sie nie aufkochen, ist
die ganze Weisheit, die ich aus diesem Untericht herausgesogen habe,
eine arme alte Jungfer, die wie eine
Ameise aussah, ein mageres ausgemergeltes Gesichtchen mit weit außeinander stehenden runden Augen,
eine dünne Nase und der Mund wie
Kirschstengel, schütteres fettiges Haar
und die Haut müde, wie eine alte
Schuhsole, deren Ungeschicklichkeit, nicht Bosheit einen Skandal
hervorrufen könnte, so dass Nata{a
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Marina [ur Puhlovski
und ich von der Schule fliegen oder
wenigstens einen Verweis bekommen, ganz zu schweigen davon, wie
es uns zu Hause ergehen würde, die
würden uns das Fell über die Ohren
ziehen, danach verschließt uns Nata{a die Tür ihrer Wohnung, ihres
Körpers und der Freunschaft, mir,
Sofija, zweifelsohne, ich erinnere mich
an das Ende dieser unglücklichen
Treffen mit Nata{a, ohne dass ich
geschissen habe, denn ich hasse es zu
scheißen, also habe ich auch den
Körper verzaubert, der sich zuwider
ewig die Scheiße zurückhält, sogar
auch wenn ich ihm mit Abführmitteln helfe, Händewaschen, Abtrocknen am Saum des Nachthemdes, wir
haben vergessen, ein Handtuch neben das Waschbecken zu hängen,
wir, die falsche Haushälterin Sofija,
die sich im Haushalt eingenistet hat,
wie eine Maus in die Vorratskammer, und das verschmutzte haben
wir schon gestern entfernt, wie jeden
Freitag, wenn die Putzfrau kommt,
ein sonderbares, unregelmäßiges Gesicht, ähnlich einer Papiertüte, aus
der jemand mit der Schere Mund
und Augen herausgeschnitten und
die Nase aufgemalt hat, so dass das
Gesicht platt gedrückt aussieht, zurück in unser Zimmer, die Pantoffeln schleifend, jetzt in Angst vor den
Kakerlaaken, die überall auftauchen
können, ich kann eine schwangere
Kakerlaake, nachdem ich sie getötet
habe, nicht unter den Schrank schubsen, wie mir der Kakerlakengiftmörder geraten hat, was die übrigen abstoßen wird, das wäre gegen meine
Überzeugung, wenn ich eine Kakerlaake töte, ab auf die Müllschaufel,
dann in die Toilette, oder lebendig
in die Toilette, während sie noch panisch auf der Müllschaufel umherrennt und ich Gänsehaut habe, „Die
Kakerlaake ertrinkt“, lehrte mich der
Giftmischer, zurück in die Schlaflosigkeit, die nicht aufhört, vielleicht
würde ich einschlafen, wenn ich es
geschafft hätte zu scheißen, überlege
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ich, angeekelt, ich mag es nicht, über
Kacke nachzudenken, noch weniger
darüber zu reden, Männer unterscheiden sich hierin von den Frauen,
über Kacke zu reden, ist für sie ein
Genuss, als ob die Kacke etwas ist,
was ihnen gehört, etwas Intimes, alle,
die ich kenne und die ich nicht kenne beten ihre Furze, Pisse, Fäkalien
an, ihre Körperausscheidungen, einer hat nach dem Scheißen immer
seine Kacke beobachtet, um zu sehen, ob sie gesund ist, ob darin kein
Blut ist, kontrollierte ihre Farbe, bis
er bei gesunder gelber Kacke an einem Herzinfarkt gestorben ist, ein
anderer steckte seine wertvolle Kacke in Plastikbeutel und bewahrte
sie im Schrank auf, vermutlich weil
er sich davon nicht trennen konnte,
als ob er sich damit von sich selbst
trennen würde, es ist ein wahres Wunder, wie gerne sie darüber reden, dass
sie geschissen haben, wie gerne sie
furzen, wie sie betrunken genussvoll
an jeder Ecke pissen, wie Hunde, das
Ding heraus aus der Hose und pisse,
wo du gerade bist, Männersachen...
...Was Frauen angeht, die sind absolut nicht vertrauenswürdig, begreift
die Dreizehnjährige, ein für allemal,
wenn du es am wenigsten erwartest,
kehrt sie dir den Rücken zu, wie meine Cousine Ljubica, verrät dich sogar,
wie Nata{a, also bleibt sie wieder einsam mit ihrem Körper und seiner
verdammten Lust, Mädchen kommen nicht mehr in Frage, Jungs noch
weniger, daran hat sich nichts geändert, sie ekeln sie körperlich an und
von ihnen könnte sie „schwanger
werden“, wie sie ihre Mutter gewarnt
hatte, was ein Unglück ist, außer du
bist volljährig und verheiratet, dann
kannst du dich darüber freuen, musst
es sogar, die gleiche Melodie, aber
das Lied ist nicht das gleiche, das
eine feiert, das andere begräbt dich,
was sich im Nirgends Moral nennt,
was bleibt ihr anderes übrig, als sich
sich selbst zuzuwenden, sie kann sich
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selbst berühren, wie sie Nata{a berührt hat und alle anderen, die sich
bei ihr getroffen haben, hat sie das
nicht schon mit vier-fünf Jahren begriffen, als sie sich auf dem Balkon
ihrer Cousine Kristina ausgepeitscht
hat, es gibt einen Ort, wohin sie ihre
Finger nicht stecken kann, wenn sie
sich schon nicht küssen kann und sie
kann sich vorstellen, dass ein anderer das tut und dass sie selbst ein
anderer ist, nicht die Dreizehnjährige
namens so und so, Tocher dieser Mutter und jenes Vaters, Schülerin, Mittlere Reife, bereitet sich aufs Gymnasium vor, dann aufs Biologiestudium,
denn die Mutter zwingt sie, einen
Beruf außerhalb des schon erwählten zu wählen, des Schreibens, was
kein Beruf ist, sondern eine Berufung, die die gesamte Zeit erfordert,
doch wen kümmert es, davon lebt
man nicht, bleibt die Mutter hartnäckig, schon von Panik ergriffen, wohin das alles schon gegangen ist, dieses Schreiben ihrer Tochter, Kindergedichte in Ordnung, und Schreiben für Aufführungen in Ordnung,
aber richtige Gedichte nein, sie hat
genug arme Leute gesehen mit Heften voller Gedichte, männliche arme
Leute, Frauen sind ja klüger, außer
ihrer Kleinen, doch dafür ist die
Mutter hier, um sie in die richtige
Richtung zu lenken, eine Ärztin,
Anwältin, sie kann auch Lehrerin
sein, Grundschullehrerin, was ihre
Mutter werden wollte, aber Dichter
nein, der Tochter scheinen diese Berufe von vornehin verfehlt, sie wird
doch keine Toten aufschneiden, Menschen in Gerichten herumzerren oder
Kinder quälen, für diese Schrecken
ist das Leben zu kurz, außerdem, was
soll man da machen, was für eine Entdeckung zum Ruhme der Menschheit und zum eigenen Ruhm, wenn
auch posthumen, wovon sie träumt,
sie ist noch treudoof und glaubt an
diesen Blödsinn, glaubt, dass ein
Mensch in seinem Werk weiterlebt,
dass hierin seine Unsterblichkeit liegt,
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aber ja doch, das ist Unsterblichkeit,
wie die vom Regenwurm, doch die
Kleine wurde einer Gehirnwäsche
unterzogen, der Kleinen hat man
gesagt, dass das Leben ein Wettlauf
ist, also lauf um die Wette, im Kopf
und im Leben, sie hat genug Biographien aus der Zeitschrift Otkri}a verschlungen, in der ihre Mutter arbeitet, seit sie von Brioni zurück sind,
natürlich Buchführung, also ist die
Wohnung voll davon, alles glänzende, berühmte Köpfe, Physik, Chemie,
Mathematik, Biologie, aussschließlich Naturwissenschaften, aus den
geistigen wird nie was, predigt die
Mutter, also muss man ihr glauben,
wo könnte sie da unterkommen, fragt
sich die Dreizehnjährige, in Mathematik ist sie schwach, in Physik mittelmäßig, Chemie interessiert sie nicht,
übrig bleibt die Biologie, also Biologie, sie kann der zweite Charles Darwin werden, die Welt bereisen oder,
noch besser, lass uns zum AmazonasFluss gehen, das zieht sie an, der Urwald, Insekten, Fleisch fressende
Pflanzen wilder Farben und Formen,
mit denen sie einen Käfer anziehen,
um ihn dann zu fressen, sie hat schon
einen Frosch für die Bedürfnisse eines Wettbewerbes getötet, dessen
Schreie noch heute in ihren Ohren
widerhallen, auf dem Balkon hat sie
ihn an ein Brett genagelt, an allen
vier Beinen, hat ihn gekreuzigt, wie
sie Jesus gekreuzigt haben, Körper um
Körper, der von Jesus und der vom
Frosch gleichermaßen und schlitzte
seinen Bauch auf im Glauben, dass
er mit Äther betäubt ist, was er nicht
war, wenigstens nicht genug, als beide
das begriffen haben, war es zu spät,
der Frosch, aufgeschlizt und lebendig, durchbohrt ihr die Ohren mit
seinen schrecklichen Schreien, nicht
nur die Ohren, durchbohrt sie ganz,
sie muss ihm den Rest geben, aber
sie weiß nicht zu töten, sie weiß
nicht, wie sie dem Frosch die Qualen verkürzen kann, also dauert dieser Horror an, stirb, befiehlt sie ihm,
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aber der Frosch stirbt nicht, er schreit
und schreit, er hat die ganze Nachbarschaft, die sich an den Hoffenstern und Balkonen aufgepflanzt hat,
herbeigelockt, was stellt diese Kleine
nur an, sie quält einen Frosch, bis er
endlich gestorben, für mich für immer
zu spät, und in einer Flasche mit
Formalin geendet ist, weiß und aufgespreizt, den ich ordentlich in die
Schule mitbringen werde, wie mit
der Lehrerin abgemacht, verdammtes Naturell, Sternzeichen Jungfrau,
nichts kann mich vom Weg abbringen, wegen dieses Frosches werde ich
in der Hölle landen, überlege ich
trotzdem, als alles vorbei war, der
Frosch tot, aufgespreizt, Aufgabe ordentlich ausgeführt, ich bestrafe mich
damit, dass ich bei jenem Wettbewerb letzte bin, eine völlige Null, ich
weiß nichts, auch das, was ich weiß,
weiß ich nicht, als ob mich der Frosch
verzaubert hätte, die Biologielehrerin
sieht mich wortlos an, was für eine
Blamage, macht nichts, denke ich,
das werde ich schon alles wieder am
Amazonas gut machen, ich bin jemand anderes, während ich mich mit
meinem Körper, der mich verrückt
gemacht hat, vergnüge, nicht die blöde Kuh, die ihre Tagebücher mit
Liebessehnsüchten füllt, heute diese,
morgen jene Liebe, ich schreibe sogar
mit meinem eigenen Blut, das ich
aus dem Finger fließen lasse, damit
alles grandioser wird, auch die ist
nicht in meinen Spielen, den Spielen
einer Dreizehnjährigen, die ihr Körper quält, in diesen Spielen sind Figuren aus Romanen und Filmen mit
lasziven Inhalten oder wenigstens lasziven Teilen, kriminalistischen, historischen, die mein Vater kauft, seit
er in Vorrente ist, zu viel Herumliegen, Langeweile, insbesondere, wenn
er nicht trinkt, nach dem Brechen von
Blut, muss er sich von Zeit zu Zeit
doch vom Trinken erholen, dann ist
er ein Nervenbündel, also liest er, um
seine Couch herum liegt haufenweise
so ein Schund herum, mit Kaffee
TIONS
verschüttet, fettig vom Essen, keiner
verbietet mir, das zu lesen, die Zeit
ist noch teilweise sittsam, in Romanen, sogar im Schund, ist alles nur
angedeutet, aber wir sind fantasievoll, wir erweitern die Dinge, aus den
Andeutungen schaffen wir fertige
Bilder, schon bei Nata{a habe ich mir
Rollenspiele beigebracht, ich war sowohl Patientin als auch Arzt, ich kann
also sein, was ich will und auch meine Hand kann ich wem auch immer
leihen, einem bekannten oder unbekannten, wie mir gerade danach ist...
...Obwohl Bekannte nicht in Frage
kommen, keine Chance, nur Unbekannte, was ich ja auch für mich
selbst bin, nur eine Figur aus Filmen
und Büchern mit lasziven Inhalten,
ich bin eine kleine Tippse, die ohne
Unterhose zur Arbeit kommen muss,
damit der Chef sie im Laufe der Arbeit flachlegen kann, er kriegt einen
Steifen schon bei dem Gedanken,
dass die Kleine keine Unterhose anhat, dass unter dem Rock nur die
warme Möse ist, der feste nackte
Popo, zu seinen Diensten, die kleine
Pussy, die er feucht machen und in
sie gleiten wird, wie in eine Badewanne mit heißem Wasser, ein Augeblick höchster Verzückung, das hebt
seinen Elan, verleiht ihm Energie,
deshalb wird mehr Geld in seine
Kasse fließen, schwarze Strapse und
Strümpfe an den Beinen, damit sie
mehr sexy aussieht, wie die Huren
aus den Filmen, denn das Bild erregt
uns mehr als die Wirklichkeit, das
weiße Fleisch über der Spitze, in das
man eintauchen kann, an dem man
knabbern kann, dort wo es weich ist,
auf der Innenseite, während er schon
den Duft ihres Ausflusses in der Nase
spürt, wenn ihm danach ist, spreizt
er nur ihre Beine, schiebt zwei Finger hinein, riecht an ihnen und leckt
sie ab, ein wahrer Feinschmecker,
dann stellt er sie an den Arbeitstisch,
mit dem Popo zu sich hin, mit den
Brüsten nach vorne, die die Kleine
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herausnehmen muss, heraus aus dem
Büstenhalter, damit er sich an ihnen
festhalten kann und schiebt ihn ihr
von hinten hinein, zwischen die gespreizten Beine, um ihr zu zeigen,
was er ist, was er kann, sie ausfüllen
mit seiner Pflanzstätte für Bälger, sie
kann ihn mit nichts ausfüllen, selber
schuld, er ist dafür geschaffen, sie
auszufüllen und sich daran zu ergötzen, also rammelt er sie vor riesigem
Vergnügen wiehernd, was für ein Entzücken, ihn in so junges Fleisch zu
stecken, dessen fester glatter Po dich
am Bauch kitzelt, bis du in ihr Inneres explodierst und am Ende gibt er
ihr einen Klaps auf den vorgestreckten Po, ebenso wie er einem Kind
einen Klaps geben würde, so dass es
knallt, los Kleine, geh’ arbeiten, du
warst gut, lecker, deine Fotze ist
ohnegleichen, wenn du so weitermachst, gebe ich dir eine Lohnerhöhung, bevor ich nach Hause gehe,
lege ich dich noch einmal flach, denn
zu Hause habe ich nichts, eine mürrische Frau mit Wicklern, die sich
ständig herauswindet, ein Mensch
macht einen Fehler, wenn er sich zu
früh bindet, wir werden wieder die
Türe abschließen, die Kleine wird
für ihn einen Striptease aufführen,
wie eine Bardame, langsames Aufknöpfen der Bluse, damit man die
Tittchen sieht, dann herunter mit
dem Büstenhalter, alles im schlangenartigen Winden, damit die Titten
wackeln, danach der Rock, der Tanz
der Möse in Strapsen, ihm vor der
Nase, dann der Tanz der Pobacken,
bis ihm das Wasser im Mund zusammenläuft, dann wird sie der Chef
aller Chefs auf den Boden schmeißen, auf den weichen Teppich, mit
dem Rücken nach unten und die
Kleine wird ihn von beiden Seiten
mit den Beinen umfangen, ganz nackt,
splitterfasernackt, sie kann nur die
Pumps anbehalten, die kleine Hure,
was alle sind, sie sind entweder Huren oder Weiber mit Wicklern, und
mit ihrer Möse über seinem Gesicht
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wedeln, noch näher, das Loch muss
man von innen sehen, unter den
Haaren, ein wunderschöner Anblick,
dafür leben wir eigentlich, für diese
Kurven und Ritzen über unseren
Gesichtern, mit wundersamen Gerüchen, „Wasch dich nicht, ich komme!“, schreibt Napoleon an Josephine, zum Ruhme des Fotzensaftes,
sagen böse geschichtliche Zungen,
und wir machen es ihnen nach, die
Kleine ist über ihm aufgespreizt wie
ein Frosch und er macht sie mit der
Zunge fertig, komm noch näher,
damit ich sie dir ablecken kann, gierte der Chef und hopp auf den Knüppel, die am Bersten ist, du wirst meine Reiterin sein, so, spring, „Fick
dich leer, Hure!“, der Chef liebt es,
schmutzige Wörter auszusprechen,
das Schmutzige vergrößert seinen
Genuss, das sind erste Fantasien, als
ich noch unwissend war, als ich noch
nicht wusste, dass man mir den Pimmel in den Mund stecken kann, dass
man ihn mir in den Anus stecken
kann, dass ich fähig bin, gleichzeitig
drei zu bedienen, in den Mund, in
den Anus, in die Muschi, dass sich
Helden auf mir abwechseln können
bis sie mich unten in einen blutigen
aufgerissenen Krater verwandeln, all
das kommt erst, wie alles kommt,
mit den Jahren, ich erweitere unnötiges Wissen, Wissen über Unwichtiges und das Repetoir meiner Fantasien, ich bin eine Hure in einem
Bordell, auf der sich Freier abwechseln, respektable Väter ihrer glanzvollen Familien, fähige Kaufleute,
Politiker, ehrenwerte wissenschaftliche Mitarbeiter, alle lieben das Fleisch,
an das sie nicht denken müssen,
ebenso wie sie nicht an die Kühe,
Schweine und Hühner denken, die
ihnen ihre Frauen als Mahlzeit servieren, ich gebe mich liegend, stehend, hockend, reitend hin, aber keine Perversionen, kein Peitschen, niemand wird auf mich scheißen oder
pissen oder das gleiche von mir bekommen, auf einmal zwei ist in Ord-
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nung, nie drei, mal der eine, dann
der andere, gleichzeitig nein, obwohl
wir zustimmen, einen von ihnen zu
lutschen, während der andere ihn
uns hineinrammelt, Frauen sind erwünscht, zwei auf einen, soll sich der
Held doch beweisen, auch mein Zuhälter lässt sich von mir verwöhnen,
der liebt es, aus meiner Vagina Champagner zu schlürfen, wie eine Biene
Blütennektar, er kommt zwischen
den Freiern, während ich mich noch
nicht einmal gewaschen habe, denn
er liebt es, sich in fremnden Körpersäften zu suhlen, doch wenn er in
meinem Mund kommt, wäscht er
ihn immer, wenigstens das, überlege
ich, ganz gebrochen, denn ich lutsche nicht gern Phalluse, außer in
Außnahmefällen, wenn ich sehr geil
bin, weil sie schleimig sind und stinken, ich bin die Frau eines Geschäftsmannes, die sich einem Mafioso hingegeben hat, damit der ihm seine
Schulden erlässt, im Gegenteil, Kopf
ab, wir lieben ein bisschen Dramatik, schon als er sie nach Hause führt,
greift er mit der Hand in ihr Dekollete, quetscht ihre Titte, damit sie
weiß, wem sie gehört, wie ich es in
einem Film gesehen habe, es gibt kein
Ablehenen, Herauswinden, Betrügen, der Körper ist ein Ding, also
kann er auch gehören, überlege ich,
nachdem ich ins Zimmer zurückgekehrt bin, ins Bett, versuchen einzuschlafen oder sich aus dem Fenster
lehnen, auf die Straße, Luft holen,
ein wenig Durchzug durch die Toilettengrube meines Lebens, damit
wir nicht in ihr ersticken und schon
bin ich am Fenster, keine Spur von
Dämmerung, kein Anzeichen, die
Straßenbahnen fahren nicht, die Vögel zwitschern nicht, auch weiterhin
tiefste Nacht auf der erleuchteten
Straße, jetzt schon ohne Passanten,
außer jenen in Autos...
...Wir sollten wissen, wie man sich
vom Körper trennt, sonst sind wir
verurteilt, als Dinge zu leben, über-
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RELA
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legt die Siebenundfünfzigjährige, und
was ihr nichts nutzt, wir sind nur
Gegenstände des Nirgends, die versetzt und aufgebraucht werden, heute der Gebrauchsgegenstand eines
Zuhälters, morgen eines Mafioso, die
ebenfalls nichts anderes als Dinge
sind, Dinge benutzen Dinge, Persönlichkeiten existieren nicht, wenn wir
Persönlichkeiten wären, würden wir
auch nicht nach Nirgendwo gelangen, denn Nirgendwo ist das Schicksal der Dinge, egal, wie wir dieses
Ding auch nennen, Tochter, Ehefrau, Hure oder Mutter, Ministerin
oder Putzfrau, wer als Ding lebt,
wird auch als Ding sterben, unsere
Leber wird zerfallen, das Herz entzwei
brechen, die Nieren versagen, jemand wird uns überfahren, während
wir die Straße überqueren, unter die
Räder, krepier, wie meine Mutter,
man wird uns mit einer Bombe in
die Luft jagen, mit einer Kugel, mit
einem Messer aufschlitzen, erdrosseln wie meinen nichtexistierenden
Urahn, als man die Gräfin los werden sollte, Bakterien werden uns den
gar ausmachen, Viren, der Krebs wir
uns auffressen, wir werden uns den
Hals brechen, ertrinken, ein Hai
wird uns auffressen, Termiten aussaugen, der Blitz wird uns treffen,
wir kommen auf eine Weise, Gebärmutter, aus ihr heraus, und wir gehen auf zahllose Weisen, das Kommen ist eintönig, der Abgang fantasievoll, man kann uns auch im Gasofen verbrennen, doch gebären wird
uns kein Baum, keine Wolke oder
Hund, darin verbirgt sich die Botschaft, aber ich weiß nicht, was für
eine, dem Tier geht es ebenso, eine
Art des Kommens, zahllose des Abgangs, was vermutlich bedeutet, dass
das Kommen wichtig ist, nicht der
Abgang, das eine, nicht das zahllose,
wichtig in der Ordnung der Dinge,
die wir Natur nennen, aber es nicht
wissen, wir haben alles durcheinander gebracht, das Kommen halten
wir für selbstverständlich, wir sind
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hier, na und, an das Kommen erinnern wir uns nicht, wir kümmern
uns nicht darum, uns quält nur der
Abgang, sobald wir schnallen, dass
er folgen wird, als ob das irgendwas
Mysteriöses wäre, was es nicht ist,
Dinge werden verbraucht, wie wir
jeden Tag sehen, und der Körper ist
nichts anderes als ein Ding, ebenso
wie Schuhe, zuerst neu, danach alt,
mit einem Loch in der Sohle, also
müssen sie ausgetauscht werden, gebt
uns neue und die alten auf die Müllhalde, mysteriös ist das Kommen,
wenn man noch alles machen kann,
wir haben ein Gehirn, damit wir es
zu hundert Prozent ausnutzen, aber
Pustekuchen, wir schlagen zwei Drittel tot und mit dem übrigen Drittel
enden wir nirgendwo, denn statt uns
ziehen wir Masken auf, wir sind
nicht wir, sondern Frauen, Töchter,
Mütter, Ministerinnen, Putzfrauen,
Professorinnen, Männer, Söhne, Väter, Präsidenten, Müllmänner, deren
Wunsch einzig und allein ist, zu bleiben, was sie sind, diese Maske, die
Masken möchten auf keine Weise
gehen, sie möchten ewig hier bleiben, ewig Dinge sein, wie wir von
Geburt an sind, davor nicht, doch
uns ist es wurscht, was wir vorher
waren, bevor wir nicht waren, waren
wir auch nicht, denken wir, was von
der Wahrheit weit entfernt ist, wenn
wir jetzt sind, dann waren wir auch,
etwas kann nicht aus nichts entstehen, es ist ein wahres Wunder, wie
offensichtlich diese Dinge sind, und
sie werden doch nicht gesehen, wir
sehen nicht, dass wir unsterblich
sind, sondern wir wollen es werden,
dort, wo es unmöglich ist, im Leben
der Dinge, wir begreifen nicht, dass
wir Unsterblichkeit gar nicht wollen
würden, wenn wir sie nicht schon
hätten, wenn wir nicht mit ihr geboren wären, die Möglichkeit ist die
Verwirklichung, und nicht unsere Bemühungen, alle falsch, alle eine Beute des Abgrundes, wohin Dinge gehen, nicht so wir, die Unsterblichen...
TIONS
...Und der Mafioso, der mich meinem Mann weggeschnappt hat, dem
Geschäftsmann, weil er ihm Geld
schuldete, der verließ meine Muschi
eine Woche lang nicht, bis er genug
von mir hatte, er entleerte sich in mir
in einem Zimmer voller Spiegel, an
der Decke, an den Wänden, nur der
Boden ist hölzern, damit er stets sehen kann, was er tut, was er in mich
steckt, den Penis, die Zunge, den Finger und was ich bei ihm tue, lutsche
den Phallus, knete die Eier, diese
Samensäcke, wo sich unsere Unsterblichkeit angeblich in Sterblichkeit
verwandelt, wo zukünftige Schnittmuster für unsere Körper geschneidert werden, in die wir einziehen,
wenn die Panzer fertig sind, wenn
sich der Samen mit dem Ei verbindet und zu einem Baby heranwächst,
zwischen diesen Aktivitäten füttert
er mich und wässert, ich lebe ohne
Kleidung auf roten lakierten Pumps,
mit rasierter Muschi und Achseln,
der Mafioso mag keine Haare, klar,
fremde, die Muschi rasierte er mir,
bevor er ihn das erste Mal hineinsteckte und nachdem er sie rasiert
eine halbe Stunde lang herumgezerrt
hatte, als ob er sie vor Gebrauch studieren muss, während ich im Sessel
mit gespreizten Beinen dasaß, vervielfacht in meiner Nacktheit, lassen
sie meinen Mann kommen und zusehen, den Hurensohn, durch ein
Loch in der Wand, zusammen mit
dem Türsteher, der ihn zum Loch
geführt hat, er sieht zu und genießt
wie der Mafioso, wir sind alle Voyeure, denn wir sind alle gespalten,
alle verrückt von unseren Masken,
derer wir uns nicht zu entledigen
wissen, weil man uns das nicht beigebracht hat, sie haben uns gesagt,
dass wir Masken sind, also sind wir
auch zu ihnen geworden, sobald wir
eine aufsetzen, wachsen wir sogleich
in sie hinein, wenn wir eine abnehmen, wachsen wir in eine andere hinein, Ovid in der Praxis, sagt unsere
Belesenheit, mit der wir ins Nir-
14.4.2009, 20:30
RELA
TIONS
Marina [ur Puhlovski
gendwo geglitten sind, wie in einen
weichen Handschuh, mein Mann,
der Geschäftsmann in Anzug und
Krawatte, einer teuren, Pierre Cardin, bekommt einen Steifen, während er beobachtet, wie mich der
Mafioso von hinten besteigt, wie ein
Huhn oder mich auf seinen strammen Pimmel pflanzt, der Mafioso ist
kräftig, behaarte Arme, Brustkorb
und Rücken, ein wahrer Nachkomme seiner Ahnen, er hebt mich hoch
und nagelt mich aufgespreizt wie einen Frosch, einen besseren Vergleich
sehen wir nicht, die Phallusse in meinen Vorstellungen sind immer groß,
aufgerichtete fleischige Knüppel, wie
ich sie im Leben nicht ertrage, oder
er fesselt meine Arme und Beine an
die Bettpfosten und bohrt mich dann,
wobei ich mich nicht einmal bewegen kann, ich bin das Ding aller Dinge, so lieben sie mich am meisten,
machtlos, das gibt ihnen die Macht,
an der sie, mit Recht, schon längst
zweifeln, schon seit Zeiten des Kraljevi} Marko7, der sich der Macht
der Frauen mit dem Knüppel erwehren musste, „Schlag die Frau, spare
nicht ihren Laib, bis ihr die weiße
Niere zerplatzt“, singt dieser Held
aller Helden, das Abbild der Männlichkeit, der eigenen Schwester haben wir die Brüste abgeschnitten,
wir, Kraljevi} Marko, „die weißen
Brüste“, zur Strafe dafür, dass sie sich
hat vergewaltigen lassen, eine Nutte
und keine Frau, der man es zeigen
muss, nach einer Woche will mich
der Mafioso nicht mehr, er lässt mich
nackt im Haus herumscharwenzeln,
mit rasierter Muschi, in roten lakierten
Pumps, mit dem Recht, dass mich
jeder seiner Bediensteten nimmt, der
Türsteher, der Fahrer, der Butler, der
Sekretär und zwei Köche, wenn es
um Huren geht, sind Männer Kommunisten, alles wollen sie teilen, im
Flur, durch den ich zur Toilette gehen muss, fängt mich sein Fahrer ab,
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„Lass mich dich durchficken“, sabbert er mir ins Ohr und lehnt mich
an Ort und Stelle gegen die Wand,
verlangt, dass ich ihn mit meinen
Beinen um die Taille umfange, damit er mich im Stehen knallen kann,
vor Genuss schreiend, der Butler
überrascht mich in meinem Zimmer
und besteigt mich von hinten auf einem Stuhl, nachdem er mir die Augen zugebunden hat, Abartigkeit ist
verbreitet, in der Küche, wohin ich
gehe, um Essen zu holen, legen mich
der Koch und sein Gehilfe mit dem
Rücken auf den Tisch und nudeln
mich auf einem Haufen frisch geschnittenen Gemüses durch, der Koch
steckt ihn hinein, während mich der
Gehilfe festhält und mir seinen Knüppel in den Mund steckt, danach tauschen sie, der Koch im Mund, sein
Gehilfe in der Vagina, der Türsteher
verlangt, dass ich ihm ihn auf der
Toillete lutsche und den Samen schlucke, der Scheißkerl, danach bin ich
frei, der Sekretär hat sie mir geleckt,
dann hat er ihn mir in den Arsch
gesteckt, wobei ich knien musste und
er „Schweinchen“ säuselte und mich
in die Schenkel kniff, endlich sammeln sich alle, die mich gehabt haben, im Spiegelzimmer, platzieren
sich nackt um einen runden Tisch
herum, meine Ritter, und ich muss
unter den Tisch, vom einen zum
anderen auf Knien kriechen, wie auf
dem Kreuzweg und die Namen der
Rammler über ihre Knüppel raten,
die wie Kerzen aufgerichtet sind vor
dem Anblick der nackten Frau, die
auf den Knien kriecht, welcher gehört zum Sekretär, welcher zum Koch
und seinem Gehilfen, welcher zum
Butler, welcher zum Fahrer, Dinge
haben immer Namen, mein „Ich“
hat ihn nicht, einzig der Mafioso
nimmt nicht an diesem Ratespiel teil,
er ist nur gekommen, um zuzusehen, insbesondere das Ende der Vorstellung, wenn sie sich der Größe
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nach auf mir reihen, vom kleinsten
bis zum größten, nachdem sie sie vor
Lachen platzend ausgemessen haben,
durch das Loch in der Wand sieht
mit dem Mafioso auch mein Mann
zu, der Hurensohn, denn das geht
auch in die Begleichung seiner Schulden, heimlich bereit, mich gemeinsam mit denen da drinnen zu bumsen,
bereit, den Film zu kaufen, auf den
die Reihenübung aufgenommen wurde, damit er in Ruhe zu Hause damit
wichsen kann, all das ist möglich,
also ist es auch wirklich, es ist passiert,
weil es passieren konnte, obwohl es
das nicht ist, obwohl ich mir alles
nur vorgestellt habe, was ist Fantasie,
wo war ich nicht alles in all diesen
Jahren, bis sie mich endlich durchbohrt haben, in Wirklichkeit, nicht in
der Fantasie, und auch später, denn
es ist zur Gewohnheit geworden, hie
und da Unterbrechungen, und dann
Rückkehr zum Alten, ich habe meine Zeit verlassen und bin nach Rom
gegangen, nach Ägypten, nach Istanbul, nach Auschwitz und was war
ich nicht alles, ich, ein Haufen Masken, Sklavin, Jungfrau, Haremsdame,
Lagerinsassin, arme Jüdin...
...Auf meine Rollen bereite ich mich
im Zimmer der Eltern vor, ich, die
Dreizehnjährige, seltener in meinem,
in meins kehre ich wie die seelige
Jungfrau Maria zurück, um von Jungen zu schwärmen, das Zimmer bekam ich, nachdem Verwandte es verlassen haben, plötzlich, unerwartet,
sie sind über Nacht ausgezogen, heute sind sie noch hier und morgen ist
das Zimmer leer, als ob alle gestorben wären, der totale Horror, sie sind
in einen kleinen Bungalow gegangen, nicht in eine Wohnung, zwei
Zimmer am Stadtrand plus kleine
Küche, ein schlammiger Hof, wo sie
fortfahren so zu leben, wie sie es gewohnt sind, auf dem Rücken, sie stehen nur auf, um auszugehen und zu
Königssohn Marko, zentrale Figur der südslawischen Volkspoesie, Beschützer der Entrechteten und Unterdrückten aus der Zeit des Osmanischen Reiches.
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RELA
Januar
kochen, alles andere erledigen sie auf
ihren zwei Ehebetten unter dem retuschierten Bild von ihrer Hochzeit,
von dem aus sie Ljubica verrückt gemacht haben, für die Orgien benutze ich lieber das Elternzimmer, die
wir später durch Truhen, schwarze,
aus der Renaissance, ersetzen werden, mit er ehemaligen Sekretärin
des Poglavnik und der ehemaligen
Kreuzordnerin Mima, nicht meins,
in ihrem habe ich es bequemer, die
Möbel sind massiver, passender als
Kulisse, ein massiver runder Tisch,
grünlich gepolsterte Stühle, Ornamente auf grünem Untergrund, bauchige Schränke mit Mutters intimen
Sachen, eine Psyche mit Spiegel, in
meinem Zimmer gibt es keine, vor
der ich mit den Vorbereitungen beginne, wann immer ich alleine in der
Wohnung bin, nachdem ich zuvor
die Rollläden an den Fenstern heruntergelassen habe, so dass das Licht
durch enge Holzschlitze eindringt,
ich kann es kaum erwarten, die Mutter ist in der Arbeit, der Vater in der
Kneipe an der Theke, der Ellbogen
oben, Zigarette, in der anderen Hand
das Glas, kokettieren mit der Wirtin, und die Kumpels um ihn herum, alle schon mit Organen, die der
Alkohol zerfrisst, Ciboci, das ewig
unrasierte Gesicht mit blutigen Augen, dessen Frau sich aus dem Fenster gestürzt hat und er weiß nicht,
warum, also hört er nicht auf, darüber
zu reden, mit dem Glas auf den Tisch
schlagend, wann immer er auf die
Wahrheit trifft, Ri|i, der es hasst,
dass man ihn „Roter“ nennt, als ob
das etwas schimpfliches wäre, rot
und sommersprossig zu sein, mit
rosafarbener Haut, und so nennen
ihn alle, sobald er ihnen den Rücken
zukehrt, erbittert, weil er so viel Geld
verdient, wie alle zusammen, dann
ein Berg von einem Mann namens
Stevo, der in die Stadt gekommen
war, um Klempner zu werden und
nicht Verwalter eines Straflagers, wie
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es gekommen ist, der Sträflinge „entledigte er sich mit einem Faustschlag“,
erzählte der Vater mit einer gewissen
Portion Bewunderung, Angst und
Verachtung, denn wir sind nicht fähig, eine Ameise zu zertreten, wir,
Puba, obwohl wir mit Nachnamen
Kralj8 heißen, und jetzt schlägt ihn
seine Frau, die ehemalige Lagerinsassin
Jelica, die ihm sowohl in Größe als
auch in Gewicht pariert, beide schikanieren die ehemalige Sängerin, mit
der sie als Mitmieter in ihrer ehemaligen Wohnung leben, die nach dem
Krieg verstaatlicht wurde, worüber
mir diese erzählt, jedes Mal, wenn
ich sie auf der Straße treffe, sie habe
vor ihre Tür geschissen, ihre Katze
getötet, sie redet und weint und ich
höre ihr zu und weiß nicht, was ich
sagen soll, noch weniger, was ich tun
sollte, die ehemalige Sängerin ist eine
alte Frau, die Witwe eines Richters
aus Banski stol, winzig, gebückt, in
uralter Kleidung, Seide, von Motten
zerfressene Pelze, obwoh sie nach
Naphtalin stinkt, alles, was ich tun
kann, ist, sie in die Geschichte einzufügen, schon längst tot, wie das im
Nirgends so geht, der Vater verfällt
öffentlich, die Kumpel heimlich, so
dass alle vor ihm abgekrazt sind, dem
fast Unsterblichen, an Herzversagen,
an Nierenversagen, an verkalkten
Blutadern, sie sind einfach nur verschwunden, Ciboci, Ri|i, der Verwalter des Straflagers... Krankenhaus, dann Sarg, mit dem Küchentuch verdecke ich das in dunklen
Farben gehaltene Ölporträt meines
Vaters, wie auch die Zeit ist, als es
geschaffen wurde, Mitte des Krieges, Ermordungen und Vertreibungen, auf dem Ban-Jela~i}-Platz gehängte Menschen, ein Porträt, das er
in seiner Jugend von einem später
bekannten Maler anfertigen ließ, damit der mit etwas sein Mittagessen
bezahlen konnte, ein ärmliches, wie
auch seine Kleidung war, als er zu
Ruhm gelangt ist, sagte der Maler
meiner Mutter auf der Straße, dass
sie „{mucig“ sei und weigerte sich,
nachträglich sein Gemälde zu unterzeichnen, wie kommt er denn dazu,
für diesen Preis, am liebsten würde
er das Bild pfänden, einmal ist Mutter in ihrem verschlissenen Regenmantel gegangen, um seine Ausstellung zu sehen, die erste in ihrem Leben, wer hat denn Zeit Ausstellungen
zu besuchen, wenn einem der Mann
im Sterben liegt, „Der malt nur Fleisch
in Metzgereien“, sagte sie skeptisch,
als sie zurückkam, „Der Arme war
immer hungrig“, „Wer hat’s, der
hat’s“, sage ich zu meiner Mutter, die
schon seit zehn Jahren verstorben ist,
ich durchwühle Mutters Schubladen auf der Suche nach schwarzer
Wäsche, schwarz erregt mich, die
Huren aus den Romanen sind immer
in schwarz, oder in rot, aber rot tragen wir nicht, wir, Slavica, schwarze
Strümpfe ja, Strapse ja, schwarze
Unterhöschen gibt es leider nicht,
auch nicht schwarze Büstenhalter,
Höschen gibt es überhaupt nicht,
nur weiße Unterhosen bis zum Nabel und die mit Bein, hässliche Dinger, aber Mutter will nicht anziehen
sondern abstoßen, in tiefster Seele
ist sie immer noch Nonne, obwohl
sie mit der Kirche gebrochen hat,
Höschen und Büstenhalter improvisiere ich aus schwarzen Tüchern aus
Seide und Tüll, die Mutter auf Beerdigungen trägt, schwarze Strümpfe
und Strapse hat sie ebenfalls wegen
dieser Beerdigungen, und nicht damit Mutter mit ihnen Vater verführt, durch das Tuch aus Tüll sieht
man meine Brüste, schon große, hervortretende, was verlockend wirkt,
manchmal binde ich sie so, dass sie
ganz durch die Binden hervorlugen,
sie sind vom Binden vorgestreckt,
richtige Hurenbrüste, sie treten hervor,
einen lüsternen Mund lockend, aus
dem Seidentuch improvisiere ich die
ersten Tangas, hinten, auf dem Hintern bedeckt das Tuch meinen After,
König.
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TIONS
14.4.2009, 20:30
RELA
TIONS
Marina [ur Puhlovski
vorne die Klitoris, in die es einschneidet, dann Strapse, dann schwarze
Nylons, beide leider ohne Spitze,
auch Spitzen sind für Huren, dann
schwarze Schuhe mit hohen Absätzen, ebenfalls von der Mutter, ich
trage noch flache, so herausgeputzt
spiele ich vor dem Spiegel alles, was
mir geschieht, wie sie mich und wo
anfassen, beißen, herumzerren, ich
beuge mich, spreize meine Beine,
knete mich, die Entwicklung des Geschehens murmele ich in einer nicht
existierenden Sprache, sinnlose Wörter mit Akzenten, englischen, französischen, deutschen, italienischen,
eine Ursprache, wie sie vor dem Abriss des Turmes von Babylon war, als
sie zerfallen ist, so dass man seitdem
alles übersetzen muss von einer Sprache in die andere, vom Lecken ins
Leere, denn die Sprache des Nirgends
kann nichts begreifen, nur das Schweigen begreift, doch wer kann schon
schweigen, alle wollen nur reden, reden und übersetzen, Jahre des Paukens,
damit man etwas schon gesagtes sagt,
als ob wir sowieso nicht zu viel quatschen würden, wem’s gefällt, wir vergeuden unsere Zeit nicht, ich befummele mich überall, wo ich mir
vorstelle, dass sie mich befummeln
würden, ich küsse meine Arme, Brüste, wenn ich schon feucht und verrückt vor Lust bin, wechsle ich auf
den Stuhl, wo ich mit gespreizten
Beinen sitze oder ich werfe mich auf
die Couch, Mutters, nie Vaters, wo
ich komme, indem ich mir die Hand
zwischen die Beine stecke und sie
fest zudrücke, nur ein Zudrücken
fürs Kommen...
...Und darin liegt die Pointe, weiß
ich heute, einst wusste ich es nicht,
darüber habe ich nicht einmal nachgedacht, was von Bedeutung ist, nach
Vergessen wird gesucht, nicht nach
Erinnerung, ich bin gekommen, aber
meine Figur nicht, die kleine Tippse
wird nie kommen, auch nicht die
Hure im Bordell, auch nicht die Frau
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des Geschäftsmannes, die dem Mafioso ausgeliefert wurde, auch nicht
die Sklavin des Heerführers, auch
nicht die Odaliske aus dem Harem,
auch nicht die Jungfrau, auf die sich
schreiend der Pharao geworfen hat,
eine von zehn, die er eine nach der
anderen in den halbdunklen Räumen seiner wolllüstigen königlichen
Unterwelt entjungfern wird, verglichen mit den einstigen Lüstlingen
sind die heutigen nichts, lehrt uns
die Geschichte, auch nicht die kleine Jüdin, die zum Vergnügen deutscher Soldaten mitgebracht wurde,
die in der Straßenbahn, während sie
sie ins Lager geführt haben, einer der
Wächter unten gepackt hat, „Verglichen mit dem, was dich dort erwartet, ist das nichts“, erklärte er ihr,
nach einem Weg suchend, sie an Ort
und Stelle flachzulegen, ich erinnere
mich noch gut an diese Szenen aus
den Büchern, obwohl wir langsam
schon vergessen, die Dinge verlieren
ihre Namen auf unserem Weg zum
Tod, sie kommen nicht, weil sie vergewaltigt wurden und da gibt es kein
Kommen, nur Qual und Abscheu,
Ekel, Hass, Misshandlung des Körpers, nichts ohne Zustimmung, die
hier immer ausbleibt, wenn der Chef
weggeht, bleibt die kleine Tippse wie
angepinkelt zurück, verwandelt in
nichts, ein alter Lappen zum Bodenwischen, im sparsamen Haus, im verschwenderischen benutzen sie neue,
sie bleibt ohne Wonne und Traurigkeit, in völliger Leere, da sie vergewaltigt wurde, da ist das Grundlegende, diese Einblidung, in der ich
ewig vergewaltigt bin, erniedrigt, vernichtet, in der ich das Opfer, das
Ding bin, es gibt keine Diskussion
darüber, ob ich bin oder nicht, ich
bin ein Ding und fertig, das ist meine Vorstellung von mir und meinem
Geschlecht in meinem dreizehten
Lebensjahr, die sich bis heute nicht
geändert hat, obwohl ich nie vergewaltigt wurde, wenigstens nicht ohne
meine Zustimmung, vergewaltigen
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kann euch auch der, den ihr ranlässt,
so wie mich mein erster Mann vergewaltigt hat, Pele, als er mich entjungfert hat, ohne dass ich etwas gespürt habe, außer Widerstand und
Schmerz, und auch später nie etwas,
nur das Verhindern, dass er ihn mir
zu tief hineinsteckt, denn das tut
teuflisch weh, und so blieb es all die
Jahre, bis ich ihn losgeworden bin,
ihn einer anderen übergeben habe,
die hat ihn im Kaffeehaus gefunden
und mitgenommen, angezogen von
seiner Krankheit oder hat die Krankheit sie wahrgenommen, wie sie mich
wahrgenommen hat, die Krankheit
hat gewählt, nicht sie, nicht ich, die
andere Frau ist auch mit einem Kranken groß geworden, einem kranken
Bruder, sie war von Krankheit umgeben, von vornehin Opfer, sie nahm
ihn zu sich mit und rettete mich vor
seiner Rückkehr, die vor dem Winter unausweichlich war...
...Und ein Opfer bin ich vermutlich,
um nicht schuldig zu sein, weil ich
das tue, was mir verboten ist und was
der Niedergang ins Böse ist, überlege
ich immer noch ans Fenster gelehnt,
ich, die Siebenundfünfzigjährige, stecken geblieben in ihrem dreizehnten
Lebensjahr, wer weiß schon warum,
ja, ich bin böse, aber so bin ich, weil
ich angegriffen wurde, sie nehmen
mich gefangen, vergewaltigen mich,
widersetz dich da mal, was kann
schon ein Mädchen, das zum Pharao
geführt wird, damit der es knallt, es
kann absolut nichts machen, aber
ich bin trotzdem schuldig, weil ich
genossen habe, die kleine Tippse hat
keinen Augenblick lang genossen,
ich aber schon, ich komme jedes
Mal, ich verpasse es niemals, ich bin
schuldig und ich bin nicht schuldig,
wer soll sich da schon zurechtfinden, vor allem mit dreizehn Jahren,
auf der einen Seite hast du ein Loch,
damit sie es dir tun können, wenn
du unten flach und zementiert wie
Barbie wärst, würden sie sich nicht
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24
RELA
Januar
in dich drängeln, der Phallus des
Pharao geht nicht in Stein hinein,
sondern in ein feuchtes Loch, das für
ihn auch geschaffen wurde, auf der
anderen Seite Regeln über die Besitzergreifung dieses Loches, wann, mit
wem, auf welche Weise, alles streng
vorgeschrieben, Natur und Gesellschaft im Konflikt, immer der Konflikt, und die Dinge sind noch komplexer, auch mit dir selbst kannst du
nicht ohne Schuld genießen, wenn
alles vorbei ist, erscheine ich im
Elternzimmer wie Gott mich schuf,
verschwizt, keuchend, mein Fleisch
ekelt mich an, rundherum Mutters
Sachen, die ich in meinen Orgien
geschändet habe, zerknittert, verschmutzt, man muss sie lüften, noch
immer habe ich Angst vor Vaters
Porträt, als ob mich von ihm aus
mein Vater ansehen wird und nicht
seine Vorstellung, wenn ich es seiner
Abdeckung entledige, wenn ich mich
in meinem Zimmer vergnüge, schrecke ich auch vor dem Kanarienvogel
zurück, so dass er auch unter ein Tuch
kommt, wo der Arme schweigt, auch
den Hund werfe ich aus dem Zimmer heraus, damit er nicht sieht, was
ich mache, da hast du den Genuss,
panisches Aufräumen der Requisiten der Unzucht, in Angst, dass mich
diese Sachen verraten werden, dann
wieder schwören, dass ich das „nie
wieder tun werde“, wie bei dem Abschied bei Nata{a, obwohl ich weiß,
dass ich es tun werde, dass ich mich
nicht widersetzen werden kann, das
Leben mit diesem Geheimnis, das
nie sicher ist, die Erde schwor dem
Himmel, dass alle Geheimnisse herauskommen, droht ein Sprichwort,
Frieden lediglich in Bezug auf die
Frage, ob ich „eine Hure werde“, wie
mir Sonja prognosiert hat, „Wirst
du nicht“, antwortet das Buch, das mir
meine Mutter besorgt hat, das mit
schwarzem Einband und vergossenem Menstruationsblut, „Geschlecht,
Liebe und Ehe“, von dr. M. Ko{i~ek,
ein kompilatorischer Mischmasch,
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wie ich nachträglich dahinterkomme,
als mir aufgeht, was was ist, „das, was
du tust, ist kein Herumhuren, sondern Onanie, und das machen alle“,
sowohl der Vater als auch die Mutter, atmete ich auf, oder sie haben es
in ihrem dreizehnten Lebensjahr getan, was ich mir nicht vorstellen
kann, die Mutter entschieden nicht,
schon mit dreizehn hat sie an Altären herumgehangen, was nicht mit
Onanie in Einklang zu bringen ist,
mit Wichsen, was meine Tochter
angeht, so weiß ich nicht, was sie in
ihrem Zimmer tut, nicht früher, nicht
heute, und ich will es auch nicht
wissen, wer würde es ertragen, dass
dein Kind ein Wichser ist, alle sind
Wichser, nur dein Kind nicht, weder dein Kind, noch deine Mutter,
auch du bist kein Wichser, lüge ich
mir ins Gesicht...
...Es war anders, als man nachts lesen konnte, erinnere ich mich, noch
am Fenster, in nichts schauend, am
Tag und in der Nacht in ein Buch
eintauchen, auf Brioni habe ich meine eigene Bücherei, denn diese besucht niemand außer mir, rundherum
Pinien, die Bibliothekarin döst vor
sich hin und ich sitze an einem Buch
wie der absolute Herrscher der Welt,
nach der Rückkehr nach Zagreb muss
ich die Bücherei teilen, aber sie fühlt
sich auch weiterhin privat an, meine
und niemandes sonst, der Besuch in
der Bücherei ist das Tagesereignis,
Bücher von den Regalen nehmen, in
ihnen blättern, sie riechen, nach Hause mitnehmen, wobei sie dich unter
dem Arm wärmen, als ob sie lebendig wären, die Wärme des Geistes
strömt aus diesen Büchern, so dass
ich ganz seelig bin, es sich zu Hause
mit ihnen auf dem Bett bequem
machen, wie mit einem Liebhaber,
umringt von Keksen und Obst und
so tagelang bleiben, nur ich und die
Bücher, wir brauchen niemanden,
wir haben alles, was wir brauchen,
das Sein singt für uns durch die
TIONS
Schönheit, nur für uns, für unser privilegiertes Ohr, wir weinen mit dem
Sein und wir lachen mit dem Sein,
wenigstens glauben wir das, nicht
unsere Dummheiten, Lachen und
Weinen des Universums, keine Menschenseele, um uns zu stören, um uns
für nichtig zu erklären, nirgendwo das
Verdammen des anderen, ich bin
eine Fliege auf der süßen Sahne, die
aus lauter Genuss so sehr mit den
Flügeln geschlagen hat, dass Schlagsahne entstanden ist, wie es in einem
Film hieß, Burton und die Taylor,
also erstickte die Fliege, die Bücher
sind auch weiterhin da, aber sie sind
zu nichts nutze, welche auch immer
ich öffne, es erwartet mich mit einer
Reihe von Buchstaben ohne Bedeutung, nur Stolzieren, Vertuschen,
dass du nirgendwo bist, ein fernes
Erinnern, was sie einst waren, süße
Sahne, bis sie uns erstickten, ich gehe
noch manchmal in die Bücherei, drehe Bücher in den Händen herum,
blättere in ihnen, dann stelle ich sie
in die Regale zurück, ich nehme
nichts nach Hause mit, wozu sie
nach Hause tragen, wenn sie sich
nicht lesen lassen, wenn sie herumliegen, wie geruchlose Leichen, ein
Leben, dargestellt, wo keins ist, als
ob es da ist, als ob es nicht nur ein
Traum ist, aus dem du nicht aufwachen kannst, weil du nicht weißt,
wie, weil du denkst, dass du wach
bist wie ich in dieser Nacht, nur weil
dein Körper aufgewacht ist, er ist
eingeschlafen und aufgewacht, was
gar kein Aufwachen ist, ich in meinem Körper bin nicht aufgewacht,
ich träume auch weiterhin dieses Leben, ich lebe es nicht, sondern träume es, ein Drittel des Tages betrunken, weil ich nicht weiß, wie ich aufwachen soll, mich aus dem Traum
herausziehen soll, sage ich der Nacht
auf der Straße, die nicht schwarz ist,
denn die Nächte sind immer erleuchtet, wenigstens in der Stadt...
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
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RELA
Februar
TIONS
IVAN ROGI] NEHAJEV (1943, Lukovo) arbeitet nach dem abgeschlossenen Studium der Psychologie, Soziologie und
Philosophie zunächst am Urbanistischen Institut Kroatiens. 1989 übernimmt er den Lehrstuhl für Urbanismus an der
Architektonischen Fakultät in Zagreb. Er ist Mitbegründer und Direktor des Ivo-Pilar-Instituts für Gesellschaftsforschung
(1991), wo er heute als wissenschaftlicher Beirat tätig ist. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, Studien und Bücher
aus dem Bereich der Soziologie und des Urbanismus hat er unter seinem Namen Ivan Rogi} veröffentlicht. Nicht allein der
Umfang, sondern auch die Qualität seiner Schriften machen Rogi} zu einem der führenden Essayisten im Bereich der
allgemeinen Kultur- und Gesellschaftsproblematik.
Wenn er jedoch als Dichter das Wort ergreift, publiziert er unter dem Namen Rogi} Nehajev. Seine erste literarische
Veröffentlichung ist der Gedichtband Vorwort („Predgovor“) aus dem Jahr 1969, der bereits ein charakteristisches
poetisches Modell erkennen lässt. Thematisch spannt der Dichter einen weiten Bogen von der Erotik bis zur Natur, wobei
vornehmlich die Landschaft des Mittelmeerraums gemeint ist. Bereits in dieser ersten Gedichtsammlung wird der
verspielte Umgang mit Sprache sichtbar, die durch die Verwendung von Neuschöpfungen und Archaismen geprägt ist. Oft
gibt allein der Klangeffekt von Lautzeichen, Wörtern oder Wortfolgen den Ausschlag. Rogi} Nehajev spielt mit Worten,
indem er sie wie Klänge und Bilder behandelt. Er beteiligt sich am zeitgenössischen literarischen Diskurs, zumal dem
poetischen, während er andererseits auch seiner literarischen Tradition verbunden bleibt. Sein dichterisches Schaffen
offenbart zunächst einen postmodernistischen Hybridcharakter; später wird Rogi} Nehajev zu einer eigenständigen,
oftmals hermetischen Ausdrucksweise finden. Generationen von Poesieliebhabern schätzen seine dichterische Thematisierung von Motiven wie Frau und Eros, Sexualität und Begierde, Lüsternheit und Leidenschaft (Maras Krone – „Marina
kruna“, 1971). Auch seine Gedichtsammlung Gedichte über Namen, Frauen und anderes („Pjesme o imenima, `enama i
drugom“, 1985) hat unter Kennern der Dichtkunst Kultstatus. Im Rausch der Leidenschaft ist, so die Sicht des Dichters, der
gesamte Kosmos enthalten.
Während des kroatischen Unabhängigkeitskriegs (1991-95) sowie in den Nachkriegsjahren entstehen Zyklen von Kriegsgedichten oder besser: Aufzeichnungen an der Grenze von Poesie und Prosa (Schieß und zünde eine Kerze an – „Pucaj i
u`e`i svije}u“), in denen der Dichter „lernen muss, wie er mit dem bitteren Geschmack so vieler Tode im Mund
weitermachen soll“. Eine kritische Ausgabe mit insgesamt sechs Gedichtsammlungen Rogi} Nehajevs erschien 1999 unter
dem Titel Mediterran, zum siebten Mal („Sredozemlje sedmi put“, 1999). 2005 wurde der Autor mit dem Literaturpreis für
dichterisches Schaffen „Goranov vijenac“ geehrt.
Sein jüngster Gedichtzyklus ist angeregt durch die Glagoliza, die älteste slawische Schrift, die unter den Kroaten bereits
vor mehr als tausend Jahren in Gebrauch war. Heute ist sie fester Bestandteil des kulturellen Erbes, der mit Stolz erneuert
und revitalisiert wird. Jede Letter stellt dank ihrer spezifischen Form, die sowohl Symbolcharakter als auch ästhetischen
Wert besitzt, eine Herausforderung an den Dichter dar, nicht nur im assoziativ-meditativen Sinne, sondern auch rein
kognitiv, indem er nämlich der Frage nachgeht: Was kann ein des Lesens und Schreibens kundiger Mensch, der vor vielen
Jahrhunderten lebte, heute über uns aussagen?
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RELA
TIONS
Ivan Rogi} Nehajev
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Auszüge aus dem glagolitischen Fundus
Ivan Rogi} Nehajev
a
A Z ‡ (A)
und, schau, zum dreizack verband die hand sich mit zweiblättriger lymphe
sag nicht: die armen meeresgötter, müssen denn ausgerechnet sie
zu opfern eines werkzeugraubs werden, eines schnöden in uskokenart,
eher gilt (suchte man nach einem willen): das meer hat es so gewollt,
der sorglose zwilling der lymphe: dort drüben, und hier leuchtet es
einem schiff unbekannter herkunft entgegen, unglücklich, weil es sich mit dem abfall
kosmischer doppellaute teilen muss den glanz jener in sich befangenen kugel,
jedoch freudvoll, weil die einsamkeit, die ach so lange, endlich endet im blauen widerschein,
wo durch woge und maschine sich glücklich verbinden
die heiterkeit der heiteren und die schönheit der sterblichen;
und mit der vergessenen pünktlichkeit einer goldenen laune wiederholte es (das meer):
es verdient diesen dreizack jener unbekannte niemand, der beheimatet ist in der schrift;
und, schau, zum dreizack verband die hand sich mit zweiblättriger lymphe
niemand war in der nähe, als das erste eigenständige zeichen in den aufrechten rachen
einen selbstlaut stülpte, gemäß der himmlischen ordnung im recht auf einatmen/ausatmen,
um sich selbst kreisend durch heißes schauern und die vielzahl fremder zwischen seinen beinen,
jener blaue feuerstein, das golden komprimierte ur-, jenes lagerhaus der heimaten;
niemand war in der nähe, einzig der mund öffnete sich freigebig,
den rhythmus vorgebend dort in den steppen der schenkel, in den grabkammern des hirns,
wo das jenseitige, kurzsilbig zusammengefasst,
hineinwächst in die königliche weite der haut, in den ozonzauber der frauen,
wo das du, das ich, und wieder das du, abstammend von der grundlinie, von der zarten haut
der lymphe keimt, wohin es nie endend strebt: in das A der asse, in den azurnen dreizack
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RELA
Februar
E
E S T ‡ (E)
und als nibiru tiamat traf: jene geflügelte kugel, geprägt von der 12,
jene andere kugel, welche wiederum ungeflügelt,
aber angefüllt mit wasser,
war das ein billardspielpunkt ohnegleichen, berichteten
begeistert die sumerer, die propheten an alter übertreffend, so schön ist es,
wenn die götter geistreich sind und die liebe jung, ergänzten sie noch,
indischen feigenmost trinkend und sich in frauen ergießend;
aber jene dritte kugel, eigentlich ein kügelchen, ohne umlaufbahn,
sie macht uns traurig,
unser mond
und als ein fremdling, angeblich nefil, eher: der aus der schrift abstammende,
die augen schloss angesichts dieser gebündelten kohleglut, lärmumhüllt,
erneut dieser sternenabfall das auge, ertönten erneut anstößige geschichten
über die ersten, auch über das arme volk, in seiner hässlichkeit jenseits allen mitleids,
da schnürte es ihm die kehle zu,
gerne stieße er hervor: was schert mich euer gott, doch scharf, von oben
gebietet es ihm einhalt: seine unbekannte herkunft erlaubt ihm keine garstigkeit
über andere, könnte er doch selber einer von ihnen sein,
wirklich gutes billard, bekannte er ungefragt,
und jene dritte kugel, eigentlich ein kügelchen, die schrift möge sie bewahren,
unseren mond
und als ein ami mit kindlichem lächeln, das vielleicht geborgt war
nur für diesen anlass, denn wer würde sonst sagen: armstrong,
zum schritt ansetzte auf dem grauen bildschirm, provisorisch bezeichnet als
mondoberfläche, war es wenig wahrscheinlich, dass ihm
an jener glagolitischen letter in form einer glänzenden sichel
wichtig war jener scheinbar schräge, scheinbar messerscharfe doppelstrich,
ähnlich dem doppelstrich unter einer rechnung für essen/trinken in der kneipe,
der königlich souverän die weiten ovale zähmt; doch, man sah es gut,
entspannt stützte er sich auf ihn schon beim ersten schritt in den grauen bildschirm
wie auf den wichtigeren teil eines antriebsgeräts,
übernatürlich sicher, dass alles gut gehen würde,
gerade wie einstmals der gottesdiener auf dem ararat, eingebettet in die handschrift
der ersten gezeiten, geradeso wie ich übrigens, im nullten ringkampf
um luft und wasser im jahr einundneunzig,
ich weiß nicht, hat es ihm jemand gesagt: man bewahrt sie in der schrift,
diesen doppelstrich, diesen mond
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TIONS
RELA
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Ivan Rogi} Nehajev
I
I (I)
ich biete eine wette an dem, der will,
wenn auch leider ohne aussicht
auf den glücklichen ausgang in der bank
(wie so viele meiner anderen wetten):
cézanne gefiel die glagoliza, paul, der
in apollinaire oft den gedanken an pascal hervorrief,
wie liebte er: offen, insgeheim, ich weiß es nicht,
aber ich bin sicher: liebe war mit ihm spiel;
betrachtet man für nur einen augenblick
die linie zwischen lebenden und nichtlebenden,
jene launenhafte und doch schöne linie,
wobei die hand, sie begleitend, sich zu klarheit verpflichtet
(geradeso wie cézannes hand),
kann man denn die ablagerung jenseitiger spuren
in den leichten formen der geometrie, dem einatmen/ausatmen verwandten,
von der linie vertreiben?
wohl ahnend, wie es darum stand,
ist cézanne, offenbar ein mystiker ohne magengeschwür,
geradewegs in die provence aufgebrochen, nach aix, ach was, nach x,
lieber stelle ich mir vor: er nahm das vinodol1 schräg unterhalb des velebit
dorthin mit, wo die sonne leichter brennt,
und dort fuhr er fort, mit der hand eines unbekannten niemands
der glagoliza eine neue letter anzufügen mit neuer geste,
wo ein dreieck weich verwächst mit einem kreis;
diese versuchsweise vervielfältigung weicher verbindungsglieder
zwischen unendlich weiten nullen
stieß aus ein unbekannter jemand,
selber unendlich weit entfernt, ein vorfahr längst abgeschrieben,
mit mir zum paar verbunden
durch ein übermütiges i2,
i auf i, i gegenüber i, i durch i,
im ikavischen eine menge arbeit, bis ans ende der welt
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1
Ebene nordwestlich von Novi Vinodolski (Nordadria) am Fuße des Velebitmassivs (Anm. d. Übers.).
2
Kroat. i = und (Anm. d. Übers.).
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RELA
Februar
S
S L O V O (S)
oben, über der dreispitzigen strenge
einer pyramide, oder etwas ähnlichem, das an ähnlichem
sich erbaut, also oben, darüber, nirgendwo sonst
ergänzt man den entwurf des himmelsovals:
es tröste sich der schlafende, vielleicht entschlafene, dort im kern,
von wo aus man, angeblich, den ausgang nicht gut sieht,
er tröste sich wenigstens mit einer besseren sicht
auf sirius, venus: jene ersten frauen, achtlos verstreut
in der liebesnacht der ersten mitlaute,
aber auch auf anderes, das sich durch reiben von haut
blau entflammt,
verlautet der wächter vom rande der schrift, die kommata spitzend,
die punkte rundend, es ziemt sich, den entschlafenen im grab zu trösten
mit der ovalen kontur einer tür, und sei es auch ein O wie in ozon
ooooo
wer hat gesagt: staub zu staub,
als würden herzen verteilt in unraa-paketen
aus den fünfzigern, mit milchpulver
und anderem pulver, eiern und all dem zeugs,
ich war dort, merkt an der wächter vom rande der schrift,
die kommata spitzend, die punkte rundend,
für einen augenblick war die mit dunkler last belandene schwerkraft
auch den ahnen klar, ja ihnen gewogen:
gleitend durch das O wie in ozon, oben, darüber, nirgendwo sonst,
verpflichte ich meine lungenflügel mit der parabel des zugwinds,
atme, blut, nicht kehrst du zurück zum monoxyden X,
das schlangenförmige S ergänzt sich froh zur ergänzung
und entfacht die kapazität der lungenflügel, bei mir, bei dir,
murmelt der wächter vom rande der schrift, die kommata spitzend, die punkte rundend,
atme, blut
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RELA
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Ivan Rogi} Nehajev
U
U K ‡ (U)
schreib, so sprach zum wächter der schrift
der sumerische baumeister, wie ein esel betrunken,
es fehlen zwei eier an jedem keil,
schreib also doppelt: eine feste vier,
zweimal die kerbe, zweimal ins denken versunken
schreib, so sprach zum wächter der schrift
der barhäuptige cheops, ägyptens pracht,
es fehlen zwei eier an der spitze der mündung,
schreib also doppelt: eine feste vier,
der nil hat nicht macht, er hat übermacht
schreib, so sprach zum wächter der schrift
der gotische wanderer, der die märchen bevölkert,
es fehlen zwei eier an jedem X,
schreib also doppelt: eine feste vier,
damit füllig die eckige rune sich mehrt
schreib, so sprach zum wächter der schrift
pissend der haarige meister der trockenmauer,
es fehlen zwei eier in schlummernder mündung,
schreib also doppelt: eine feste vier,
sonst wird meine holde nymphe noch sauer
schreib, so sprach zum wächter der schrift
lachend der priester, am wegrand ruhn’d,
es fehlen zwei eier in jedem schoß,
schreib also doppelt: eine feste vier,
zu zweifacher aufnahme: in uterus und mund
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RELA
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O
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o n ‡ (O)
was brachten die veden, was der schweiß
dieses und jenes
kummer, was sonst
du hast keine wahl: schreibend bist du schrift,
und in der zweistadt1 entzweit der weg sich zweibahnig steigend mit zweibogigem schwung,
im paar also ein paar, paarzeichen,
von geschwungener lippe schwingen ringe sich hinauf,
wiederhole: schreibend bist du schrift;
pssssst: belohnt werden die überlebenden, nur sie,
jene gemächigen spiralen, jene voluten zwischen null und null,
wenn die zeit kommt, und sie wird kommen, wird es keine zeugen geben
zu deinen gunsten, im paar also ein paar, paarzeichen,
wird die lunge überallhin ausdehnen,
die zweistadt, was sonst
asien etwa? schmaler als eine zeile und von ausgesuchten schrecken,
und afrika? diktiert vom asthma des digitalen dogmas,
andere kontinente? spiel nicht verrückt, wer hielte ernsthaft noch
die rauheit der jahreszeiten in den taschen galaktischer ovale
für den geeigneten raum, um raum zu krümmen;
du hast keine wahl: schreibend bist du schrift
einatmen ausatmen
zweiwegigkeit ordnet dich lebenden und noch lebenden zu,
und tote gibt es nicht, das fehlte noch,
mörder ohne arznei zählen nicht,
die zweistadt, was sonst
was brachten die veden, was der schweiß
dieses und jenes
kummer, was sonst
1
Anspielung auf das mittelalterliche Städtchen Dvigrad (wörtlich: Zweistadt) in Istrien, das sich mit zwei parallelen Stadtkernen auf zwei
benachbarten Hügeln entwickelte. Seit dem 17. Jh. verlassen (Anm. d. Übers.).
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RELA
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Ivan Rogi} Nehajev
D
D O B R O (D)
lasst euch nicht verwirren durch zwittrige kiefern,
welche ringen in geradlinigem wuchs: sie sind aus der ära der stille,
als die wesen nicht der rede mächtig waren, sondern nur reichten
dieses dahin, dorthin,
ohne erinnerung an roten süden noch weißen westen,
vielleicht satte strahlen in goldener unendlichkeit,
mal leichte, mal grobe nähe, das ja;
auch in der liebe liebte man nicht mit küssen flink aus dem nirgendwo,
ins weite dahingestreckt lag sie hier, da
ähnlich rauer haut an bestimmten stellen
und dann wandelten die wandel, was des wandels ist
und die kiefern zählte man nicht mehr zu den ahnen
und es musste sich die bahn zwischen diesem, jenem
von rechts du, von links ich, sie musste sich, das bezeugt auch jener
letzte priester der zweistadt, der in der schrift beheimatet ist, musste sich
zum bogen krümmen gemäß der parabel des azurs, dann
das aufgequollene zerteilen, die ballen verbinden mit hohem bogen –
so viel schmerz quoll auf ohne genaue stelle, färbte sich blau;
vielleicht hoffte er insgeheim, er würde einmal nur noch
aufrecht wachsen und pfeil sein zum gedenken an die kiefern
und an feuerstein, und so strebte er nach oben, aber um die schrift,
in die er sich einprägte, und was sie pflichtgemäß verbirgt, wusste er nicht
diese bahn, dieser bogen; ließ sich blind nieder zwischen den ovalen,
an den enden kurz, im bogen lang; dass man gerade diesem zeichen
die hypothek des guten aufbürdete1,
weiß denn das dieser letzte nachfahr der zweistadt, weiß denn das überhaupt jemand
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Die Bezeichnung der Letter ŠDobro’ bedeutet Šgut’ (Anm. d. Üb.).
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RELA
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V
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v e d e (V)
mögen die veden dich durch die zweistadt führen, trotz ihrer trefflichkeit
sind sie kein vorbild an klarheit, weniger noch ein fingerzeig des zeigefingers,
zu erahnen ist kein wurf aus ihrem herzen hinauf in das schauern aus azur,
doch sie wissen ihr wissen besser, stehend in symmetrischer haltung zwischen
so vielen irrtümern: dort, im nirgendwo, ist ein ort, an dem sie stehen
gleichermaßen alt, gleichermaßen neu, jene zeichen ohne herkunft,
die mich mehren mit heimatlicher fürsorge, mögen die veden dich
durch die zweistadt führen, wenn rede kullernd, gurgelnd dir aus noch gepresster kehle weicht,
mich lass beiseite, sagt der geflügelte priester, die voluten
morgendlicher güte hinuntergleitend, gib dem leib, was du in reserve hast,
es wird besser sein bei jedem übergang ins jenseits, merkt an der priester, schon frosch geworden
vielleicht reicht es ja auch nicht zu sagen: um die eichel des schwanzes
schmiegt sich diese letter, jenes zeichen, das ohne vorzeichen nicht auskommt
(das rig, allein, und so fort), doch noch halfen westen und süden:
der westen hob die kugeln seitlich an, der süden zog den rest
nach unten, sodass des schreibers hand genau erkennen konnte,
wie sie über diesem erstlingsstück, bei dem niemand weiß, was daran heimatlich
ist, sich aber zwischen den zeilen abzeichnet, wie sie genau
ausholen sollte; merkwürdig, keinerlei befehl gab es weder am anfang
noch später, obwohl man zu ähnlichem anlass jemanden passenden
erwartete (einen herrischen, einsamen), merkwürdigerweise ist da niemand,
nur dieser erstling vermehrte sich zwischen den zeilen, unbekümmert fröhlich,
und je mehr zeilen es gab, desto mehr gab es auch von ihm
zwischen den zeilen
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RELA
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Ivan Rogi} Nehajev
L
LJ U D I E ( L )
mut muss man haben
und mit drei kleinen kugeln ein dreieck skizzieren
und sagen: schau, menschen1;
gut, die zeit der menschen ist vorüber
und es ziemt sich, sie zu versammeln wie zu beginn einer billardpartie
ein guter stoß mit dem queue wird ohnehin kein wunder entfachen,
man kann sagen, wie vormals auch, des stoffes traurigkeit erlaubt es nicht,
aber besser ist es, auf den idiotismus der kugeln zu setzen
nun, was hat damit
diese letter zu tun, eine neben vielen anderen:
sie soll wörter hervorbringen, nicht vernichten,
sprach man schon damals – als man diese lettern aussprach,
und insbesondere die liebe, die an sich schon so unstete,
wie edelgase oder etwas anderes
unheilbar edles
jenes eine
jung ist das herz, jung die glagoliza,
das heimatliche in der schrift wettet auf die schrift,
was denn sonst,
die zeit der menschen ist vorüber – soll man es beklagen,
ohnehin waren sie schlechte schreiber und noch schlechtere leser,
aber drei kreise im dreieck sind vielleicht noch eine warme spur
jenes eine, das hier
österliche läuterung
Aus dem Kroatischen
von Silvia Sladi}
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Die Bezeichnung der Letter ŠLjudie’ bedeutet ŠMenschen’ (Anm. d. Üb.).
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RELA
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str. 37
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RELA
März
TIONS
RATKO CVETNI], Publizist und Erzähler, veröffentlichte 1997 Ein kurzer Ausflug („Kratki izlet“), einen Roman, der zu den
besten Werken – für viele ist es das beste Werk – der kroatischen Kriegsliteratur zählt. In Ein kurzer Ausflug zeigt sich
Cvetni} als ironischer und sozial bewusster Erzähler, der zugleich kritischer Essayist ist. In seinem Erzählwerk zerbrechen
Schicksale von hoch-individualisierten Figuren, die sich dem Mechanismus der – in Kriegssituationen so häufig vorkommenden – kollektiven Identitäten und Manifestationen der Massenpsychologie verweigern.
Der neue Roman von Ratko Cvetni}, mit dem Titel Halbschlaf („Polusan“), thematisiert Zagreb gegen Ende der 80er Jahre,
in einer Zeit der Auflösung des sozialistischen Systems und des Entstehens neuer wertlicher, politischer und ideologischer
Modelle. Die Hauptfigur in Cvetni}s Roman ist der siebenundzwanzigjährige Jura-Absolvent Vjekoslav Modri}, durch
dessen Erzählprisma in der ersten Person wir die dargestellten Ereignisse verfolgen. Seine Charaktermerkmale sind
gleichzeitig die Merkmale des Erzählers: Es handelt sich um einen ironischen und selbstironischen Erzähler, der dazu neigt,
die Wirklichkeit aus der Distanz zu beobachten und sie zu beschreiben. Die zweite Hauptfigur ist Hrvoje Modri}, Vjekos
Cousin und Altersgenosse, der durch seine Lebensart die antagonistische Position im Verhältnis zur „Lebenseinstellung“
der Hauptfigur verkörpert. Durch abwechselndes Erzählen der Ereignisse aus ihrem Leben in einem Rahmen von eineinhalb
Jahren wird das Bild von Zagreb und von Kroatien gezeichnet, in einer Zeit persönlicher, aber auch kollektiver kultureller
Identitäten. Die Einteilung des Romans in Monate (von April des einen bis September des nächsten Jahres) ermöglicht
Cvetni} eine besondere Erzählrhythmik: Im Zeitverlauf, der natürlich erscheint, verdichtet er das Erzählen in einigen
Momenten – die für die Figuren maßgebend sind – zu Szenen. Vjekoslav Modri} ist auf gewisse Weise ein moderner
„Picaro“, ein urbaner und intellektueller Herumtreiber, der im Laufe von einigen Jahren mehrere Arbeitsplätze wechselt
und so durch den eigenen Lebenslauf unterschiedliche Aspekte der kroatischen Wirklichkeit am Übergang von den
Achtzigern zu den Neunzigern zeigt – Lager-Kühlhallen, eine Kunstgalerie, das Journalistenmilieu der Tageszeitung
„Vjesnik“ aus der Perspektive der Korrekturabteilung in einem Keller, ein Unternehmen im Privatisierungsprozess... Indem
er seine Geschichte mit den Figuren einer Generation in einer relativ kurzen Periode verbindet, zeichnet Cvetni} das präzise
Bild einer Zeit und ihrer Paradoxe. Auf der einen Seite ist die zweite Hälfte der Achtziger eine Zeit, in der die Geschichte
scheinbar „ohne Perspektive aufhört“, während sich auf der anderen Seite in derselben Zeit Ereignisse häufen, die nach
dem Fall der Berliner Mauer folgen: das Entstehen erster bürgerlicher politischer Parteien und eine umfassende Veränderung des politischen Lebens. Dessen ist sich Cvetni} sowohl als Autor als auch als Erzähler durch die Figur Vjeko Modri}
bewusst, so dass als Hintergrund des Romans die geschichtliche und dokumentarische Wirklichkeit durchscheint. Weder
ist Halbschlaf von Ratko Cvetni} ein „Schlüsselroman“, noch eine dokumentarisch begründete Geschichte, sondern es ist
ein Roman, der moderne Figuren im Kontext eines geschichtlichen Moments zeigt. Man könnte sagen, dass es auf
paradoxe Weise ein Nachkriegsroman ist, der die Vorgeschichte des Krieges erzählt. Der größte Wert von Cvetni}s
Schreiben ist sicherlich seine Erzählkompetenz, mit der er narrative und reflexive Teile verflicht und sie an den Charakter
der Figur bindet. Die „Fiktionalisierung“ der Geschichte steht hier in der Funktion des Schaffens einer überzeugenden
Erzählwelt, die der modernen Variante existentialistischer Literatur nahe steht.
Die erzählerische und erzählanalytische Fähigkeit Cvetni}s, die wir im früheren Roman erkennen konnten, entwickelt sich
in Halbschlaf mit der Absicht, geschaffene Stereotypen zu dekonstruieren und Schlüsselbilder zu demontieren, die auf
unserer Literatur-, Publizistik- und Medienszene dominieren. Cvetni}s Absicht ist es, mit subtilen Erzählmethoden die
Welt aus der Perspektive seiner Figuren zu formen und nicht mit Hilfe vorgefertigter kulturgeschichtlicher Vorstellungen.
Der Autor, der sich der Spannung bewusst ist, die zwischen persönlicher und kollektiver Identität herrscht, wählt
Erzählsituationen, die das Anders-Sein der Hauptfigur im Verhältnis zu den Standards normalen Verhaltens bemerkbar
macht. Der Hang zum sozialen Randgebiet und den Marginalisierten führt ihn zur Darstellung des urbanen Alltags und den
„kleinen Geschichten“, die nicht der dominanten Mehrheit angehören. Dies macht sein literarisches und essayistisches
Schaffen besonders interessant, denn er verschreibt sich einem Erzählen, in dem es auf existentielle Fragen keine
endgültigen allgemeingültigen Antworten gibt, sondern nur vereinzelte menschliche Entscheidungen.
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RELA
TIONS
Ratko Cvetni}
39
März
Ratko Cvetni}
Ich wachte etwa zehn Minuten vor
dem Wecker auf, als der Zug aus
dem Bahnhof von Ni{ fuhr, doch als
ich zur Toilette wankte – vielleicht
dieselbe, in der Bambi sein schapyrographiertes Manifest versteckte – vergaß ich den Wecker auszuschalten,
so dass er in der Tasche meiner Armeejacke losging, die ich zusammengefaltet auf das Kopfende gelegt hatte
und weckte das ganze Abteil auf,
wahrscheinlich auch die zwei daneben.
Ich kehrte ins Abteil zurück, in dem
er in traurigen synthetischen Jamben klingelte, während die aufgeweckten Mitreisenden ohne Worte –
aber natürlich nicht ohne Botschaft –
darauf warteten, dass ich endlich auf
den Knopf drückte. Ich ließ ihn noch
eine Weile piepsen, damit sie nicht
dachten, dass ich auf ihre Stimmung
etwas gab, besonders nach dem Empfang gestern. Ja, liebe dunkle Freunde, euer Bleichgesicht wird euch
jetzt zusammen mit seinem digitalen
Terror verlassen: Ich lächelte ihnen
im Hinausgehen freundlich zu, einige Minuten bevor der Akropolis
kurz und ein wenig wider Willen in
Sinkovac zum Stillstand kam. Sie
reckten sich ein wenig, sahen mich
mit stummer Missbilligung an und
verschwanden erneut, eingehüllt in
ihre bunten Laken wie Haustierjunge. Als ich gestern Abend versucht hatte, auf Gleis 1 mit dem
Fahrschein in der Hand die Tür des
Abteils zu öffnen, gelang es mir nicht,
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39
weil sie sich von innen verbarrikadiert hatten – wahrscheinlich hatten
sie die Klinke und einen Haken mit
einem Gürtel zusammengebunden.
Das war ihr kleiner Trick, dessen
Erfolgsaussichten minimal waren,
wie, allgemein betrachtet, alle ihre
Aussichten minimal waren.
Ich hatte keine Lust, mich mit ihnen
anzulegen, also ging ich sofort zum
Schaffner und der rüttelte an der Tür
und schlug einige Male mit seiner
breiten Handfläche auf den Türgriff,
als die dunklen fettigen Haarbüschel
in das grelle Licht im Gang blinzelten, mischte er sich munter zwischen
sie, als ob er einen Hühnerstall beträte. Erst nachdem er alle vier oder
fünf in die Ecke des Abteils gescheucht
hatte, gab er mir zu verstehen, dass
ich hinein könne: In die Schachtel,
in der mich verbrauchte Luft und
ihre dunklen Gesichter erwarteten.
Das erinnerte mich an den Gestank,
den ich jedes Mal gespürt hatte, wenn
wir im Klassenverband Josip Ranogajac besuchten, bis ihn eine Krankheit außer Gefecht gesetzt hatte. Die
Ranogajci lebten in der Kellerwohnung im Hof in der Ka~i}-Straße:
Eine halb debile Alte, die immer
überrascht kicherte, während wir uns
um sein Bett aufstellten und der Alte,
Straßenkehrer am Markt Dolac, der
abends mit einer Tasche voll fauligen Obsts und betrunken durch die
Prilaz-Gasse wankte. Wenn er uns
noch bei Josip antraf, dann schloss
er mit dunkler Zufriedenheit die Tür
hinter sich zu und begann einen seiner endlosen Vorträge über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, bei denen wir uns alle Gründe seines verhinderten Glücks anhören mussten.
„Aber dafür kann ich jedem in die
Augen schauen. Fragt eure Eltern,
ob sie dem Mate Ranogajac in die
Augen schauen können?“
Josip kauerte sich in einer Bettecke
zusammen und wir suchten panisch
nach einer Ausrede, um irgendwie
entkommen zu können, während die
Alte weiter dümmlich kicherte und
dabei verstohlen zur Tür blickte, als
ob sie am liebsten mit uns abhauen
wollte.
Josip zog morgens einen Pullover
über sein Pyjama, über den Pullover
eine Kutte und so gelangte der Gestank seiner Kellerfamilie fast unbefleckt in die Klasse. Ich roch ihn jedes Mal, wenn wir uns in der Pause
rauften, und die Mädchen aus der
Klasse streckten zwei Finger hoch:
„Frau Genossin Lehrerin, bitte können Sie Josip in die letzte Reihe setzen. Na, weil er stinkt.“ Später machten wir unsere kleinen Grausamkeiten mit kollektiven Besuchen in der
Hütte in der Ka~i}-Straße, in der
Josip lag, wieder gut, gequält von einer seiner Millionen Kellerkrankheiten, und zeigten ihm die Hausaufgaben, um ihm zu helfen – wie
die Genossin Pädagogin sagte – um
nicht zurückzubleiben. Später, in der
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40
RELA
März
kleinen Kaserne in Banja Luka, lernte ich diesen Gestank ganz genau
erkennen – es ist der Gestank der
Armut; derselbe Gestank, der mir
im Eingang des Abteils entgegenschlug ist der Gestank des Ostens,
der Gestank einer lebenslänglichen
Karpaten-Armut. Auf der anderen
Seite wusste ich, dass ich in einer
solchen Umgebung die Schuhe ausziehen, mich ausstrecken und schlafen konnte, ohne dass jemand den
Untergang der Zivilisation beklagen
würde. Die Idee, den Zurückgebliebenen zu helfen, hatte mich sowieso
schon lange verlassen.
Der Busbahnhof war gleich vor dem
Bahnhof. Ich hatte noch das eklige
Gefühl, dass meine Kleidung steif
geworden war, was immer passierte,
wenn man in Tageskleidung schlief.
Ich konnte mich davon und von dem
Gefühl, dass statische Elektrizität den
Stoff an meinen Bauch und Hüften
geklebt hatte, nur dadurch loswerden, indem ich in der frischen Luft
spazieren ging, indem ich mich lüftete wie eben Bettwäsche. Bevor ich
hineinging, machte ich einige Runden um den Bus (die Liniennummer
stand mit dickem Filzstift auf einem
Stück Karton auf der Fahrerseite),
schüttelte ich den Überschuss Elektronen aus den Ärmeln, Hosenbeinen und dem T-Shirt. Im Bus war
niemand außer dem Schaffner, der
an einem in fettiges Papier eingewickelten Börek kaute und mich beobachtete. Zehn Minuten später erschien der kräftige glatzköpfige Fahrer, bestieg den Sitz und rückte den
Rückspiegel zurecht. Der Schaffner
knüllte daraufhin die Reste vom Börek
und dem Papier zu einem fettigen
Ball zusammen und schoss alles zusammen mit routinierter Bewegung
durch die Bustür, die mit einem Klappern zuging.
Die Zeichnung in Hrvojes Brief war
einfach, aber instruktiv. Sinkovac
war in jener fatalistischen Stimmung
gebaut worden, die besagte, dass es
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sinnlos ist, zuviel Arbeit oder Material zu verbrauchen, weil eine Macht
– natürliche, militärische oder administrative Macht – sowieso früher
oder später alles zerstören würde.
Ende des Zweiten Weltkrieges hatten hier deutsche Truppen aus Griechenland Halt gemacht. Die besiegte, aber noch immer organisierte Armee sollte sich in langen Zuggarnituren für die Heimkehr umgruppieren, zur letzten Verteidigungslinie. Der Aphorismus des berühmten Lec: „Wer das Ziel trifft, verfehlt
alles Andere.“ wurde in der RAF
wahrscheinlich nicht studiert, aber
die britische Schwadron hatte sich
für alle Fälle genügend über die Reichweite der Flugabwehr erhoben, um
beim Bombardieren der Gleise und
des Bahnhofs die halbe Stadt dem
Erdboden gleichzumachen und einen Großteil der Bevölkerung umzubringen. Dieses Lec’sche Verfahren
nennt man in der Militärterminologie „Coventrieren“ und das niedergebrannte und massakrierte Sinkovac glühte und rauchte, völlig totgeschwiegen von der jugoslawischen
Geschichte, in keine ihrer flachen
Schubladen passend; die Geschichte
vom Coventrieren schulde ich einem
Brief von Doktor Hückstaedt, Hrvojes Mentor in Berlin, dessen Vater,
Artillerie-Unteroffizier, an diesem
Morgen im September vierundvierzig im Park im Zentrum von Sinkovac beide Beine verlor.
Es wunderte mich daher nicht, dass
der Ort auch heute noch unfertig
aussieht; Häuser, ganze Straßen, waren wie eine längst verlassene Baustelle, so dass die nicht zu Ende gebrachte Arbeit schon mit Staub bedeckt war. Der Geist sinnloser Arbeit. Der Bus schlängelte geschickt
durch das Netz kleiner und großer
Straßen, verließ den Asphalt und fuhr
auf einem Schotterweg weiter, überholte malerische Pferdewagen, die
von schäbigen Ponys gezogen wurden – die auch Katastrophenopfern
TIONS
ähnelten – und fuhr die ganze Zeit
um das Stadtzentrum herum, das
sich, wenn ich mich nicht irrte, dort
zwischen den Wohntürmen in etwa
ein Kilometer Luftlinie befinden musste, doch immer etwas seitlich von
unserer Fahrtrichtung. Für jemanden wie mich, der so wenig Erfahrung und Lust zum Herumlungern
hat, stellte eine neue Stadt eine topographische Verwirrung dar. Ich bemerkte einige auffällige Gebäude und
erkannte sie wieder, aber ich konnte
die Punkte nicht zu einem Raum
verbinden und das bringt mich in
einer unbekannten Stadt an den Rand
der Panik. In Zagreb kann ich mich
zum ersten Mal in einem Vorortlabyrinth befinden, aber ich weiß
immer in welchem Verhältnis sich
das unbekannte Netz von Straßen
und Abzweigungen zur Stadt steht
und damit – wenn das nicht zu anmaßend ist – auch zu meinem Leben.
Hier ist mir sogar der Begriff der
Ganzheit unklar und ich nehme an,
dass das defragmentierte Bild von
Sinkovac, das ich durch das verdreckte Busfenster sah, dem entsprach, wie
ein Kind die Welt sieht oder, sagen
wir, ein herumirrender Hund. Nachdem wir noch zweimal die Gleise
überquert hatten, verlor ich die Orientierung.
„Sie haben Hisar nicht vergessen,
oder?“ fragte ich den Fahrer.
Ohne vom Gaspedal zu treten, sah
er mich an. In den dunklen Brillengläsern sah ich meinen erwartungsvollen Ausdruck. Er schüttelte den
Kopf und wandte sich wieder zur
Straße. Pavle Vujisi}, in einer seiner
Fahrer-Inkarnationen.
„Junger Mann, glaubst du, du bist der
erste, den ich in die Kaserne fahre?“
Er hielt etwa einen halben Kilometer
weiter, genau bei dem Schild, das anzeigte, dass Fotografieren verboten war.
„Hisar, junger Mann. Raus mit dir.“
HRVOJE kam den breiten Weg zum
Kaserneneingang herab, in seiner
14.4.2009, 20:30
RELA
TIONS
Ratko Cvetni}
Ausgeh-Uniform, aufgerichteter, offensichtlich definierter im Vergleich
zu seiner birnenförmigen Silhouette
in Zivil. Sicherlich eine Folge des
Gewichtsverlusts, insbesondere der
unproduktiven Speckringe, die er geerbt hat von den [aguds. Die vergangenen fünf Monate sind die längste Zeit in unserem Leben, in denen
wir uns nicht gesehen haben und als
wir uns umarmten, spürte ich oder
bildete es mir zumindest ein, dass
unter diesem groben Stoff nicht mehr
der weiche Junge war, den ich Zeit
meines Lebens kannte. Und die Kurzhaarfrisur, ohne überflüssige Büschel,
ein Crew-Cut, den er sich sicher in
der Altstadt hat machen lassen, als
kleines Zugeständnis an seine Kindheit, die wir uns noch einmal in der
Armee gönnen. Mir schien sogar,
dass sein Kopf geschrumpft war, was
nach einem Jahr Armee eine ganz
natürlich Folge des Zusammenziehens der zerebralen Masse war. Als
wir uns in die Stadt aufmachten, auf
einem Weg, der um den Hügel herum zum Fluss führte, wiederholten
wir – uns ständig ins Wort fallend –
alles, was wir einander in Briefen geschrieben hatten, als ob wir, bevor
wir überhaupt einen Spaziergang in
Sinkovac anfingen, zum Ausgangspunkt unserer Trennung zurückkehren wollten, zurück zu jener Oktobernacht auf Gleis 1 im Bahnhof.
Wir tranken einen Kaffee im Restaurant des Hotels Evropa, in dem ich
ein Zimmer für die Nacht genommen
hatte. Eine sozialistische Lounge,
aber guter starker Kaffee, den man
morgens um neun von einer Kellnerin mit Oberlippenbart in orthopädischen Schuhen erwartete. Von hier
aus bot sich ein Blick durch die
messing- und kiefernholzgerahmte
Glaswand auf den Boulevard und
die Hauptstationen von Hrvojes Alltag: Kommandozentrale der Stadt,
das JNA1-Gebäude, die Post, die
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Technikstation, in dem sie sich mit
Zubehör für ihre Informatikspiele
eindeckten und dort hinter dem Zigeunerviertel, in der Richtung, in der
sich der Morgennebel an einem Berghang oder Waldrand verdichtete –
das Polygon.
Der frühlingshafte Tag legte sich auf
das Tal. Dieser Himmel – aus dem
vor mehr als einem halben Jahrhundert seine verschwiegene Geschichte
herabgekommen war, als Maßnahme der Bedeutungslosigkeit, die jeden wahren Sinn des Krieges enttarnt, erstrahlte im Licht der erneuerten Sonne. Ein heiterer Tag, wahrscheinlich wären sich die Bewohner
und Flugpiloten schnell einig geworden, dass es ein schöner Tag gewesen
war, vielleicht war er genauso schön,
als sich der große Arm der Vergeltung über Sinkovac ausgestreckt hatte, wie eine Panzerraupe über einen
Maulwurfshügel.
– Kein einziges Wort habe ich hier
über dieses Ereignis gehört. Unglaublich. So ein body count und keine
Erwähnung. Hückstaedt behauptete, die Bombardierung war mit den
lokalen Partisanen ausgemacht, die
danach in die Stadt marschiert sind.
Die Luftwaffe der Alliierten war, objektiv gesehen, nie in besonderer Reichweite der Partisanen-Geschichtsschreibung gewesen. Vierundvierzig hatten sich die Flieger schon über die
Rechweite der deutschen Flaks erhoben, ein paar Monate später würde sie
oberhalb des internationalen Kriegsrechts fliegen – ausreichend für ein
sicheres Überfliegen von Dresden und
Hiroshima. Geschichte für die Mittelschule. Ich konnte mir ohne besondere Mühe diese Bomben über
Sinkovac vorstellen, wie sie in ruhiger, beinahe geometrischer Regelhaftigkeit eines schweren Gegenstandes
herabfielen, um in jemandes Garten
einzuschlagen, zwischen Kinder, die
in den Keller rannten, in einen Stall,
aus dem ein irre gewordenes Rind
herausrannte und die eigenen Gedärme hinter sich her zog.
Im „Bokal“ hatte ich eine Frage, die
sich mir auf dem Weg nach Sinkovac
unbemerkt wie ein Kaugummi auf die
Schuhsohle gehaftet hatte. „Glaubst
du jetzt, nach fünf Monaten Armee,
dass es Krieg geben könnte?“
„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Weißt
du noch, was Tito uns beigebracht
hat: Wir leben so, als ob es ihn niemals
geben werde, bereiten uns aber vor,
als würde er morgen beginnen. Ich
befürchte, dass die Betonung langsam zum zweiten Teil des Verses gewandert ist. Milo{evi} weiß, dass es
Tito nicht mehr gibt und das verschafft ihm einen enormen Vorsprung
bei der Konkurrenz. Im Unterschied
zu Markovi} weiß er auch, dass Liberalismus nicht für dieses kleine Volk
geeignet ist. Kleine Völker sind wie
kleine Kinder, sie kennen nur die
Grundphilosophie: Wir haben Hunger, es ist kalt, wir sind nackt und
barfuß, verschuldet bis über die Ohren... Serbien hat in Milo{evi} eine
Lösung für die Vorbereitungsphase
gefunden. Ich weiß nicht, was bei
uns los ist. Ra~an hat anscheinend
die Bolschewiken innerhalb der Partei zurechtgewiesen, gratuliere, aber
wenn er einen hungrigen und aufgewühlten Arbeiter sieht, spricht er von
der Krise der Ideologie. Wenn diese
Unterschiede innerhalb Jugoslawiens unerträglich werden, ist ein Krieg
sehr wohl möglich. Obwohl, ganz
persönlich, glaube ich das nicht.“
Für mich waren Unterschiede ganz
und gar nicht unerträglich; für mich
war die Ähnlichkeit unerträglich. Ich
winkte dem Kellner, damit er noch
ein Soda und einen Gurken-Tomaten-Salat brachte. Das Goldene Bokal
wirkte entspannend, der Wein war
mittelmäßig, aber das Soda machte
es milder, auch das Grillfleisch – hervorragend, obwohl etwas zu scharf
JNA, Abkürzung für Jugoslavenska Narodna Armija – Jugoslawische Volksarmee.
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für meinen Geschmack – sondern
auch den ganzen Druck, den die so
genannte Wirklichkeit schuf, die auch
etwas zu scharf für meinen Magen
war. Mitten im Kauen wischte sich
Hrvoje mit der Serviette den Mund
und zeigte diskret hinter meinen
Rücken.
„Du erinnerst dich an Miki?“
Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich
uns genähert hatte. Ja, ich erkannte
ihn, obwohl er etwas runder geworden war und sein Haar spärlicher. In
Zivil, im blauen Puma-Trainingsanzug, noch immer dem Jungen ähnelnd, der vor etwa zehn Jahren die
Kamera und den Projektor im Keller
der Volkstechnik an der D`amija2
zusammen- und auseinanderbaute.
Grajfer und das Gesetz der Rampe.
Er grüßte mich verhalten, als sei er
nicht ganz sicher, ob ich mich wirklich an ihn erinnerte. Wir tauschten
einige höfliche Kommentare über
Zagreb aus und über die Zeit, die seit
damals vergangen war, über den Tod
der Achtmilimeter-Kinomatographie
und danach gab ihm Hrvoje die Exemplare der Zeitschrift „Danas“, die
ich mitgebracht hatte. Aus der Geschwindigkeit, mit der er sich entfernte, begriff ich, dass er aus diesem
Grund ins Bokal gekommen war.
„Er hat mir den Schlüssel eines Schrankes in der Kommandozentrale der
Stadt gegeben. Unsere Zeitschriften
bewahre ich lieber dort auf, als dass
sie sie in der Kassette finden. Normalerweise signalisiert er mir solche
Maßnahmen. „Mladina“ ist sicher
auf dem Index, so wie alles Slowenische, und ich befürchte, es ist nur
eine Frage der Zeit, wann alles in
lateinischer Schrift geschriebene an
die Reihe kommt.“
Mühelos gab ich seinem Bedürfnis
zu sprechen nach. In einem Brief,
der in die Stille segelt, kann der
Mensch die eigenen Gedanken nicht
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richtig hören, jenes spezifische Echo,
das bestätigt, dass die Botschaften
am Ziel angekommen sind und er
hatte das Bedürfnis, endlich von jemandem gehört zu werden, der seine
innerste Sprache verstand, jene, in
der der Mensch spricht, wenn er mit
sich selbst spricht. Mein Bedürfnis
war nicht anders, aber ich ließ ihm
den Vorrang und stellte ihm all meine Geduld zur Verfügung. Eine meiner schlechten Angewohnheiten war
mir dabei behilflich – ich esse schnell,
„stopfe alles in mich hinein“, wie
Mira gern bemerkte und dabei immer
dieselbe Grimasse schnitt – so dass
mich sogar, bevor ich satt war, eine
besondere Dumpfheit übermannte,
die signalisierte, dass das Blut in
Richtung Verdauungstrakt geschossen war. In diesem Zustand konnte
ich mir alles anhören, sogar Geschichten über die JNA und die Notwendigkeit, dass die Armee eine rationale Struktur und keinen administrativ-ideologischen Apparat russischen
Typs haben müsse und dabei bin ich
in der Lage, ganz locker zu nicken und
den Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen zu befördern.
„Wenn das die viertstärkste Armee
in Europa ist, was ist dann die dritte
– die Heilsarmee, die Schweizer Garde des Papstes?“
Ich wollte mich nicht nur auf das
Kopfnicken beschränken. Meine
Zweifel waren nicht von so komplexer Gestalt, sie waren eher auf die
zwanzig noch was tausend Mark gerichtet: Ein Unternehmen in der
Branjevina oder eine Einzimmerwohnung in Neu-Zagreb. Außerdem
hatte ich noch einige literarische
Ideen, die ich im Gespräch mit ihm
abklopfen wollte, bevor ich mich an
die Ausarbeitung machte, doch ich
bewahrte meinen Teil diszipliniert
für unsere morgige Sitzung auf. Ihn
hatte bereits der Alkohol erwischt.
„In den ersten Tagen in der Armee
begann mich ein ungesundes Bedürfnis zu verfolgen – ein dunkler Wunsch,
die verlorene Zeit zu überspringen.
Zuerst befiel es mich im Dienst:
Wenn ich doch diese zwei Stunden
überspringen könnte. Dann Sonntagabend, das sind wohl die traurigsten
Stunden in der Kaserne, wenn ich
doch die Werktage bis zum nächsten
Wochenende überspringen könnte,
diesen Winter, diesen Wehrdienst...
Am Ende bin ich aus diesem Wahn
aufgewacht – all das ist doch meine
Zeit, jede Sekunde dieser Zeit gehört
ganz und gar zu meinem Leben und
warum sollte ich davon etwas überspringen wollen. Mein Leben ist jetzt
in diesen Stiefeln. Außerdem werde
ich wohl nie wieder im Leben die
Gelegenheit haben, mich mit mir
selbst zu befassen und der Welt um
mich herum, auf so bequeme Weise.
Noch ein halber Liter wurde auf den
Tisch gestellt. Das Haus hatte bemerkt,
dass es mit einer ernsten Kundschaft
zu tun hatte und ließ es wissen. Ich
bezweifelte nicht, dass ich mich bei
Kneipenschluss mit ihm über die
Rechnung streiten musste und am
Ende doch Kürzeren ziehen würde.
Als ob er mir Recht geben wollte, riss
er die Flasche an sich und schenkte
beiden ein.
„In der Armee setze ich den Helm auf
und ich bin allein unter dieser Mütze, das heißt, in manchen Augenblicken scheint es mir, dass ich noch nie
im Leben ein ordentlicheres, intimeres Zimmer gehabt habe als das unter
dem Helm. Natürlich fehlt mir Mira
in solchen Momenten, aber ich sehe
das Leben vor uns als Gutmachung
für all die Tage, die ich gezwungen
bin, ohne sie zu verbringen. Ich will
mit einem festen und klaren Blick in
die Zukunft von hier weggehen.
Er hat sich wirklich verändert. Eine
Volksweisheit, die wir von unseren
D`amija – eigentlich die Moschee – ehemals Museum der Revolution.
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Ratko Cvetni}
Großvätern haben, sagt, dass man
Jungen so früh wie möglich in die
Armee schicken soll, damit sie „echte Männer werden“. In Hrvojes Fall
scheint dieses alte Rezept zu wirken.
Vielleicht hat er die Chance genutzt,
die eine ganz neue Umgebung bietet, dass man ganz frei sich selbst neu
erfinden kann, aus dem eigenen Kopf
neu geboren werden kann. Fast hätte
ich mir selbst eine solche Gelegenheit gewünscht: Eines Morgens in
einem Raum voller abgeschabter Rekrutenköpfe aufwachen, unter denen
es kein Körnchen Wiedererkennen
gibt, aufwachen ohne das Erbe der
eigenen Geschichte, die man mit anderen teilen muss, aufbrechen mit
einem großen Kredit unverplanter
Zeit in eine frei gewählte Richtung,
als wäre man an diesem Morgen –
mit noch immer lebendiger Erinnerung an das frühere Selbst – wieder
neu geboren worden.
Wir trennten uns vor dem Hotel
kurz vor Mitternacht und machten
aus, dass ich ihn morgen gleich nach
dem Frühstück in der Kaserne abholen sollte. Die frische Luft hatte mich
munter gemacht und ich ging auf
dem leeren Boulevard spazieren und
rauchte die letzte Zigarette auf der
Brücke über dem kleinen schmutzigen Fluss.
AM MORGEN erwachte ich mit Kopf-
schmerzen, wobei ich nicht ganz sicher war, inwiefern der übliche Kater eine Folge dessen war, was wir
getrunken hatten und inwiefern – im
Resümee unseres gestrigen Abends –
dessen, was wir, um es so auszudrücken, thematisiert hatten. Ich brauchte eine halbe Minute, bis mein Blick
klar genug war, um die Uhrzeit zu
erkennen: Es war schon halb zehn,
was bedeutete, dass ich nicht nur den
Morgen, sondern auch unsere Verabredung verschlafen hatte. Bei dieser Verabredung verstand sich zwar
von selbst, dass wir ausschliefen, aber
im militärischen Sinne, nicht nach
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zivilem Zeitplan. Ich hatte schlicht
und einfach vergessen, den Wecker
einzuschalten. In aller Eile packte ich
meine Sachen zusammen, beglich die
Rechnung an der Rezeption und
sprang in das schmutzige Taxi, das
zwischen den Blumenkübeln parkte.
„Keine Besuche“ wiederholte der Junge in der Kaserneneinfahrt, ein kleiner gedrungener Dummkopf mit
breitem Gesicht, den der Helm wie
einen Pilz aussehen ließ. „Keine Besuche, es ist Alarm in der ganzen
Kaserne!“
Von einigen übel gelaunten Leuten
aus Tuzla, die auf den Bänken im
Wartesaal saßen, hörte ich, dass der
Alarm schon vor Morgengrauen losgegangen war, denn ein Kurier hatte
ihren Sohn im Motel abgeholt, in
dem sie übernachtet hatten und jetzt
warteten sie um zu sehen, ob all das
eine Routineübung war oder etwas
Ernsteres. Jedenfalls ist die Truppe
mit Lastwagen weggefahren, höchstwahrscheinlich in die Berge ostwärts.
Der gräulich-olivgrüne Pilz gab keinerlei zusätzliche Informationen und
wehrte sich mit „Militärgeheimnis“,
obwohl klar war, dass er so viel wusste wie wir. Wie es aussah, würde ich
Hrvoje nicht mehr sehen. Es gab keinen Sinn, vor der Kaserneneinfahrt
zu hocken, also kehrte ich um in
Richtung Stadt, um zu frühstücken.
Aus dem Hotel rief ich noch einmal
die Dienststelle an. Sie waren nicht
zurückgekehrt. Später rief ich wieder
aus dem Goldenen Bokal an, mit
derselben Antwort, aber dort war
wenigstens der Gastwirt, der mich mit
einer Schorle auf Kosten des Hauses
tröstete, nachdem ich mit einem Sliwowitz meinen Kater kurierte. Dann
öffnete er die Tür zur Küche ein wenig und ließ den Durchzug den Rest
des Marketings erledigen: Und tatsächlich befiel mich nach zehn Minuten ein Bärenhunger, den man nur
mit etwas Gegrilltem stillen konnte.
Ich kam mehr als eine Stunde vor
der Abfahrt im Bahnhofsgebäude an,
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meine Zunge prickelte vom Bratensaft und der Weinschorle. Ich wollte
noch in der Stadt spazieren gehen,
um das ungeplante Zeitloch zu füllen, in der eigentlich ein ganzer Tag
verschwunden war, doch dann ließ
ich es sein. Wohin auch? Hrvoje hatte mir gesagt, dass sich das frühabendliche Gedränge auf der lokalen
Promeniermeile in nichts von dem
auf der Masaryk-Straße unterschied,
dass es aber schon um achte keine
einzige Frau mehr auf der Straße gab.
Hier herrschte offensichtlich noch
Ordnung. In den Cafés saßen Männer,
Zigarettenrauch bis zum Boden, es
wurde über Politik geredet, billiger
Schnaps gekippt. Die Langeweile des
kleinstädtischen Abends legte sich
wie eine Strafe auf die Stadt und in
den Zimmern der Dachwohnungen
schälten sich zarte Mädchenbeine aus
italienischen und griechischen Jeans
und träumten davon, so schnell wie
möglich abzuhauen.
Ich konnte den Gedanken an den
Septembertag vierundvierzig nicht
abschütteln und an die Tatsache,
dass seine Spuren (Krater, Gräber,
Löcher im Erdboden, Narben, die
vom Flugzeug aus zu sehen waren...)
aus dem kollektiven Gedächtnis wie
eine Schande gelöscht waren. Wie
kann aus einer Bedeutungslosigkeit
ein Mythos entstehen? Die Bedeutungslosigkeit mit zehn multiziplieren, mit hundert? Der Gedanke an
den Krieg war mir nicht zufällig gekommen, selbst wenn ich tief drinnen
nicht an eine solche Möglichkeit glaubte. Obwohl jedem mit etwas Verstand klar war, dass Jugoslawien, so
wie es war, heute im geopolitischen
Sinn so weit unten stand, dass es
einem Stammeskonflikt überlassen
werden konnte – charakteristisch für
die Blockfreien – glaubte ich dennoch, dass es unter den Antagonisten zuviel Bluff gab, als dass einer von
ihnen wirklich zur Pistole gegriffen
hätte. Doch unabhängig davon, dass
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unsere Meinungen zu diesem Thema im Großen und Ganzen dieselben waren, gab mir das Gespräch
mit Hrvoje ein Gefühl von Vertrauen in den Gesprächspartner wieder,
das ich seit seinem Weggehen nur an
jenen Abenden mit Hrestak gespürt
hatte. Daraufhin versuchte ich noch
einmal aus dem Wartesaal des Bahnhofs in die Kaserne anzurufen, doch
auf der anderen Seite meldete sich
niemand.
Ich weiß nicht, woher sie gekommen
waren, vielleicht war ich in sie hineingeraten, in jener schönen Dekonzentriertheit, die die leichte Alkoholisierung verursachte, auf jeden Fall
hatte mich die Stille in der nicht gerade großen Kneipe nicht darauf vorbereitet, dass es sich um eine Gruppe
handelte. Erst als ich mich an den
Kellner wandte, als mich also meine
Sprache verriet, fragte mich einer von
ihnen, wohin ich fuhr und ich begriff, dass der ganze Raum meine
Antwort abwartete. Es waren klassische Aufrührer, unrasiertes Gesindel
mit Zahnlücken, das jedes Wochenende für ein paar Groschen kreuz
und quer durch Serbien fuhr. Die
Situation befand sich objektiv gesehen am Rande der Scheiße. Deva
hatte mir erzählt, dass ihm etwas Ähnliches in der Hoteleinfahrt in Uro{evac passiert sei, wo ihn sein Nachname
gerettet hatte, den der Rezeptionist
kurz davor auf seinem Ausweis bemerkt hatte. Wenn ich nicht so entspannt angetrunken gewesen wäre,
betäubt in einem Maß, das nur ein
Mensch hinbekommt, der den ganzen Tag alleine trinkt, dann hätte
mich natürlich die Panik ergriffen.
Ich war in einem Zustand, in dem
sich die völlige Gleichgültigkeit ihrem Schicksal gegenüber zu einer
ziemlichen Gleichgültigkeit gegenüber meinem eigenen gesellte. Soviel
ich über die Moral des dinarischen
Menschen weiß, war dies ein gutes
Beispiel für Männlichkeit und Heldentum.
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„Bis Zagreb“ antwortete ich.
„Und, was sagt man in Zagreb?“
Hängt davon ab. Zum Beispiel haben
Deva und ich eines Abends darüber
gesprochen, dass die Frage nach der
gesellschaftlichen Ungerechtigkeit
am meisten von denjenigen gestellt
wird, deren Vorstellung von Gerechtigkeit am unklarsten ist. Dieses Phänomen hat die Belgrader Zeitung
Politika ausgenutzt, indem sie das
Geistesalter ihrer Leser auf der Ebene von Teenagern fixiert hat. Ich
gebe zu, das ist hinterhältig, aber es
würde die Kommunikation mit meinen neuen Freunden erleichtern. Ich
gab ihnen natürlich Recht, aber ich
behielt die ganze Zeit die Pose eines
Mannes, der vorsichtig jedes Argument abwog und ließ sie wie Grundschüler einander übertreffen. Das zeigt
nur, würde Deva sagen, dass eine der
wichtigsten Aufgaben in unserem
Fach darin bestand, unsere Klienten
im Gefühl zu bestärken, dass sie Opfer der Ungerechtigkeit seien. Und
dass wir hier und da etwas in Rechnung stellten. Diese hier erinnerten
mich sehr an Milo{, meinen Mitbewohner aus dem Armeeklub in Banja
Luka und sein unermüdliches Bedürfnis, im Recht zu sein, jeder erdenklichen Situation zuvorzukommen, in der er sich ohne überlegene
Antithese finden könnte. Aus unbeweglicher, unendlicher, mirgränebefallener Winterlangeweile, in der mich
der Kerl ununterbrochen mit seinen
spießigen Mythen, Geschichten und
Ereignissen terrorisiert hatte, die ich
schon hundert Mal von hundert solchen provinziellen Quälgeistern gehört hatte, die nicht aus Eigennutz
logen, sondern aus dem Gefühl der
Nichtigkeit, packte mich der starke
Wunsch, ihn genauso schmoren zu
lassen, wie unseren armen Ofen.
„Stimmt es, Milo{, was die Russen
sagen, dass bei euch in Valjevo...“
„Fünf? Wieso fünf, Mann. Fünfzig.
Der Liter!? Ein Liter ist noch nicht
TIONS
mal für Kinder... Polizei? Noch nicht
einmal die Armee darf...“
Mit allem Möglichen habe ich in diesem langweiligen und verlorenen Winter die armselige Fantasie dieses Jungen gefüttert und sie dankte es mir
mit immer dümmeren und vorhersehbareren Fantasien, so dass es mir
manchmal Leid tat, all das alleine
mitanzuhören. Aus Valjevo kamen
noch immer Neujahrsgrüße als Dank
für die Nachmittage – in denen ich
von Frage zu Frage aufdeckte, was
im Prinzip richtig war, nämlich die
Unwiederholbarkeit seiner Existenz
– die seit vorletztem Jahr von einer
gewissen Olivera mitunterschrieben
werden.
Natürlich war in ihrem Bemühen viel
Misstrauen. Sie versuchten ihre Zweifel gegenüber meiner gelassenen Zustimmung zu verbergen, denn sie
hatten genug Verstand zu wissen,
dass sie dort, wo ich herkam, keine
Verbündete mehr suchen konnten.
Aber abgesehen davon, dass ich nicht
vorgehabt hatte, den Abend unter
einem Berg zerbrochener Barhocker
zu verbringen, war mir alles Andere
scheißegal. Ihre Geschichte war für
mich unwichtig, nicht, weil sie Serben waren, – das war mir völlig egal,
ich war im apodiktischen spießigen
Glauben erzogen worden, der besagte, dass alle Menschen gleich waren
und dass man keinem von ihnen
glauben dürfe – sondern weil sie Herumtreiber waren, eine übernationale transkontinentale, areligiöse Kategorie, ansteckend wie Lepra. Ich fühlte den schrecklichen Gestank jener,
die ihr Schicksal nicht mehr in der
eigenen Hand hatten, sondern die
von einem zum anderen Ende ihrer
Ohnmacht rollten wie Erbsen in der
Pfanne. Ich bestellte eine Runde für
alle.
Bahnhöfe gehören sowieso zu meinen traumatischen Erfahrungen. Ich
lernte sie erst nach Vaters Tod kennen, als wir kein Auto mehr hatten
und als sich unsere regelmäßigen,
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TIONS
Ratko Cvetni}
wöchentlichen Ausflüge nach Branjevina, wie überhaupt das Reisen, in
einen Albtraum verwandelten, dem
ich manchmal noch im Schlaf begegnete. Meine Mutter zog mich
am Arm durch die langen Bahnhofsgänge (wir waren immer spät dran),
durch die Ausdünstungen des Bahnhofsgesindels, das sich in den Ecken,
neben dem Ofen versammelt hatte
und dann durch kalte Wagons, in
denen die Reisenden zusammenrückten, um uns ein wenig Platz zu machen. Ausgerechnet uns, die wir sie
bis gestern noch mit dem Auto auf
der geraden Strecke der Hauptstraße
von Branjevina überholten, vom Bahnhof bis zur Kirche, wo mich der Alte
das Lenkrad halten ließ und zweidreimal auf die Hupe drücken. Für
die Alte musste diese Veränderung
noch viel traumatischer gewesen sein
als für mich. Im Zug begegnete sie
ihren Freundinnen, Schulkameradinnen, Gleichaltrigen, in deren Augen sie im Frauen-Wettbewerb einen
offensichtlich unerreichbaren Vorsprung erreicht hatte: Mann, wenn
auch älter, aber solide, Position, Limousine, Sohn... Nach der Rückkehr
in den Zug, in das gemeinsame Schicksal, gab es kein Ende für Ihr Mitleid
und ich verließ den Zug nach solchen halbstündigen Fahrten, gemästet mit Krapfen, Keksen, Schokoladenbonbons.
„Ich glaube nicht, dass ihr da drüben
ein Bild davon habt, was hier passiert.“
„Aber, sagen Sie mir meine Herren,
stimmt es, was die Franzosen sagen,
dass die Kosovoalbaner Gift in die
Böreks tun?“
Zum Glück kam ihr Zug zwanzig
Minuten vor dem Akropolis. Sie erhoben sich mit dem Gefühl unverrichteter Arbeit: Einige sahen mich
überhaupt nicht mehr an, als sie aufstanden, einer – der sich bestimmt
als erster auf mich gestürzt hätte,
wenn ich das falsche Wort ausgesprochen hätte, auf das sie die ganze
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Zeit gewartet hatten – nickte mir mit
einer Mischung aus Gruß und Drohung zu: „Wir sehen uns in Zagreb.“
Natürlich, ich zwinkere ihm zu und
strecke den Daumen nach oben. Ich
nahm an, er hat diese Geste in Filmen gesehen und dass sie ihm gefiel.
DER FRÜHLING bringt auf gewisse
Weise immer wieder frische Erinnerungen an die Pubertät: Steile Höhenflüge, begleitet von Turbulenzen
aller Art, Adrenalin und das Rauschmittel der erwachten Natur, vermischt
mit Augenblicken totaler Erschöpfung, für die es eigentlich keinen anderen Grund gibt, als den, der unsichtbar irgendwo in der Essenz des
Frühlings schwebt. Gerade im Zustand dieser völlig pubertären Erschöpfung schleppte ich mich mit dem
grauen ^rnomerec-Cañon auf der
Straße Ilica bis zur Fabrik „Dioda“,
wo Devas Vater für mich ein Vorstellungsgespräch organisiert hatte.
Ich wartete, dass mich Herr Farka{
im Büro empfing, nachdem ich schon
die Anwältin erledigt und mit ihr
einen süßlichen Kaffee getrunken hatte. Empfehlungen des Genossen Radevi}, egal wie pauschal sie waren,
verkürzten die Wartezeit vor den
Büros und sicherten auch eine einigermaßen gute Bedienung. Die kleine sympathische Sekretärin, die den
Kaffee gebracht hatte, sah mich heiterem Interesse an, das ich nicht deuten konnte. Die Annahme, so willkürlich sie auch war, das Interesse
könnte sexueller Natur sein, hob immerhin meine Stimmung.
Im Sessel vor der Tür des Ingenieurs
Farka{, neben dem geöffneten Fenster, das einen Blick auf einen unbestimmten Teil des ^rnomerec-Waldes über den Hof von Dioda bot,
versank ich plötzlich in Erinnerungen an die Jahre meines Erwachsenwerdens. An die Zeit, in der man
sich mit der Welt um sich zu befassen beginnt, mit Mädchen, aber in
erster Linie, mehr als alles andere,
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mit sich selbst. Wenigstens war das
bei mir so, denn im Unterschied zur
Mehrheit meiner Altersgenossen, die
der Pubertät mit einer freudigen Erwartung begegneten, hielt ich mich,
so lange es ging, krampfhaft an die
warme Küste der Kindheit, die Arsen
Dedi} besungen hatte. Meine Mutter hatte mir Bücher gekauft, wahrscheinlich um ihre pädagogische Inkompetenz zu kompensieren – oder
die Tatsache, dass ich keinen Vater
hatte, sie wählte hauptsächlich in der
„]iril und Metod“ Bücherei, deren
Autoren, die die Pubertät mehr oder
weniger wie eine latente Geschlechtskrankheit behandelten, die die Jungen dem Weib näher bringt und von
Gott entfernt. Nachts weckten mich
Wadenkrämpfe, verirrte Säfte schossen ohne ersichtlichen Grund durch
den ganzen Körper: Schweiß, der einen unangenehmen Geruch auf der
Kleidung hinterließ, grundlose Tränen, verräterische Spuren nächtlicher
Ergüsse. Und natürlich das Bedürfnis, alles und jeden zu verachten. In
den Büchern blätterte ich mit immer
größerem Unbehagen und versuchte
einen Trost in der Tatsache zu finden, dass ich nicht der einzige war,
dem das passierte. Hrvoje hatte als
Letzter die Pubertät erreicht und als
Erster verlassen, was man auch daran
sah, wie wenig Spuren diese Zeit auf
seiner kissenweichen Beschaffenheit
zurückgelassen hat – als hätte es ihn
nur ein wenig kompakter gemacht
und etwas durchsichtigen Flaum über
der Lippe sprießen lassen.
Bei ihm war die Pubertät vor allem
eine Zeit, in der er anfing, mit den
Themen der Erwachsenen Schritt zu
halten. Auch er las, aber nicht über
die Pubertät, sondern über Ban Jela~i},
Staatsrecht, Maltechniken, Volkstechniken... Und nicht zu vergessen
Krle`a, das erste und letzte Thema.
Obwohl die traumatischen Erinnerungen an diese Jahre langsam verbleichen, erinnerte mich der Frühling noch immer manchmal an die
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RELA
März
Mühsal des Erwachsenwerdens: Aus
Angst vor dem Schrecklichen, das
ich kommen sah, stellte ich überall
Mauern um mich herum auf und
verkroch mich in mir. Das Bedürfnis
nach einem Vater war in dieser Zeit
besonders schmerzhaft, und die aufopfernden Versuche von Onkel Jakov kratzten nur an den Wunden.
Von all den Fragen gequält, die ich
niemandem stellen konnte, ging ich
oft zur Beichte bei einem alten Routinier in der Blasiuskirche. Dieser
Priester, dessen Revers und Schultern immer voller Schuppen waren,
konnte mir nicht die Antworten geben, die mir mein Vater gegeben hätte, aber wenigstens hatte er genug
Nerven, um ständig Öl mit Wasser
vermischen zu wollen.
„Warum, warum, warum?“ zitterten
meine mutierenden Stimmbänder im
vergitterten Halbdunkel des Beichtstuhls.
„Weil wir die Pläne Gottes nicht kennen, aber Er kennt die unseren besser als wir“ seufzte er.
„Aber ich halte das nicht aus.“
„Liebes Kind, im Leben eines Menschen gibt es nichts, was man nicht
aushalten kann. In unserem Sein ist
alles vergänglich.“
Ja, alles, bis auf die Schuppen, Hochwürden. Ich wartete die Erlösung mit
tränengefüllten Augen ab und kehrte
aus der Kirche, von Ohnmacht und
Zweifel erschöpft, zurück, aber trotzdem irgendwie ruhiger und bereiter,
mich meiner Familie zu stellen, sogar
Mutter, die über den Wäschekübel
gebeugt immer weniger Platz einnahm in dieser Welt, die sich von
Tag zu Tag änderte.
In dieser Phase sah ich in den Vätern
meiner Freunde lebende Denkmäler
des eigenen Unglücks. Allen voran
Onkel Jakov, dann Bla` Su~i}, den
dunklen und groben „Patron“ vom
Bambi, der in sich das Gefühl des
drohenden Unbehagens komprimierte und der gezwungenermaßen in
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Deutschland bleiben musste, ausgerechnet in der Zeit, als im Fernsehen
diskret Devas Vater auftauchte.
Eigentlich sahen wir Onkel \or|e
häufiger im Fernsehen als im wirklichen Leben. Er gehörte zur unbeliebten Garnitur, die nach dem Zusammenbruch des kroatischen Frühlings aufgetaucht war, als man allgemein dachte, dass die große Generation kroatischer Nachkriegspolitik
durch Exemplare ersetzt worden war,
die nicht nur politische Feinde der
Idee waren, sondern auch substantiell inferiore Typen waren, hohle Kopien statt Originale. Milka Planinc
statt Savka, Vrhovec statt Tripalo,
Milutin Balti} und Du{an Dragosavac statt Sre}ko Bijeli}. Und Ivo
Pettieri statt Vice Vukov. Natürlich
dachten wir damals nicht darüber
nach, \or|e Radevi} war einfach
Devas Alter, ein Bonze, der aus dem
Ausland Achtmilimeter-Highlights
von amerikanischem Basketball oder
Pornos mitbrachte und der im Gegensatz zu Onkel Jakov oder Onkel
Bla` nie in unsere Zimmer kam.
Auch sonst, sogar zu der Zeit seines
Mandats im Zentralkomitee kam es
Genosse Radevi} nicht in den Sinn,
sich aufzudrängen, egal in welcher
Hinsicht. Er hielt sich an die dritte
Reihe, aus der er, dank seiner kaltblütigen Intuition, immer eine Antwort zu allen Fragen des politischen
Überlebens hatte.
„Gromykos Schule“ pflegte Onkel
Jakov leise brummend zu bemerken,
wenn er vor dem Fernseher saß.
Aus dieser Position bot er seinem
Bruder Neboj{a und dessen Anwaltsbüro die unentbehrliche Logistik, die
den Verkehr auf den immer lebendigeren Umwegen der sozialistischen
Ökonomie verfolgte. Der Sozialismus
war eine tolle Sache, aber was können wir tun, wenn die arbeitende
Bevölkerung keine Fiats und Trabanten kauft, sondern Opel, Volkswagen,
Peugeots... Versicherungen, Entschädigungen, sowie Vertretungen, die
TIONS
durch ein undurchsichtiges Selbstverwaltungs-Franchise blockiert waren, diverse Jugoexporte und Jugoimporte, von denen auch der liebe
Gott nicht wusste, womit sie sich
eigentlich beschäftigten – das war der
natürliche Spielraum dieser zwei Spieler. Beschenkt mit ganz bourgoiser
Rationalität ergänzten sie sich sehr
gut, aber man muss zugeben, dass
beide Menschen Gefallen taten, die
objektiv nicht in der Lage waren,
sich zu revanchieren. So wie mir zum
Beispiel, als dringend das ArmeeProblem gelöst werden musste und
als Onkel Jakov erfolglos Büros des
städtischen Volksverteidigunksamtes
abklapperte um – seinen Stolz und
Ekel diesen Schlangennestern gegenüber herunterschluckend – darum zu
bitten, mich früher den Wehrdienst
leisten zu lassen, damit ich kein Jahr
verlor. Devas Alter rief ein hohes Tier
aus Lika an und die Sache war in
fünfzehn Sekunden vor meinen Augen gelöst: Schatten in der Banja Luka, eine Kaserne, in die sich ansonsten
unambitionierte Söhne höherer Armee-Funktionäre verkriechen, in der
wahrscheinlich auch Deva gelandet
wäre, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zur Armee zu gehen.
Was „Dioda“ angeht, hatte Onkel
\or|e jetzt seinen kleinen Anteil fehlerlos getan. Deva hatte mir natürlich den wahren Stand der Dinge
übermittelt: Die Firma war kurz davor
unterzugehen. Es gab keine Arbeit,
die Gehälter waren minimal, die Arbeiter aufrührerisch, jeder der etwas
drauf hatte, war in eine andere Firma gewechselt oder ins Ausland gegangen.
„Aber wenigstens bist du dann kranken- und rentenversichert. Und du
hast Zeit für die „Grundlagen“, wenn
du sie in der Zwischenzeit nicht ins
Antiquariat verfrachtet hast.“
Herr Farka{ war ein Fünfzigjähriger
mit angenehmem Äußeren, der im
Grunde fortführte, was Deva angekündigt hatte. Er wirkte wie ein älte-
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TIONS
Ratko Cvetni}
rer Zagreber Junge, der sich um das
Protokoll bei Abiturfeiern kümmerte und in den Ruhestand verabschiedeten Arbeitern mitfühlend Vasen
überreichte. Freundlich bot er mir
einen Sitzplatz an.
„Sie werden in der Reklamationsabteilung arbeiten: Die Käufer schicken
manchmal Beschwerden, darum muss
man sich dann kümmern – je nach
Typ klassifizieren und den Sachbearbeitern weitergeben. Und irgendwelche Antworten schreiben und die
dann mir bringen. Beziehungsweise
demjenigen, der mich vertreten wird.
Sie werden nicht viel zu tun haben,
Beschwerden sind selten. Nicht, weil
unsere Produkte gut sind, sondern
weil niemand sie kauft. Am Anfang
arbeiten Sie ein bisschen mit Karlo
Mlinari} zusammen, bis Sie den Dreh
raus haben. Ich werde Sie bekannt
machen. Bo`ena, (er beugte sich vor
und sprach in das vergitterte Quadrat auf dem Tisch) rufen Sie doch
bitte Karlek. Er kennt diesen Sektor
genau und wenn Sie Geduld mit ihm
haben, sparen Sie viel Zeit. Er wird
gleich damit prahlen, dass er das ganze Schreibbüro flachgelegt hat, die
halbe Buchhaltung, meine Sekretärin ... und so weiter. Nehmen Sie es
ihm nicht übel, er hat zu Hause drei
Töchter und eine Ehefrau, die doppelt soviel verdient wie er. Außer
Mlinari} steht Ihnen Herr Bakulj zur
Verfügung. Schwuchtel und Hypochonder. Keine Angst, er hatte schon
sein Coming Out und mag feminisierte Jungen. Er gabelt sie im Bacchus
und in Tunesien auf. Und so weiter.
Sie werden schon sehen. Ich bin ab
morgen krank gemeldet und unter
uns gesagt bezweifle ich, dass wir uns
wieder begegnen.“
Er streckte mir seine warme pummelige Hand entgegen.
„Und grüßen Sie Genosse Radevi}
von mir.“
Der kurze Rhythmus seiner Sätze wies
zweifellos daraufhin, dass Herr Farka{ schon gepackt hatte. Und so wei-
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ter. Wenn ich jemals vorher so präzise Arbeitsanweisungen bekommen
hätte, dann wäre ich jetzt vielleicht
Geschäftsführer im „Vital“. Karlo
Mlinari}, dieses angekündigte Exemplar eines sozialistischen Gewerkschafts-Don-Juan, musste sich nicht
sonderlich bemühen, um mir unsympathisch zu werden. Gleich in der
Tür legte er los.
„Bravo, Alter, die Firma ist am Arsch,
aber es gibt Weiber: Kannst du Papa
ruhig glauben.“
„LIEBES Bruderherz,
nur noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht und ich finde erst jetzt ein
wenig Ruhe. Heute haben wir, mit
den unvermeidlichen Pionieren und
der Sozialistischen Jugend den Tag der
Kaserne gefeiert. Den ganzen Tag Volksmusik und warmes Bier, Heldengeschwätz und blondierte Offiziersfrauen.
Am Nachmittag ein Volleyball-Turnier und Geländelauf mit Urlaubstagen für die Erstplatzierten. Jetzt quälen mich Kopfschmerzen, wegen denen
ich wieder nicht bis zum Morgen einschlafen kann.
Es ist alles katastrophal gelaufen, ich
habe beinahe den Wunsch, mich bei
dir zu entschuldigen. Am Ende erwies
sich auch dieser Alarm im Grunde als
Farce, denn (das hat mir M. im Vertrauen gesagt) sie mussten die Kaserne
räumen um in Ruhe einige Positionen
im Gebäude abzusuchen – natürlich
alles mit den Ureinwohnern unserer
Halbinsel verbunden, auch wenn schon
wir anderen unwiederbringlich verdächtig sind. Noch ein zwei Tage danach
herrschte eine hysterische Atmosphäre
unter den Offizieren, aber es gab keinen konkreten Fang, soweit ich in Erfahrung bringen konnte. Ich habe mit
M. über diese Sachen gesprochen und
seine Eindrücke und Informationen
deuten darauf hin, dass eine Umstrukturierung der Armee von einem
jugoslawischen zum großserbischen Organ hin jetzt ganz offen betrieben wird,
was bedeutet, dass die so genannte
47
Differenzialisierung schon in der serbisch-montenegrinischen Leitung Fuß
gefasst hat: Nationalisten vs. Unitaristen, Roter Stern vs. Partisan. Ihm gegenüber sind sie sehr offen, zumindest
zum Schein, denn sie glauben, er ist
einer von ihnen“ – Name und Vorname verraten ihn sowieso nicht, er deklariert sich als Jugoslawe und in einem Dokument bei Dienstantritt haben Sie versehentlich aus Samobor
Sombor gemacht. Er sagt – ich habe
mich rechtzeitig zurückgehalten, eine
Verbesserung zu verlangen. Und der
Oberst bezeugte auf seine Weise dasselbe, er versank vor den Ereignissen in
immer tiefere innere Emigration. Er
schließt sich im Büro ein und sitzt unter Titos Bild mit derselben fundamentalen Frömmigkeit, mit der unsere Urgroßväter aus der Cetina vor der
Heiligen Mutter Gottes niederknieten.
Ich kann nicht sagen, dass er mir nicht
Leid täte, er ist ein guter Mensch und
seine Pensionierung naht, aber falls er
sich in der Zwischenzeit nicht irgendein Wochenendhäuschen an der montenegrinischen Küste unter den Nagel
gerissen hat, aus dem er einen Blick
aufs Meer hat (was für Rentner immer
eine gute Vorbereitung auf die Ewigkeit ist), steht es schlecht um ihn.
Immerhin haben sich die Dinge hier
seit deinem Besuch zum Guten gewendet. Erstens ist es wärmer geworden.
Wenn es in der Armee eine Jahreszeit
gibt, dann würde ich sagen: Frühling.
Außerdem wurde beschlossen, dass um
die Kaserne eine Mauer hochgezogen
wird und jetzt wird der Gefreite Modri} nicht mehr für seine sowieso zweifelhaften martialischen Fähigkeiten
sondern als Baumeister gebraucht. Ich
helfe zudem Miki dabei, ein Computer-System einzurichten, das wir aus
den so genannten heimischen Komponenten konfigurieren wollen. Es hatte
sich auch ein junger Ingenieur aus der
EI Ni{ angeschlossen, aber der Junge
hatte Ljepojevi} beim ersten Treffen
an der Kopf geworfen, dass man aus
den heimischen Komponenten nicht
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RELA
März
einmal ein Taschenmesser, geschweige
denn einen Computer konfigurieren
könne. Ich muss nicht extra betonen,
dass wir ihn sofort verloren haben. Am
nächsten Tag kam er, um sich bei mir
und Miki zu entschuldigen, dass er
mit den Nerven am Ende sei, denn er
laufe schon seit Monaten mit dem Angebot von Siemens in der Tasche herum, seine Frau könne er nicht überreden wegzugehen, und jetzt machten
sich Offiziere wichtig... Es tut mir
Leid, denn der Junge war sympathisch
und kompetent; ich hatte gehofft, etwas von ihm zu lernen. Alles scheint
darauf hinauszulaufen, dass ich den
Rest meines Wehrdienstes hier ableisten werde, im Kommando der Stadt,
in anständiger Entfernung zum Polygon, zum Südostwind, Schlamm und
unseren kleinen Kor~agins, in deren
Augen ich jeden Tag verlorene Jahrzehnte sozialistischen Aufbaus sehe
(wenn du glaubst, ich übertreibe, dann
unterbreche mich ruhig). Das heißt
aber auch, dass ich nicht so schnell
Urlaub bekomme. Sinkovac verlassen
im Moment, wenn ich endlich eine
Beschäftigung habe? Au contraire, lieber Bruder, jetzt muss man erst recht
anpacken.
Die Danas-Hefte habe ich mit Ungeduld gelesen aber ich habe begriffen,
sogar mit einer Dosis Wut, die mich
überfallen hat, dass ich für diese Art
von Analysierei immer weniger Verständnis aufbringe: Ständig stoße ich
auf Phrasen über die „Grenzen sozialen Durchhaltevermögens“ und dass es
die letzte Stunde sei. Das ist eine Rhetorik, mit der sich Politiker und Journalisten gegenseitig schönreden, wenn
sie einen so genannten öffentlichen
Dialog fingieren. Die letzte Gemeinheit des Kommunismus ist die, dass er
seinen Niedergang als soziale Frage
darstellt. Wenn dieses „Soziale“ überhaupt ein abstraktes Gewicht (Wo? In
Polen? DDR?) haben kann, dann hat
Jugoslawien nie eine andere Frage als
die nationale gekannt. In Belgrad weiß
man das. Was die Grenzen des sozia-
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len Durchhaltevermögens betrifft, kann
diese letzte Stunde Jahrzehnte dauern,
wie es in Russland, Albanien und Korea und ähnlichen Ländern der Fall
ist, in denen die Sonne tatsächlich
„niemals untergeht.“ Wenn die Menschen einmal zu Vieh verwandelt werden, dann versteht man unter Grenzen sozialen Durchhaltevermögens einen
kalten und leeren Stall, und vielleicht
gibt es Zeit und Raum, dass auch dieser Grenzposten ein wenig in Richtung
Nichtigkeit bewegt wird. Aber hier
geht es um andere Sachen, und wenn
wir in Kroatien so tun, als wäre das
um uns herum soziale Poesie – alte
Leute vor Containern, Schlangen vor
Lebensmittellläden und ähnliche erbärmliche Bilder, dann wird uns der
Teufel als erste holen.
Doch kommen wir vom Allgemeinen
zum Persönlichen: Ich freue mich, dass
es mit Dioda geklappt hat. Deva hat
mir schon von dieser Möglichkeit geschrieben – aber ich nehme an, dir ist
bewusst, dass das eine vorübergehende
Lösung ist. Bevor ich es vergesse (wenn
mich Mira nicht schon gelobt hat) –
auch im Hydromont habe ich es endgültig versiebt.
Jetzt nehme ich mir das nicht mehr zu
Herzen, sondern stelle es nur fest. Mir
bleibt noch, mich bis zum Ende der
Dienstzeit mit heimischer Hardware
und der Kasernenmauer zu beschäftigen, die wir auch aus heimischen Komponenten konfigurieren. Zweieinhalb
Meter hoch und ein halber Meter dick
zwischen der Armee und den bescheidenen Versuchungen, die das serbische
Manchester bietet.
Grüße an dich,
Tante und Brankica
Es umarmt dich Hrvoje.
DIE KARWOCHE erwachte an ei-
nem dunklen und regnerischen Morgen, an dem die Zukunft der überflüssigen Firma und ihrer ebenso
überflüssigen Angestellten trüber aussah als sonst. Ich saß am Fenster im
Büro und sah auf den leeren Hof, auf
TIONS
dem jemand einen Transporter mit
eingeschaltetem Blinklicht abgestellt
hatte. Ein kurzer Text in „Ve~ernji
List“ hatte mir den Montagmorgen
verdorben, diese äußerst schwache
Stelle in der Woche, so dass auch
kein Kaffee meine Stimmung aufhellen konnte: Rubrik „Gespräch im
Vorübergehen“ – und die Begegnung
mit dem Dichter Josip Rogini}, der
dieses alles bloß nicht zufällige Gespräch nutzte, um am Ende anzukündigen, dass er gerade mit seinem
ersten Roman fast fertig sei. Wie alle
Literaturheinis, denen der Stoff ausgegangen war, hatte auch Rogini}
sich entschlossen, sich dem zuzuwenden, was er in der Leere seines Talents als die einzige Fülle des Schreibens fühlt – dem Roman. Wir können einen Avantgarde-Pianisten verstehen, der nach einstündigem Hammerschlägen auf die Klaviatur das
Bedürfnis nach einer zusätzlichen
Stunde Essayisieren über die moderne Musik hat – gewöhnlich verbirgt
sich hinter diesem Stück Prosa ein
verletzliches kindliches Ego, das nach
etwas Verständnis sucht – aber wenn
ein etikettierter Dichter, ein Opferpriester, unter dessen Fingern beim
Vermitteln zwischen der Ganzheit
der Welt und ihrem Sinn eine unendliche Klaviatur erzittern müsste, die die Ganzheit der Sprache
heißt, wenn so einer mit dem Hammer zuerst auf die Bühnenbretter einschlägt und dann auf den Roman,
dann ist das Kapitulation, eine Heimniederlage. Die schöpferische Ohnmacht kann vom Roman immer das
hohle Maß formaler Dimensionen
leihen – dreihundert Seiten, halbes
Kilo, fester Einband – aber dahinter
gibt es nichts, auf das man mit einem
Hammer drauflos schlagen könnte.
In zwei Worten – Prolegomena für
ein schnelles Ende des Dichters Rogini}. Es wäre weder etwas Neues noch
Merkwürdiges, wenn die Journalisten nicht nur zehn Zeilen darunter,
über den Roman als etwas sprechen
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TIONS
Ratko Cvetni}
würde, das man „mit Ungeduld erwarte“. Welche Ungeduld? Wer wartet? Diese Kuh, zwei ältere Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für neuere kroatische Literatur und ein zugekokster
Herausgeber, der sowieso am Rande des Selbstmords schwankt. Ich
bin mir nicht im Klaren darüber, ob
diese Leichtigkeit des Modellierens
von Stereotypen meinen Wunsch zu
schreiben fördert oder tötet, aber ich
weiß auf jeden Fall, dass sie meinen
Wunsch, Journalist zu werden, längst
getötet hat. Ich stand im Flur, nervös
den Rauch aus der feuchten Zigarettenkippe saugend, als Bo`ena mit einem Kaffee im Plastikbecher auftauchte.
„Ist dir nicht kalt draußen im Flur?“
fragte sie und betrat das Büro. Ich
wollte ihr etwas entgegnen, was ihre
Aufmerksamkeit von dem Loch im
Büroflur, in dem sie verschwinden
würde, abgelenkt hätte, aber sie hatte
die Tür schon geschlossen. Heute
habe ich kein Glück mit Gesprächen
im Vorübergehen. Aus der Buchhaltung drang Karleks dramatische Schilderung des gestrigen Gedränges auf
dem Jela~i}-Platz, so dass mir die
Lust, dem Kaffeeduft zu folgen sofort
verging, obwohl Bo`ena, Hand aufs
Herz, die einzige war, die diesem
Vormittag einen Sinn verleihen konnte. Außerdem konnte ich im Flur
warten, dass sie wieder auftauchte
und sie zu einem Imbiss im Brauereigasthof einladen. Mit dieser heiteren
Frau hatte ich vom ersten Moment
an jenen Grad an Nähe gefühlt, die
man nicht erreichen kann, sondern
die einfach da ist, beim ersten Gruß
sozusagen, in einer Art Wiedererkennen, auf die besonders diejenigen
empfindlich reagieren, deren Wert
auf dem sexuellen Markt schon am
Boden war, meistens durch die Ehe.
In einem alten Liebeslied heißt es:
Hätten wir uns doch früher getroffen. Sie war wie ein Sportwagen:
klein, lebhaft, Rundungen an den
richtigen Stellen und in ihrer Anwe-
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senheit spürte ich eine Kombination
von Begehren und Gelassenheit, die
leicht im Bett enden kann, obwohl
wir eigentlich bis auf die fragmentarischen Gespräche über den baldigen
Zerfall der Firma nie an anderen
Themen rührten.
Doch die Gerüchte vom baldigen
Tod der Firma näherten sich der
Wirklichkeit. „Dioda“ war eine Hülse,
in die man noch ein- und ausging,
aber es gab keine wirkliche Arbeit. Man
hielt sich noch immer an das pflichtgemäße Kartenstechen um acht und
um vier; die gesamte Zeit dazwischen
stand den Arbeitern zur Verfügung,
die meistens schwarz arbeiten gingen,
während man in den Büros Nachrichten kommentierte (ich konnte
ohne Boshaftigkeit bemerken: auf
viel dümmere Art als im „Vjesnik“).
Und Intrigen wurden gesponnen,
aber soweit ich beurteilen konnte,
ohne großen Einfluss auf den Stand
der Dinge. Das Gehalt kam unterdessen regelmäßig und wahrscheinlich beruhte darauf der Rest der inneren Disziplin. Technisch gesehen
musste ich um Viertel nach sieben
aufstehen, die Stechkarte stempelte
ich um acht ab und um halb neun
hätte ich schon wieder im Bett sein
können. Selbst das hätte man wie in
allen anderen Firmen dieses Typs
durch eine Abmachung mit dem
Pförtner vom Wachdienst „Sigurnost“ abmildern können. „Sigurnost“
hatte seine Leute zwar rotiert, so
schnell es ging, aber ohne besondere
Wirkung, denn das Maß ihrer Käuflichkeit war dieselbe, sodass die Kontrolle der Arbeitszeit mehr vom unmittelbar übergeordneten Faktor abhing, was in der gestörten inneren
Struktur von „Dioda“ nicht wirklich etwas bedeutete.
Devas Instruktionen hatten sich in
jedem Fall als richtig erwiesen; die
Firma war dabei zu zerfallen, und
irgendwo über ihren faulen Dächern
schwebte wie ein Geier die Oligarchie der Arbeitgeber: ein dicklicher
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Volkswirt, ein magerer Parteisekretär,
der Generaldirektor Vlado Pu{kari}
und noch ein paar Mitglieder des
Teams, die im Direktorzimmer in
der Var{avska-Straße residierten.
Was die Arbeit selbst betraf, so verirrte sich manchmal eine Reklamation
auf meinen Tisch, oft Schriftstücke
auf Kyrillisch aus Serbien oder der
Vojvodina, auf ultradünnem Schreibmaschinenpapier, in blauen Buchstaben von Rand zu Rand beschriftet,
die mir Karlek brachte, nachdem sie
tagelang auf seinem Tisch gelegen
hatten. Es waren in der Regel Versuche eines ironischen Diskurses, auf
der Spur nach dem allgemeinen Ton
der „Echos und Reaktionen“ in der
„Politika“, Invektiven in der Interpretation eines halb gebildeten technischen Sachbearbeiters aus Obrenovac oder Ljig, geschmückt mit so vielen unnötigen Anführungszeichen,
als kämen sie aus der Sportredaktion.
Ich konnte mir den Genossen Techniker vorstellen, wie er in einer rjepinischen Szene, umgeben von ungehobelten Lagerarbeitern und Fahrern
der Sekretärin mit Zahnlücken diktierte: „Vielleicht können wir im so
genannten Klein-Serbien nicht Januar von Juni unterscheiden, aber wir
unterscheiden noch immer einen funktionierenden von einem nicht funktionierenden Adapter, besonders in der
Garantiezeit, die erst im Dezember
des folgenden Jahres ausläuft... außerdem möchte ich Sie an den Fall LEDDiode erinnern, vom Mai letzten Jahres, oder wenn es für Sie einfacher ist,
im fünften Monat, als Sie uns mit
Transformatoren beglückten, von denen kein einziger...“ Ich ließ einige
Tage verstreichen und legte ein Blatt
in die Schreibmaschine: „Ihr Schreiben hat viele Echos und Reaktionen
in unserem Kontrolldienst verursacht“
schrieb ich in die Vorlage, woraufhin mir Karlek, (der die kyrillischen
Schreiben anstarrte, als sähe er eine
Seite des Al Ahram) reagovanja durchstrich und reagiranja drüber schrieb,
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März
und nutzte die Gelegenheit, wenn sich
eine der jungen Daktylographinnen
in der Nähe befand, mir aus der
Höhe seiner Chef-Rechtschreibung
einen kurzen Vortrag zu halten.
„Kollege, im Kroatischen ist die Endung für Verben „-iranje“ und nicht
„-ovanje“.
Ich ließ mich mit dem Dummkopf
nicht auf Debatten ein. Überhaupt
ließ ich mich in „Dioda“ auf nichts
ein, nicht weil ich es als ein Gelübde
gewählt hatte, sondern weil mich die
Erfahrung im „Vjesnik“ und „Galerija“ darin bestärkten, dass meine
beste Einstellung zum Arbeitsplatz
noch die im „Vital“ gewesen war. In
den ersten Tagen brachte ich eine
Zeitung zur Arbeit mit und nach einer Büroregel wurde sie schon gegen
neun zum Allgemeingut und zerfiel
in mehrere private Blätter. Karlek
nahm den Sportteil, die Schwuchtel
die Klatschseite, Banjac und der Partisane Janjanin den Politikteil, die
vollbusige Buchhalterin die Todesanzeigen...
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Eines Tages sammelte ich die Fetzen
in meiner Pause ein und ordnete sie
zu meiner Zeitung: ein vertrockneter Kaffeerand auf der Titelseite, mit
Kugelschreiber gekritzelte D-MarkUmrechnungen, ein halb gelöstes
Kreuzworträtsel und ein mit Skalpell ausgeschnittenes Rechteck oberhalb des Tollwut-Artikels. Ich wusste, dass sie diesen Ausschnitt, den
Titel oder einen Teil, mit Tesafilm
auf den Rücken von jemandem geklebt hatten. Das Spiel kannte ich
noch aus „Vjesnik“ – so werden gewöhnliche Büroclowns geschmückt,
die dann mit der Etikette nach Hause gingen und die Pförtner, die in
ihrer kleinlichen Art keine Sekunde
Verspätung duldeten, ließen die Menschen so auf die Straße und empfanden es wahrscheinlich als Verarsche.
In einer möglichen Klassifizierung
könnte diese Art von Zeitvertreib
unter die Rubrik „Bürohumor“ fallen, das waren Witze auf niedrigstem Niveau, die sich die Bürger gern
in der Kneipe erzählten und dabei
TIONS
vergaßen, dass man die Dinge in der
Kneipe beim richtigen Namen nannte. Über die Beamten und zuviel Freizeit, über den Humor dieser eingebildeten Büro-Deppen könnte man
eine Monographie mit vielen monströsen Beispieln schreiben.
Als ich an diesem Tag nach Hause
kam und den Mantel an den Haken
hängte, hing der Zeitungsausschnitt,
auf dem „Quelle der Ansteckung“
stand, logischerweise an meinem Rücken. Diese Episode – die, so erklärte
mir Bo`ena am nächsten Tag mitfühlend, zum Initiationsritual gehörte – befreite mich vom letzten Körnchen einfühlsamer Kollegialität, und
von da an nahm ich statt einer Zeitung
als wichtigsten Teil meines tägliches
Gepäcks in die „Dioda“ die „Grundlagen des Vermögensrechts“ mit.
Aus dem Kroatischen
von Bla`ena Radas
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April
TIONS
AIDA BAGI] wurde am 24. Juni 1965 in Zagreb geboren. Nach dem abgeschlossenen Studium der Sprachwissenschaft
und Philosophie an der Philosophischen Fakultät Zagreb absolvierte sie einen Magister-Studiengang in Politikwissenschaft
an der Universität Massachusetts in Amherst, USA. In den letzten acht Jahren lebt sie abwechselnd in Zagreb und Belgrad.
Aida Bagi} arbeitet als selbstständige Forscherin und Beraterin für Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter und
der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Zuvor versuchte sie sich als Journalistin und Tellerwäscherin, Verkäuferin und
Übersetzerin für Englisch und Deutsch, als Model und Redakteurin. Sie trat hervor als Begründerin von feministischen
sowie Friedensorganisationen, einer GmbH und eines Handwerksbetriebs. In Kursen lehrte sie kreatives Schreiben,
Kommunikationsfähigkeiten und gewaltlose Konfliktbeilegung. Sie berichtete über Parlamentsausschüsse und autonome
Fraueneinrichtungen, über soziale Unternehmensverantwortung und internationale Unterstützung der Frauenbewegung,
über Volontariatseinsatz und sexuelle Minderheiten. Gedichte und Prosatexte von Aida Bagi} sind in zahlreichen
Zeitschriften erschienen.
Der Gedichtband Wenn ich Sylvia heiße („Ako se zovem Sylvia“) versammelt das bisherige, in verschiedenen Zeitabschnitten entstandene lyrische Schaffen der Autorin. Die gemeinsamen Merkmale der darin präsentierten vier Gedichtzyklen
liegen in dem Bemühen, sich im eigenen Fühlen zu sammeln und die Zeitlichkeit zu hinterfragen. Zu den wichtigen Topoi
dieser Lyrik gehört die Hinterfragung der Identität, zumal der nationalen und der sprachlichen, vornehmlich aber der
geschlechtlichen und sexuellen Identität. Der Einfluss der russischen avantgardistischen Literatur ist ebenfalls sehr stark
spürbar und reflektiert sich in einem spezifischen, Ton angebenden Rhythmus, aber auch in einer deutlichen Engagiertheit.
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RELA
TIONS
Aida Bagi}
Wenn ich Sylvia heiße
Aida Bagi}
Proustische Zeiten
Jeder Blick zur Seite, mit dem ich am Rande den Teil eines
Gegenstands, einer Bewegung, eines Bildes erhasche, wirft mich
zurück in die Erinnerung. Ich sammle die Fetzen der
Vergangenheit, Reflexe meines einstigen Inneren, und manchmal
kommt es mir vor, ich könnte irre werden, wenn all das plötzlich
auf mich einstürmt. Als gäbe es keinen einzigen vollkommen
neuen Augenblick, der nicht Fragmente früherer Augenblicke in
sich trüge, wie Scherben, die aus dem Sand stieben (was für
Stürme haben mich erfasst?), und ich weiß nicht, was ich mit ihnen
machen soll.
Wenn ich es aufschreibe, bringt es nichts. Wenn ich es nicht
aufschreibe, bringt es nichts. Unruhig bin ich so oder so, und die
Erinnerung lässt sich nicht bezwingen.
Ich wünschte mir Jetztzeit, Stillwerden, nur in diesem Augenblick
sein. Hier und jetzt, hier und jetzt, wiederholen die bunten Vögel
auf der Insel, die wie von Huxley erschaffen scheint, wiederholen
die Selbsthilfe-Ratgeber, wiederholt meine beste Freundin, hier
und jetzt. Jetzt, das sich nicht trennen lässt von dem Einmal, Einst,
Damals, Irgendwann, Hier, welches nach dem Dort, dem Woanders ruft,
wo gibt es diese Gesammeltheit im Hier und Jetzt?
Jeden Tag arbeite ich an meinem Buch. Schnell und mühelos.
Alle vergessenen Sätze, die ich im Halbschlaf niedergeschrieben habe,
die in blitzartiger Inspiration wie Funken sprühten, die ich laut
(nur für mich) und leise (selten nur für andere) ausgesprochen habe und
die aus reinem Klang bestanden, drängen in diesen Tagen
(es ist Herbst) auf mich zu wie an ein Ufer.
Ich bin Wasser. Habe kein Ufer. Zerfließe. Habe keine Grenze.
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RELA
April
Das Plakat
war echt O.K. Keine Ahnung, warum man es zerrissen hat. In
kleine kleine kleine Fetzen. Da war wohl jemand sehr sehr sehr
wütend. Ich setzte mich auf den Asphalt (falsch, ich habe mich nie
einfach so, aus heiterem Himmel auf den Asphalt gesetzt) und
fügte die kleinen kleinen Fetzen zusammen, wie sie mir in die
Hände fielen, suchte nach den kleinen Fetzen, die ihm durch eine
andere Hand genommen worden waren.
Und so fiel mir Aschenputtel ein. Der, weil sie ausreichend
hartnäckig und tüchtig war, am Ende die Tauben halfen und die
Mäuse, und auch der Prinz erschien.
Aber Aschenputtel lebte im Märchen. Weiß ich denn, wo ich lebe?
„Es ist in der Tradition der russischen Literatur,
ständig nach dem Sinn des Lebens zu suchen.“ Wie ungewöhnlich!
Noch in meinen ersten Jugendjahren wurde ich zu einem Teil der
russischen Literatur, dabei hatte ich damals von russischer Literatur
kaum eine Ahnung. Zwar schrieb ich in mein Tagebuch: „Ist denn
nicht so manches lächerlich?“ und träumte, dass Fürst Myschkin
über die hölzerne Balkonbrüstung bis unter mein Fenster kam und
mich ansah, mich ansah ohne zu verstehen – als ob er eigentlich
nicht mich ansah, sondern irgendwohin ein wenig an mir
vorbei.
Es blitzte die ganze Nacht. Und es donnerte,
nur ich habe es nicht gehört. Die Bäume habe ich gesehen, im
grellen Schein der Blitze, für einen Augenblick nur, wie sie sich
bogen und brachen, ich habe gesehen, wie das Wasser aus den
Regenrinnen und an den Fensterscheiben herabströmte, und es
erinnerte mich, dieses ganze Herabströmen, an eine Zeit, als all das,
was ich jetzt nur beobachtete, von Geräuschen begleitet war,
vor denen ich mich fürchete, von denen mir die Angst in die Knochen kroch.
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TIONS
RELA
TIONS
Aida Bagi}
Ich habe nichts mehr in den Knochen, Angst am allerwenigsten, jetzt
finde ich es lächerlich, die Bäume zu sehen und das Wasser und die
Menschen und die Tiere, wie sie vor dem Unwetter davoneilen und
sich biegen und brechen und strömend
übereinanderstolpern.
Jetzt bin ich taub. Wasser.
Und doch habe ich einmal auf dem Asphalt gesessen,
wirklich, Ehrenwort, aber nicht hier, wo – was weiß ich, wo ich
lebe, sondern irgendwo ganz weit weg im Ausland. Wir waren
mehr als hundert und saßen auf dem Asphalt, mitten auf der
Straße, jawohl, auch ich war dort und habe alles Mögliche
getrunken, und noch immer lähmt sich mir die Zunge vor Angst,
wie damals, als ich die Bullen kommen sah in ihren wie
sprießendes Gras grünen Uniformen.
Das war im Sommer zweiundneunzig in Freiburg.
Die Bullen waren anständig. Sie haben uns sitzen lassen. Nachher
haben die jungen Europäer mit ihrem gewaltlosen Sit-in geprahlt,
und meine Freundin Vanja und ich haben einander nur ratlos
angeschaut.
Vanja sagt,
ich bin aus Osijek. Die Leute fragen, wo das ist. Das ist weit weg,
weit weg, und ich habe all die Lieder schon vergessen, die immer
noch auf Radio em em zwei gespielt werden. Vanja sagt, dass ihr
Vater, der Zigeuner ist und gern musiziert, einmal eine Tanne ohne
Wurzeln in die Erde gesetzt hat. Eine auf dem Markt zu Silvester
gekaufte, ganz normale, überhaupt nicht umweltbewusste,
natürlich gefällte, tote Tanne. Sie grünte immer weiter, die frisch
gefällte Tanne vom Neujahrsmarkt. Erlebte den Frühling. Hat
Wurzeln gelassen und wächst. Eine gewöhnliche Silvesterund/oder Weihnachtstanne, mit einem Beilhieb abgeholzte Tanne.
Und was hat das jetzt damit zu tun, ob ich hier und/oder da bin.
Wurzeln bilden sich in guter Erde, sagte Vanjas Vater, der
Zigeuner ist.
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RELA
April
Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen
in einen hohen Turm. In der Nachmittagsbesuchszeit stieg sie die
schmalen Treppen zur Wiese hinunter, auf der alle zusammen
saßen, Vater, Mutter und sie, und sich über alltägliche Dinge
unterhielten, bis die Mutter sagte, sie sei sehr müde und müsse
zurückkehren. Das war fast immer pünktlich um vier, wenn die
Dienst habende Schwester ohnehin das Ende der Besuchszeit
verkündete. Die Mutter stieg die schmalen Treppen wieder hinauf,
und sie und der Vater verließen das Krankenhaus und sprachen
dabei über alltägliche Dinge.
Macht nichts, sagte ich. Weißt du, die Weltgesundheitsorganisation
hat vor kurzem Diagnosen abgeschafft. (In uns allen spielen sich
lediglich unterschiedliche Prozesse ab, Tag für Tag. Eine Diagnose
ist immer falsch.)
Im Spiegel
sah ich Wasserwirbel, die Gesichter trugen – Gesichter von
Frauen, die Jahrhunderte, bevor ich geboren wurde, in ebendiesen
Wasser untertauchten, nach eigenem Willen oder auf Veranlassung
jener, die ihre Herren waren.
Jeder Wirbel ist eine Frau, die vor ihrer Zeit getötet wurde.
Wird eine ausreichende Anzahl von Körpern auf den Grund eines
Flusses hinabgezogen, besänftigen sich die Wirbel und
verschmelzen mit dem schlammigen Grund. Viele Körper sind
notwendig, um einen Wirbel zu besänftigen. In bestimmten für
Wasserwirbel glücklichen Tagen kamen die Körper, halbtot, in
riesigen Mengen. Die Flüsse blieben danach noch sehr lange besänftigt.
Wie kommt es, dass Flüsse nicht weinen, fragte ich als Kind.
Wozu, fragten sich die Flüsse gegenseitig.
An Wasserwirbeln kommen wir nicht vorbei.
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TIONS
RELA
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Aida Bagi}
draußen ist es besser
maja sagt
verbring nicht so viel zeit in deinem kopf
maja ist weise
gehorsam gehe ich hinaus
aber
in der viereckigen kammer über meinem linken ohr
wohnen meine eltern
ich zanke mit ihnen wie ein kleines kind
sie sind in meinem kopf
ich bin draußen, doch mein kopf tut weh weh weh
trotzdem
es ist besser draußen an der frischen luft
als im eigenen kopf
meer angst und sturm
ich stehe vor dem morgengrauen auf
und schaue schaue schaue
wie sie vorbeiziehen
wolken menschen flaschenpost
ich lebe auf einer insel
menschen ziehen in meinem kopf vorbei, wolken am himmel
nachrichten in verschlossenen flaschen treiben an felsen entlang
an die ich nicht herankomme
es steht mir in die hand geschrieben
ich darf die linien in meiner hand nicht zerreißen
flaschen treiben eine zeitlang
dann trägt sie das meer davon
angst
und sturm
ich stehe auf
und schaue schaue schaue
in die eigene hand
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RELA
April
TIONS
vom backofen und von turteltauben
der backofen ist ein magischer ort
das feuer FIRE segnet das essen:
wir essen gebratenes fleisch
kartoffeln und weißbrot
lass uns das weihnachtsbrot aus weißmehl brechen
und das rote ei zum schutz des hauses bewahren
lass uns weiß und rot sein wie schneewittchen
nie habe ich den dinar bekommen, der im weihnachtsbrot versteckt ist
trotzdem bereite ich mir eine himbeermilch:
der entsafter ist unser liebespfand
und das sofa unser nest
und der blick auf den wald von zvezdara
und der tisch aus eschenholz und die stühle mit den hohen lehnen
der backofen ist ein ort des übergangs aus einer welt in eine andere
(wenn ich sylvia heiße)
wir bewundern gegenstände MICROWAVE und polieren sie
wir sind hochglanz GLOW große flecken gibt es hier nicht
(obwohl sich staub angesammelt hat, ist das nicht unvermeidlich?)
die mädchen sind auch weiterhin schön, und wir lieben sie
wenn sie sich um den backofen versammeln, diesen magischen ort
diesen ort des übergangs aus einer welt in eine andere
(wenn sie sylvia heißen)
wir sind anständige mädchen, gutenmorgenherrnachbar
wir sind anständige gealterte mädchen, gutenmorgenfraunachbarin, daskleineistabersüß
wir sind anständige mädchen, gutenmorgenliebste, gutenmorgenmeineinundalles
ich möchte FUCK den staub abschütteln auf dem bauch kriechen vorbei
an den himbeeren und weiter das rote ei ist zerbrochen mist wer soll nun unser haus
schützen ich habe dir doch gesagt du sollst es aufräumen ich gehe schreien und du mach
was du willst mir ist egal wohin ich gehe auch in den backofen wenn es sein muss
(aber ich bin nicht sylvia. DELETE DELETE. also noch einmal:
schau die turteltauben auf dem balkon, hier und dort. sie begleiten uns überall,
gerade diese zwei)
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RELA
TIONS
Aida Bagi}
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nach dem regen, die conquista
am nassen fenster laufen regentropfen um die wette.
zwei oder drei, während die übrigen zusehen, bereitstehen.
kaum ist ein wettlauf zu ende, beginnt auch schon der nächste
in bewegung versetzt vom wind, den ich nicht höre,
oder es fällt den tropfen von selber ein, die scheibe hinunterzugleiten
an diesem fenster hier, und an vielen fenstern
in die grüne linie, zu der die bäume im nassen fenster verschmelzen,
sind viele regen eingetaucht
ich liebe Barbaras regen, die monsunregen die nicht enden wollenden
den regen, der uns während der ganzen fahrt von Amherst bis an die küste Oregons begleitet
ich liebe es, wenn ein regenschauer niederprasselt, den nieselregen im herbst
den geschmack des regenwassers aus großvaters brunnen
einmal habe ich im regen getanzt
in nassen und grünen kleidern
tanzten hunderte frauen im regen, auf tischen
auf weißen tischtüchern, in Guadalajara
einmal war ich ein conquistador
im jahr fünfzehnhundertfünfundsiebzig trieb ich mein unwesen in Guadalajara.
ich war ein jüngling, liebhaber von jünglingen, das war die conquista. Conquista,
das ist der geheime name meiner geliebten und frau, im jahr zweitausenddrei
Conquista Conquista Conquista, deinen namen trommelt der regen
ich liebe die verschwommenen regenbogen nach dem regen
(über uns ist nicht ein, sondern sind hunderte regenbogen)
es ist einfach zu sagen es regnet
aber ich sage lieber regen fällt
Barbara sagt, das stimmt nicht und dass der regen aufsteigt
an unsichtbaren fäden
steigen die regentropfen aus den wolken herab
zu uns, die wir warten, dass uns das wasser nicht wegspült
dass wir nicht zurücklaufen, wie die tropfen am nassen fenster
(und dort, weit weg wehten regenbogen, über den straßen von
San Francisco und New York, Berlin und Paris.
in Zagreb und Belgrad fiel regen)
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RELA
April
und tagelang übte ich auf den zehen
ich stehe auf einem felsen
ich klettere hinauf
auf den zehenspitzen
über dem meer
das ist nur eine fotografie
auf dem felsen verbrachte ich nur wenige minuten
und trotzdem bin ich das, bin Winnetou
und auf den zehenspitzen klettere ich die felsen hinauf
weiche zweigen aus, während ich durch den wald schleiche
ich jage den großen braunbär
ich jage büffel und waschbären und wilde hyänen, das ist nicht
das meer, sondern ein fluss rauscht
die hänge der Sierra Nevada herab, und dort
fange ich lachse mit den händen
keine ahnung, ob es da lachse gibt
keine ahnung, ob es wildflüsse gibt an
den hängen der Sierra Nevada, auch Karl May
hatte keine ahnung
und trotzdem las ich
dass der edelmütige wilde schleichend
auf allen vieren auf den zehenspitzen geht
unhörbar für
tiere und menschen
und tagelang übte ich auf den zehen
im wohnzimmer
auf dem teppich mit mustern
aus trockenen zweigen
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TIONS
RELA
TIONS
Aida Bagi}
häufigkeit des geschlechtsverkehrs
häufig in letzter zeit
seitdem ich wieder vögle
mit kerlen
verkehre ich vorher dauerhaft
während ich eintauche in ihre
grünen
blauen
schwarzen
(zärtlichen, sehr zärtlichen)
blicke
und ihre kuppen
berühre
wie erste frühlingserdbeeren
gläsern
in einer blauen plastikschachtel
vollkommen sind sie
süßlich
und herb
dauerhaft
nicht häufig
im durchschnitt drei bis vier stunden
manchmal den ganzen vormittag
statt einkaufstüten
mit gemüse
halte ich in den händen
ihre brüste
und lache
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RELA
April
natürliche methoden
bin ich sie oder bin ich er oder bin ich (nicht)
das eine und das andere
es ist unwichtig, wenn ich mit ihr
unter der decke liege
es ist wichtig, während wir angezogen
durch die stadt gehen
lesbensau verdammte, sagt ihr onkel
und ich erschaure
es ist wichtig, wenn ich formulare ausfülle
auf dem arbeitslosenamt, beim arzt
wie verhüten sie, fragt mich die schwester
in weiß und blau
ich verhüte nicht, antworte ich
laut
natürliche methoden, schreibt die schwester
in meine karteikarte
es ist in der tat natürlich, frauen
überall zu küssen
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TIONS
RELA
TIONS
Aida Bagi}
die spinnräder drehen sich schnell
(postrevolutionäres lied, zum singen auf dem markt)
spinnräder sind heute voll automatisiert unter neonleuchten
die spinnräder drehen sich schnell und immer schneller
der fabriklärm ist laut und immer lauter
während abertausende dornröschen flüstern
lass mich schlafen
lass mich schlafen einhundert jahr
lass mich schlafen einhundert jahr, und dann soll mich jemand küssen
soll mich jemand küssen an einem anderen morgen
lass mich schlafen
die zeiten sind anders, schnell und aus neon
die dornröschen von heute machen turnschuhe, turnschuhe
t-shirts frauen t-shirts billige t-shirts frauen schlüpfer t-shirts
auf den märkten in kaleni} und dubrava1
die fabriksdornröschen reiten auf schimmeln
hoch hinauf in den von weißen streifen durchpflügten himmel
wie im himmel
so sei es auch
uns an den spinnrädern
wir bitten dich
die dornröschen haben keine schwefelhölzer bei sich, hier haben sie handys,
dort fertigen sie mikrochips
reinste science-fiction, auf einen erlösungskuss zu hoffen
einzig noch salvation army mercy corps und world vision
alles kreuzritter und mondsüchtige, reden von einer besseren zukunft
die spur der revolution ist in den straßennamen
die spur der revolution ist im denkmalerbe
die zeiten sind rasant werden immer rasanter und mikroskopisch
hier sind für sie rosen und nelken zum achten märz
wie im himmel
so sei es auch
uns an den spinnrädern
wir bitten dich
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Kaleni} pijaca und Dubravski plac sind große, ganzwöchige Märkte in Belgrad und Zagreb, auf denen sich weniger kaufkräftige
Bevölkerungsschichten mit Gebrauchsartikeln aller Art versorgen (Anm. d. Übers.).
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RELA
April
TIONS
geometrie des raumes, den ich bewohne II
ich gebar ein kind
in einer parallelen realität:
dort, wo die berliner mauer noch immer steht
dort, wo man die kastanienbäume
der alleen nicht gefällt hat
dort, wo immer noch
an dämmrigen herbstnachmittagen
tschernobyl kiew beleuchtet
während olena popik1
nach der arbeit
mit freundinnen etwas trinken geht
in dieser parallelen realität
ist mein kind eine junge frau:
mit der macht ihrer neunzehn jahre
entscheidet sie über leben und tod
irgendwelcher unbekannter wesen.
sie verliebt sich, es ist nicht das erste mal.
sie hasst mich,
aber ich weiß, es wird nicht lange dauern
mein sohn ist wunderschön
(wie jeder sohn)
in einer anderen parallelen realität:
er versucht sich in seiner männlichkeit und ist verwirrt,
als er begreift, dass die welt nicht seinen worten gehorcht,
als er begreift, dass die welt sich widersetzt,
ohne das geringste wohlwollen
er hasst mich,
aber ich weiß, es wird nicht lange dauern
in allen parallelen realitäten ist vergänglichkeit immer gleich
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Ukrainische Prostituierte, die sich u.a. in Bosnien und Herzegowina aufhielt und im November 2004 mit 21 Jahren an Aids verstarb.
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RELA
TIONS
Aida Bagi}
gedächtnisschwund ist kein gebrechen
I.
gedächtnisschwund
ist kein gebrechen
es ist eine arznei
plötzlich ist nicht mehr
einundneunzig, auch nicht
neunundachtzig
einundsiebzig hat es
so gut wie nie gegeben
noch weniger achtundsechzig
(wenn ich immer jetzt und hier bin,
wie soll ich mich da an irgendetwas erinnern?)
II.
ich verschreibe das vergessen der vergangenheit, des redens
und der offenen wunden,
täglich einzunehmen
gleich nach dem aufwachen
damit die träume nicht hochkommen
in den träumen die erinnerung
in der erinnerung das klare bild des augenblicks
als alles
aus der bahn geriet
wenn ich mich nicht erinnere, ist es nicht geschehen
im traum ist es weiß
und sicher, nichts tut weh
III.
mit tiefen wassern
wässre ich das vergessen
auf dem fensterbrett
wachsen vergissmeindoch
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RELA
April
sie sprechen im chor:
liebtmichdochliebtmichnicht
liebemichichliebesienicht
mein name leicht, ganz von licht
meine hände vorm gesicht
meine haare schwer und dicht
verriegelt die tür
vergessen soll herrschen
es sei erde
es sei wasser
es sei nacht und es sei tag
IV.
wenn du vergisst
ist die welt leicht und dein
nur
diese narbe
an deinem arm
ist schon immer da
wächst mit dir
dysthymie
einzig noch die scham und angst in mir sind
scham und angst, weil sie in mir nicht mehr sind
mich bewegt die freude
kurzer augenblicke
ich glaube, das ist so
dank zyklischen wechseln
gibt es keine freude
so ruhe ich
immer länger ruhe ich
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TIONS
RELA
TIONS
Aida Bagi}
ich würde lieber wachsen
ich bin nicht mehr bereit, auf ein ziel zuzuschreiten
große ereignisse zu erwarten und zu hoffen
auf eine revolutionäre zukunft, welche die welt verändert
in ihren wurzeln
heute würde ich lieber
wachsen
an einem fluss
mit einem würzelchen
über kieselsteine streichen
ein baum am ufer sein
ich würde wachsen
im guten wie im bösen
gebunden an den boden und frei
zum himmel
zur wolke
und zum regen und
zum regen und zur wolke
Aus dem Kroatischen
von Silvia Sladi}
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April
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RELA
Mai
TIONS
Das dritte Prosawerk von NEVEN U[UMOVI] (geboren in Zagreb, 1972, aufgewachsen in Subotica) zeigt, dass wir es hier
mit einem Autor zu tun haben, der in der kroatischen Prosaszene einen besonderen Platz einnimmt. Als Übersetzer und
großer Kenner der zeitgenössischen ungarischen Literatur hat U{umovi} in seiner bisherigen Prosa einen lebendigen und
reifen Dialog mit einer Reihe großer ungarischer/europäischer Schriftsteller geführt, ein Gespräch, dessen Höhepunkt der
Erzählband Der Mohnsamen („Makovo zrno“) ist – eine Art neue-Welt-schaffendes Übersetzen eines Werks eines anderen
Schriftstellers aus Subotica, für viele des ersten modernen ungarischen Prosaisten, Géza Csátha (1887-1919).
Doch hier handelt es sich weder darum, eine „Angleichung durch den Ort des Schaffens“ an die Heimat zu betreiben, noch
um schriftstellerische „Klangangleichung“: Indem er neue Texte schreibt, die von den Zerstörungs-Motiven Csáthas
inspiriert sind, versetzt sie U{umovi} in das Subotica der Kriegszeit und der Zeit unmittelbar danach, in die eigene
Geschichte, Sprache und Literaturtradition und schafft so eine neue Dialogachse (Zagreb – Budapest – Belgrad und alles
via Subotica) und Erzählwelten, in denen sich Csáthas Figuren wie zu Hause fühlen könnten, auch wenn zwischen ihrer
Geburt hundert Jahre liegen.
Originalität, Konzept, Ausführung ... U{umovi}s schriftstellerischer Zugang kann mit nichts verglichen werden, was die
kroatische Literatur heute zu bieten hat. Kraftvoll und zerstörerisch flößt die Prosa im Mohnsamen Schrecken ein und
bringt uns zum Lachen, durch ihre naturalistischen (und symbolischen und expressionistischen) Spiele simulieren sie den
Lauf der Geschichte – das Wirken der Geschichte auf uns, so wie auf alle Zeichensysteme, das Wirken, das am Ende auf eine
vernichtende und befreiende Ironie hinausläuft.
NEVEN U[UMOVI], geboren 1972 in Zagreb, in Subotica aufgewachsen. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb
studierte er Philosophie, vergleichende Literaturwissenschaften und Ugristik. Ab 1996 arbeitete er als Bibliothekar in
Zapre{i} und seit 2002 ist er in Umag tätig.
Er hat den Erzählband 7 junge Menschen („7 mladih“, Verlag MD, 1997) und den „kurzatmigen Roman“ Exkursion
(„Ekskurzija“, Verlag MD, 2001) veröffentlicht. Aus dem Ungarischen hat er Béla Hamvas, Ferenc Molnár, Péter Eserházy
und Ádám Bodor übersetzt. Mit Stjepan Luka~ und Jolán Mann hat er die Anthologie zeitgenössischer ungarischer
Kurzgeschichten Das Aufscheuchen der Vogelscheuche („Zastra{ivanje stra{ila“, Verlag MD, 2001) herausgegeben.
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RELA
TIONS
Neven U{umovi}
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Der Mohnsamen
Neven U{umovi}
M
it den Fingerkuppen versuchte
ich erfolglos den Zinnsoldaten in seiner Hose steif zu bekommen. Ich
kann noch nicht mal behaupten, dass
er mich nicht beachtet hätte; Jo{ka
beachtete mich, aus Anstand ließ er
mich machen, rücksichtsvoll, damit
ich ihm bloß nicht seine Arbeit verdarb. Die Zubereitung von Mohntee war eine sehr ernste Angelegenheit. Schließlich konzentrierte auch
ich mich auf die Zubereitung und
ließ den Soldaten in der Asche unserer Zärtlichkeit ruhen.
Sah er, was ich sah oder sah er tatsächlich nur das: Mohnkapseln, Mäusekot, ein Stück Zitrone, Honig und
eine Teekanne? Entfernte er einen
Teil von mir, der an seinem eisigsauberen Herzen haftete, während er
angeekelt Mäusekot wegmachte –
den übrigens immer nur er fand? Der
Tee würde den Weg zwischen uns
nicht ebnen, die Unerreichbarkeit,
die Abwesenheit von Berührungen,
von jeder Leidenschaft. Meine Handflächen waren noch heiß, noch konnte ich sehen, wie er wuchs und pulsierte in meinen Händen, unter meinen Fingern. Jo{ka beendete seinen
Teil der Arbeit. Ich legte die Kapseln
nacheinander in den Topf, gab die
Zitrone dazu und übergoss alles mit
Wasser.
Der Holzofen wärmte uns schon, unter dem Topf knisterten Wassertropfen, die vom Waschen übrig geblieben waren. Etwa zwanzig Minu-
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ten würden wir den Tee kochen,
danach musste er ziehen und abkühlen.
Das Großmütterchen, von der wir
die Kapseln gekauft hatten, lebte in
einem Haus, das schon am Stadtausgang von Subotica lag, beim Friedhof von Sen}ani, in der Nähe der
Bahngleise. Jo{ka brachte das Opium oder im schlimmsten Fall die
Kapseln aus Budapest, aber dieses
Mal hatte er sich verrechnet, sein
Drama wurde nicht angenommen,
sie hatten ihn nicht nach Pest eingeladen und er musste sich auf die
Quellen in Subotica verlassen. Er
hatte große Hoffnungen in das Drama gesetzt, er sah ihn ihm ein Pfand
seiner endgültigen Affirmation, einen großstädtischen Erfolg. Während der Erfolg jedoch nur ihm gehören würde, fiel der Misserfolg auf
alle, die ihm nahe standen, auf uns
alle, wir alle waren schuld.
Die alte Dalmatinerin sah uns misstrauisch an, ihr Ungarisch war erbärmlich schlecht; es beschränkte
sich auf einige Wörter: wie viel, habe
ich – habe ich nicht. Wie ein Mantra
murmelte sie etwas wie: dico, dico,
dico. Sie ließ uns lange in ihrer Küche
sitzen, die nach geräuchertem Fisch
roch, Stockfisch hing in Stücken wie
Fledermäuse an den Wänden. Es war
innen übertrieben warm, Jo{ka wischte sich mit einem Taschentuch den
Schweiß von der Stirn, während wir
durch zwei Fenster mit eingeschla-
genen Scheiben das Schneetreiben
beobachteten.
Endlich tauchte sie auf, aber nicht
mit den Kapseln, sondern mit Glasbehältern, in denen sich schon eine
trübe Teeflüssigkeit befand. Jo{ka
wurde wütend und begann zu fluchen, er wusste genau, was er ihr
gesagt hatte, unmöglich, dass sie ihn
nicht verstanden hatte, wer weiß, was
sie da reingetan hatte, aus welcher
Scheiße sie den Tee gebrüht hatte. Er
ging mit ihr hinaus und ließ mich
allein in der Küche zurück. Ich zog
meine Finger lang, einen nach dem
anderen, streckte mich, und fühlte
das Wohlbehagen einer Katze in ihrer Biegsamkeit. Jo{ka zog mein Körper nur als schmerzendes Instrument
seines Zornes an, kurze Augenblicke
des Genusses fand er nur in diesen
dumpfen Schlägen und vielleicht beim
Betrachten meines verformten, angeschwollenen Gesichts. Seine Ausbrüche waren nicht vorhersehbar und
ich fühlte, dass er mich in solchen
Momenten am liebsten töten würde.
In den Dramen, die er schrieb, war
nie Platz für mich gewesen, in keiner
Figur konnte ich mich wiedererkennen und ich fühlte sein Unbehagen,
wenn ich als seine Begleiterin bei einer der Premieren in Pest auftauchte. Ich erkannte lediglich dieses Genießen beim Entstellen, das selbstgefällige, spöttische Lächeln, das immer
wie eine Pose auf seinem Gesicht
war und hinter allem stand, was er
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RELA
Mai
schrieb und tat. Genau in dieser Verfassung erschien er jetzt in der Tür
und sagte zu mir komm, wir gehen; er
hatte eine kleine Jutetasche in der
Hand. Wir hatten die Kapseln von
der Alten bekommen, die uns wahrscheinlich verfluchte, während wir
gingen.
Der verdammte Tee wurde kalt, jetzt
konnte man ihn trinken. Jo{ka goss
ihn durch ein Sieb und stellte ihn auf
den Tisch. Er hatte sich rittlings auf
den Stuhl gesetzt, sein untrügliches
Gespür für das Theatralische brachte
ihn zu dem Punkt, der ihm die größtmögliche Entfernung zu mir garantierte. Irgendwo habe ich gelesen,
dass genau diese Entfernung für geistige Gespräche am produktivsten ist,
doch hier ging es sicher nicht darum.
Der Tee hatte einen unbeschreiblich
ekligen Geschmack. Ich hatte drei
Esslöffel Honig hineingetan, eine
halbe Zitrone ausgepresst und alles
umgerührt. Jo{ka hatte bis dahin
schon eine Tasse getrunken und nippte an der zweiten. Alles war vorhersehbar, sein kurzer Monolog über Opium war zu erwarten. Während ich
dieses Gift schlürfte, sah er mich hingerissen an, als sähe er vor sich einen
vollen Zuschauersaal. Verhundertfacht würde ich ihm vielleicht wieder
gefallen.
-Diese niederen menschlichen Wesen
(über Menschen um sich herum sprach
er immer als menschliche Wesen)
wissen nicht, was Genuss ist. Sie befriedigen ihre Wünsche mit Vorsicht,
denken dabei immer an ihren Arbeitsplatz, ihre Familie, ihr gesellschaftliches Ansehen. Pfui! (unbedingt zweimal) Pfui! Die große Liebe (ha, ist
ihm rausgerutscht, er hasst dieses
Wort) äußert sich nur in großem Genuss (hier dachte er sicher nicht an
unsere „große Liebe“, zwölf vergebliche Jahre). Wegen dieser miesen Arschlöcher und ihrer langweiligen und widerwärtigen Vergnügungen ist diese
Welt zu einem Ort ohne Risiko und
echte Aufregung geworden. Unser an-
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geborener Hedonismus zur Feier des
LEBENS (für manche immer in Großbuchstaben) ist zu ihren Gefängnissen verdammt, die in ihrer Sprachlosigkeit (alle sind sprachlos, ich ganz
besonders) Theater und Konzerthallen
genannt werden.
Ich habe ihm nie applaudiert, eventuell fragte ich ihn, welcher seiner
Helden dies sagte. Nach einer kurzen Pause antwortete er immer nur
mit Namen: Géza oder Dide oder
Otto oder László. Dieses Mal war
ich konkreter:
– Wirkt er bei dir?
– Was? – fragte er, als ob ich nach
seinem Monolog fragte und nicht
dem Tee.
– Der Tee.
– Ja – antwortete er wie ein Echo.
– Ich mag lieber reines Opium, das
hier benebelt mich, bis jetzt ist mir nur
schlecht davon.
– Warte ab, bis es dich zudröhnt.
Wir holten die Schlittschuhe aus der
Tasche und gingen nach draußen.
Ich fühlte mich nicht gut, ich war
sicher, dass es schon dämmerte, doch
die Dunkelheit und der Nebel saugten noch immer nur den Mondschein auf. Jo{ka ging ständig dicht
hinter mir her und schubste mich
grob, als ob er mich zur Erschießung
führte. Wir kamen am Ufer eines
zugefrorenen Sees an. Von einer Bank,
auf der früher bestimmt vornehme
Damen ihre Sommer verbrachten,
unter ihren Hüten und bunten Sonnenschirmen dösten, wischten wir
eine dicke Schneeschicht weg und
setzten uns, um unsere Schlittschuhe anzuziehen. Auf Jo{kas Wunsch
hin hatten wir sie vor langer Zeit
gekauft, schwarze für ihn, weiße für
mich. Der Tee hatte uns verstummen lassen. Ich lachte sinnlos über
alles: das Ausziehen der Schuhe, endlos langes Zuschnüren, Fußsohlen,
die mit Widerstand in ihre neuen
grotesken Käfige gingen. Ich hörte
TIONS
auch Jo{kas gedämpftes Lachen, spöttisch und entschlossen.
Ich eilte aufs Eis und war sofort im
Nebel verschwunden. Eine Zeit lang
war nichts zu hören, nur das leise
Quietschen unter meinen Füßen und
das Knirschen des Eises. Noch nicht
einmal das obligatorische Bellen der
Wachhunde war aus der Ferne zu
hören. In einem Augenblick schien
mir, ich hörte das schwere Flattern
eines ganzen Schwarms Krähen über
mir. Ich konzentrierte mich auf das
Geräusch und erfand darin ein Gespräch unsichtbarer Vögel, das in
meiner Übersetzung eine obszöne Unterredung war. Ich hörte sie Wetten
darüber abschließen, dass meine Brustwarzen nicht annähernd so schön
waren wie Walnüsse, an denen sie
sich gestern satt gefressen hatten.
Eine Abwechslung käme ihnen aber
gelegen, meinten sie. Selbst wenn
diese wenigen Happen viel Arbeit
bedeuteten: Mantel, Bluse aufreißen,
Herumgezerre, ekliges Blut.
Ich stürzte über eine Wölbung auf
dem Eis, genauer eine breite Eisnarbe, die durch das Zusammenprallen der Eisblöcke entstanden war. Es
war ein schlechtes Zeichen: Die Narben bilden gewöhnlich ein ganzes
Labyrinth, vereinen sich zu Eisbergkränzen, die man manchmal nur auf
allen Vieren überqueren kann. Meinen Ängsten zum Trotz legte ich
mich auf den Rücken und gab mich
den Nebelschwaden hin, genauer
Nebeldecken. Ich sah Eisfunken zwischen den Nebelschichten und dem
Eis sprühen. Ich fühlte, als ob ich auf
einem Schiff liegen und zum Mond
schwimmen würde. Der blasse lichte
Punkt, den ich als Ziel bestimmt
hatte, rief mich zu sich. Die Nebelschwaden trieben vor meinem Eisschiff auseinander, Licht breitete sich
aus, die Dunkelheit zog sich in weite
Ecken zurück. Ich musste meine Augen mit den Händen bedecken und
erst als ich entdeckte, dass mich dieses Licht wärmte, warf ich erneut
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RELA
TIONS
Neven U{umovi}
einen Blick hin. Die Sonne; nicht
der Mond. Die ganze Zeit hatte ich
in die Sonne geschaut.
Der Schrecken ließ mich zusammenzucken, ich richtete mich auf. Unter
einem Bein formte sich eine Blutspur.
Die Wunde war nicht groß, doch
alles dauerte nun schon zu lange. Am
Horizont sah ich Jo{ka verschwinden,
klein wie ein Mohnsamen. Schüsse
waren zu hören, er hatte immer eine
Pistole bei sich. Vielleicht schoss er
auf Krähen? Vielleicht versuchte er
mich zu treffen? Ich wünschte, er
würde in einem der Angellöcher im
Eis verschwinden, im tiefen Wasser,
zwischen fetten Süßwasserfischen und
schlammigem Gras. Und tatsächlich, ein Schrei und das Aufbrechen
des Eises waren zu hören. Es wirkte
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noch immer. Es hatte mich zugedröhnt, wie meine einzige Liebe es
ausgedrückt hatte.
Wegen des Lichts konnte ich das
Ufer nicht sehen, der Schmerz rührte und wirbelte ununterbrochen mein
Gehirn. Der Schmerz wurde bald in
durchdringenden Akkorden stärker,
die spiegelglatten oberen Schichten
der Eisblöcke begannen aufzureißen.
Der Lärm wuchs langsam an, verwandelte sich in kläffende Maschinengewehre, die unbarmherzige Sonne zog an hundert Strängen dieser
gigantischen Zither, die in Unendlichkeit zerfiel.
Spiegelfilme barsten um mich herum, Milliarden Prismen brachen das
Licht und schufen unerreichte abstrakte Mosaiken.
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Endlich endlich bekam ich die Hauptrolle, endlich meinen Monolog, meine Verhundertfachung. Dankbar
drehte ich mich in die Richtung, in
die Jo{ka verschwunden war, doch ich
konnte nichts erkennen. Die Bühnenscheinwerfer hatten mich geblendet.
Ich lehnte mein Ohr ans Eis: Auch
unter mir dröhnte es, man konnte
hören, wie die Körper der fetten Süßwasserfische aufeinander prallten.
Ihre Unruhe war verständlich, das
Fressen war endlich da und es galt,
sich zu seinem Teil durchzukämpfen.
14.4.2009, 20:30
Aus dem Kroatischen
von Bla`ena Radas
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RELA
Mai
TIONS
Vere{
Nach einer bestimmten Zeit – oder
wäre es besser zu sagen: einer unbestimmten!? – begann ich Stunden um
Stunden mit Problemen folgenden
Typs zu vergeuden: Budapester, Budaer oder Pestaner? Was wäre eigentlich die richtige Bezeichnung für diese Leute um mich herum – meine
vorläufigen Mitbürger? Dieses Problem bekäme ungeahnte Dimensionen, wenn ich mich mit einem Metronom auf dem Deáko Platz (also
in Pest) auf die andere Seite der Donau
aufmachen würde, zum Bahnhof Déli.
Denn: Auf welcher Seite kommen
die Pestaner heraus und die Budaer
herein – vor oder nach der Überfahrt
über/unter der Donau!?
Also, Soro{’ Geld ist noch nie sinnloser ausgegeben worden! Alle meine
Studienaufgaben erledigte ich zwar
eifrig, mein Englisch vertiefte ich bis
zum Umfallen; aber wenn ich mich
draußen befand, auf der Straße, tauchte ich atemlos in den trüben Tiefen
des ungarischen Gemurmels, krümmte mich und verkleinerte mich bis zur
Größe des Punktes beim Ausrufezeichen: Budaer oder Pestaner? Pest ist
wunderschön – schrieb ich in Ansichtskarten, die ich nach Hause schickte
– die Donau breit und der Gellerthegy
hoch. Danach meldete ich mich zu
Hause nicht mehr mit Ansichtskarten. Ich wurde ein Pestaner. Budaer!
Zum Glück bestand meine existentielle Sorge lediglich in der Auswahl
eines billigen aber guten Menüs (als
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ob nicht alles, was der großstädtischen
Masse angeboten wurde, nicht von
vorne herein billig und gut wäre!).
Von allen nationalen Selbstbedienungsrestaurants entschied ich mich
bald für chinesische und gewöhnte
mich an sie. Nun hing es nur von der
Kraft und der Zeit ab, die ich für den
Spaziergang aufbringen wollte, ob
ich ins Kinai fal, Kinai nátha, Shangai oder ins Aranysárkány ging. Das
Essen hatte überall denselben Geschmack: Die milde Süße des Reises,
Sojasoße, die eingerührten Eier und
zerkochten Möhren passten bestens
zu dem, vorsichtig ausgedrückt, unbestimmten Geschmack von Tofu
oder Geflügelfleisch. Genau das war
ich – diese unerträgliche eklige Süße –
sagte ich zu mir selbst in Momenten
der Verzweiflung.
Mit der Zeit überwog dennoch das
Aranysárkány (Goldener Drachen).
Als ich dann eines Tages in der Reihe
auf meine geliebte Portion Reis mit
Eiern, Tofu und eingelegten Bambussprossen wartete, hörte ich ein bekanntes Fluchen, ein Fluchen in meiner Sprache. Ich drehte mich um,
der junge Mann, von dem ich dachte, dass er zu 100% ein Ungar war,
zählte heftig agitierend verschiedene
kroatische Ausdrücke für Geschlechtsorgane auf, wobei er ohne zu zwinkern an die Decke starrte! Mir schien,
er versuchte damit, einen für mich
unsichtbaren aber konkreten Schmerz
zu mildern.
Was ist das Problem, Landsmann? –
rief ich ihm zu.
Als ob unser Kroatisch mitten in Pe{t
die normalste Sache der Welt wäre,
antwortete er mit einem Blick und
zeigte weiter auf die Decke.
Scheiße, ich habe heiße Sezuansuppe
auf meine Schuhe gegossen, es wäre
besser, wenn ich sie in den Backofen
geschoben hätte!
Die Tür im Hintergrund ging auf
und ein junger Mann mit dem Namen – wie ich bald erfahren sollte –
Vere{ verschwand in der Dunkelheit.
2.
Ins Aranysárkány ging ich gewöhnlich zum Mittagessen, gegen zwei.
Ich schob mich nicht sofort in die
Schlange, die Tasche mit den Notizen und der Literatur stellte ich auf
den erstbesten freien Tisch im kleinen Hinterraum; dort waren vier
Tische mit vier Hockern aufgestellt.
Am Tresen wechselten sich immer
zwei Personen ab: außer den Chinesen arbeitete dort eine Inderin und
unter ihnen eben auch unser Vere{.
Es roch jeden Tag gleich, obwohl
sich die Gerichte auf dem Menü änderten. Im ersten Moment schien
etwas Pikantes und verlockend Süßes
in der Luft zu sein, doch wenn man
sich an den Tisch setzte, überwältigte einen das Gefühl der Leere, des
Überdrusses, so als ob jedes Lebens-
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mittel auf seinem Weg von China nach
Ungarn ein osteuropäisches Desinfektionslabor durchlaufen hätte.
Eine andere Geschichte war die Hygiene, die im Restaurant herrschte;
Sauberkeit ohne Glanz. Eine Sauberkeit, die unter die Haut ging,
dampfte aus den Keramikfliesen wie
in einem Bad und beschlug Stirne und
Wände. Diese sehr schlichte Sauberkeit, rational und unbestechlich.
Es gab keine Musik, die Gäste aßen
in Ruhe. Es wurde noch nicht einmal
geraucht, nur die Dampfwolken über
den tiefen rechteckigen Essbehältern
füllten den Raum. Es gab nirgends
Fenster. Deshalb saßen manche nur
auf den ungemütlichen hohen Stühlen – „im Schaufenster“. Ich hielt
mich an meine Ecke, mir genügten
die klangvollen chinesischen Stimmen, die mich vom beklemmenden
Käfig der ungarischen Wörter befreiten, von diesen Jó napot... Tessék...
Ez nagyon finom, ez is, hogyne... persze...
Jó étvágyok.
Vere{ warf ihnen ein Wort im Gehen zu. Seine Gehetztheit deutete
nicht darauf hin, dass er mit Chinesen arbeitete. Er hatte nichts von ihrer gleichmütigen Freundlichkeit angenommen; im Gegenteil, er war wie
jemand, der zwischen uns allen eine
Maske suchte, die er unwiederbringlich verloren hatte.
Nach der Reis-Tofu-Ei-Soja-Soße
auf 2-3 Arten, saß ich allein da mit
einer Tasse grünen Tee. Die raupendicken Teeblätter stiegen vom Boden der Kanne nach oben, als ich
mir in die kleine weiße Tasse nachgoss und unterbrachen ständig den
ohnehin dünnen Strahl. Mit jedem
Schluck breitete sich in meinem
Innern eine blumige Ruhe aus.
Vere{ pflegte in solchen Momenten
der Ruhe Unsinniges von sich zu
geben:
– Die Hunde bellen und du schläfst,
Landsmann!
– Pass auf, dass du nicht runerfällst!
(ohne „t“!)
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– Hehe, klappere nicht mit den Holzpantoffeln!
Und wenn er besonders gut gelaunt
war, fing er an, mir ein ungarisches
Kinderlied ins Ohr zu singen:
Hull a hó és hózik-zik-zik, Micimackó
fázik-zik-zik... über Winnie Pooh, der
fror.
Ich musste diesen Vere{ kennen lernen, eines Tages. Eines schönen Tages; lächelte ich vor mich hin und
setzte die Tasche auf dem Rücken!
Szia (Hallo, hi) Vere{!
3.
Ich blieb an diesem Tag länger in der
Szécsenyie Bibliothek – im Aranysárkány war ich erst um vier Uhr nachmittags. Ich dachte, jetzt bekomme
ich sicher nur Reste von den Resten
zu essen, doch es war alles wie gehabt, als wäre es erst Mittag: Schüsseln voll mit heißen chinesischen
Spezialitäten, berauschend süßlich,
pikanter Dampf in der Luft, freundliche, grobe, maskenhafte chinesische Gesichter... Nur Vere{ war nicht
da. Seine Schicht war offensichtlich
zu Ende.
Als wüssten sie, dass ich – einer Logik
nach – hungriger war als sonst, häufte die Bedienung gekochten Reis und
Salat auf meinen Teller. Schnell setzte ich mich an meinen Tisch und
machte mich an die Arbeit.
Als mir von der scharfen Soße die
ersten Schweißperlen heraustraten,
erschien aus einem mir unbekannten – beziehungsweise von mir bisher
nicht bemerkten – Raum, mein Vere{, wie er leibte und lebte. Er kam
direkt auf mich zu; ohne jede Begrüßung oder Frage setzte er sich an den
Tisch.
– Wir haben Glück, dass es diese Chinesen gibt – sagte er laut, als ob die
Chinesen sein Kroatisch verstünden.
Dann schwieg er, wartete, dass ich
aufaß, damit seine Kollegen uns Tee
brachten.
75
Doch Vere{’ Geschichte begann lange bevor der Tee in unseren Schälchen abkühlte:
– Abgehauen bin ich, wie jeder andere
„Bürger Serbiens“, der etwas im Kopf
hatte! Ja, stimmt, viel habe ich nicht
in der Birne, und das Wenige werden
mir die Ungarn noch austreiben.
– Warte, das sind doch aber deine
Landsmänner, Vere{ ist ein ungarischer Nachname, du bist irgendeine
vojvodinische Mischung, oder du bist
ein reiner ...
– Ein reiner Kroate, man schreibt mich
mit einem „{“ am Ende: nicht so, wie
die Ungarn schreiben, ohne Häkchen.
– Tja, sagte er dann zynisch – hier bin
ich Ungar, für alle, außer für dich, ha!
Die Ungarn aus Vojvodina hatten
sich, wie sie konnten, vor der Reserve
gerettet, unter den serbischen Kriegsreservisten konnten sie nur als Opferlämmer durchgehen. Einer der Rettungswege war die illegale (denn die
serbische Polizei war wahrscheinlich
informiert) Flucht über die Grenze.
– Ich bin über Kelebija geflohen, mit
ungarischen Freunden. Die hatten
alle schon jemanden drüben, der ihnen die Vorgehensweise beschrieben
hatte. Und das war auch kein echtes
Fliehen, weil sich alles unter Kraus’
Regie abgespielt hatte, Mihajlo Kraus,
des Zollbeamten. Er wartete an einer
genau abgemachten Stelle und kassierte für die Überführung Geld.
In dieser Nacht schlugen wir uns
stundenlang auf den sandigen Waldwegen in Kelebija durch. Kraus fanden wir erst bei einem entlegenen
Hochsitz. Dieser Kraus, das war eine
knöchrige Vogelscheuche, mit einem
Gesicht, das eine höllische Säure verbrannt hatte; er hatte eine riesige
Nase, in dessen Wurzel gelbe Augen
hocken.
Die größte Erniedrigung war das Warten auf die Untersuchung und das in
strenger Reihenfolge – sobald jemand
aufmuckte, krächzte er los! Das wich-
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tigste war natürlich das Geld, er nahm
alles, mindestens tausend Mark pro
Kopf. Eine größere Summe bedeutete bloß kürzere Untersuchung und
höflichere Kommunikation. Er zog
uns ganz aus, überprüfte jedes Dokument, das wir bei uns hatten, noch
die kleinste Kleinigkeit, die wir dabei
hatten und warf dann alles auf einen Haufen (Uhren, Halsketten und
ähnliches endeten ohne Widerrede
auf einem Sonderhaufen). Er ging
ohne viel Kommentar vor, routiniert
und präzise wie ein Metzger; wir
waren seine Schlachttierhälften für
den Schwarzhandel in Ungarn.
Obwohl wir wussten, was folgen
würde, konnten wir ein Aufschluchzen nicht unterdrücken, als er diesen Haufen mit den persönlichsten
Sachen mit flinken Bewegungen, und
mit Hilfe zweier junger Soldaten, mit
Benzin übergoss und anzündete. Erleuchtet von diesem Scheiterhaufen
verdammte uns unser Zerstörungsengel mit einem lauten: Und jetzt
packt eure Kleidung und verschwindet!
Wir rannten sofort los, als ob uns
eine Armee Bluthunde verfolgte. Als
wir auf einer Lichtung angelangt
waren, krochen wir eine Zeit lang
auf gefrorenen Weiden und Äckern.
Wir mussten jetzt bis Pest unsichtbar bleiben!
Zum Glück umhüllten uns in der
Nähe von Tompa, dem ersten ungarischen Ort, das auf unserem Weg
lag, Nebel- und Rauchschwaden. Es
dämmerte und erst jetzt spürten wir
die Kälte des Wintermorgens und
Müdigkeit. Unser Schritt stockte. Der
Geruch von Verbranntem schnürte
uns die Luft ab und eine gespenstische Taubheit mit dem Echo erstickter Schreie legte sich über uns. Wir
fühlten uns wie eine verbrecherische
Bande, wie Tschetniks, die ein eben
verbranntes Dorf beschnüffelten. Wir
erwarteten Schüsse, Belagerung.
Die ersten Lebenszeichen bemerkten wir im Hof eines luxuriösen, kürzlich angebauten Hauses. Die Bewoh-
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ner Tompas hatten sich nämlich unlängst vom Spaten verabschiedet und
waren Händler geworden – dank des
Embargos, mit dem der serbische
Topf überstülpt worden war, hatte
sich dieses Dorf in ein Händler-Mekka verwandelt. István und ich hatten
uns bereit erklärt, für unsere Fluchtgemeinschaft Ausschau zu halten.
Langsam näherten wir uns der Umzäunung und lauschten dem Zischen
des – wie uns schnell klar wurde –
Gasflammenwerfers. Einige Männer
in schwarzen Gummistiefeln und
Mützen auf dem Kopf, wateten in
Lachen frischen Blutes. Sie spießten
ein riesiges totes Schwein auf, während ein Mann in einem fleckigen
weißen Mantel die Haare mit einer
Flamme absengte. Der Geruch angebrannter Schweinshaut war es,
das uns schwer auf dem Magen lag
und Angst in die Knochen jagte, soviel wussten wir nun.
Ko}am, ko}am – weinte das Mädchen
hinter dem Rücken der Mutter –
szegény ko}am, leöltek most tegéd,
leölték...
Bereits am Abend hatten wir uns in
Ungarn verstreut – alle fanden sich
schnell zurecht. Wir wollten nichts
miteinander zu tun haben, als wären
wir alle an einem blutigen Verbrechen beteiligt gewesen. In Tompa
gaben sie uns zu essen und trinken:
Sie sparten nicht an frisch gemachten Würsten und Blutwürsten. Sie
schickten uns an bestimmte Adressen in Segedin, Kecskemét, Budapest und das war’s. Wir haben uns
zerstreut.
Am darauf folgenden Tag stellte ich
mir im Zug mit Zittern Pe{t vor.
Früher war ich nur zu Konzerten
nach Fekete lyuk und Tilos az Á....
gegangen und jetzt war ich eine verfrorene blutleere Schlachttierhälfte.
Doch für die Ungarn hatten wir alle
Blut an den Händen, egal ob wir
Ungarn aus der Vojvodina, Serben
oder Kroaten waren. Und sie empfingen uns wie schmutziges Aas.
TIONS
4.
Vere{’ Kollegin, die lange Chinesin
mit dem blassen Gesicht, brachte uns
eine neue Runde grünen Tee; als gäbe
es eine genaue Regel, einen Moment,
in dem man das tat. Aus dem Augenwinkel richtete sie ein bedeutendes
Lächeln an mich: Sie kannte Vere{
und seine lange Geschichte.
– Budapest war die Erfüllung all meiner Träume, als ich überhaupt keine
Wünsche hatte. Ich wollte in dieser
Stadt einfach nur verschwinden und
dabei NICHT STERBEN! Die ganze
Zeit kreiste ich um das Oktagon,
verzog mich in die immer dunkle
Dohány Straße, ging endlos lange
an der Donau spazieren, rauf und
runter. Ich trieb mich tagelang in
der Stadt herum, ohne jede Zuflucht.
Am Anfang schlief ich im Atelier eines Malers aus Senta, Zoltán hieß
er; man hatte ihm den Dachboden
einer verlassenen Fabrik für Elektromotoren zur Verfügung gestellt. Innen
war alles zerbrochen, der Durchzug
machte mich verrückt, die Einsamkeit noch mehr, denn Zoltán tat im
Grunde gar nichts, er war Konzeptualist – so hatte er es mir erklärt –
und sein Konzept bestand in der
Weigerung etwas zu schaffen, eine
Spur von sich zu hinterlassen. Für
mich war wichtig, dass er niemanden auf meine Spur brachte, so dass
wir uns leicht einigten. Doch jedes
Wort war ein Problem für ihn, alles
war Schaffen, nicht wahr, ganz zu
schweigen vom Gang zur Toilette!
Ich musste schließlich dennoch einige Angaben zu mir machen; ich konzentrierte mich auf die ungarische
Aussprache:
– Vörö{?
– Vörö{!
– Magyar vagy Szerb?
– Magyar!
Budapest war mein Hafen. Der Geruch von Knoblauch und gemahlener roter Paprika, der unbeschreibliche Lärm der verkehrsreichen Stra-
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ßen mit ihren Menschen auf den
Gehwegen. Ich trieb mich auf den
Straßen herum, schnüffelte an den
Höhlen, aus denen Alkohol dampfte
und der Geruch von warmem Menschenfleisch. Trübe, gefärbte Scheiben versteckten öde Keller und vibrierten vom Geheul der ungarischen
Zigeunerlieder und dem Gemurmel
scheußlicher männlicher Bassstimmen. Der Wein war zu süß und rief
Übelkeit hervor, genau wie die kranke Schminke von Narren und Huren. Nein, nein, das geht nicht, mein
Liebling – reimte hundertmal betrunken mein viel zu jung verstorbener
Freund Daca – du kannst nicht verschwinden zwischen ihren Beinen, auch
nicht mit ganz viel RAMA, der feinen...
Ich hatte dennoch Glück, eines Abends
landete ich bei Anikó, dem Mädchen
mit den roten Harren und der weißen Haut... Ich nannte sie Anikó nach
dem Lieblingskäse meiner Kindheit,
saftig aber knirschend beim Reinbeißen. Der Käse war weißer als weiß,
genau wie meine Freundin, die biegsame Anikó. Sie war fleischgewordene
männliche Phantasie: ein Porzellanengel, den jeder von uns relativ günstig
liebkosen und an ihr herummachen
konnte... Doch vor allem war sie wie
Gummi, unverletzbar, unerreichbar;
am Leben so sehr uninteressiert, dass
ich ihr darin folgen musste. Ein Leben ohne echten körperlichen Genuss zog mich an, ein rein stummes
Zusammensein tauber Existenzen.
5.
An diesem Abend – als sie mir die Tür
eines wirklich abgelegenen Zimmers
in ihrer Wohnung öffnete, machte
sie das Bett und entfernte alle Spinnweben, die sie mit der Hand erreichen konnte – erklärte sie mir sofort,
dass wir uns in Zukunft nur noch in
der Stadt treffen würden; die Wohnung, in die sie mich gebracht hatte,
war das Reich – sie betonte das ironisch – ihrer jüngeren Brüder, Árpáds
und Gézas, das heißt, vergiss diese
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Namen, ich erinnere mich, wie ihr
Gesicht sich in diesem Moment verdüsterte und nenne sie nur: Hartmann
und Conen. Außerdem haben sie dich
schon abgecheckt und werden sich bald
melden.
So war es auch, am Morgen fand ich
auf dem Boden ein Papier mit einem
antiken Stempel: Hartmann és Conen
Rt. Auf dem Papier stand in ziemlich
schlechtem Ungarisch ziemlich viel
Blödsinn, eine Art Hausordnung,
unter anderem wurde wieder hervorgehoben, dass die zwei Brüder
ausschließlich mit Hartmann und
Conen angesprochen werden durften, keinesfalls anders und auf keinen Fall mit primitiven ungarischen
Namen! Ich erinnerte mich, dass mir
an diesem Tag mein Kopf brummte
von den Verben, mit denen die Brüder „artig“ ihre kindischen Befehle
aufsagten: méltóztassék, méltóztassék,
méltóztassék...
Ich ging ein wenig im Viertel spazieren. Ein, zwei Straßen und schon
befand ich mich auf einer riesigen
Baustelle: offensichtlich war dieses
alte Mietshausviertel – bérházok –
endgültig von der Baumafia okkupiert worden. Auch unser Gebäude
wartete schon darauf, abgerissen zu
werden. Ich stand wieder vor ihr und
maß sie ab. Doch zuerst musste Blut
von jemandem fließen, überlegte ich
und sehnte mich Aufregung.
Außerdem, was wusste ich schon über
all das. An mir rauschten zwei schwarze Köpfe vorbei: Szia Vörö{, Zdravo
Vere{, es blieb nur das Echo des Grußes hinter ihnen zurück. Zdravo Vere{!?
– überraschte mich einer der Jungen,
wo hatten sie diesen Gruß gelernt?
Ich ging ihnen nach. Das Gebäude
roch nach Katzenpisse; eine große
Holztür war ausgehoben und lag neben der Treppe im Müll. Die Wände
waren mit Kohle voll geschrieben.
Wenn es eine Farbe für Nikotin gab,
dann war sie überall. Alles erstickte
in dieser aufgerauchten Farbe. Ich
setzte meine Suche nach H&C fort,
77
in der Hoffnung, sie würden mich zu
einem Ofen führen oder einer Kaffeekanne voll goldener schwarzer Flüssigkeit. Ein Königreich für einen Kaffee! – rief ich im Treppenhaus. Ein
Königreich für einen Kaffee!
Und tatsächlich tauchten zwei schwarze Köpfe über mir auf, einen Stock
höher. Folge uns nur, Vere{, gyere ide –
komm her, rief einer auf Ungarisch
zu. Immer hinter uns her – rief mir der
andere auf Kroatisch zu, als wollte er
eine Bestätigung, dass ich antworte.
Ich folgte ihnen auf den Schritt; sie
hielten unterdessen bis zum Dachboden nicht an.
Als ich oben angekommen war, in
noch größerer Dunkelheit, waren alle
Geräusche abgestorben. Hartman,
Conen, rief ich und meine Stimme
hallte in unförmigen Modulationen
im Dachboden. Statt der Jungenstimmen hörte ich etwas wie ein verzögertes verwirrtes Flügelschlagen.
Und dann fuhr mir ein schrecklicher
Vogelschrei in die Knochen. Ich stand
da wie versteinert. Dann schrie ich:
Árpád, Géza, was macht ihr denn da
oben!? Wo seid ihr zwei!? – ich war
wirklich wütend. Ich schrie ihnen
alles Mögliche zu, dass ich ihre Köpfe einschlagen würde.
Ich hörte ein Lachen. Komm Vere{,
komm her, wovor hast du Angst – sagte einer, wieder auf Kroatisch. Ich
sah seine Silhouette im geizigen Licht,
das sich durch die Dachkonstruktion
gebahnt hatte. Du bist im richtigen
Moment gekommen, Vere{ – war die
Stimme des anderen zu hören – vielleicht weißt du etwas, das wir nicht
wissen...
Endlich war ich bei ihnen angelangt.
Sie hatten sich nicht einmal umgedreht, sie waren viel zu sehr mit etwas anderem beschäftigt. Sie hockten um eine Kreatur herum, die zusammengerollt auf den Brettern lag
und mir war sofort klar, dass nur
dieses Wesen jenen schrecklichen
Schrei hatte von sich geben können –
Sie sind hier in der Luft – fuhr der
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eine fort und lächelte, und trotzdem
war es, als redete er mit sich selbst –
hier in der Luft sind weiche und klebrige Frauen, schöner und besser als deine verdammte Anikó, Vere{, Vere{!!! –
Ich habe nichts mit Anikó! Du..... ich
wollte ihm schon eine runterhauen,
als ich endlich den Vogel erblickte,
den gekreuzigten blutigen Vogel. –
Ich fragte sie, was das sei. Eine Eule,
siehst du doch!? sagten sie gleichzeitig. Sie waren offensichtlich stolz
darauf, ihn mir zeigen zu können. –
Das ist eure Eule? fragte ich sie, und
die kleinen Idioten grinsten nur.
Unsere, unsere, aber sie wird verrecken, Vere{, tu was, wir haben kein
Futter für sie!
Ich sah die Eule etwas genauer an.
Jemand hatte ihr die Augen herausgenommen. Nur frisches Fleisch –
sagte ich ohne nachzudenken. Ich
war so entsetzt, dass ich die Kontrolle über die Situation verlor. Dann
schlug mir einer der beiden mit einem Stock auf den Kopf und ich
wurde bewusstlos.
6.
Wir gingen hinaus um eine zu rauchen. Im Aranysárkány durfte man
nicht rauchen. Vere{ machte irgendwelche Witze auf seine Kosten, und
ich hörte nur mit einem Ohr zu.
Draußen war es laut und lebendig.
Es war schon Abend, die Scheinwerfer der Autos durchwoben mit ihren
Lichtbündeln die Straßen der Stadt.
Frauenjacken verbreiteten Parfümwolken; ich sog sie zerstreut ein, zusammen mit dem Rauch von Vere{’
billigen Zigaretten.
Drinnen erwartete uns schon eine
neue Runde Tee. Ich wandte mich
verliebt zu unserer Chinesin um,
doch stattdessen blickte mich nur
einer der untätigen Köche stumpf
hinter dem Tresen an.
– Ich wachte am nächsten Morgen
auf, in einem anderen Zimmer, eng
und dunkel, ans Bett gefesselt, mit
unerträglichen Schmerzen in Kopf
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und den Beinen. Ein Bein lag in einer Blutlache; der Schmerz war nicht
stark, aber es brannte. H&C kamen
langsam und heiter herein, die Schulranzen warfen sie weit in die Ecke. –
Sie will, die Eule will dein Fleisch! Du
hast uns gerettet!!!
Wahrscheinlich stieß ich daraufhin
irgendwelche Flüche aus, ich wusste
nicht, was ich sonst hätte tun können. Mann, sie haben einen Teil
meiner Wade herausgeschnitten und
es der Eule gegeben!!! Keine Sorge,
Vere{, entspann dich, wir haben Chemie für dich da, es wird dir auch das
nächste Mal nicht wehtun! Wir müssen dich frisch und gesund halten!
Und so war es auch, sie schläferten
mich mit einem Kissen ein, das in
hässliche Chemie getränkt war – ich
hatte ständig das Gefühl, sie würden
mich ersticken. Ich war gefesselt und
machtlos. Ich wachte mit furchtbaren Schmerzen auf, wenn man den
dämmrigen Zustand, in dem mein
Bewusstsein taumelte, überhaupt Aufwachen nennen konnte. Unaufhörlich kehrte ein Klavierstück wieder,
in hundert Versuchen, als würde ein
Kind Bartóks Mikrokosmen üben, oder
einfach das Kinderlied Boci, boci tarka,
se füle se farka... Diese Klänge prallten aufeinander, als stürzten sich in
einem Moment hundert Katzen auf
das Klavier, ich spürte wie sie rochen. Sie mussten um mich herumgekrochen sein, um meine Leiche,
ihr Stück abwartend, den Augenblick
der Gnade von Hartmann oder Conen, ihre Unachtsamkeit; ich torkelte wieder auf dem Sand von Kelebije,
auf toten Weinbergen, in eisiger
Dunkelheit, niemand konnte mir
helfen, kein vergrabener Wein oder
Schnaps zur Verlobung, und trotzdem grub ich, wütend und ohnmächtig grub ich in diesem Sand, aber
alles, worauf ich stieß, waren eklige
Käfer, Maulwurfsgrillen, doch sie waren der Köder für Welse und Störe –
ihr esst sie bestimmt, auch gebraten
und gekocht, ihr esst sie bestimmt, mit
TIONS
euren Stäbchen – rief ich aus dem
Bett.
Ich weiß selbst nicht, wie lange ich in
diesem Zimmer gelegen habe, aber
ich glaube, die Chinesen waren schon
lange dort gewesen. Als sie zum ersten Mal herein kamen, bemerkten
sie mich überhaupt nicht, wer weiß,
was ihnen Hartmann und Conen
erzählt hatten, die Decke, mit der sie
mich zugedeckt hatten, stank sicherlich schon ziemlich, getränkt in Eiter aus meinen Wunden. Die Chinesen hatten sich offensichtlich schon
an alles gewöhnt. Jemand hatte ihnen die Wohnung verkauft oder vermietet, denn soviel wusste ich immerhin, das war nicht Anikos Wohnung.
Diese zwei dickköpfigen Monster
versteckten mich hier, weil diese Wohnung bis dahin leer gestanden hatte,
doch jetzt, mit den Chinesen, waren
H&C verschwunden.
Als ich begriff, dass ich den Chinesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, erreichte mein Schrecken
seinen Höhepunkt. Ich hörte, wie sie
ihre riesigen Koffer öffneten und
glänzende Klingen herausholten. Ihre
Schlangenaugen pulsierten wie Feuerfunken in der Dunkelheit. Ich wusste, dass sie ihren faden Reis mit
Menschenfleisch würzten, ich wusste, dass sie ihre stämmigen gelben
Hunde mit Menschenknochen fütterten und ich wusste, dass dann auch
die Hunde unters Messer kamen...
– Guten Abend, Jó estét kivánok Vörö{
úr – unterbrach uns ein wirklich sehr
kleiner perfekt gekleideter Chinese
mit freundlicher Geste und näherte
sich unserem Tisch. Jó barátja? – er
wandte sich zu mir um.
– Ja, ein Freund aus Subotica – log
Vere{, ich wusste nicht, warum.
– Freut mich – der Chinese streckte
die Hand aus. – Sprechen Sie Ungarisch?
– Ein bisschen – sagte ich.
– Ja, wir sprechen alle ein bisschen –
sagte der Chinese ernst. Wir sollten
uns mehr Mühe geben. Immerhin ist
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Neven U{umovi}
das jetzt unsere Heimat. Aber Ihr
Freund Vere{ ist einer der besten. Ich
bin froh, dass wir ihn aus der Patsche
geholt und ihm eine Arbeit gegeben
haben. Wir Chinesen arbeiten für zwei
Ungarn, aber wissen Sie – sagte der
Chinese mit einem breiten Lächeln –
Vere{ arbeitet für zwei Chinesen! Das
Heißt: 2+2=4! Oder?
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– Stimmt! – bestätigten wir einstimmig. Der Chinese musterte uns noch
einmal zufrieden und dann griff er
an seinen Hutrand.
– Einen schönen Abend wünsche ich
Ihnen! – sagte er, dabei hob er schnell
den Teekannendeckel – Kein Tee
mehr!? – totale Bestürzung. Es folgte
eine Explosion unverständlicher Klän-
79
ge, die an die Bedienung gerichtet
waren, dann wandte er sich noch
einmal zu uns, beugte sich ein wenig
vor und ging ohne ein Wort.
Der Tee kam sofort. Wir tranken
ihn schweigend; jetzt war ohnehin
alles klar gewesen.
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Aus dem Kroatischen
von Bla`ena Radas
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MA[A KOLANOVI] wurde am 19. November 1979 in Zagreb geboren. Sie erhielt ihren Diplomabschluss in Kroatistik und
vergleichenden Literaturwissenschaften an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. An der gleichen Fakultät ist sie seit
2004 als wissenschaftliche Assistentin, Fachgebiet Kroatistik, angestellt. 2001 wurde im Rahmen eines Wettbewerbs des
Studentenzentrums ihr Gedichtband Blutsauger für Einsame („Pijavice za usamljene“) veröffentlicht.
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Ma{a Kolanovi}
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Die Traumhochzeit
Ma{a Kolanovi}
Obwohl es schon zehn Tage lang
keinen Luftalarm gab, sogar die Schule hat wieder angefangen, gerade an
diesem Tag hatte ich die unbeschreibliche Ahnung, dass die Sirene wieder
heulen könnte. Aber die richtige Sirene, nicht die, die wir sehr erfolgreich nachmachen konnten und damit Passanten auf dem Parkplatz vor
unserem Wohngebäude erschreckten. Eigentlich weiß ich nicht, ob
das eine richtige Ahnung war oder
nur der Wunsch, dass sie wirklich
heulen sollte, damit ich nicht zum
Solfeggio und zur Klavierstunde musste, weil ich mit der Ausrede all dieser
Luftalarme überhaupt nicht geübt
hatte. Diese Ahnung überkam mich
beim Fernsehen, als ich auf meine
Mutter wartete, bis sie von der Arbeit zurückkam und micht zur Musikschule brachte. In diesen Tagen war das Programm auf unseren
Kanälen grottenschlecht. Nur Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten und
Nachrichten im Rahmen des Programms Für die Freiheit. Und auf
RTL war immer super Werbung mit
der echten lila Milka-Kuh, dem Entstehungsprozess von Mars und Snickers aus Karamell, Milch, Schokolade
und Erdnüssen, Arbeitern, die etwas
auf einem Gerüst, das an irgenwelchen
großen Zähnen aufgebaut war, demolieren, bis sie eine gigantische
Zahnbürste mit Colgate Zahnpasta
davonkehrt... Das war tagsüber, während spät in der Nacht irgendwelche
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deutschen Tanten, die Ruf Ann hießen, große Titten daherzeigten, mit
einer Telefonnummer, die regelmäßig mit 666 anfing. Aber so spät und
in Anwesenheit der Eltern war es verboten, zuerst einen eingeschalteten und
später auch ziemlich anmachenden
Fernseher zu haben. Wie dem auch
sei, ich habe ein wenig Für die Freiheit geguckt, habe dann zu der Werbung auf RTL gezappt, ein bisschen
zu Sky und gerade als sie ^avoglave
von Marko Perkovi} Thomson spielten, kam meine Mama, brutzelte mir
schnell mein Lieblingsmenü (Eier
und Pommes), danach hätte man zur
Musikschule fahren sollen, o nou.
Meiner Ahnung gechorchend ging
ich trotzdem in den Keller, um meine Barbies zu verstauen, für alle Fälle. Und im Keller bereiteten sich alle
natürlich aufs Spielen vor. Glückspilze, deren Mamas und Papas sie nicht
zwangen in die Musikschule, zum
Volkstanz, Englisch und Rhytmik,
Glückspilze, die (wenn man die Schule nicht mitrechnet) ihre Zeit wie
auch immer und wo auch immer
verbringen konnten, während die
Meinen mich in all diese Musikschulen, zu Latein und Griechisch schleppten... Und jedes Mal, wenn ich mich
dagegen zur Wehr setzte, wurde ich
beschuldigt, eine Vagabundin zu sein.
Um die Sache noch schlimmer zu
machen, ausgerechnet an diesem Tag
sollten im Keller der Ken von Ana
M. und Deas Barbie heiraten, in ei-
ner Kapelle, für die das Wrack eines
alten Fernsehers dienen sollte, das
einer der Nachbarn im Keller gelassen hat und dort steht er seit Adam
und Eva, angelehnt an den großen
Eimer mit Sauerkraut von Tante
Munjekovi}. Und während ich in
meinen kleinen Koffer für die Musikschule das Notenheft verstaute,
555 ausgewählte Themen für Solfeggio
von Markovi}, Etüden und Sonaten, wurde im Keller eine BarbieHochzeit vorbereitet mit ein paar
wirklichen und etwa dreihundert
imaginären Gästen. Alles war bereit:
Sowohl die Automobile – mit den
verscheidensten Bändern geschmückte Schuhe, als auch der Reis für kleine Barbie-Hochzeitsmandeln und
der große weiße Schuh von Anas
Papa, Größe 45, der die Brautlimousine sein sollte und der Priester, den
Sanjas Ken spielte und ein Blumensträußchen aus Klee aus dem kleinen
Park hinter dem Haus, das Deas
Barbie werfen sollte, damit es eine
der Barbie-Glücklichen fangen sollte und die Brautjungfern und viel
Verwandschaft und viele Freunde,
die größtenteils nur ordentlich bechern und essen wollten auf diesem
bislang größten Barbie-Fest. Und
um die Sache noch spannender zu
machen, sollte der Trauzeuge von
Anas Ken niemand anderer als Dr.
Kajfe{ sein, der unmittelbar vor der
Hochzeit Deas Barbie mit allen Mitteln von der Hochzeit abzubringen
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versuchte und sie aus den Fängen
eines tristen Lebens, das sie mit diesem Idioten von Anas Ken erwartete, zu retten. Aber nein! Dieses geldgeile Luder ließ sich das nicht ausreden. Die kleinen türkisen Perlen, die
Anas Ken ihr schenkte, waren wichtiger als alle ehrliche Liebe und Wiesenblumen, der ihr Dr. Kajfe{ so
hartnäckig brachte und ihr unter
dem Fenster Ständchen brachte wie,
Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht
ein manchmal auch Verdammt, ich
lieb’ dich, wenn alles schon zum Teufel gegangen ist. In den sentimentaleren Augenblicken pflegte er ihr
auch Gedichte zu schreiben, die er
in Begleitung einer kleinen Plastikgitarre in der Agonie seiner Einsamkeit vertonte. Aber sie schmähte all
diese ehrlichen Gefühle und stimmte berechnend einer Ehe aus materiellem Nutzen zu. Für Doktor Kajfe{
war dieser Tag nicht gerade der glücklichste, aber er musste Freude vortäuschen mit seinem gezwungenen
Lächeln, das ihm nicht von der Visage wich, wie es auch nicht von der
Visage jeder Barbie wich, wie ernsthaft, sogar tödlich, der Augenblick
auch ist. Es gab sogar auch einige
Versuche körperlicher Abrechnungen zwischen Dr. Kajfe{ und Anas
Ken, aber die endeten hauptsächlich
damit, dass Kajfe{ ein Glied seines
ohnehin schon wackeligen Körpers
abfiel. Bei der letzten Abrechnung
wurde ihm unwiderbringlich sein
schon zerbissener rechter Arm demoliert, so dass jede Bewegung eine
mögliche Gefahr von Abfallen darstellte. Meine Barbie hat ihn nach
jedem Unfall mit falschen Küssen
getröstet, die in die Luft gedrückt
waren, einen Zentimeter von seinen
verbrannten Wangen entfernt, ähnlich dem, den ich meinem toten Opa
Viko, als mich Tante Marija dazu
zwang, weil es so Brauch auf Beerdigungen war, gab. Doch es ist kein
Wunder, dass Deas Barbie sich vor
Kajfe{ ekelte. Schließlich, was für ein
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Leben erwartete sie mit so einem
Mann? Nur ein unglückliches Tal
der Tränen und Qualen, diverse Behinderten- und Sozialhilfen, während sie mit Anas Ken ein wirkliches
Leben bekommen konnte, wie sie es
sich schon immer erträumt hatte:
Einen haufen Plastikperlen und Kinkerlitzchen Made in Taiwan, China,
Malaysia oder Philippinen, die unbestritten jede moderne Frau wie Barbie
benötigt. Plus, nach der Hochzeit,
hat ihr Anas Ken versprochen, dass
sie ihre Hochzeitsreise auf den Bahamas verbringen. Natürlich auf den
Bahamas im Sinne von türkisfarbenem Lorbeer und Schirmchen aus
den Fruchtbechern in der Eisdiele
Ledo. Dort wird Deas Barbie tausend grelle Outfits für jeden Tagesabschnitt wechseln, vor dem Hotelpool müßig Cocktails trinken und
für wenig Geld zu Massagen bei den
Eingeborenen gehen und Poolside
Vacation Barbie spielen, bis dass der
Tod sie scheidet. Wie dem auch sei,
Dr. Kajfe{ und Anas Ken haben ihren Streit in einer Kneipe beigelegt,
haben ordenlich einen gekippt und
Brüderschaft getrunken, woraus auch
diese Trauzeugengeschichte entsprungen ist. Obwohl er später mit vielen
Barbies anbändelte, kam Dr. Kajfe{
nie wirklich über Deas Barbie hinweg.
Und so sollte diese Hochzeit gerade
an diesem Tag stattfinden, und ich
und meine Barbie konnten wegen
dieser blöden Musikschule nicht an
dem feierlichen Ereignis teilnehmen.
Ich verstaute meine Habseligkeiten
wie eine Looserin im Schuppen, während alle anderen in Partystimmung
waren. Kajfe{ hat sogar eine kleine
kroatische Flagge besorgt, die auf einen Zahnstocher gesteckt war, mit
der er vorhatte, aus dem Auto zu
wehen und Dea schlug die Idee von
einer unsichtbaren Tamburizza-Kapelle vor, die sich gerade auf den
Weg machte, um die Braut abzuholen. Es gab auch kleine Geschenke
TIONS
für die Brautleute (eigentlich Legosteine, die in bunte Papierfetzen
gewickelt und mit einem schmalen
Band gebunden waren). Und all das
sollte mit einer kleinen Videokamer
Bornas Skipper aufnehmen, die keine Original-Barbie war, sondern Borna, der Glückliche, bekam sie in einer Kinderüberraschung. All das habe
ich mit eigenen Augen gesehen und
verließ den Keller Trübsal blasend
zum blauen Renault 4, in dem meine Mama schon ziemlich nervös auf
mich wartete und hupte, damit ich
mich beeile, denn ich würde sonst
zum Solfeggio zu spät kommen. Und
während man aus dem Keller geschäftige Geräusche hörte und das
Jauchzen der unsichtbaren BarbieTamburizzaspieler, ging ich in den
blauen Renault 4, der mich direkt in
die Musik-Grundschule Pavao Markovac am Platz-der-Opfer-des-Faschismus Nummer 9 brachte. Als ich
im Auto wieder versuchte etwas in
Bezug auf meine Interessen und Ambitionen zu sagen, die nicht im Einklang mit denen meiner Eltern waren, fing die Mama an, mich anzuschreien, ich solle sofort den Mund
halten, denn sie könnte schon drei
Doktorarbeiten schreiben, wenn man
bedenkt, wie viel Zeit sie beim Warten auf mich vor der Musikschule
vergeudet hat. Den Rest der Zeit verbrachten wir schweigend und fuhren Richtung Stadt. Ich stellte mir
vor, wie es jetzt im Keller war. Die
Hochzeitsgäste sind jetzt sicherlich
schon auf dem Weg zum Fernseher,
die Autos hupen, die Tamburizzas
spielen, die Braut ist aufgeregt wegen ihrer Barbie-Traumhochzeit, die
der glücklichste Tag in ihrem leben
sein soll, während Dr. Kajfe{ singt,
mit seiner Flagge wedelnd, doch
insgeheim bricht und blutet ihm das
Herz, denn heute heiratet die, die er
liebt... Vielleicht wird er sogar versuchen im Affekt das Auge von Anas
Ken mit dem kroatischen Zahnstocher auszustechen und so die Traum-
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TIONS
Ma{a Kolanovi}
hochzeit in eine Bluthochzeit verwandeln. Doch sicherlich hatten die
kleinen Rauschmeißer Kajfe{ schon
unter Kontrolle. So war ich in Gedanken unter der Erde und darüber
hörte man auf einmal diesen eingängigen Ton. Sie heulte! Die Sirene
heulte zur Luftgefahr, genau so, wie
ich es vorgesehen habe! Natürlich,
obwohl ich nicht abstreiten kann,
dass ich eigentlich Angst hatte, weil
es das erste Mal war, dass mich die
Sirene außerhalb von Slobo{tina überraschte, in der Tiefe meines vermeintlich unglücklichen Wesens hat es mir
doch irgendwie gefallen, dass Solfeggio und Klavier für heute sicherlich
abgeschrieben sind, plus, das BarbieEigentum war an einem sicheren
Ort. Mama übernahm in der Zwischenzeit vollständig die Rolle eines
Stuntman: Mit der einen Hand drehte sie das Lenkrad um 360 Grad um
den Kunstpavillion herum, während
sie mich wegen der Gefahr von den
Scharfschützen unter den Rücksitz
schubste. Damals wimmelte es in
Zagreb nur so vor Scharfschützen.
Tante Munjekovi} erzählte, dass Tante Stanekovi} gesagt hat, dass Tante
Pilko vor ein paar Tagen die Einkaufstüte aus der Straßenbahn gefallen ist und während sie sich bückte,
um sie aufzuheben, erschossen gerade in diesem Augenblick Scharfschützen eine Frau hinter ihr. Onkel Horvat hörte, dass der Wohnblock Mamutica voll mit Tschetniks und Fünfter
Kolonne ist, die hinter heruntergelassenen Rollläden absolut alles im
Visier haben, einschließlich uns, die
wir vor dem Eingang gespielt haben,
wenn es uns im Keller langweilig
wurde. Onkel Horvat sagte, dass alle
diese Wohnblocks – Mamutica, Super Andrija, die Raketen – brechend
voll mit bewaffneten Serben und
Tschetniks sind.
Ich lag also unter der Rückbank und
schaute bei einer Fahrt, von der mir
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übel wurde, auf die gebrochenen Bilder der Stadt. Mama kämpfte sich
durch den Stadtverkehr Richtung
Novi Zagreb. Als wir endlich in Slobo{tina angekommen waren, flitzte
ich geradewegs in den Keller und
dort bekam ich aber was zu sehen.
Die Hochzeit war schon im fortgeschrittenen Stadium. Die Hälfte der
Barbies lag betrunken am Tisch.
Deas Barbie packte einen Haufen
Hochzeitsgeschenke aus, während
Dr. Kajfe{ auf den Tisch kletterte,
um Hand in Hand mit Anas Ken zu
singen: Wir erwischen euch auch noch
in Serbien ...
Bornas Skipper
Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht,
donnert, hämmert, braust, das ist die
Sprache meines Volkes!
Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht,
donnert, hämmert, braust, das ist die
Sprache meines Volkes!
Dann wieder Es summt, schallt, hallt,
klingt, rauscht, donnert, hämmert,
braust, das ist die Sprache meines Volkes!
Es galt, an einem Nachmittag das
ganze Gedicht auswendig zu büffeln
und ich kam einfach nicht weiter als
Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht,
donnert, hämmert, braust. Nach dem
vierten Wort weiß ich nicht mehr,
ob es hallt, heult, hämmert heißt
oder irgend eine andere Naturkatastrophe und es galt auch nocht mit
vollständigen Sätzen die Fragen über
den rassigen Dichter mit vulkanischer Kraft ins Heft zu beantworten,
dessen Bild mein Bruder im Lesebuch mit Sonnenbrille und einem
Metallica auf der Stirn geschmückt
hat. Wer sollte sich auch auf die
Hausaufgabe konzentrieren können,
wenn er im Zimmer nebenan sowieso
den ganzen Nachmittag nur Radio
hörte. Und zwar das feindliche Radio, weswegen ich ihn fast an Mama
und Papa verpetzt hätte. Zwar mit
einigem Knistern, aber auf unserem
kleinen Kassettenrekorder ließ sich
doch ziemlich gut Radio Glina empfangen, wo nach der Nachricht vom
Rückzug der Jugoslawischen Volksarmee aus den Kasernen in Kroatien
das Musikprogramm für Soldaten
von SAO Krajina1 lief.
Alle drohen dir, mein Krajina, doch du
stehst aufrecht da, sag der ganzen Welt,
das du keine Angst haaast...
Mann an Mann, wir Tschetniks, Held
an Held, wir fürchten uns nicht vor
Kampf oder Schlaaacht...
Ohne Heimat lebte ich auf Korfu, aber
ich rief stolz, es lebe Serbieeeen...
Möge dir die Drina hundert Mudschaheddin bringen am Tag, an jedem
Taaaag...
begleitet vom ständigen Ausruf „Krajina bis Tokio!“. Und mir blieb noch
genau eine halbe Stunde, um Es summt,
schallt, hallt, klingt usw. zu memorieren, weil Punkt 18 Uhr Borna
mich abholen sollte und dann sollten wir zur Chorprobe gehen. Borna
und ich waren die einzigen im Haus,
die im Chor waren, den Lehrer Kutnjak in Begleitung eines Tamburizza-Orchesters leitete. Wir bereiteten
für den Tag der Schule eine Aufführung vor, bei der die Lage sein-odernicht-sein war, abhängig von den
Luftalarmen. Plus, wenn du zum
Chor gehst, hast du auch ein großes
Plus beim Kutnjak und das heißt eine
Note besser im Musikunterricht. Und
bei diesem Chor war es ganz ok, viel
besser als in der Musikschule, denn,
außer dass man nichts zu Hause zu
üben brauchte, nach der Probe gingen wir immer eine Runde hinter die
Schule, wo abends die ganzen hübschesten Achtklässler (yes!) herumhingen, unter denen sich auch wie
eine Sardine unter Haien ein Viertklässler-Knirps finden ließ.
An diesem Tag habe ich vielleicht
wegen der großen Hausaufgabe in
Serbisches autonomes Gebiet Krajina in Kroatien.
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Kroatisch auch einen berechtigten
Grund, nicht zur Probe zu gehen,
aber ich bin trotzdem gegangen, weil
wir die neuen roten Westen für den
Auftritt anprobieren sollten. Während ich mich also mit Es summt,
schallt und so weiter herumplagte,
klingelte wie der Glöckner von unserer lieben Rettung Borna an der Gegensprechanlage. Mein Bruder grinste immer, wenn Borna unten klingelte oder mich am Telefon verlangte. Doch für uns Mädels aus dem
Haus war Borna der beste Freund
und der einzige Junge aus Slobo{tina,
von dem wir wussten, dass er mit
Barbies spielt. Borna mochten nämlich einige der anderen Jungs im
Viertel nicht. Und das meistens wegen seiner kreischenden Stimme und
weil er mit uns mit Barbies spielte.
Einmal, als wir auf den Gullideckeln
vor dem Hauseingang spielten, rannten die Jungs aus Nummer 15, angeführt von Salih, zu unserem Hauseingang mit dem Ziel, Borna zu verdreschen. Aber wir Mädels retteten
ihn, indem wir ihn schnell versteckten und ins Müllcontainerhäuschen
einschlossen. So entging Borna um
ein Haar dem Unglück. Salih schlug
eine Weile wütend auf das Müllcontainerhäuschen ein, während sich
Borna hinter den Containern versteckte. Und dann spuckte Salih in
seiner Wut auf ein paar Ameisenhaufen, die wir als kleinen Tiergarten vor dem Hauseingang aufgezogen hatten und devastierte ein paar
Barbie-Wohnungen auf den Gullideckeln, was ungeahnte Ausmaße erreicht hätte, wenn nicht Onkel Horvat gekommen wäre und sie alle verjagte. Mit ein paar zerstörten Wohnungen, die sich ganz schnell wieder
aufbauen ließen, war der Schaden
nicht groß. Nur die Barbie von Ana
P. endete in dem bespuckten Ameisenhaufen, was in Ameisenaugen einer Tragödie gleichkam. Dieses Spielen auf Gullideckeln wurde nach diesem Inzident wirklich riskant, so dass
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sich die Entdeckung des Kellers im
Krieg als viel sicherere Lösung erwies, was Borna und die Barbies anging. Aber, wenn ich sage, dass Borna
der einzige Junge war, den ich kannte, dass er mit Barbies spielte, muss
ich gleich erwähnen, dass Borna eigentlich nie eine Barbie hatte. Er war
nämlich bekannt für seine OriginalBubble-Bath-Skipper, die tausend kleine kosmetische Präparate zum Duschen, Parfümieren, Shampoonieren, Fönen und Kämmen hatte sowie einen Froteebademantel mit eingraviertem Buchstaben S und einem
Handtuch, das sie oft nach einem
angeblichen Haarewaschen als Turban auf dem Kopf trug. Diese Skipper
war wirklich super und wie geschaffen für Borna. Niemand hätte sich
auch vorstellen können, dass Borna
eine Barbie oder einen Ken hat, denn
Skipper passte irgendwie perfekt zu
seiner Gestalt und seiner Stimme
(außer einer kreischenden Stimme
trug Borna auch noch eine dicke Brille und hatte Probleme mit Akne). Und
eines Tages schickte ihm seine Tante
aus Italien eine Vespa für Skipper.
Die Vespa war keine Original-Mattel,
aber war nichtsdestotrotz perfekt.
Klein und rot und batteriebetrieben
mit Fernsteuerung. Später erfuhren
wir aus einem Streit zwischen Borna
und seinem Bruder Kre{o (der mit
Bornas Papa lebte, weil ihre Eltern
geschieden waren), dass die Vespa
überhaupt nicht für Skipper war, sondern dass dazu eigentlich ursprünglich ein italienischer Polizist gehörte,
aber Borna ihn herausgeschmissen
und seine Skipper auf die Vespa gesetzt hat. Niemand weiß, wo eigentlich dieser italienische Polizist gelandet ist, aber er hatte angeblich einen
unglaublich kleinen Kopf und konnte nur sitzen, so dass eigentlich keine
von unseren Barbies übrhaupt diesem
Gnom nachtrauerte. Hauptsache war,
dass diesem italienischen Müll die
Vespa abgenommen wurde, die perfekt zu Bornas Skipper passte. Und
TIONS
auf der Vespa mit Bornas Skipper zu
fahren, war super. Obwohl die Fahrt
manchmal außer Kontrolle geriet, so
dass die Runde in einem kleinen
Autounfall enden konnte, irgendwo
dort in den Rattengiften am Ende
des Kellers (von wo aus für die Nachrichten des Kroatischen Fernsehens
Dr. Kajfe{ regelmäßig Bericht erstattete), fuhr Bornas Skipper meistens
ausgezeichnet diese Vespa, allen Brettern, Spucke und Mäusedreck ausweichend wie ein richtiger kleiner
Stuntman. Aber hinter der Fassade
des kleinen Stuntman hütete Bornas
Skipper ein Geheimnis. Das war nämlich das Geheimnis einer unglücklichen Liebe für Dr. Kajfe{. Das wurde bei einer Gelegenheit herausgefunden, als nur Borna und Svjetlana
bei Svjetlana spielten, aber seit Svjetlana das Dea erzählt hat, um Kajfe{
in den Augen von Deas Barbie cooler erscheinen zu lassen, wussten wir
alle bald davon, nur dass wir das vor
Borna nicht zeigten.
Die minderjährige Skipper und Dr.
Kajfe{ spielten dann eine kleine Schulabschlussfahrt, die auf den schneebedeckten Gipfeln des Jahorina-Gebirges stattfand. Kajfe{ war Sportlehrer und Klassenleiter in einer imaginären Klasse, in der Bornas Skiper
die beste Schülerin war. Und dann
machte sich diese kleine Klasse zu
den schneeigen Spitzen des zerkrümelten Styropors des imaginären Jahorina-Gebirges auf (auf denen Kajfe{,
außer als Klassenleiter, so tat, als ob er
auch Bendable Leg Ken in The Skiing
Scene war) und Bornas Skipper und
Lehrer Kajfe{ begannen sich schon
im Zugrestaurant des kleinen Orient Expresses näher zu kommen.
Lehrer Kajfe{ dies, Lehrer Kajfe{ das...
sie kroch ihm in den Hintern für ein
paar Pluspunkte mehr (drei Pluspunkte für einen Einser). Und Kajfe{
war auch sonst bekannt dafür, dass er
die Blicke (eigentlich einen Blick, in
Anbetracht seines einen ausgewa-
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TIONS
Ma{a Kolanovi}
schenen Auges) nicht von den kleinen blonden Nymphchen wenden
konnte, aber er musste als Klassenleiter dabei sehr diskret sein und aufpassen, dass man ihn nicht dabei entdeckt, wie er heimlich ihre klienen
Tittchen beobachtet, wie sie beim
Spielen von Brennbal, Volleyball oder
beim Rennen auf dem Sportplatz hin
und her wippen. Die Weiber mittleren Alters aus dem Lehrerzimmer,
all diese grauhaarigen Kroatisch-,
Geschichts- und Mathematiklehrerinnen, die oft von unglücklich geschorenen und staubigen Barbies gespielt wurden, gefielen ihm einfach
nicht. Wie sollten sie auch, wenn er
all diese Stückchen Kükenfleisch vor
sich hatte und ihre kleinen saftigen
sexy Körper? Kajfe{ hatte damals als
Klassenleiter auch eine imaginäre
Familie, die eigentlich nur ein Paravent für seine Skipper-Neigungen war.
Doch was Kajfe{ und die Skipperinnen
angeht, den Skipperinen gefiel Kajfe{
ebenfalls. Immerhin war er ja ein mehr
oder weniger guter Klassenleiter und
Sportlehrer, konnte das Seil hinaufklettern und über den Bock springen
und verteilte mehr oder weniger gute
Noten. Die Skipperinnen hatten ja
auch nicht weiß Gott was für eine
Auswahl mit den halbmutierenden
Jungs mit Akne aus ihrer Klasse, also
mussten sie sich notgedrungen Kajfe{
als ihrem Idol zuwenden, der ja trotzdem ein mehr oder weniger guter
halbrichtiger Mann war. So empfand
Bornas Skipper heimlich kräftige
Sypathien für Dr. Kajfe{ in seiner Rolle
als Sportlehrer und Klassenleiter noch
dazu. Das kann manchmal Streberinnen passieren, wie Bornas Skippr
eine war. Und damit wir uns gleich
klar verstehen – das waren keine Sympathien zwischen Borna und Svjetlana, sondern ausschließlich Sympathien zwischen Bornas Skipper und Dr.
Kajfe{, genauer gesagt dem Sportleherer und Klassenleiter noch dazu.
Außer im Abteil des kleinen Balkan
Barbie Express, verbrachte Kajfe{ mit
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Bornas Skipper auch am StyroporSkigebiet intensiv Zeit, auf dem sie
im Schnee herumtollten im Sinne
von Last Christmas I gave you my
heart!, wie auch in der Hotelmensa,
die in Anbetracht des Klassenbudgets
nicht gerade exklusiv war im Vergleich
zu den luxuriös designten BarbieHotels aus den Prospekten, bis am
dritten Tag der kleinen Abschlussfahrt Kajfe{ vorschlug, sie sollen sich
vom Rest der Klasse absetzten (was
auch nicht schwierig war, in Anbetracht der Tatsache, dass die gesamte
Skipper-Klasse imaginär war) und
für ein paar Tage in ein teureres
Hotel gehen zur Sauna und Massage
– auf Kajfe{s Rechnung! Er wusste,
dass er sie mit diesem billigen kleinen Trick auf seine Seite gewinnen
konnte, denn Bornas Skipper war
immer bereit für eine Demonstration ihrer Bubble-Bath-Ausstattung.
Und so verabredeten sie sich an der
Rezeption, Punkt 20 Uhr 15. Als
reiferer Mann und Klassenleiter musste Kajfe{ trotzdem die Nachrichten
zu Ende schauen und sehen, was am
morgigen Tag mit dem Schnee und
dem Krieg sein wird. In der Zwischenzeit schminkte und parfürmierte sich
Skipper mit Imitationen teurer Parfums und erschien etwas früher in
der Lobby. Und als der Klassenleiter
kam, gingen sie zu dieser Sauna und
Massage. Aber, was eigentlich dort
geschehen ist, blieb ein großes Geheimnis, das nicht einmal Dea erfuhr, so sehr sie sich auch bemühte.
Angeblich kam Svjetlanas Mama von
der Arbeit und Svjetlana musste ihre
Hausaufgabe machen, aber alles in
allem hat sich Bornas Skipper ernsthaft in Dr. Kajfe{ verknallt, doch er
begriff angeblich etwas später, dass
das Ganze wenig Sinn macht. Letztendlich konnte diese ganze Sache
aufgedeckt werden, in die Medien
gelangen und dann ist nichts mit
Sportunterricht, geschweige denn mit
der Klassenleitung, wofür er immerhin
ein mehr oder weniger großes Plus
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auf das Gehalt bekam. Und Bornas
Skipper verfiel immer tiefer in den
Schleim der Sehnsucht nach ihrem
Klassenleiter und hoffte insgeheim,
dass sich eines Tages, wenn sie ihren
Qualli hat, Kajfe{ doch von seiner
angeblichen Frau scheiden lassen und
sie in seine Arme sinken würde, in
denen sie glücklich und zufrieden bis
an ihr Lebensende leben würde. Aber
bis zum Qualli war es noch seeeehr
lang in Barbie-Zeit, wenn man sie in
Menschenstunden umrechnete...
Alles in allem, so stehen die Dinge
mit Bornas Skipper. Borna spielte
oft mit uns, außerdem gingen er und
ich auch noch zu diesem Chor bei
Kutnjak, was uns irgendwie besonders
näher brachte. Zur letzten Geburtstagsparty von Borna kam ich als erste und ging als letzte, weil Borna und
ich uns noch bis spätabends eine
Koreographie zu Er gehört zu mir
von Marianne Rosenberg ausgedacht
haben. Und bei der Probe an diesem
Tag haben wir kleine rote Westen
bekommen, die man bei der Aufführung über einem weißen Hemd tragen sollte und danach machten wir
noch eine Runde um die Schule, die
wegen der Situation im Lande doch
schnell und kurz war. Borna machte
wie ein richtiger Kumpel diese Runde nur mir zuliebe, weil ich Ivica
Glavini} sehen wollte, in den ich
mich verguckt habe und dem ich
zum Geburtstag eine Gewehrkugel
geschenkt habe, die ich meinem Bruder aus seiner Kollektion gesammlter
Patronenhülsen und anderer Militärausrüstung geklaut hatte und die ich
in ein kleines Herz packte. Der Abend
verlief ruhig und es galt auch etwas
früher nach Hause zu kommen, um
noch einmal für morgen Es summt,
schallt, hallt, klingt zu wiederholen.
Aber, als ich nach Hause kam, passierte etwas Schreckliches. Die Mama
meldete sich am Telefon, als niemand anderer als ein Offizier der
Jugoslawischen Volksarmee anrief
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und ihr sagte, dass ihr Sohn unerlaubt in die Räumlichkeiten der Marschall-Tito-Kaserne in Travno eingedrungen ist, doch sie muss sich
keine Sorgen machen, denn er ist
gesund und munter und sie kann
ihn abholen, nachdem die kroatische
Polizei ein Dossier für ihn anfertigt.
– Ich dachte, die sind weggegangen und
ich wollte nur ein paar Patronen sammeln...! War das Einzige, das mein
Bruder sagen konnten, unmittelbar
vor der Ohrfeige, als ihn die Eltern
aus einer kleinen Baracke in der Nähe
der Kaserne abholten.
Mama und Papa waren im Schock,
der Bruder in einem Turbo-Hausarest, während zu Hause noch lange
die Sprache meines Volkes summte,
scholl, hallte, brauste, klang, donnerte und walzte.
Federnsammler
An diesen dürsteren und wolkigen
Tagen irgend so eines Waffenstillstandes, als sich endlich die JNA2 echt
aus allen Kasernen der Republik Kroatien zurückgezogen hat, haben wir
alle fleißig Federn gesammelt. Wie
zerstreute Perlen einer Modekette
krochen wir über die Wiesen von
Slobo{tina und umliegende Felder
mit dem klar gesetzten Ziel, das Federnsammler üblicherweise haben.
Meist fanden wir die gewöhnlichen,
grauen Taubenfedern, die auf Schritt
und Tritt herumlagen. Wir sammelten sie auf Betonpflastern, die mit
Kaugummiflecken verklebt waren,
dem kleinen Park hinter dem Haus,
der mit Hundehaufen vermint war,
der kleinen Mauer mit vielen Zigarettenkippen hinter dem Debilarium
(Rehabilitationszentrum Novi Zagreb), der kleinen Wiese hinter der
Schule, die mit verschiedenstem Müll
und manch einer Spritze durchzogen war. Oft fanden wir auch die
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ganz schwarzen und großen von Krähen, die auf den Leitungen des Telegrafenmastes der öden Wiese zwischen Slobo{tina und der Straße nach
Velika Gorica aufgereiht waren. Neben seltenen bunten Wellensittichfedern, die ich auf völlig gewaltsamem Wege in die Finger bekam, indem ich ihn so sehr erschreckte, dass
er sich völlig außer sich von einem
Ende des Käfigs zum anderen rammte, waren die allergrößte Trophäe
mellierte Hühnerfedern und die ganz
weißen Gänsefedern. Die sammelten wir nämlich während heimlicher
Einfälle in den Hof eines Hauses mit
Geflügelzucht, das sich etwas weiter
weg von unserem Gebäude befand.
Die fleißigen Perlen verwandelten
sich in diesen Momenten in Kommandos, die in ein serbisches Haus
einfallen. Obwohl ich in diesen Momenten ein ungutes Gefühl und Angst
verspürte (was, wenn aus dem Haus
der Onkel und die Tante herauskommen und auf uns den scharfen Hund
hetzen, dessen Zeichen am Eingang
stand), gehörten diese unerlaubten
Einfälle zu den aufregenden Ereignissen, die ein Kribbeln im Bauch
verursachen. Die Aktionen waren
sorgfälig geplant und wurden während der nachmittäglichen Rast des
Onkel und der Tante, die dann in
tiefem Schlaf waren, wie Tote auf
dem Bett hinter einem Fenster mit
Blumengardine, ausgeführt. An diesen unerlaubtenn Einfällen in fremdes Territorium nahmen alle Teil
außer Sanjica, die ein Hühnerstalltrauma hatte, seit sie ihre Cousine
Tanja aus Zagorje dazu überredete,
ein Huhn zu schlachten. Sanjica war
damals nämlich gezwungen an dieser hinterhältigen Tat teilzunehmen,
die so endete, dass die Mädels es
schafften, mit einem großen gezahnten Brotmesser in allgemeinen Federnchaos dem Huhn zur Hälfte ein
orangenes Bein abzuschneiden und
den Rest musste die Tante erledigen.
Doch dies war keine schmutzige Arbeit dieser Art. Das Geflügel blieb in
diesem Fall völlkommen unberührt
und das Sammeln erfolgte ohne ein
einziges Tröpfchen Blut. Man musste nur so viel wie möglich ausgefallene Federn sammeln, die wir später
dann zur Oma aus Nummer dreizehn in den zehnten Stock brachten.
Sie belohnte uns dafür reich mit
Münzgeld, Papiergeld bekamen wir,
wenn sich auf dem Haufen grauer
Federn auch eine bunte fand. Außer
meinem Beitrag, kamen bunte Federn auch von Tea, die ihren Wellensittich nach der gleichen Methode seiner Federn beraubte. Und die
Oma kaufte von uns Federn als Rohmaterial für ihre Kunst. Sie stellte
einen großen Vogel zu Ehren von
dr. Franjo Tu|man her und die Teilnahme an ihrem Projekt schien eine
außergewöhnlich günstige Gelegenheit, das ziemlich schwächliche Taschengeld in diesen grauen und geizigen Tagen aufzubessern. Doch unseren Eltern gefiel jeglicher Kontakt
mit dieser ungewöhnliche Alten überhaupt nicht und nachdem sie uns
das erste Mal vor den fatalen Folgen
dieses Tauschhandels für unser mickriges, aber mehr oder weniger stabiles Budget ihrerseits, gewarnt haben,
musste die Aktion für die zusätzliche
Geldquelle in strengster Heimlichkeit vonstatten gehen. Was eigentlich gar nicht leicht war, in Anbetracht der Tatsache, dass wir mit sehr
aktiven Außenmitarbeitern kontaktieren mussten. Obwohl wir nie dachten, dass das eines Tages geschehen
würde, schlossen sich uns beim Federnsammeln unsere sonst schlimmsten Feinde Salih und Alija an, der
eigentlich gar nicht Alija hieß, so
nannten wir ihn und seine Geschwister, die aus Bosnien hergezogen waren. Alija konnte gut mit Geflügel
umgeben, das schreckte nicht so sehr
Jugoslavenska Narodna Armija – Jugoslawische Volksarmee.
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Ma{a Kolanovi}
vor ihm zurück wie vor uns übrigen
beim Hineingehen in den Hof, sondern spazierte nur pickend in Richtung Goldfischli, die er ihnen geschickt zuwarf. Die Guppe aus unserem Eingang, in Zusammenarbeit
mit Salih, versuchte in der Zwischenzeit so viele Federn aus dem schlammigen Hof aufzusammlen, der voll
von Schmutz und altem Kram war.
Während wir sammelten, hielt Alija
einen gefährlichen Schwarm Gänse
in Schach, der sich jeden Moment
gegen uns wenden konnte. Doch dieser ganze Deal mit den Federn sollte
nach den Warnungen, die wir von
den höheren Instanzen bekommen
haben, unbemerkt bleiben. Unseren
Schwarzbetrieb tarnten wir gut, indem wir mit unseren Barbies auf den
Gullideckeln vor dem Gebäudeeingang spielten, so dass unsere Eltern,
die uns immer im Visier hatten, keinen Verdacht schöpften. Während
des Spiels gingen wir in Schichten
zur Gastarbeit mit Salih und Alija,
danach machte man den Federfang
bei der Alten zu Geld, deren winzige
blaue Augen vor Zufriedenheit unter den faltigen Augenhöhlen ihres
knochigen Gesichts sprühten.
Und während die Gruppe von Spezialabgeordneten auf geheimer Mission war, fiel auf dem großen Kanalisationsdeckel Dr. Kajfe{ in seine gewöhliche Extase, diesmal zusätzlich
verstärkt durch die Tatsache, dass
sowieso niemand dieses Quasispiel
ernst nahm, das zur als Vorwand für
viel wichtigere Dinge diente. Dr.
Kajfe{ erkrankte nämlich plötzlich
an einer Störung aller Persönlichkeiten in einer Person, und um die Sache noch schlimmer zu machen, keiner der Anwesenden konnte ihm
fachmännisch helfen, da er der einzige Arzt mit Diplom war. In einem
Moment war er Bruce Lee und rette3
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te Barbie mit seinen Karatebewegungen vor unsichtbaren Vergewaltigern, von denen er einer von vielen war,
im anderen fesselte er sie als Rudolph
Valentino in orientaler Kleidung mit
Stacheldraht und kitzelte sie an den
Füßen mit frisch gesammelten Federn, dann wieder war er Robin Hood
und plünderte die Wohungen der
Abgeordneten, die abwesend waren,
danach zerschlug er in einem plötzlichen Umschwung mit seiner kleinen Plastikgitarre alles Gestohlene
als Jimmy Hendrix, um schon in der
nächsten Sekunde als Vojislav [e{elj
in Barbies Bett zu schlüpfen und ihr
Oh, Barbi-Helz und Gloßselbien ins
Ohr zu säuseln. Es gab nichts, was es
nicht gab. Meister Proper, der so sauber putzt, dass man sich drin spiegeln
kann, Aca ist immer Aca (von vorne
und von hinten), Batman, Spiderman, Danko Bananko Bananaman,
Tu|man, Branko ratatatira Kockica3,
der Barbie-Partys besucht und das
kontrarevolutionäre Verhalten von
Parteifunktionären bespitzelt und
selbst in der Falle sitzt. Und das alles
binnen einer halben Minute, um
schon in der nächsten als Slobodan
Milo{evi} einen rationalen Staat vorzuschlagen, wonach sich sofort eine
Gruppe spontaner Demonstranten
bildete, die Slobo, du Saddam! rief,
mit einem maskierten Kajfe{ als Demonstrantenanführer. Slobo mutierte dann zu Supermen-Serbe Kajfe{
und bombardierte im zu engen Aerobicoutfit von Skipper mit Barbies
Lieblingstischtuch auf dem Rücken
die Demonstranten mit Bomben, die
aus Steinchen aus dem Gullideckel
gemacht waren. In dieser Zeit von
Kajfe{s persönlicher Hölle, aus der
die finstersten Seiten seiner Persönlichkeit herauskamen, maskiert in
Prominente und Superhelden, machte sich eine Gruppe von Spezialabgeordneten zur Auslieferung der ge-
rade gesammelten Federn auf. Diesmal war ich auch mit bei der Delegation, die mit dem Aufzug in den zehnten Stock hinauffuhr, wo uns die einen Spalt offene Tür einer kleinen
Wohnung erwartete. In der Wohnung,
aus der sich ein ziemlich unangenehmer Geruch ausbreitete, keineswegs
den falschen bekannten Parfums aus
der Konj{~inska-Straße4, die der totale Hit waren, ähnlich, wartete die
faltige alte Frau auf uns. Sie war in das
Modell eines großen Vogelskeletts
versunken, auf das Federn geklebt
waren. Die Wohnung dieser sonderbaren Dame war nicht nur voll von
Gobelins mit verschiedensten Darstellungen, sondern auch mit präparierten Vögeln, die um einen Sessel
mit dunkelgrünem Samtbezug aufgestellt waren. Sie erzählte uns, dass
das Trophäen ihres Mannes seien,
der vor langer Zeit mal ein bekannter Jäger war und dann endete er in
Zeiten des Kommunismus in einer der
zahlreichen Gruben mit unidentifizierten Opfern, die sich später in
ausgegrabene Gebeine verwandelten.
Während sie von ihrem verstorbenen Mann sprach, erfasste die alte
Frau immer so eine melancholische
Stimmung, in der ihre winzigen Augen wässrig alleine wurden. Und im
ganzen Viertel und Umgebung gab
es in Wirklichkeit keine einsamere
Person als unsere Oma, die alle eine
verrückte Hexe nannten, vor der
man sich hüten sollte. Wir Kinder
waren eigentlich ihre einzigen Freunde, obwohl uns der liebste Teil dieser Freundschaft der Augenblick war,
wenn sie uns Kleingeld gab, wozu
diesmal auch zwei Geldscheine gehörten, wegen ein paar mellierten
Federn, und danach wuchsen uns
Federn und wir gingen sofort in den
Laden und kauften Lebensmittel für
ein richtiges kleines Festmahl. 7 Gringos mit Johannisbeergeschmack, 10
Showmaster einer beliebten Kindersendung.
Einkaufsstraße für Ramschware.
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Juni
Bazookas, 5 Kinderüberraschungen
und 5 Yupi-Säfte mit Strohhalm wollten wir sofort auf dem Schacht verdrücken. Hurra! Die zweite Runde
von Sammlern brachte eine neue Ladung Federn und wir veranstalteten
ein Picknick auf der Kanalisation.
Alle außer Kajfe{, dem sich diesmal
in seinem Ein-Mann-Drama auch
Ken von Ana M. anschloss, womit
dieses Ein-Mann-Drama ungeahnter Ausmaße zum Zwei-Mann-Drama wurde. Die zwei litten jetzt gemeinsam an der schweren psychischen Krankheit, deren Ursache oder
Heilmittel nicht bekannt war, so dass
sie in einem Moment Milli Vanilli
waren und mit synchronen Tanzschritten Playback sangen, im anderen
Miami Vice, wo Kajfe{ der schwarze
Sittenhüter war, dann die Handwerker aus A je to5, die die schon sowieso
5
verwüsteten und geplünderten Wohnungen ruinierten, danach wiederum
Mladi} und Karad`i} beim Massaker von Plastikzivilisten, dann Lolek
und Bolek als Sportler bei den Olympischen Spielen in Tschechien... Und
da es keinen Weg gab, diesem verdoppelten Wahnsinn auf dem großen Kanalisationsschacht Einhalt zu
gebieten, wurde eine neue Delegation von Spezialabgeordneten geformt,
zu dessen Reihen aus disziplinatorischen Zwecken unbedingt auch
Svjetlana und Ana M. gehören mussten und ich musste mich ihnen anschließen als unbeteiligter Beobachter in reinem Ariel-Weiß. Kajfe{ und
Anas Ken stürzten nach diesem Befehl in den Kanalisationsschacht und
verstummten plötzlich. Als beide gefallen waren, machten wir drei uns
auf zum Hühnerstall, obwohl der
Himmel immer dunkler wurde und
es war nur eine Frage von Sekunden,
bis uns alle ein Sturm in unserer Aktion „Federn“ stören würde. Im allgemeinen Grau, wie Gänse im Nebel, bewegten wir uns zum kleinen
Bauernhof, erblickten jedoch nach
einem kleinen Stück Weg Salih und
Alija aus entgegengesetzter Richtung,
die unter dem Druck eines Gänseschwarms auf uns zurannten. Vor
dem Hintergrund des Donners und
des Grau, gejagt von einem rasenden
weißen Schwarm, wie sonderbare Marathonläufer, stürmten wir zum Haus
zurück, von dessen zehntem Stock
das Federskelett eines Riesenvogels
in die Tiefe stürzte.
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
Pat & Mat – tschechische Trickfilmserie.
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TIONS
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RELA
Juni
TIONS
BEKIM SEJRANOVI], geboren 1972 in Br~ko. 1985 Umzug nach Rijeka, wo er die Nautische Schule besucht und
Kroatistik studiert. Seit 1993 lebt er im norwegischen Oslo, wo er an der Historisch-philosophischen Fakultät ein
Magisterstudium in südslawischen Sprachen abgeschlossen hat. Er übersetzte Werke von Ingvar Ambjornsen und Frode
Grytten, sowie eine Anthologie norwegischer Kurzgeschichten unter dem Titel Die große, öde Landschaft („Velika, pusta
zemlja“). Autor der Studie Modernismus im Roman Isu{ena kalju`a von Janko Poli} Kamov (Adami}, Rijeka, 2001) und des
Erzählbands Fasung (Naklada MD, Zagreb, 2002). Er lebt zwischen Oslo und Hvar.
* * *
Bekim Sejranovi}s Roman kann gleichzeitig wie eine Geschichte des hiesigen 20. Jahrhunderts, aber auch wie ein Katalog
seines Flüchtlingsdaseins gelesen werden. Ob sie nun aus einer Sprache in eine andere vertrieben wurden, aus Bosnien
nach Kroatien, aus Rijeka nach Oslo, aus dem „Palach“ ins Gefängnis für illegale Einwanderer, aus dem Leben in
Formulare, aus der Zivilisation in die Wildnis des hohen Nordens, aus der Kindheit in keineswegs gastfreundlichere
Landschaften des Erwachsenseins – die Helden diese Buches kommen tatsächlich nirgendwo an und nirgendwo her,
während die (keineswegs zufälligen) Verse der Rockband „Let 3“ aus Rijeka zu einem Titel werden, der ihre Reiseroute, ihre
gegenwärtige Position, die Welt, in der sie leben, aber auch jene, aus der sie gekommen sind, auf präzise weise beschreibt.
Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das, wo sie herkommen, nicht mehr existiert, während jenes, wo sie angekommen
sind, zwar auf Landkarten zu finden ist, aber keinerlei Bedeutung hat. Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das Ziel kein Ort
ist, wo man sich ausruhen könnte und man kann auch nicht sagen, sie seien nicht gereist. Bekim Sejranovi} lässt nicht zu,
dass er unter der Last dieser Negationen zusammenbricht. In ihrer Mitte und vielleicht auch ihnen zum Trotz, bleibt sein
Buch ein warmer, frischer, aussagekräftiger und lebendiger Roman, wie wir sie nicht oft zu lesen bekommen.
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TIONS
Bekim Sejranovi}
93
Nirgendwo, von nirgendwo her
Bekim Sejranovi}
IV
1. Dino und Nata{a
Am Anfang unserer Straße, auf ihrer
linken Seite, stand ein Haus mit einer grünen Fassade. Die Fassade funkelte, als habe man sie mit Edelsteinen bestreut. Dino, mein Freund,
der in diesem Haus wohnte, sagte, es
sei der Sand, der funkelt und dieser
sei im Mörtel vorhanden, der für die
Fassade verwendet wird. Ich glaubte
ihm nicht und versuchte ihn zu überreden, die Edelsteine herauszupicken
und damit reich zu werden. Er wollte nicht, denn es war immerhin sein
Haus, außerdem hatte er Angst vor
seinem Großvater. Seine Eltern waren ebenfalls „gerichtlich“ geschieden und sein Vater war von ihnen
fortgezogen. Dino lebte mit seiner
Mutter bei seinem Großvater und
seiner Großmutter, die er, wie ich,
Mutter nannte.
Ich war eifersüchtig auf ihn, weil er
besser Fußball spielen konnte und
weil er aufgrund seiner kleineren Figur Bruce Lee ähnlicher sah als ich.
Die größten Sorgen bereitete mir jedoch die Tatsache, dass Nata{a sich
in ihn verliebt hatte. Als wir noch
klein waren, zog eine Familie aus
Srijem in Dinos Haus ein. Sie hatten
eine Tochter namens Nata{a und einen Sohn, den sie Mali{a nannten.
Ihr Vater war Fußballtorwart und
spielte für den FC Jedinstvo in der
Zweiten Liga West.
Nata{a war blond und süß und sofort
in Dino verliebt. Mir war nicht so
viel an ihr gelegen, vielmehr ärgerte
es mich, dass sie sich gerade in ihn
verlieben musste. Denn Dino neckte sie die ganze Zeit, zupfte an ihren
Haaren, sang unanständige Lieder,
furzte, rülpste und vieles mehr, sie
aber verschlang ihn geradezu mit ihren blauen, naiven Äuglein. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit mit Lügen auf mich zu ziehen. Ich erfand
die unglaublichsten Geschichten und
Erlebnisse, sie lachte mich aber jedes
Mal aus. Dann aber kam Dino, rülpste aus der Tiefe seines Magens und
sagte gleichzeitig „Knooooorr“, wie
in der Werbung für Knorr-Suppenwürfel. Nata{a klatschte dabei nur in
die Hände, spitzte ihre Lippen, sagte: „Pfui, bist du aber widerlich“ –
und ging ihm nach.
Einmal hatte ich Nata{a gefragt, wo
ihre Mutter sei. Sie sagte, sie habe
keine Mutter, sondern nur eine Großmutter in Sremska Mitrovica, aber
diese sei bereits verstorben. Ich wusste nicht, was das bedeutet und beschimpfte einmal ihre verstorbene
Großmutter. Sie begann zu weinen
und wollte sich gar nicht mehr mit
mir unterhalten. Ich fragte Suzana,
was verstorben heiße, und sie sagte:
„Das ist, wenn jemand tot ist, kapierst du?“
2. Pele und Liso
Dieser Pele, der auf der anderen Straßenseite wohnte, war blond und mürrisch. Immer musste man Acht geben, was man in seiner Anwesenheit
sagt, denn er wurde leicht böse und,
was noch schlimmer war, begann
sofort, boshafte Bemerkungen zu machen. Tagelang konnte er einen quälen, nur weil er ein falsches Wort
gesagt hatte, oder mit jemandem
wegen der winzigsten Belanglosigkeit Streit anfangen. Er hatte einen
zwei Jahre älteren Bruder, den man
Liso nannte. Einmal sagte ich zu Dino, das sei deshalb, weil er wie ein
Fuchs jederzeit bereit war, einen zu
Dummheit zu überreden und ihn
dann auszulachen, wenn er einsieht,
das er zum Narren gemacht wurde.
Alle anderen lachten mit ihm mit.
Am liebsten trieb er seine Späße mit
seinem Bruder Pele und dieser konnte es dann natürlich kaum erwarten, mit ihm eine Schlägerei anzufangen. Sie beschimpften einender
aufs Gröbste und kannten dabei kein
Pardon. Hätte jemand anders Pele
beschimpft, hätte Liso selbst ihn verprügelt. Pele, wiederum, mochte es
nicht, dass sein Bruder ihn verteidigt
und prügelte sich dann sowohl mit
94
RELA
Juli
dem Bruder, als auch mit jenem, der
ihn beschimpft hatte.
3. Fußball
Dino und Pele waren Partizan-Fans,
Liso und ich Zvezda-Anhänger, was
der Grund war, das wir uns fortwährend zankten und stritten: welcher
Klub ist der bessere, welcher hat mehr
Meisterschaften gewonnen, wer spielt
besser, Mom~ilo Vukoti} oder Vladimir Petrovi} Pi`on? Ich spielte am
schlechtesten, Liso am besten. Immer
spielten Liso und ich gegen Pele und
Dino.
Ich hatte damals bereits eingesehen,
dass Fußball das schlimmste in uns
an die Oberfläche treibt. Einer der
Hauptgründe für unsere Konflikte,
die sich nicht selten in kleine blutige
Kriege ausarteten, war die Tatsache,
dass wir keine richtigen Tore hatten.
Wir machten sie aus Steinen, den
Oberteilen unserer Trainingsanzüge,
oder einfach aus Pflöcken, die wir in
die Erde steckten. Alles andere wäre
einfach gewesen, sollte der Ball tatsächlich mal durchs Tor rollen, was
aber nur selten vorkam. Jedes Mal
rollte er über die Flanke, beziehungsweise den Stein oder eines unserer
Kleidungsstücke. Falls der Ball tatsächlich mitten im Tor landete, war
gleich jemand da, der meinte, er sei
zu hoch, d.h. übers Tor hinausgeflogen. Der Balken, den wir uns gemäß
unserer stillschweigenden Vereinbarung vorstellten, befand sich ungefähr
in Kniehöhe. Das Problem war nur,
wessen Knie damit gemeint waren,
denn wir waren alle verschieden groß.
Daraufhin begannen die Streitereien: war es ein Tor oder nicht? Wir
schworen bei unseren Müttern, Vätern, toten Großvätern und Großmüttern, aber das half alles nichts.
Da niemand nachgeben wollte, endete schließlich alles mit einer Prügelei.
Wer dabei den Kürzeren zog, musste
zugeben, der andere habe gewonnen.
Am wenigsten Gewicht hatte für mich,
wenn ich bei meiner Mutter schwor,
und diesen Schwur benutzte ich nur
bei kleineren Streitereien. Danach
kamen der tote Großvater oder die
tote Großmutter, egal ob sie tatsächlich tot waren oder noch lebten.
Wenn ich seriös wirken wollte, schwor
ich „bei Tito“.
4. Soll Tito sterben
Eines Sonntags spielten wir hinter
der technischen Schule Fußball. Eigentlich war es auf dem Lehrerparkplatz, einer unregelmäßigen betonierten Fläche, die für Fußball „mit kleinen Toren“ mehr als geeignet war.
Wir spielten wie jedes Mal, Liso und
ich gegen Pele und Dino. Beziehungsweise, es war das Derby Zvezda
gegen Partizan.
Für dieses Sonntagsderby hatten wir
sogar eigene Fußballtrikots. Liso und
sein Bruder Pele hatte irgendwie echte Trikots beschafft, Liso jenes von
Zvezda, Pele jenes von Partizan. Sie
sahen wirklich wie echt aus, hatten
sogar Nummern auf dem Rücken,
Liso die Sieben, Pele die Neun. Peles
Trikot hatte lange Ärmel, viel zu lang
für ihn, so dass er sie ständig nach
oben ziehen musste.
Mein Trikot war etwas anders als
Lisos, obwohl es auch ein ZvezdaTrikot war. Mein Vater hatte es mir
geschenkt und es hatte keine Nummer auf dem Rücken. Meine Mutter
hatte mir später eine weiße Fünf angenäht, die sah aber irgendwie schief
und traurig aus.
Eigentlich war es ein Trikot des FC
Kozara aus Bosanska Gradi{ka. Ein
rotes Leibchen mit zwei weißen Streifen auf der Vorderseite. Ich sagte zu
meinem Vater, dieses Leibchen sähe
nicht gerade aus, wie jene von Zvezda, denn die weißen Streifen waren
zu schmal, während auf dem ZvezdaTrikot die weißen und roten Streifen
von gleicher Breite und regelmäßiger
Anordnung sind. Mein Vater blickte mürrisch drein und sagte, das habe
nichts zu bedeuten.
TIONS
– Ist es rot-weiß? Ja. Na, dann? – er
warf mir einen jener Blicke zu, nach
denen ich auch selbst seinen Worten
glauben musste.
Nachdem es 3:2 für Partizan stand,
kam der Ball irgendwie zu mir gerollt. Vor mir waren nur Dino und
das Tor, vor dem er sich aufstellte,
um meinen Ball abzuwehren. Ich war
nie besonders geschickt, wenn es ums
Dribbling ging, deshalb kickte ich
los, komme, was wolle. Der Ball traf
Dinos Bein, prallte schräg von ihm
ab und landete hinter dem Tor. Liso
und ich riefen sofort:
– Tooooooor! – worauf die beiden
von Partizan erwiderten: – Das hättet ihr wohl gern, der Ball ist von der
Latte abgeprallt und ist im Abseits
gelandet.
Unsere Torlatten waren zwei Steine,
der Ball flog über den linken hinweg. Ob von außen oder von innen,
wer kann das schon sagen? Wir begannen zu streiten und schworen alle
bei unseren Vorfahren, egal, ob sie
lebten oder nicht.
Liso und Pele hatten lebende Großväter, so dass Liso sagte:
– Soll mein Großvater sterben, wenn
das kein Tor war!
Pele brüllte wiederum: – Sollen Großvater und Großmutter sterben, wenn
es eins war!
Die Entscheidung blieb Dino und
mir überlassen. Es waren härtere Argumente notwendig, als Großväter
und Großmütter.
Dino sagte: – Wenn es ein Tor war,
liebe ich Tito nicht! Da habt ihrs.
– Aaaaa – schrie ich. – Du liebst Tito
nicht! Dino liebt Tito nicht!
– Wer liebt Tito nicht!? – erwiderte
dieser verärgert. – Schwöre du doch,
denn du darfst.
Liso und Pele begannen zu brüllen: –
Los, los!
Liso schreit: – Schwöre! Es war ein
Tor, so wahr mir Tito helfe, ich habe
es gesehen.
Pele schreit: – Was für ein Tor? Los,
soll er bei Tito schwören, wenn er darf.
RELA
TIONS
Und was blieb mir anderes übrig?
Ich sagte: – Es war ein Tor, bei Tito,
es war ein Tor!
Dino sah mich schräg an und sagte
boshaft: – Los, sag, wenn du dich
traust: Soll Tito sterben, wenn es
kein Tor war!
Ich hielt einen Augenblick lang Inne.
So sicher war ich mir wiederum nicht,
dass es tatsächlich ein Tor gewesen
ist, aber was sollte ich tun? Sie waren
es auch nicht.
– Soll Tito jetzt, in dieser Sekunde
sterben, wenn es kein Tor war!
Alle waren still. Das war es gewesen.
Es gab keinen kräftigeren Schwur
oder Zauber. Man musste nur den
Mut aufbringen, es zu sagen.
– Wie ihr wollt, drei zu drei, aber
jetzt geht es euch an den Kragen –
zischte Pele und sah seinen Bruder
an, der boshaft kicherte.
5. Tito ist gestorben,
wer hätte das gedacht
Nicht einmal heute bin ich mir sicher, ob es damals ein Tor war oder
nicht, aber Tito war nicht in der
gleichen Sekunde gestorben, sondern
erst sieben Tage danach.
Dino und ich spielten auf der Straße
„dodava“. Das heißt, wir Spielten
einander den Ball zu, hatten aber
keine Tore. Plötzlich sah ich Dinos
Mutter auf uns zulaufen. Dino hatte
sie nicht gesehen, weil er ihr den
Rücken zugewandt hatte. Ich sah sie
ganz außer sich auf die Straße laufen. Sie hatte ein grünes Hauskleid
aus Frottee an.
Jetzt geht es Dino an den Kragen,
dachte ich und einen Augenblick
lang tat er mir leid. Nur einen Augenblick lang.
Gerade als ich diesen Augenblick des
Mitleids in Schadenfreude verwandelt hatte, rief sie:
– Dino, sofort nach Hause! Tito ist
gestorben!
Als sie das gesagt hatte, drehte sie
sich um und marschierte ins Haus.
Bekim Sejranovi}
Der Ball, den ich Dino zugespielt
hatte, war bei ihm angekommen, er
setzte sich drauf und fiel auf die Knie.
Er sah mich verschreckt an, als würde er von mir eine Antwort erwarten.
Ich sagte: – Sie lügt doch, die Alte.
Wie kann Tito denn sterben? Los,
schieß.
Einige Augeblicke lang starrten wir
einander an. Ich spürte, das wir von
einer jugendlichen Erregung gepackt
werden, als stünde uns ein Abenteuer bevor, ein Streich oder Hiebe.
6. Tränen für Tito
Wir liefen nach Hause. Bei mir zu
Hause saßen mein Großvater und
unser Nachbar Sakib, ein alter Mann
von rund achtzig Jahren, aber immer
noch rüstig. Sie sitzen, rauchen und
blasen den Rauch in die Luft.
Sakib wohnte im Haus neben unserem, mit seiner Frau, mit der er fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesprochen hat und deren richtigen Namen niemand wusste, weil alle sie
bloß Sakibs Frau nannten.
Nachbar Sakib sagte: – Genosse Alter ist gestorben.
– Ja, mein Sakib, er ist gestorben –
sagte mein Großvater mit aufrichtiger Traurigkeit.
Als ich in die Küche kam und meine
Mutter dort an den Töpfen herumhantieren sah, fragte ich sie, was geschehen sei. Sie sagte nur, ich soll
still sein, und Tito sei gestorben. – Es
ist am besten, jetzt still zu sein – wiederholte sie.
Mein Großvater rief: – Hör doch auf
mit diesem Krach. Warum musst du
ausgerechnet jetzt die Töpfe reinigen?
Dann setzten wir uns alle vor den
Fernseher. Ich setzte mich auf den
Boden, umarmte meine Knie und
wartete, was passieren würde. Im
Fernsehen spielte ernste Musik, auf
dem schwarzen Bildschirm stand
„Sondernachrichten“. Mich machte die Musik schläfrig, so dass ich zu
gähnen begann, und wenn ich gäh-
95
ne, kommen mir die Tränen in die
Augen. Oft habe ich in der Schule so
getan, als täte mir der Bauch weh,
oder der Kopf. Ein Paar mal gähnen
und schon tränen die Augen.
Dann wurde die Meldung durchgegeben, an diesem Tag, genau um
15.05 Uhr habe das große Herz unseres geliebten Genossen Tito aufgehört zu schlagen. Es klang fürchterlich, das muss man zugeben. In gewisser Hinsicht wird es wohl auch so
gewesen sein, aber niemand wusste,
in welcher. Zumindest damals noch
nicht.
7. Das Messer
Am folgenden Tag, als ich mich auf
den Weg zur Schule machte, war auf
einmal der Wagen meines Vaters da.
Ich war überrascht, ihn zu sehen.
Danach ging die Überraschung in
ein leichtes Angstgefühl über. Immer
tauchte er überraschend auf. Monatelang habe ich ihn nicht gesehen,
und dann war er auf einmal da. Zuerst
meckerte er an meiner Bekleidung
und Beschuhung herum, fragte mich,
warum ich mein T-Shirt nicht in die
Hose stecke (ich hätte ihm am liebsten gesagt, das machen nur Arschlöcher, durfte es aber nicht), warum
meine Fingernägel nicht sauber waren und der Hals dreckig, als hätte ich
mich monatelang nicht gewaschen.
Später gingen wir dann Tschewaptschitschi essen oder etwas trinken,
oder einkaufen.
Einmal führte er mich in ein Warenhaus und sagte: – Hier, Sohn, such
dir mal eine Hose aus, die Vati dir
kaufen soll.
Ich lief schnurstracks auf ein Paar
grüne Stoffhosen zu. Die gefielen mir
besonders gut.
Mein Vater schlug mir mit der Hand
auf den Nacken und zischte: – Warum
gerade die Grünen, du Bauernjunge?
Dann kaufte er mir irgendeine Jeanshose mit weißer Naht. Mir gefielen
sie nicht und mein Nacken tat mir
96
RELA
Juli
weh. Am schlimmsten aber war, dass
er mich einen Bauernjungen genannt
hatte. Und dass er mir versprochen
hatte, ich könnte mir die Hose selbst
auswählen, und dann hatte er nicht
Wort gehalten. Ich wollte gerade diese grüne Hose haben, kann mich aber
jetzt nicht mehr erinnern, warum.
Dann erschien er nach Titos Tod,
rief mich zu sich in den Wagen, einen sogenannten „polnischen Fiat“,
auch „der Pole“ genannt. Ich saß eine
Zeitlang im Wagen, wir unterhielten uns und mein Vater schenkte
mir ein blaues Messer. Ich sah es mir
auf dem Schulweg an. Die Farbe hatte mir gefallen.
geht es dir erst recht an den Kragen.
Dann fingen sie an, mich zu necken,
und ich muss sagen, sie taten es nicht
schlecht.
Ich ließ mir das eine Zeitlang gefallen, schrie dann aber: – Schert euch
doch zum Teufel, beide! – und lief
nach Hause.
Diesmal kamen mir wirklich die Tränen, aber nicht aus Angst, sie würden
mich verpetzen, sondern aus Wut,
weil ich zugelassen hatte, dass sie
mich nerven. Ich wusste ja, dass Tito
nicht meinetwegen gestorben war.
Er wäre auch so gestorben. Und es
war ein Tor.
9. Mich rufen sie Cigo
8. Es war ein Tor
Als wir in der Schule angekommen
waren, setzte uns die Lehrerin noch
einmal über alles in Kenntnis und
sagte, dass wir diesen Tag keinen
Mathematik- und Naturkundeunterricht haben, sondern uns über Tito
unterhalten werden. Sie sagte uns, es
werde sieben Tage Trauer geben, was
bedeutete: kein Singen, kein Pfeifen,
kein Brüllen, kein Lachen, nichts. Ich
sah aber viele, die auf der Straße pfiffen oder lachten, und ein Mann mit
Schnurrbart, ich hatte es genau gesehen, fuhr auf seinem Fahrrad die Straße entlang und summte ein Liedchen.
Warum summt er, wo doch Trauer
ist? Ich sang und pfiff nicht. Diese
Woche gab es auch keinen Zeichentrickfilme um 19.15 Uhr.
Als Dino, Pele und ich an diesem
Montag aus der Schule nach Hause
gingen, begannen sie über das Tor
von vergangener Woche zu reden.
Pele fing als erster damit an: – Da
siehst du, was man davon hat, wenn
man schwört und dabei lügt.
Dino hatte es kaum erwarten können,
man sah, das alles gut vorbereitet war.
– Wir sagen allen, was passiert ist. Jetzt
1
Schimpfname für Zigeuner.
1
Am Dienstag setzten wir unser Gespräch über Tito fort. Natürlich lobten wir ihn in höchsten Tönen.
In der Halle vor dem Lehrerzimmer
hatten sie einen Tisch aufgestellt, ein
rotes Tischtuch darüber geworfen
und ein Schwarzweißbild von Tito
aus den Fünfzigern draufgetan. Über
den oberen linken Winkel hatten sie
ein schwarzes Band gezogen. Alle
zehn Minuten lösten sich zwei Schüler am Tisch ab, die vorschriftlich
angezogen sein mussten. Auf dem
Kopf eine Tito-Mütze, um den Hals
das rote Halstuch der Pioniere. Auch
ich hatte die Ehre, zusammen mit Mustafa. Er war von geringer Statur, muskulös und dunkelhäutig. Noch dunkler als ich. Und mich riefen sie Cigo.
Anfangs hatte mich das noch gestört,
aber einmal, als ich weinend und mit
gebrochener Nase nach Hause kam,
weil ich mich mit einem gewissen
Osman geprügelt hatte, der mich die
ganze Zeit geneckt hat, ich sei ein
Zigeuner, erklärte mir Onkel Alija:
– Zigeuner sind Menschen wie du
und ich, nur interessiert sie weder
Fußball noch Politik. Und deshalb
sollte man Fußball und Politik verbieten, kapierst du? – sagte er, schlug
TIONS
mir mit dem Finger auf den Kopf
und spazierte aus dem Hof hinaus,
wie ein Weiser aus dem Osten. Ich
stand mit blutender Nase am Tor und
rieb mir den Scheitel, der vom Schlag
seines Mittelfingers schmerzte.
Diesem Mustafa, von dem ich bereits
zu erzählen begonnen habe, wuchsen
die Haare beinahe aus der Stirn. Er
war ein übler Bursche, aber auf eine
dumme Art, so dass er weder jemandem Angst einflößte, noch konnte er
jemanden zum Lachen bringen. Und
eines davon muss man einfach können, obwohl das damals noch niemandem klar gewesen ist.
Und während wir stramm standen,
dieser Mu}e und ich, jeder auf seiner
Seite, bemerkte ich, dass er mich anstarrt. Ich gab ihm mit den Augen zu
verstehen: was willst du von mir?,
und er flüsterte: Sag mal, war es wirklich ein Tor?
Ich tat so, als hätte ich ihn nicht
gehört, verfluchte ihn aber in Gedanken. Pele und Dino ebenfalls.
Mu}e fuhr fort, mir auf die Nerven
zu gehen, und ich begann, im Mund
Spucke zu sammeln. Als mein Munde voll war, ging ich auf ihn zu und
spuckte ihm mitten ins Gesicht. Er
wischte sich die Spucke ab und ging
auf mich los. Da kamen aber die neuen
Ehrenwachen herbei und brachten
uns irgendwie auseinander. Als wir
wieder im Klassenzimmer waren, sagte Mu}e sofort, ich habe ihn grundlos angespuckt.
Ich bekam ein Paar Schläge mit dem
Lineal auf den Hintern, Mu}e musste sich nur hinsetzen. Unsere Lehrerin war außer sich, aber mehr aus
Angst, als aus Wut. Nachdem sie
mich gezüchtigt hatte, meinte sie, nur
Zigeuner würden andere anspucken.
10. Die unglückliche Lehrerin
Unsere Lehrerin war mittleren Alters, blond und sehr hübsch. Ihr Mann
RELA
TIONS
betrieb einen Spielsalon: Video-Spiele, Tischfußball, Flipper und ähnliches, wo Jugendliche ihr Geld loswerden konnten. Einmal hatte ich
meinem Großvater eine ganze Serie
Silbermünzen mit Titos Bild geklaut
und sie für ein Spiel ausgegeben, das
„Pacman“ hieß. Ich warf die Silbermünzen statt der üblichen fünf Dinar in den Schlitz und der Automat
akzeptierte sie problemlos. Ich weiß
nicht, ob die sich davon bereichert
haben, aber schon bald bauten sie
ein großes Haus und eröffneten eine
private Firma.
Ihren Mann haben sie in den ersten
Kriegstagen umgebracht und sie flüchtete nach Deutschland. Auch als alte
Frau war sie noch sehr schön. Unglücklich war sie sowohl als junge,
als auch als alte Frau.
In ihrer Jugend, weil sie des Geldes
wegen geheiratet hatte, als sie alt war,
weil sie in ihrer Jugend hübsch gewesen ist.
11. Titos Begräbnis
Am Mittwoch war Titos Begräbnis.
Die Schule war an diesem Tag früher
zu Ende, damit wir uns die Übertragung im Fernsehen ansehen konnten.
Bei uns waren Suzanas Mutter, Nachbar Sakib und Onkel Alija.
Alle waren festlich und traurig, außer Alija. Er schaute finster drein
und war unrasiert. Man würde leicht
Angst vor ihm kriegen, ohne zu wissen warum.
Im Fernsehen wurde das Begräbnis
übertragen. Hunderttausende Menschen auf den Straßen Belgrads und
alle weinten. Weinende Frauen und
Kinder liebten die Kameras besonders.
Ich gähnte, so viel ich nur konnte,
war aber nicht zufrieden mit der
Menge meiner Tränen, im Vergleich
zu den Menschen auf dem Bildschirm. Mein Großvater schaute ernst
drein. Auch meine Mutter hatte einen traurigen Gesichtsausdruck, dachte aber wohl eher darüber nach, was
Bekim Sejranovi}
sie am nächsten Tag kochen sollte.
Nachbar Sakib rauchte und biss seine dritten Zähne zusammen.
Als der Sarg in das marmorne Grab
hinabgelassen wurde, stand Suzanas
Mutter auf, verschränkte die Arme
auf dem Bauch und ließ die Tränen
ihre Wangen hinabkullern. Auch mir
stiegen die Tränen in die Augen, nur
war ich mir nicht sicher, ob mein
Gähnen nicht endlich funktioniert
hatte oder ob ich wirklich zu weinen
anfing. Es war nicht leicht, bei diesem Anblick gleichgültig zu bleiben.
Nur Alija blieb stillschweigend, mit
starren Gesichtsausdruck sitzen und
rauchte weiter seine Zigaretten, die er
mit unglaublicher Geschwindigkeit
zusammenrollte. Er hatte ein Feuerzeug, das nach Benzin roch. Es war
eine Wonne, daran zu riechen. Niemand hatte etwas gesagt und ich wunderte mich, warum er nicht ebenfalls
aufgestanden war. Ich dachte mir,
das sei vielleicht wegen seiner Beinverletzung, die er sich im Bergwerk
zugezogen hatte, traute mich aber
nicht, laut danach zu fragen.
Vor allem nicht ihn, mit seinen Augenbrauen.
XVII
1. Hokahe
Das Flugzeug der skandinavischen
SAS hebt über Oslo ab und gewinnt
in einem halbkreisförmigen Manöver leicht an Höhe, während es die
immer dichter werdende Wolkendecke durchdringt. Ich werfe noch
einen Blick auf die Stadt, in der ich
jahrelang die Scherben meines Lebens abgenutzt habe. Es fährt mir
durch den Kopf, dass ich sie vielleicht
zum letzten Mal sehe, was ich aber
nicht weiter tragisch finde.
Bevor das Flugzeug seine Nase in die
dicke Wolkenschicht bohrte, hatte
ich einen guten Ausblick auf den gesamten Oslofjord mit seinen vielen
Inseln. Und dann, als es mit seinem
97
ganzen Körper ins milchige Weiß
eintauchte, schloss ich die Augen,
unter deren Lidern die Vergangenheit zu flimmern begann, zusammengefügt zu einem Mosaik aus Inseln, Schiffen und einem schmutzigweißen Papagei.
Das war mein sorglosester Sommer
in Oslo. Von Sara waren nur einige
Andenken übriggeblieben, ich traue
mich zu sagen, sie waren schön. Einige Monate, nachdem wir unsere
längst gestorbene Liebe für immer
beerdigt hatten, kehrte sie in ihr Dorf
im Süden Norwegens zurück. Zu
Beginn des Sommers, ein halbes Jahr
nachdem sie gegangen war, errechte
mich die Kunde, sie lebe wieder mit
ihrem Mann zusammen und sei hochschwanger. Ein Bekannter von mir,
ein Bosnier, der Kristiansand wohnte, hatte mir das behutsam am Telefon gesagt, als wolle er mich verschonen. Mir brachten seine Worte nur
eine unklare und leicht trügerische
Erleichterung, obwohl es mir anfangs, wenn ich ehrlich sein soll, weh
tat, das zu hören. Ich fühlte mich
irgendwie verraten, wusste aber weder warum, noch gab es dafür einen
Grund, außer meiner männlichen
Eitelkeit. Nach kurzer Zeit begann
ich mich dann endlich frei und leicht
zu fühlen. Ich fragte mich nicht mehr,
ob ich mich nicht doch hätte mit
Sara versöhnen und dadurch etwas
in unseren öden Leben ändern sollen.
Es war ein warmer Sommer, wie es
sie in Norwegen gibt. Oslo war mit
sonnengebräunten, üppigen Blondinen geschmückt, die, auffallend knapp
angezogen, vor aller Welt ihre Rundungen zur Schau stellten, wie Pfauen und zu engen Käfigen. Ich spielte
Gitarre und sang an der U-BahnHaltestelle beim Nationaltheater. Ich
haschte nach den Blicken der Passanten und versuchte, sie zu hypnotisieren, damit sie mir ein Paar Kronen mehr in den Koffer werfen. Es
war schön, wieder frei zu sein, ging
es mir durch den Kopf. Schon bald
98
RELA
Juli
blieb von Sara nicht einmal ein Andenken übrig. Und das war gut so.
Obwohl ich als Straßenmusiker relativ gut verdiente, genügte es nicht für
einen vernünftigen Lebensunterhalt.
Es langweilte mich auch, jeden Tag
spielen zu müssen. Deshalb hielt ich
nach einer vorübergehenden Beschäftigung Ausschau. Ich werde ein wenig arbeiten, ein wenig spielen, wenn
mir danach ist, und das Leben ist
eine Wonne, sagte ich mir gelassen
in Gedanken.
Bald begann ich, auf einem Schiff zu
arbeiten, das die Leute kreuz und
quer über den Oslofjord fährt. Das
kleine Schiff legte in Oslo ab und
transportierte die Menschen von Insel zu Insel, unsere Route umfasste
drei: Hovedoya, Lindoya und Gressholmen. Auf diesen Inseln befanden
sich Wochenendhäuser, Strände und
hier und da ein kleines Restaurant.
Meine Hauptaufgabe war, Fahrscheine zu verkaufen. Ich trug eine weiße
Uniform, eine dunkle Brille und lächelte fortwährend den Mädchen in
ihren Badenzügen zu. Manchmal auch
ihren Müttern.
Mit mir arbeitete Lars, ein kräftiger
Schwede von geringem Wuchs, der an
Bord für alles zuständig war. Manchmal verkaufte er mit mir Fahrscheine, manchmal putzte er das Deck,
hantierte am Motor herum oder stand
am Ruder; mit einem Wort, er machte einfach alles. Und darin war er
sogar besser als unser Kapitän, ein
fast immer mürrischer alter Mann.
Aber um den kümmerten wir uns
nicht, Lars und ich.
Zuerst hatte ich angenommen, Lars
sei nur einige Jahre älter als ich und
war nicht wenig erstaunt, als er mir
sagte, er sei vierzig. Alle Paar Tage
rasierte er sich den Kopf kahl, aus
seinem Bart war aber zu schließen,
dass sein Haar leuchtend rot sein
musste. Unter seinen Hemdärmeln
schauten zahlreiche Tätowierungen
hervor. Hauptsächlich Motive aus der
Mythologie der Wikinger: Schwer-
ter, übel aussehende Riesentypen mit
Äxten und Helmen, wie sie etwa Hägar
der Schreckliche oder Conan tragen.
Später, als wir baden gingen, sah ich,
dass er eigentlich am ganzen Körper
tätowiert war, auf dem Rücken, auf
der Brust, sogar auf den Schenkeln.
Als wir am Ende des ersten Tages
unsere Einnahmen abrechneten, zeigte sich, dass zu viel Geld in der Kasse
war. Es war nicht viel, vielleicht genug
für ein Paar Biere. als ich ihn fragte,
was wir mit diesem Geld anstellen
sollen, lachte er nur:
– Was denkst denn du? Wir machen
Halbe-Halbe.
Wir arbeiteten nicht in derselben
Schicht, außen in dieser ersten Woche, als Lars mir meine Arbeit beibrachte. Einer arbeitete am Vormittag, der andere am Nachmittag, wobei sich ein Paar Stunden überschnitten, so dass wir auch zusammen arbeiteten. Einmal bat er mich, kurz
für ihn einzuspringen, da er seinen
Papagei wegen eines Beinbruchs zum
Tierarzt bringen musste, wie er mir
behutsam erklärte. Es war nicht leicht,
sich diesen tätowierten, kahlköpfigen Wikinger vorzustellen, wie er
einen Papagei zur Beinbehandlung
trägt. Ich begann zu lachen, dachte,
er treibe mit mir seine Späße, aber er
schien um seinen gefiederten Freund
richtig besorgt zu sein.
Und so hatten Lars und ich den ganzen Sommer über zu viel Geld in der
Kasse und gingen jeden Abend zusammen Bier trinken. Wir saßen aber
nicht nur am Abend bei geschmacklosem norwegischen Bier zusammen,
wir machten auch Ausflüge, besuchten Konzerte oder gingen, wenn es
regnete, ins Kino. Ich brachte ihm
sogar Bücher mit, von denen ich ihn
lange überzeugen musste, dass sie lesenswert waren. Einige hatten ihm
gefallen, einige gab er mir mit einem
verachtungsvollem Lächeln zurück.
Auch er gab mir ab und zu das eine
oder andere Buch, das er gerade las.
Mir gefielen sie nicht, ich musste
TIONS
ihm das aber jedes Mal behutsam
beibringen. Es handelte sich um billige historische Romane, wo Schwerter, Äxte und nackte Muskeln die
Hauptrollen spielten. Am meisten
las er Waffenmagazine, kannte jedes
Gewehr, jedes Messer, von Kampfflugzeugen ganz zu schweigen.
Einmal machten wir mit unseren
Fahrrädern einen Ausflug zu einem
waldbewachsenen Gebiet namens
Nordmark, das sich über Hunderte
Quadratmeter nördlich von Oslo erstreckte. Wir kamen bis zum See
Brjornjoen, wo wir ein Kanu mieteten und bis zu einer kleinen Insel mit
einem Föhrenwald ruderten. Dort
schlugen wir unser Lager auf und
übernachteten. Lars hatte an diesem
Tag einen Sonnenbrand bekommen
und ich neckte ihn, er sehe aus wie
der letzte Mohikaner. Er hatte für
meinen Humor nicht viel übrig, aber
ich fand es komisch, dass sogar jener
grimme Wikinger auf seinem Rücken rot geworden war. Ab und zu
sagte ich ihm „Woah, Häuptling“,
was er nicht verstand und ich ihm
nicht zu erklären wusste. Ich sagte
ihm, in den Comics in meinem Land
hätten die Indianer in jedem Satz
dieses Wort verwendet. Einmal sagte ich „hokahe“, was ich aber zu erklären wusste. In der Sprache der
Sioux bedeutet das „ein schöner Tag
zum Sterben“. Dieses Wort hatte
ihm gefallen, sodass er später lauthals
davon Gebrauch machte, egal, ob es
passte oder nicht.
Eines Abends gingen wir nach dem
Abendessen zusammen in die Stadt,
liefen von Pub zu Pub und ließen
uns mit Bier vollaufen. Jedes Mal,
wenn wir einander zuprosteten, riefen wir: „Hokahe!“ und lachten lange und betrunken. In einer Kneipe
trafen wir ein ziemlich angetrunkenes Mädchen. Sie saß alleine am Nebentisch und trank, fing aber plötzlich ein Gespräch mit uns an. Ich
hatte den Eindruck, etwas würde ihr
Sorgen bereiten, kam aber nicht drauf,
RELA
TIONS
was es sein könnte. Lars warf sich auf
sie wie ein hungriger Tiger, ohne auch
nur zu versuchen, seine wahren Absichten zu verbergen. Die junge Frau
gehörte nicht zu jenen, nach denen
man sich umdreht oder pfeift, aber
ich weiß auch nicht, welche Frau uns
beide so einfach angesprochen hätte,
einen grimmen Fremden und abgenutzten Winterschuhen und einen
tätowierten, kahlköpfigen Indianer.
Zu dritt besuchten wir noch ein Paar
Lokale, tranken, tanzten, schienen
uns zu vergnügen. Lars wurde immer
aggressiver, fing an, ihr an die Schenkel zu fassen, an den Po, sie zu umarmen und zu sich zu zerren. Mir gefiel das ganze nicht im geringsten,
aber sie war zu besoffen, um sich zu
wehren. Im letzten Lokal, als das
Mädchen auf die Toilette gegangen
war, schlug mir Lars vor, nach diesem Bier zu ihm zu gehen und sie
dort flachzulegen. Kokain habe er
auch zu Hause, das wird ein Spaß.
Ich dachte an das magere Mädchen,
ihren Körper zwischen Lars’ tätowierten Händen. Und meinen. Zuerst
wollte ich weinen, wahrscheinlich
war der Alkohol schuld, dann wollte
ich ihm mit der Flasche eins überziehen, mit dem Mädchen verschwinden, ihr zu essen geben und sie in
meinem Schoß einschlafen lassen,
während ich ihr Haar streichle.
Stattdessen sagte ich ihm, das sei
dumm. Wenn das Mädchen wieder
nüchtern ist und sieht, bei wem es
gelandet ist, ruft sie bestimmt sofort
die Polizei und sagt, wir hätten sie
vergewaltigt, was von der Wahrheit
gar nicht so weit entfernt sein würde.
Lars schüttelte den Kopf und sagte:
– Was kümmert uns das? Wer zwingt
sie denn, sich mit uns einzulassen?
Er redete weiter auf mich ein, aber
ich blieb hart. Dann wurde er wild,
sagte, ich sei ein Arschloch, er aber
wolle ficken und fertig.
Als Lars aufs Klo gegangen war, blieb
ich mit dem Mädchen allein. Unter
Bekim Sejranovi}
dem Tisch steckten ich ihr ein Banknote von hundert Kronen zu, sagte,
das sei für das Taxi und sie solle jetzt
verschwinden, das sie genug getrunken habe. Sie erwiderte, es gehe ihr
gut und sie würde gerne noch bleiben. Erneut versuchte ich es ihr klarzumachen, aber sie war viel zu besoffen, um irgendetwas zu verstehen.
Und da kam auch Lars zurück. Man
konnte gleich sehen, dass er wusste,
was ich ihr erzählt hatte. Er begann,
mich anzubrüllen, drohte mir mit
der Faust, legte mir seine knorrigen
Arme um den Hals. Ich konnte die
Venen gut erkennen, die auf seinem
Schädel hervorgesprungen waren. Seine Augen hatten sich zu einem Strich
zusammengefügt. Er sah tatsächlich
aus wie ein Indianer. Einer von jenen, die rauben und morden, wenn
Bleichgesichter ihnen Feuerwasser
verkaufen.
Auch ich hatte ihn angeschrien, jedoch blutlos und ängstlich. Ich kenne den Menschen ja gar nicht, dachte ich bei mir. Das Mädchen schaute
uns an und lachte haltlos. Dann
nahm sie Lars an der Hand und führte ihn aus dem Lokal. Einige Augenblicke später wollte ich ihnen nachgehen, sah aber nur, wie sie zusammen in ein Taxi stiegen und verschwanden.
2. Lars
Einmal, als er mir die Bücher zurückgab, die ich ihm zum Lesen geliehen
hatte, sagte Lars zu mir, er denke
ebenfalls daran, ein Buch zu schreiben. Über sein Leben wolle er schreiben und sei der Meinung, es könnte
ein gutes Buch dabei rauskommen.
Überheblich, als würde ich mich mit
einem Kind unterhalten, sagte ich zu
ihm, es sei nicht wichtig, was jemand
schreibt, sondern wie er schreibt.
Lars lachte verächtlich.
Diesen Sommer über erzählte mir Lars
seine Lebensgeschichte, mit Unterbrechungen, während der Arbeits-
99
zeit, in den Pausen, in stickigen Lokalen, voll von klebrigen Ausdünstungen, auf einer der Inseln, wo wir
Stockfische angelten...
Lars war als Einzelkind aufgewachsen, ohne Mutter, in einem kleinen
Ort mitten in Schweden, an einem
der großen Seen, die das Land in
zwei Hälften teilen. Seine Kindheit
brachte er mit Fischfang zu, zusammen mit seinem Vater, der zuerst als
Holzfäller arbeitete, aber nach einem
Unfall, in dem sein linkes Schienbein zerschmettert wurde, in vorzeitige Rente ging. Sie fingen Süßwasserfische, hauptsächlich Barsche und
Rotfedern, ihr größter Erfolg war,
wenn sie es schafften, einen Hecht
an Land zu ziehen.
Nachdem seine Mutter sie verlassen
hatte, begann sein Vater, sich noch
eifriger mit illegalem destilliertem
Alkohol zu betrinken, der in Skandinavien mit Kaffee gemischt und
Krajsk genannt wird. Als Lars sechzehn war, kam die Nachricht, seine
Mutter sei in Stockholm gestorben.
Lars schaffte es nie, die Mittelschule
abzuschließen, verrichtete eine Zeitlang alle möglichen arbeiten, konnte
aber keinen richtigen Beruf für sich
finden. Dann verliebte er sich in eine
junge Frau aus seinem Ort und heiratete sie einige Monate später. Sein
Vater verkaufte ihr Familienhaus,
kaufte sich eine Wohnung und für
die beiden ein Häuschen, in dem sie
einige Jahre lang zusammen wohnten. Nach einigen idyllischen Monaten, sagte Lars, wobei er das Wort
„idyllisch“ sarkastisch betonte, geriet er in eine Gruppe von Bikern. Er
sagte, sie seien in Ordnung gewesen.
Es gab viele Partys, Bier, Frauen, sie
reisten viel herum, aber, wenn er ehrlich sein sollte, fügte er mürrisch hinzu, gab es dort auch Drogen und
Konflikte mit dem Gesetz. Da er
ständig unterwegs war, verlor er eine
Arbeit nach der anderen. Da er viel
trank und von draufgängerischer Natur war, verließ ihn seine Frau nach
100
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Juli
drei Jahren Ehe und beschloss, alleine ihr Glück zu suchen. Nach ein
Paar Monaten hatte er sie alle satt,
die Seeleute und diese tätowierten
Galgenvögel, auch die ständigen Konflikte mit dem Gesetz waren ihm lästig geworden und so verschleuderte
er sein Haus unter dem Preis, geriet
in Panik, weil er auch all jene Typen
satt war, die einander in jener schwedischen Einöde den amerikanischen
Traum vorspielten, er hatte genug
von den Motorrädern und was das
schlimmste war, seine einzige Alternative war, sich selbst dabei zuzusehen, wie er sich in seinen Alten verwandelt, wie er mit einer Motorsäge
Tannen fällt, Krajsk trinkt und wartet, das der Hecht seines Lebens an
seinem Angelhaken landet.
Zuerst ging er nach Brasilien, reiste
eine Zeitlang im Land umher, dann
blieb er in Salvador de Bahia, einer
Stadt im Norden des Landes, wo er
sich in eine wunderschöne dunkelhäutige Frau verliebt hatte und mit
ihr ein halbes Jahr lang zusammenblieb (dabei zuckte er mit den Augenbrauen). Die Zeit verbrachten sie
mit Sex und Kokain. Die beste Frau,
die er je hatte, stöhnte Lars Karlsson
melancholisch wie ein gebrechlicher
alter Mann, dessen letzte Erektion
nur noch eine weit zurückliegende
Erinnerung ist. Sie hatte ihn verlassen, hinterließ einen herzzerreißenden
Abschiedsbrief, abgefasst in schlechtem Englisch, mit drei feuchten Flecken, die ihre Tränen hätten darstellen sollen. Danach ging er nach Thailand und versuchte dort, seine dunkelhäutige Liebe und das Kokain durch
Prostituierte und Opium zu ersetzen. Das, fügte er enttäuscht hinzu,
war aber nicht das Wahre. Darauf
verbrachte er eine Zeitlang auf den
Philippinen, reiste in Asien herum,
kam bis nach Japan, wo aber für seine Genussgewohnheiten alles viel zu
teuer war. Schließlich landete er in
Amsterdam, verbrachte dort eine kurze Zeit und schiffte sich, nachdem
ihm das Geld ausgegangen war, als
Seemann auf einem Schiff, das unter
panamesischer Flagge Bulkladung
transportierte, ein. Dreizehn Jahre
lang fuhr er zur See, wechselte zahlreiche Schiffe, fuhr ein Paar mal um
den Erdball, besuchte jede Hafenkneipe von Indien bis Südamerika,
schlief mit einer zweifelhaft hohen
Zahl von Nutten und als er alles satt
hatte, kehrte er mit etwas Geld nach
Schweden zurück, in sein Dorf, mietete dort eine Wohnung und nahm
erneut Kontakt zu seiner alten Clique auf. Schon bald landete er im
Gefängnis, die Gründe dafür wollte
er mir gegenüber nicht angeben, und
nach ausgestandener Haft von über
einem Jahr wusste er nicht mehr,
wohin. Er hatte weder Geld, noch
Arbeit, noch eine Bleibe. Eine Zeitlang lebte er bei seinem senilen, vom
Alkohol zerfressenen und kranken
Vater und ging dann abermals fort.
Er reiste in Schweden herum, arbeitete wo er konnte und lebte bescheiden und zurückgezogen. Vor einigen
Monaten war er nach Norwegen gekommen. Er hatte keine Ahnung,
wie lange er zu bleiben gedachte,
kümmerte sich aber auch nicht darum. Das einzige, was ihm Sorgen
bereitete, war sein großer Papagei,
der sich diesen Sommer das Bein gebrochen hatte, ohne dass er wusste,
wie das passiert war.
3. Die künftige ehemalige Frau
Einmal, es war Mitte Sommer, sagte
Lars, er ginge nach Schweden, seinen
Vater besuchen. Zwei Wochen hatte
er dort verbracht und ich musste in
dieser Zeit auf seinen Papageien aufpassen, dem sie den Gipsverband vom
Bein entfernt hatten. Es war ein großer, weißer Papagei, sah aber irgendwie
schäbig und abgenutzt aus. Das einzige, was er sagen konnte war „Hasta la
vista... hasta la vista, baby“, und dabei
krächzte er auch noch so, dass man
ihn nur mit Mühe verstehen konnte.
TIONS
Ich brauche nicht erst zu betonen,
dass der Papagei Terminator hieß.
Ich hatte damals, als Lars weg war,
meine künftige Frau Selma kennen
gelernt. Meine künftige ehemalige
Frau und die Mutter eines Kindes,
das vielleicht nicht einmal von mir
war.
Wir wurden viel früher aufeinander
aufmerksam, denn sie fuhr jeden Tag
um 12.15 Uhr mit dem Schiff nach
Gressholmen, das voller Kaninchen
war. Keinen Schritt kann man dort
machen, ohne auf Hasenscheiße zu
treten. Ganze Kinderscharen kamen
dort an, um die gemästeten Nager zu
füttern. Ihre Eltern tranken derweil
in der lokalen Kneipe, wo Selma als
Kellnerin arbeitete, dicke, trübe Bierkrüge leer. Spät am Abend fuhr sie
zurück, aber nicht jeden Tag. Manchmal schien mir, sie würde auf der
Insel übernachten. Selma war groß,
größer als ich, hatte ein eckiges, knöchriges Gesicht und eine knabenhafte
Frisur. Eigentlich erinnerte sie mehr
an einen frühreifen fünfzehnjährigen
Bengel, mit viel zu langen Beinen
und kleinen Wölbungen auf der Brust.
Ihre Augen waren braun und völlig
rund, mit ausgeprägten Arkaden.
Wenn sie ernst dreinblickte, wirkte
sie irgendwie ausgelaugt, manchmal
sogar bedrohlich, aber wenn sie lachte, tat sie das mit dem ganzen Gesicht, ihren Augen und ihrem Körper. Ihr Lachen war eigentlich ein
viel zu lautes, übertrieben aufdringliches Meckern und mit der Zeit begann dieses neurotische, explosive
Kichern, das an einen hölzernen Harlekin erinnerte, mir Angst zu machen. Ganz am Anfang war ich von
ihrem lächeln und diesem dicken,
schmerzhaft in die Länge gezogenen
Mund angezogen. Und natürlich von
ihrem perfekten, kleinen, fragilen,
fast nicht vorhandenen Hintern.
Zuerst grüßten wir einander nur, sagten „hallo“ oder nickten mit dem
Kopf. Ich lächelte ihr zu, sie erwiderte mein Lächeln oder ignorierte mich
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TIONS
einfach. Dann spitzte sie ihre Lippen, schlug die Beine übereinander
und versuchte gleichermaßen kühl
und sexy zu wirken. Ab und zu blickte sie grimmig drein, zog ihre knabenhaften Augenbrauen zusammen,
während sich auf ihrer Stirn eine
dunkelblaue Ader abzeichnete.
Eines Tages, nachdem Lars nach
Schweden gefahren war, begannen
wir ein Gespräch. Wir sprachen von
belanglosen Dingen, sie lachte laut
und schlug mir dabei draufgängerisch mir der Hand aufs Knie, als
seien wir alte Freunde. Ich fragte sie,
ob sie mit mir ausgehen möchte. Sie
schwieg. Ich sagte, wir könnten das
auch an einem anderen Tag tun,
wann immer es ihr passen würde.
Plötzlich wurde sie ernst und gab mir
mit ihrem Zeigefinger einen Schlag
ins Gesicht, wie einem Kind, leicht,
aber entschlossen. Sie sagte, ich solle
sie nie mehr so etwas fragen. In den
folgenden Tagen grüßten wir einander
nicht.
Dann kam sie eines Tages lächelnd
auf mich zu, fröhlich und laut, wie ein
entzücktes Kind oder eine hysterische
Frau, es war nicht leicht, das zu bestimmen. Sie lud mich ein, nach der Arbeit in ihrer Kneipe etwas zu trinken.
Ich war erst um zehn Uhr abends
fertig, weil ich auch Lars’ Schicht abarbeiten musste, und stieg auf Grassholmen aus. Die Kaninchen vertreibend, die wie die Pest aus allen Büschen hervorquollen, kam ich bis zur
Kneipe, in der sie arbeitete. Sobald
sie mich sah, nahm sie ihre Schürze
ab und wir setzten uns in einer Ecke
an den Tisch. Dann ging sie zur Theke und brachte zwei Bier. Ab und zu
erschien ihr Boss und bediente die
Gäste. Er war etwa fünfzig-sechzig
Jahre alt, groß, schlank und ziemlich
jung aussehend. Er hatte einen brauen Bart, wie Sean Connery. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, dass wir
zusammensitzen, so dass er in einem
Moment auf sie zukam und sie mit
väterlicher, autoritärer Stimme auf-
Bekim Sejranovi}
forderte, ihm behilflich zu sein, denn
er müsse nun das Essen vorbereiten
und jemand müsse ja die Gäste bedienen.
– Verfick dich, alter, siehst du nicht,
dass ich Besuch habe? – sagte sie
ziemlich vertraulich zu ihm.
Das war mir unangenehm und ich
sagte, ich würde lieber gehen, wo
doch in der Kneipe ein so reger Betrieb herrscht.
– Und wohin gedenkst du zu gehen?
Wie willst du bis zur Stadt kommen?
Sigi fährt dich später mit seinem
Motorboot hin, nicht wahr, Sigi? –
sagte sie zu ihm und lachte meckernd
und herausfordernd.
Sigi schnaufte machtlos und ging in
die Küche zurück. Mit der Stimme
eines Vorgesetzten rief sie ihm zu,
uns noch zwei Bier und etwas zu
essen zu bringen.
Später, kurz vor Sonnenuntergang,
knapp vor Mitternacht, brachte uns
der Besitzer der Kneipe, Sigi, wenn
ich ihn so nennen darf, denn nur
Selma nannte ihn Sigi, eigentlich
heiß er Harald, mit seinem Motorboot in die Stadt. Selma und ich
waren schon betrunken und hielten
uns aneinander fest, als wir aus dem
Boot stiegen. Ich bedankte mich bei
Harald für die Überfahrt, worauf mich
Selma am Arm packte und das Ufer
entlang zerrte.
Harald, beziehungsweise Sigi, verschwand Richtung Insel. Ich drehte
mich um und sah die Sonne untergehen. Sie versank im Meer wie mein
schlechtes Gewissen. Ich spürte, wie
Selma ihre Schritte mit den meinigen in Einklang brachte und wusste,
dass jetzt alles vorüber sei.
Schnell tranken wir noch ein Paar
Tequilas auf einer Terrasse an der
Akyr Brigge. Ich sagte ihr, ich müsse
meinen Papagei füttern gehen und
lud sie ein, mitzukommen.
Als wir in meinem Zimmer angelangt waren, bemerkte sie verächtlich, der Papagei hätte Nahrung und
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Wasser für mindestens zwei Tage gehabt. Sie überredete mich, ihn aus
dem Käfig zu lassen. Terminator flatterte mit den Flügeln und stürzte sich
wie ein Kamikaze auf unsere Köpfe.
Dabei krächzte er sein metallenes
„Hasta la vista, baby, hasta la vista...
hasta... hastaaaa...“ Durchs ganze
Zimmer musste wir ihn jagen. Da
ich nicht besonders geschickt bin,
glaube ich, sein Bein zu stark gedrückt zu haben. Als er wieder im
Käfig eingesperrt war, stand der Papagei auf einem Bein und hinkte
sichtlich, wenn er sich aufs andere
stellte. Wir brachten ihn zur tierärztlichen Notaufnahme, sahen aber
nach einer Röntgenaufnahme, das er
gesund ist. Der Tierarzt, ein Mann
mit Schnurrbart in einem weißen
Kittel, meinte mit ernsthafter Stimme, das Bein täte ihm wahrscheinlich noch weh, da er so lange einen
Gipsverband tragen musste. Beinahe
drohend fügte er hinzu, wir sollen in
Zukunft besser Acht geben. Als wir
die Tierklinik verließen, küsste mich
Selma zum ersten Mal. Ich war in
der Lage, dem Papagei beide Beine
zu brechen.
4. Vergiss die Aktionen, Lars
Lars kam aus Schweden direkt in die
Nachmittagsschicht. Er sah müde
und erschöpft aus. Seine Pupillen
konnte man fast gar nicht erkennen.
Ich wollte ihm von meiner neuen
Liebe erzählen, die Geschichte mit
dem Papagei hätte ich natürlich verschwiegen, aber er war nicht in der
Lage, mir zuzuhören.
In den nächsten Wochen wiederholte sich die Geschichte. Lars kam mit
zusammengezogenen Pupillen zur
Arbeit und saß unbeteiligt am Heck.
Manchmal schloss er für einige Augenblicke die Augen, sein Kopf senkte sich unkontrolliert auf die Brust,
dann wachte er auf, blickte um sich
und schlummerte wieder ein. Von
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Juli
Zeit zu Zeit rauchte er eine Zigarette, kam zu mir an den Bug und begann ein Gespräch, das weder Anfang noch Ende hatte und ebenso
sinnlos war. Plötzlich begannen seine Knie zu zittern und er ging zurück
ans Heck. Seine weiße Uniform wurde immer schmutziger. Aus der Kasse nahm er immer mehr Geld, ohne
dabei Fahrkarten zu verkaufen. Das
taten wir auch früher, hielten uns
aber in Grenzen. Er rief mich nicht
zu sich, so dass ich meine Freizeit
hauptsächlich in Selmas Gesellschaft
verbrachte.
An einem verregneten Tag, nachdem
ich meine Schicht beendet hatte und
mit großen Schritten über den Anlegeplatz Vippetangen hastete, rief er
nach mir und kam auf mich zu. Wir
gingen die Mole entlang, unter einem Vordach, das für die Passagiere
gedacht war, die auf unser Schiff
warteten. Er legte seinen Arm auf
meine Schulter und fragte mich mit
gedämpfter, geheimnisvoller Stimme ins Ohr, ob ich Lust auf eine
Aktion hätte.
– Was für eine Aktion? – fragte ich
dumm.
– Eine Aktion, die uns Geld einbringen wird, verstehst du? So eine Aktion.
Ich machte halt, schob seinen Arm
von meiner Schulter und sagte:
– Vergiss die Aktionen, Lars.
Ich ging in den Sommerregen hinaus und ließ ihn zurück.
5. Das nächste Mal fliegst du
Lars ließ nicht locker. Einige Male
schlug er noch seine „Aktionen“ vor.
Als ich ihm Mitte Herbst, es war ein
kurzer, nordischer Herbst, sagte, Selma und ich würden beabsichtigen,
nach unserer Hochzeit auf den Balkan zu fahren, hatte er für einen Augenblick eine neue Idee. Er fragte
mich, ob es dort unten noch Waffen
gäbe. Da begriff ich, dass er von allen
guten Geistern verlassen war. Ich
antwortete, ich hätte davon keine
Ahnung. – Du bist wirklich ein Arschloch! – stieß er hervor.
Ich redete auf ihn ein, wie auf ein
Kind, versuchte ihm klar zu machen,
ich sei daran nicht interessiert und
dass auch er sich da raushalten sollte.
Ich habe einfach keine Lust, wieder
im Gefängnis zu landen, obwohl die
Idee an sich nicht schlecht sei, sagte
ich und tat so, als meinte ich es ernst.
Sollte ich wieder eine Dummheit
anstellen, werde ich des Landes verwiesen, sagte ich vertrauensvoll.
Das war vor ein Paar Jahren passiert,
als ich noch mit Sara zusammen war,
obwohl ich eigentlich in einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim
lebte. Ich arbeitete in einer kleinen
Fabrik, wo ich CD-s mit Software einpackte. Ich hatte rund fünfzig CD-s
mit multimedialen Programmen zum
Lernen von Fremdsprachen geklaut.
Die ganze Universität hatte ich mit
Anzeigen überklebt, in denen ich die
CD-s zu einem drei mal niedrigeren
Preis anbot, und gab noch meinen
Namen und meine Telefonnummer
dazu. Es stellte sich heraus, dass die
Autoren dieser Programme Professoren waren und sie hatten meine
Anzeigen natürlich gelesen, denn es
war schwer, sie nicht zu bemerken.
Das kam ihnen verdächtig vor, denn
die CD-s waren noch gar nicht im
Verkauf angeboten. Sie riefen bei der
Firma an, in der ich arbeitete, diese
benachrichtigten die Polizei und die
Polizei stellte mir eine Falle. Und
dabei hatte ich erst drei CD-s verkaufen können. Darauf durchsuchten fünf Polizeibeamte, zwei in Zivilkleidung, die mir die Falle gestellt
hatten, zusammen mit zwei Kollegen und einer Kollegin, mein 12
Quadratmeter großes Zimmer und
fanden dabei die restlichen CD-s und
etwas Haschisch. Die Polizistin war
nicht besonders hübsch, sah in ihrer
Uniform jedoch verlockend aus. Sie
fand die Pornohefte, eine ganze Menge, und diese waren gar nicht mal so
harmlos. Sie warf einen kurzen Blick
TIONS
darauf und gab sie zurück in die
Schublade.
Später, im Polizeiwagen, saß sie hinten
neben mir. Sie sagte, die Idee mit den
CD-s sei nicht von schlechten Eltern.
– Du wärst ein guter Verkäufer –
sagte sie lächelnd.
– Und du ein Pornostar – dachte ich
boshaft. Und zwar in deiner Sommeruniform.
Ein rundlicher, grauhaariger Polizist,
der mich registrierte, als ich auf die
Polizeiwache überführt wurde, wunderte sich nicht schlecht, als ich ihm
sagte, ich sei zum ersten Mal verhaftet worden.
– Keine Angst – fügte er hinzu und
verzog die Oberlippe, während er mit
seinen beiden Zeigefingern auf die
Tastatur einschlug – es war gewiss
nicht das letzte Mal. Und nächstes
Mal fliegst du... ha, ha...
Als ich Lars davon erzählt hatte, lachte er herzlich. Er sagte, ich sei viel zu
verwirrt für solche Dinge, und das
sehe man mir an.
Ich fragte mich, warum er mir dann
die ganze Zeit seine „Aktionen“ vorschlägt, wollte ihm aber nichts sagen. Du bist auch nicht gerade der
größte Lebenskünstler der Welt, dachte ich mitleidsvoll.
Wenn ich versuchte, Lars dazu zu
bringen, mir seine Gefängnisgeschichte zu erzählen, winkte er nur ab und
meinte, das sei nicht der Rede wert.
Er wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und tätlichem Angriff auf eine Dienstperson eingesperrt. Aber nichts davon sei wahr.
Er hätte nichts getan, wofür man ihn
hätte einsperren sollen.
Ich lachte und redete auf ihn ein, er
sollr mir nur eine Einzelheit davon
erzählen, aber er hüllte sich in unerbittliches Schweigen.
Ich bin unschuldig, völlig unschuldig – sagte er.
Ich sah mir seine engen Pupillen an
und glaubte ihm nicht. Ich stellte mir
vor, Kara|oz aus „Prokleta avlija“ zu
sein. Niemand ist unschuldig.
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TIONS
Die Gestalt von Onkel Alija ging
mir durch den Sinn, der, wie meine
Mutter mir erzählt hatte, „völlig unschuldig im Gefängnis saß“.
6. Der verfluchte Alija
Einige Leute kamen am Abend von
der Jagd und gingen im Dorf an
Alijas Haus vorbei. Alija hatte einen
Hund, der zu bellen begann. Vielleicht
aus Übermut, vielleicht weil sie an
diesem Tag nichts gefangen hatten,
feuerten diese „Jäger“ ein Paar Schüsse ab und erschossen Alijas Hofhund.
Als Alija aus dem Haus stürzte, hatte
er was zu sehen. Aus ihren Gewehren kam Rauch und der Hund zuckte nur noch mit dem linken Hinterbein. Alija, der von aufbrausender
Natur ist, ging auf sie los, aber sie
stießen ihn weg und richteten ihre
Gewehre auf ihn. Ohnmächtig begann Alija, sie zu verfluchen, während ihm vor Wut die Tränen aus
den Augen quollen. Der Vater eines
dieser „Jäger“ hieß Kita, eigentlich
wurde er im Dorf nur so genannt,
weil er mit Nachnamen Kiti} hieß.
Alija verfluchte mehrmals seinen Vater Kita, worauf die „Jäger“ den Bach
überquerten und kichernd und schreiend die Dorstraße entlang gingen.
Als Alija zur Polizei gegangen war,
um den Vorfall anzuzeigen, wurde
er verhaftet, weil er angeblich Tito
verflucht hatte. Kitas Sohn hatte ihn
angezeigt.
– Es nützt nichts – erzählte mir meine Mutter. – Alija versuchte, sie
davon überzeugen, dass nicht Tito,
sondern Kita es war, den er verflucht
hatte, aber die Polizei zeigte kein Interesse daran. Denn, es ist schlimmer, Tito zu verfluchen, als wenn
jemand deinen Hund totschießt. Alija sagte, er habe es nicht getan, sie
sagten, er habe es wohl, dann schlugen sie auf ihn ein und nach einigem
Bekim Sejranovi}
Hin und Her sagte Alija: ja, ich habe
es getan, Tito soll euch alle ficken!
Und so saß er ein halbes Jahr im
Gefängnis. Mit der Polizei ist nicht
zu spaßen – beendete meine Mutter
ihre Version der Geschichte.
Mein Großvater, wiederum, meinte, das sei Unsinn und alles habe sich
ganz anders zugetragen.
– Was erzählst du da, er hätte Tito
verflucht? – griff er meine Mutter an.
– Es stimmt schon, dass sie seinen
Köter erschossen haben, aber Alija
war zu dieser Zeit gar nicht zu Hause. Als er aber erfahren hatte, dass sie
seinen Hund totgeschossen hatten,
verprügelte er sie einen nach dem
anderen. Einen, den Sohn von diesem Kita, den man auch Kita nannte, verprügelte er im Wirtshaus „Kod
Agana“, worauf dieser im Krankenhaus und Alija in Knast landete.
– Sie haben seinen Köter totgeschossen – erzählte mein Großvater – weil
er sie angegriffen hatte, sie bekamen
Schiss und begannen vor Angst zu
schießen.
– Da ist die ganze Geschichte, was
für ein Tito, das hättet ihr wohl alle
gerne?
7. Hasta la vista, Lars
Als Selma und ich vom Balkan zurückgekehrt waren, war Lars nicht
mehr da. Mein mürrischer Chef warf
mir einen verächtlichen Blick zu und
sagte, Leute wie Lars haben auf dem
Schiff nichts zu suchen. Ich stimmte
ihm zu. Er sagte, Lars sei unausgeschlafen und verkatert zur Arbeit gekommen und habe beim Kartenverkauf Geld unterschlagen. Ihm wurde gekündigt und mit einer Anzeige
gedroht.
– Wer weiß – seufzte er boshaft. –
Vielleicht hat er auch Drogen genommen.
– Vielleicht – sagte ich.
103
Ich habe nie erfahren, was aus Lars
geworden ist. Zuerst rief ich ihn am
Handy an, dieses war aber ausgeschaltet. Am nächsten Tag fuhr ich
mit der U-Bahn bis zum Vorort
Lysaker, wo Lars im Erdgeschoss eines Hauses wohnte. Er wohnte bei
einem ewig zugekifften Paar, Vidar
und Heidi, von denen ich ab und zu
Haschisch kaufte. Ich klingelte zuerst
bei ihnen. Nachdem sie mir geöffnet
hatten, traten wir ein und rauchten
erst mal einen Joint. Erst dann begannen wir uns zu unterhalten.
Sie sagten, sie hätten Lars mehrere
Tage lang nicht mehr gesehen, wussten aber nicht wie viele. Letztes Mal
kam er zu ihnen, um zu kotzen, sagte
Heidi und reichte mir die Wasserpfeife.
Nein, sie haben nicht an seine Tür
geklopft, er hätte sich doch gemeldet, wenn er er da gewesen wäre.
Wir gingen alle drei zu seiner Tür.
Vidar hatte einen Schlüssel, aber die
Tür war nicht zugesperrt.
Drinnen war es dunkel, stickig und
leer. Plötzlich ertönte eine krächzende Stimme: „Hasta la vista, baby,
hasta la vista...“
Der Papagei stand auf einem Bein
auf dem Schrank und warf uns eisige
Blicke zu. Am Käfig hing etwas. Ich
trat näher, um zu sehen, was es ist, es
war ein Foto, aber im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, wer drauf war.
Ich steckte es ein und ging zur Tür.
Es war ein Foto, das ich geschossen
habe, als Lars und ich mit dem Kanu
nach Brjornsjoen gefahren sind und
dort übernachtet hatten. Aber Lars
war aus dem Foto herausgeschnitten. Ich drehte das Bild um.
Auf der Rückseite stand: „Hokahe“.
Aus dem Kroatischen
von Boris Peri}
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Juli
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TIONS
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August
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DAMIR KARAKA[, Geboren am 21. November 1967 in Pla{}ica bei Brinj in Lika. Er studierte Agronomie, Jura,
Journalismus, arbeitete als Journalist der „Schwarzen Chronik“ und war Berichterstatter von den Kriegsschauplätzen in
Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo. Ab 2001 lebt er in Bordeaux und von 2002 bis 2007 in Paris, wo er
Akkordeon spielt, schriebt, zeichnet, Performances veranstaltet, konzeptuelle Werke ausstellt. Er erhielt mehrere nationale
und internationale Karikatur-Preise. Veröffentlicht hat er den Reisebericht Bosnier sind gute Menschen („Bosanci su dobri
ljudi“, 1999), den Roman Kombetari („Kombetari“, 2000), den Erzählband Das Kino Lika („Kino Lika“, 2001), den Dokumentarroman Wie ich nach Europa kam („Kako sam u{ao u Europu“, 2004), die Erzählsammlung Eskimos („Eskimi“, 2007).
Sein Drama Wir schließen fast nie ab („Skoro nikad ne zaklju~avamo, 2008) brachte Regisseur Paolo Magell im Rahmen der
Vorstellung Zagreber Pentagramm („Zagreba~ki pentagram“) auf die Bühne des ZKM (Zagreber Jugendtheater).
Seine Erzählungen wurden ins Englische, Französische, Slowakische und Deutsche übersetzt, der Erzählband Eskimos
wurde in Kairo für den Verleger Dar El Kaleme veröffentlicht. Er wurde in die Anthologie der Kurzgeschichten von ExYugoslawien 1990 – 2000 („Antologija kratkih pri~a ex Yugoslavije 1990. – 2000.“, Ljubljana) aufgenommen. Nach dem
Buch Das Kino Lika drehte Regisseur Dalibor Matani} einen gleichnamigen Film, der in Kroatien und im Ausland
preisgekrönt wurde. Zur Zeit lebt er in Zagreb.
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Damir Karaka{
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Licht im Haus
Damir Karaka{
Er steht auf dem Balkon, erleuch-
tet von den Lichtern des Bürogebäudes gegenüber, als zu ihm das Geräusch des Windes dringt. Es wird
immer kälter, deshalb knöpft er seinen Schlafanzug zu, nervös mit dem
Schuh auf dem vereisten Beton klopfend.
„Ferde“, sagt die Frau, als er ins Bett
zurückgeht, „es ist spät... du musst
dich ausschlafen.“
„Schlaf doch, wenn es spät ist“, sagt
er mürrisch.
Er streift sich eine alte Wollmütze
über den Kopf. Er dreht sich vorsichtig auf die Seite. Er passt auf,
dass er keine falsche Bewegung macht.
„Morgen“, sagt sie, „wenn du zurückkommst... könnten wir auch ein
wenig zu ihr... Jetzt sind es schon
zwei Wochen, dass wir nicht waren“,
sagt sie.
„Was soll ich’n dort?...“, brummt er
unter der Decke hervor. „Wann war
sie denn?... Sie kommt nur, wenn sie
was braucht.“
„Und wer hat dir Šnen Chiropraktiker gefunden?“
„Lass mal den Chiropraktiker gut
sein... Und was hältst du mir das
gleich unter die Nase, sie hat gefund’n,
sie hat gefund’n?!“, er wird laut.
„Als sie das letzte Mal da war, hat sie
dir Šn Kilo Kaffee gekauft“ fügt er
hinzu.
„Komm, sei nicht so“, sagt die Frau
ruhig. „Sie hat auch ihr Bündel zu
trag’n... Denen soll man helfen, und
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nicht uns... Sie arbeitet... das Kind
ist klein, es will jeden Morgen in den
Kindergarten gebracht werden, man
muss darauf aufpassen... Arbeiten,
kochen, waschen, sie ist von morgens bis abends auf den Beinen“, sie
faltete die Decke auf dem Bauch.
Er winkt ab. „Ich schieß’ auf so Šne
Philosophie“, sagt er.
„Du denkst nur an den deinen Arsch“,
sagt die Frau.
„Heißt, ich soll lebendig ins Grab...“
„So ein Glück hab’ ich nicht.“
„Lass nur“, murmelt er in seinen Bart.
„Wenn ich erstmal dieses Rückgrat
in Ordnung gebracht habe und die
Rente endlich hab’... Dann schaut’s,
wie ihr zurechtkommt...“
„Jeden Tag denkst du nur an dieses
alte Haus... Wirfst das bisschen Geld,
das wir noch haben, hinein... Dann
tut dir das Rückgrat nicht weh...
wenn du an den Kasten denkst...“,
sagt sie.
Er presst hervor: „Ich weiß, wie ich’s
anrichte.“
Die Frau macht die Lampe aus.
„Jeden Tag wiederholst du ein- und
dasselbe“, sagt sie. „Und wann hast
du das letzte Mal deinem Enkel was
gekauft?...“
„Der hat Vater und Mutter, die soll’n
ihm was kaufen! Mir hat auch keiner
was gekauft... Ich werd’ ihr kein Diener sein! Weder dir noch irgendjemandem...“
„...alles was du kannst, ist drohen...
Das macht dir keiner nach.“
„Ich drohe niemandem“, er setzt sich
die Mütze zurecht. „Ich sag’ nur.“
Er dreht sich langsam auf den Rücken, zieht sich die Mütze über die
Augen und schläft ein.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, gewahrt er aus der Küche den
stärkenden Duft von Kaffee.
Er schleppt sich zur Bettkante, setzt
die Füße auf den Boden, dann bleibt
er einige Minuten lang bewegungslos auf dem Bett sitzen.
Er versucht, sich langsam zu bücken
und seine Strümpfe anzuziehen.
Er presst die Zähne zusammen.
„Ach, zum Teufel noch mal!“, presst
er hervor.
Er versucht es erneut. „Uch...“
Jedes Mal durchbohrt es ihn scharf
im Rücken.
Er sitzt kraftlos auf der Bettkante,
wie ein Schiffbrüchiger.
„Koviljka!“
Er sieht auf die Tür.
Er schreit: „Hörst du, wo steckst du?“
„Was ist?“, meldet sie sich aus der
Küche.
Er hört ihre Schritte vor der Tür.
Er wendet den Blick von der Tür.
„Zieh mir doch diese Strümpfe über,
ich werd’ zu spät kommen...“
Die Frau im Pullover, der ihr bis hin
zu den Knien reicht, trottet zu ihm
und fängt an, ihm wortlos die Strümpfe anzuziehen.
Sie hilft ihm, aufzustehen und den
grauen Anzug anzuziehen, danach
die Schuhe.
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August
Die ganze Zeit sprechen sie kein
Wort.
Er spaziert dann, mit unsicheren
Schritten, zur Wand und zurück,
nimmt aus dem Schrank seinen schweren Wintermantel, danach die riesige Brieftasche, stopft sie in die Innentasche des Mantels.
Er geht in die Küche, nimmt vom
Tisch eine Tasse Kaffee.
„...Zieh dich wärmer an“, sagt die
Frau. „Nimm den Schal und die
Mütze mit! Sie haben ein Gewitter
am Nachmittag vorhergesagt.“
„Es ist gut, so wie es ist“, er schlürft
den Kaffee auf die Schnelle. „Ich geh’
jetzt...“
„Pass auf das Eis auf. Es ist glatt.“
Er winkt ab. Ruft den Lift. Als er
noch keine Probleme mit dem Rückgrat hatte, lief er fast jeden Tag die
Treppen rauf und hinunter.
Er drückt auf den Knopf.
Als sich der Lift glatt gleitend dem
Erdgeschoss nähert, legt er beide
Handflächen auf die kalte Metallseite, hebt sich leicht auf die Zehenspitzen: Der Lift hält langsam an,
dann zuckt er und senkt sich begleitet von ohrenbetäubendem Quietschen, hinterhältig, mit metallenem
Geknalle.
Er kennt dieses verdammte Zucken
von vorn bis hinten.
Die ersten paar Male durchbohrte es
ihn bei diesem Landen so durch den
Rücken, dass es ihm schien, er würde
wie eine Holzpuppe nach hinten brechen.
Er senkt sich langsam von den Zehen, geht hinaus.
Einen Moment lang schreckt er vor
der Kälte zurück.
Zum Glück ist der Chiropraktiker
nicht weit, er wohnt in dem viereckigen Militärgebäude, zwei Straßen
weiter.
„Kommen Sie herein“, sagt der grauhaarige Mann mit Brille.
Ferde geht hinein.
Er steht kaum auf den Beinen.
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„Ihre Frau hat angerufen“, sagt der
Mann, nimmt seine Brille ab, setzt
sie wieder auf und richtet sie. „Sie
macht sich wegen dem Eis sorgen.“
„Pah.“
„Melden Sie sich, wenn Sie wollen.“
Er winkte ab. „Pah“, sagte er. „Lassen Sie sie.“
Der Mann lächelt und zuckt mit den
Schultern.
Er führt ihn in ein geräumiges Zimmer, in dessen Mitte eine gelbe, dicke Decke auf dem Boden ausgebreitet liegt.
„Machen Sie sich frei“, nickt er.
„...Lassen Sie uns mal nachschauen.“
Er sagt ihm, er solle sich auf den
Bauch legen.
Ferde fängt an, sich zu entkleiden,
bleibt nur in Unterhose und Strümpfen.
Seine Kleidung hat er auf die Schnelle auf die Schranktür gestapelt.
Er legt sich vorsichtig auf die Decke
und sieht sich um.
Der Mann verschwindet für einen
Moment in den Flur, als er zurückkommt, drückt er in den Händen
einen langen Holzstiel, auf dessen
einem Ende ein hutförmiger Abflussauger aus Gummi gesteckt war.
„Sagen Sie mal, haben Sie irgendwelche Unterlagen, irgendwas?“
„Nichts... Leider“, murmelt er.
„Wann hat es angefangen und wo
tut es am meisten weh, wie, auf welche Weise...“
„Die unteren Wirbel“, sagt er.
„...Schon seit ein paar Monaten. Ich
weiß nicht, was ich sagen soll, es
sticht, durchbohrt mich, ich kann
nich’ laufen. Ich bin zum Doktor
gegangen, der gab mir irgendwelche
gelben Tabletten, die helfen ein bisschen und danach nichts...“
„Ach... Da richten Tabletten nichts
aus... Doch, sagen Sie mir genau,
wann hat das angefangen?...“ er dreht
den Abflusssauger in den Händen.
Ferde sammelt seine Gedanken.
„Was weiß ich...“, sagt er. „Ich hab’
irgendwelche Balken getragen... Auf
TIONS
dem Dorf, vor sechs Monaten, verdrehte mir den Knöchel am Bein,
humpelte ein wenig, dann ging es
auf das Rückgrat über... Und als ob,
als ob ich gebrochen wär’, ich hab’
hinten keine Kraft, weiß nicht... Wenn
ich flotter laufe, ist mir, als ob ich
zerfallen würd’...“, er verzerrt den
Mund.
„Sticht es Sie vielleicht in die Beine?“
„Nein.“
„Weder in das eine noch das andere.“
„Bis jetzt nicht.“
„Dann ist es gut“, sagte er, geht hinunter auf beide Knie, beginnt, mit
dem Finger die paar untersten Wirbel abzutasten. In der anderen Hand
drückt er den Sauger. „Legen Sie Ihre
Arme leicht an den Körper, atmen
Sie, so, tieeeeef....“, er steht auf und
stellt sich mit fest gespreizten Beinen
über ihn. „Ist es dort, wo ich Sie
berührt habe?“, sagt er.
„Genau da...“
Er steht über ihm, drückt langsam
den Sauger auf den unteren Teil des
Rückgrats, lässt Luft hinein, stemmt
sich mit den Füßen gegen den Boden, dann zieht er den Sauger ruckartig zu sich hin.
Das tut er wieder.
Im Zimmer verbreitet sich ein gellendes gesprungenes Geräusch, dem
Öffnen eines Champagners ähnlich.
„Tut es weh?“
„Es kribbelt.“
„Jetzt wieder tief, tief atmen.“
Ferde atmet ein, atmet aus. Auf seiner Stirn sind Schweißperlen.
„Noch tiefer.“
Ferde hat die Augen zu, atmet tief.
Der Mann lehnt wieder den Sauger
auf seinen Rücken. Er macht identische Bewegungen, hartnäckig, etwa
zehn Minuten lang: Die Wirbel unter der Haut knacken knisternd.
Dann geht er zum Regal in der Ecke,
zieht ein flaches, ovales Kästchen
hervor: Schraubt den Deckel auf.
Nimmt mit dem Finger die Salbe,
kniet sich hin und fängt an, sie ihm
entlang des Rückgrats einzureiben.
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TIONS
Damir Karaka{
Er schlägt ihn leicht auf den Rücken.
„Fertig.“
„Fer, fertig!“
„Fertig.“
„Ist es fer, fertig?“
„Fertig.“
„Ganz... fertig?...“
Der Mann lacht auf.
„Ganz“, sagt er. „Jetzt können Sie
auch Polka tanzen.“
„Soll ich aufstehen?“
„Wenn Sie nicht wollen, müssen Sie
nicht“, sagt er und macht das Kästchen zu.
Ferde hilft sich mit den Händen, ist
auf allen Vieren und schnappt tief
Luft, dann streckt er sich langsam
aus der knienden Stellung, danach
macht er vorsichtig einen Schritt.
Er richtet sich bange auf, auf das
eine und dann auf das andere Bein.
Er macht einen neuen Schritt, blickt
verwirrt den Chiropraktiker an.
Der fragt: „Wie ist es?“, er hat den
Gesichtsausdruck einer Person, die
die Antwort weiß.
„Ich... kann nicht...“ er weitet die
Augen, dreht sich langsam, noch
immer mit verdutztem Gesichtsausdruck, um sich herum. „Ich... das ist
nicht möglich... Ich, ich kann es
nicht glauben...“
Der Mann lacht.
„Ich... Das...“ bringt Ferde schluckend
hervor. „Das“, flüstert er. „...das...
das ist nicht möglich.“
„Es ist möglich“, nickt der Mann ohne
sein Lächeln abzunehmen. „Möglich
ist es, möglich.“
„...Das... das ist nicht...“
Er hält sich mit beiden Händen den
Rücken, beugt den Körper zur Seite.
Er beginnt immer heftiger im kleinen Zimmer hin und her zu laufen,
von Wand zu Wand, zu stapfen, seine
Beine auszuschütteln: Der Schmerz
ist völlig verschwunden.
Er hält mitten im Zimmer an, macht
fest die Augen zu.
Er presst hervor: „...Das... das ist das
Wunder... aller Wunder...“
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Er kann sich kaum zurückhalten, vor
Freude nicht zu fluchen.
„In etwa zehn Tagen“, sagt der Mann
und fängt an, seinen Mantel aufzuknöpfen, „wird es Ihnen noch besser
gehen...“
Ferde schließt die Augen, schüttelt
ungläubig den Kopf.
„So... Sie können sich langsam wieder
anziehen“, sagt der Mann zu ihm.
Nachdem er sich angezogen hat, fängt
Ferde an, den rechten Schuh auf den
linken Fuß überzustreifen. Dann begreift er, streift ihn über den rechten,
bückt sich und bindet ihn ohne jegwelche Probleme zu.
Er schüttelt auch weiterhin den Kopf.
Er bindet auch den linken Schuh zu,
richtet sich auf.
„...Wenn ich das der Frau erzähl’“, sagt
er. „Kein Mensch wird mir glaub’n.“
Er zuckt, greift nach seiner Tasche.
„Hab’ ich fast vergessen... Sag’n Sie
mir, wie viel schulde ich... Ihnen?“,
er steckt die Hand tief hinein.
„Nichts... Ihre und meine Tochter
arbeiten zusammen. Das werden die
regeln.“
Er gerät durcheinander. „Aha.“
Danach steckt er die Brieftasche ungeschickt zurück.
„Ach ja, was ich noch sagen wollte...“, sagt der Mann. „Jetzt passen
Sie ein paar Tage auf, dass Sie nicht
schwer arbeiten... Gehen Sie jetzt
nicht hin und helfen Ihrem Nachbarn beim Umzug. Tragen wieder
Schränke... Damit sich die Sache ein
wenig stabilisiert“, sagt er und geht
zum Haken, um den Mantel aufzuhängen. „Damit sich das noch ein
wenig besser setzt.“
„Ach was, von wegen Schränke...“,
murmelt Ferde.
„Ach, wissen Sie was“, sagt ihm Ferde
hinterher. „Ich war mein Lebtag gesund, kerngesund, wie man so sagt.
Wenn’s dieses Rückgrat nicht gäb’, ich
war in meinem Leben nicht mehr als
zweimal beim Doktor... Aber, nun...“
„Es wird alles in Ordnung sein“, sagt
der Mann.
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Er klopft ihm auf die Schulter. „Es
wird alles in Ordnung sein.“
Er kommt aus dem Supermarkt. Er
geht durch den Schneematsch.
Er steht atemlos an der Tür und
wischt sich die schlammigen Absätze ab.
Als ihm die Frau die Tür geöffnet
hat, geht er wortlos an ihr vorbei,
zieht seinen Mantel aus und wirft
ihn auf den Tisch.
„Wie ist es?...“, sie sieht ihm in den
Rücken und wartet mit Furcht die
Antwort ab.
Er schnippt mit den Fingern und
dreht sich mit einem Ruck um, als
ob er tanzen wollte.
„Vorbei“, sagt er.
Sie sieht ihn verblüfft an.
„Ich sage, vorbei.“
Er macht ein paar schwungvolle
Schritte zur Wand, dann um den
Tisch herum, bleibt mit dem Fuß
am Stuhl hängen und fängt ihn auf,
damit er nicht umfällt.
„Ich sage, vorbei“, er sieht sie an, legt
nachdenklich seine Arme auf die
Hüften und schüttelt den Kopf.
„...Um ehrlich zu sein... ich kann
selber noch nicht glauben, dass es
vorbei ist... aber... tja...“ er breitet
die Arme aus. „Vorbei!“, sagt er.
„Da hast du’s“, lebt sie auf. „Das hat
sie dir auch gesagt...“
„Als ob, als ob nie was gewesen wär’“,
er legt den Zeigefinger an die Stirn.
„Und ich, ich Blödmann... warte in
Krankenhäusern herum...“
Er schüttelt den Kopf.
„Und ich... Blödmann... Warte...“
Seine Hand gleitet in die Tasche.
„Und ich... ich Blödmann... warte
herum... in Krankenhäusern... und
der Mann ist drei Meter von mir,
und ich, ich Blödmann warte...“
Er schweigt und sieht durch das
Fenster.
Dann sagt er: „Gib das dem Kleinen.“
Die Frau hebt den Blick eine Fliese
hoch.
Aus der Tasche zieht er einen Schokohasen.
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RELA
August
„Da“, sagt er und setzt ihn vor sie auf
den Tisch. „Gib ihm den...“
Die Frau nähert sich dem Schokohasen mit Unglauben.
Ein paar Minuten später sieht ihr
Gesicht aus, als ob sie weinen wollte.
Sie dreht sich um, nach dem Hasen.
Sie kann sich kaum zurückhalten.
Mit dem Küchentuch verstopft sie
ihre Augen.
Er wischt mit den Fingern das beschlagene Fenster. „Vorhin, als ich
beim Chiropraktiker herauswar, stieß
ich auf diesen Vetter von dir, diesen
Mileusni}“, sagt er. „...Den wär’ auch
die Muttergottes nich’ losgeword’n...
Eine Schande is’ es, sagt er, dass du
noch nie bei mir Zuhaus’ warst, und
ich war bei euch zweimal, jetzt musst
du auf Šnen Schnaps, also setzte er
mich ins Auto und brachte mich...
Hab’s ja gar nich’ gewusst... Der ist
ja noch höher, nich’ im achten, wie
du gesagt hast... sondern im zehnten
Stock... Koviljka!“, er sieht sie an.
„Wenn du nur geseh’n hätt’st... seinen Kummer... Was dieser Mann
leidet... wenn du sehen würd’st...“
Er stemmt sich mit den Fäusten fest
gegen den Tisch.
„...Als ich das, Koviljka, heute geseh’n
hab’...“, sagt er. „...Zwei Söhne!“, er
hebt die Stimme. „Wie zwei Ochsen!... Er sagt ihnen, sie soll’n ein
weinig raus geh’n, das kein Platz is’...
Von wegen... mit Verlaub, die scheißen drauf, was der sagt... Sind über
die Dreißig, haben keinen Abschluss,
arbeiten nich, heiraten nicht, liegen
auf deren ihren Sesseln herum, zwei
faule Säcke... Nichts... liegen nur
Šrum, wie zwei... machen sich breit...
Später, als er mich nach Hause gefahr’n
hat, heult er, schlägt sich auf den
Kopf, sagt, du hast ja alles geseh’n...
Sagt, du hast wenigstens ein Mädel,
hast sie verheiratet, hast keine Sorgen mehr, stolperst nicht wie ich jeden Tag über sie in der Wohnung,
sagt, und was soll ich machen, zum
Donnerwetter noch einmal, ich darf
ja gar nichts sag’n, die werden mich
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noch fortjagen, Šrausschmeißen werden die mich aus meiner eigenen
Wohnung, genau so sagt er, Šraus
werden die mich schmeißen, ich werd’
noch in der Gosse landen, sagt er...
Ach ja, und wenn sie auf dem Land
geblieben wären, wenn ich auf dem
Land geblieben wär’, in der Landwirtschaft, sagt er, und den Grund
nicht, mit Verlaub, genau so sagt
er... wie einen Hurenarsch... durchgehackt... hinter mir gelassen hät’...
nie wär’n sie so gerword’n, sondern...
sondern... sie wären die zwei feschesten und stärksten Jungens in der Gegend geworden, und nicht so... heruntergekommen... verrottet...“
„Die waren schon immer Tölpel...“,
sagt die Frau.
Er wirft seinen Mantel vom Tisch auf
die Stuhllehne, schaut finster nach
draußen, durch das Doppelglasfenster.
„Verflucht und doppelt verflucht
noch mal!“, brummelt er.
Sein Blick stoppt irgendwo in der
Ferne, hinter der verblichenen Häuserspitzen.
Nach einiger Zeit bringt er hervor:
„O weh!“
„Was?...“, dreht sich die Frau erschrocken um.
Er fasst sich mit gespreizten Fingern
an den Kopf. „Nein, nein, ich kann’s
nicht glauben...“, presst er hervor.
Er packt seinen Mantel vom Stuhl,
fängt an, ihn hastig überzuziehen.
„Ferde... Was ist denn?...“
„Des Licht...“, raunt er.
„Was’n, das Licht?!“
„...Koviljka...“, sagt er. „Hab ich doch
vergess’n des Licht auszumachen...“
Sie steht wie versteinert da.
Die Tränensäcke unter ihren Augen
werden noch größer.
„Ferde“, sagt sie, „... was ist nur heute mit dir los, Ferde?“
„Wie, was is’ mit mir los?!“, ruft er.
„...Es brennt schon zwei Tage! Alles
wird abbrennen!“
Er streift wie wahnsinnig mit dem
Blick durch das Zimmer.
„Ferde.“
TIONS
Sie nähert sich ihm.
Sie fängt seinen fassungslosen Blick
auf.
„Ferde, nicht...“, sagt sie.
„Ja, gute Frau!“, ruft er, und kreist mit
langen Schritten durch den Raum.
„Hast du sie noch alle beisammen,
wenn ich’s dir so mal sagen muss!...
Du weißt doch selbst... die Leitungen sind morsch und marode, jetzt
auch noch dieses Unwetter. Das Haus
wird mir in Flammen aufgehen! Hey,
das Haus wird mir IN FLAMMEN
AUFGEHEN!“
Er blickt wild um sich.
Er springt zur Anrichte.
Sein Blick bleibt am Strommesser
haften.
„Und dann noch der Strom?!“, ruft
er. „Und dann zum Donnerwetter
noch der Strom, weißt du, wie viel
heutzutage das Kilowatt Strom kostet, Koviljka?!“, er kramt in der Anrichte herum. „Zwei Tage brennt es
schon...“, ruft er. „Alles wird in Flammen aufgehen.“
Er stellt sich auf die Zehenspitzen.
„Ah, da steckst du“, ruft er aus, zieht
aus der Anrichte ein Taschenmesser.
„Ferde“, sagt die Frau sanft. „...Geh
nächste Woche hin, bis sich dir das
etwas beruhigt hat...“
„Was soll sich da noch groß beruhigen... Ich bin kerngesund“, kommt
es aus ihm geschossen.
Er streichelt ihre Schulter.
„Mach dir doch nicht ständig unnütz Sorgen“, er bückt sich und zieht
die Schnürsenkel an seinen Schuhen
fest. „Du wirst seh’n... wenn du im
Frühjahr hinkommst, wenn wir diese Wohnung verkauft haben, wir alle
dorthin gehen“, sagt er. „Du hast die
Schönheit dort schon vergess’n...
Diese Schönheit, das Grün, diesen
Frieden... All das...“, fügt er hinzu.
Sie geht ans Fenster.
„Ferde“, sagt sie, „...es ist spät jetzt...
dafür... Es gibt im Leben jetzt... wichtigere Dinge.“
„Es is’ nie zu spät“, er zieht den Gürtel an seiner Hose ganz fest an und
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RELA
TIONS
Damir Karaka{
lockert ihn dann ein wenig. „Merk
dir das. Merk dir, in zwei Jahren
wird Šne Handvoll Erde auf dem
Land mehr wert sein, als hier Šne
Handvoll gold. Das merk dir...“
Und in ein paar Jahren, überlegt er,
werden sie und die Tochter und der
Schwiegersohn und der Enkel sich
wegen des Hauses vor ihm bis zum
Boden verbeugen.
Er geht immer schneller und schneller. Mittlerweile hat er schon die
Schwierigkeiten mit seinem Rückgrat vergessen.
Er erreicht den Busbahnhof. Etwa
zehn Minuten hatt er noch Zeit. Im
Stehen trinkt er ein Bier.
Die Fahrkarte kauft er im halbleeren
Bus.
Er nimmt in der Mitte Platz.
Der Bus fährt los.
Er neigt ein wenig den Kopf, auf
dem Glas gleiten Bilder vorbei: Beim
Ausgang der Stadt sind neue Riesengebäude aus dem Boden geschossen.
Rundherum schaufeln Leute, in dicke Mäntel gehüllt, Schnee.
Auf einem der Gebäude hat jemand
in großen Buchstaben geschrieben:
„VINCENT VAN GOGH.“
Er weiß nicht, um wen es geht: Er
denkt, sicher wieder mal so ein beschissener Fußballer.
Später hält der Bus in einer Einöde,
zwei Polizisten kommen hinein; sie
stehen vor dem Fahrer, pusten in die
Hände und verfluchen die Kälte und
den Schnee.
Sie unterhalten sich mit dem Fahrer
darüber, wie ihnen das Auto eben
liegengeblieben ist.
Ferde hört ihnen nicht übermäßig zu,
er starrt in den eisigen Staub, der
von allen Seiten aufsteigt.
Er beobachtet die schummrigen Lichter der vereinzelten Häuser.
Eine Frau kommt aus dem Stall, sie
trägt eine Petroleumlampe vor sich
hin.
Er denkt an Koviljka.
Lächelt.
Er musste Koviljka wegen der Sache
mit dem Licht anlügen.
Er überlegt, manchmal ist es besser
zu lügen, als dass sie sich streiten und
grundlos ihre Nerven strapazieren.
Nachdem er aus dem Bus in den
weichen Schnee gesprungen ist, biegt
er hinter der baufälligen Kirche ab
und streckt seinen Schritt auf dem
kurvigen, schneeverwehten Weg den
Bergen entgegen: Er stampft, kämpft
sich durch; der Schnee reicht ihm
bis zu den Knien.
Schnell verwischt er seine Spuren.
Rundherum aus dem tiefen Wald
hört man das asthmatische Pfeifen
des Sturms: Er schreitet und lauscht
sorgfältig diesen Geräuschen.
Er verschärft seinen Gang, ist ganz
weiß geworden vom Schnee: Das
Schneegestöber verstärkt sich.
Ein wenig später hält er an, um sich
auszuruhen, er dreht sich um, reibt
sich die durchfrorene Nase und erblickt auf fünfzig Metern Entfernung einen Hund.
Er hebt die Augenbrauen.
Er ist froh darüber, ihn zu sehen.
„Hey, Freund“, ruft er. „Was machst
du denn hier, Freund?“
Der Hund beobachtet ihn aus der
Ferne.
„Komm“, sagt Ferde und schlägt sich
aufs Knie.
Der Hund bewegt sich nicht einmal.
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Er macht sich auf den Weg Richtung Dorf: Der Hund geht, wie an
einer Leine gezogen, ihm gleichzeitig langsam nach.
Ferde läuft und wendet sich von Zeit
zu Zeit flüchtig um.
Der Hund folgt ihm.
Ihm pflegten in der Stadt oft verlassene Hunde zu folgen.
Manchmal bis an den Eingang ins
Gebäude.
Einige sind ganz nah an ihn gekommen, sahen ihn mit traurigem Blick
an, wie sie nur Hunde haben können.
Dann war es ihm immer schwer ums
Herz.
111
Er liebte Hunde, auf dem Land hatte
er immer einen Hund, aber, überlegte er, ein Hochhaus ist nichts für
einen Hund.
Nein und nochmals nein.
Er verlängert seinen Schritt energisch.
Er geht.
Sie gehen etwa eine halbe Stunde,
einer nach dem anderen, immer auf
gleicher Entfernung.
Wenn Ferde stehen bleibt, um auszuruhen, bleibt der Hund, als ob sie
es so abgemacht hätten, auch stehen.
Es tut ihm Leid, dass er kein Stück
Brot bei sich hat, um es ihm zuzuwerfen.
Wem der wohl gehören mag, überlegt er, es gelingt ihm nicht zu sehen,
ob er ein Halsband umhat.
Sicherlich wieder ein Streuner, überlegt er... Jemand wollte ihn loswerden und hat ihn unten auf der Straße
aus dem Auto geschmissen.
Aber groß ist er, wie ein Wolf.
Dieses Bild bringt ihn für einen Moment zurück in die Jugend.
Als junger Mann, zur Zeit der Hetzen auf Wolfsrudel, die in den Bergen Schafsherden angriffen und in
die Pferche einfielen, pflegte er sie
zusammen mit den anderen Dorfbewohnern dutzendweise zu töten.
Danach haben sie sie stolz auf Holzschlitten durch das Dorf gefahren;
hinter ihnen blieb im Schnee eine
lange, blutige Spur.
In der Faschingszeit, als sie im Dorf
Speck und Eier einsammelten, haben sie Wolfspelze voll mit bissigem
Wolfsgeruch über den Kopf gezogen, die Wölfe nachgemacht und laut
geheult.
„Auuuuu, ha, ha, ha“, beginnt Ferde
zu heulen. „Auuuuu, ha, ha, ha...
Auuuu...“
Dann, zum ersten Mal seit dem Besuch beim Chiropraktiker, spürt er
im Kreuz einen bohrenden Schmerz:
Er bückt sich langsam zur Probe.
Er hält mit krampfverzerrten Gesicht
ein.
Er ist außer sich.
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RELA
August
Bei jedem weiteren Schritt verstärkt
sich der Schmerz im Kreuz: Ein paar
Mal durchsticht es ihn auch im rechten Bein, was ihm noch nie passiert ist.
Er bemüht sich, den Schmerz zu ignorieren und weiterzugehen.
Ein paar Mal fällt er in den Schnee
auf die Knie.
Er richtet sich nur mühsam auf.
Er läuft weiter mit irgendwelchen
unfertigen Schritten.
Ferde beschließt vor Elend, zu singen. Er singt, was ihm als erstes in
den Sinn kommt.
„Oyyyy, den Esel trieb der Woooolf,
trieb der Wooo, trieb der Wooolf,
ooooooo
so er sich zu Fleisch verhooooolf...“
Der Hund bleibt, als ob ihn diese
Worte erschrecken, stehen und Ferde
beginnt im Rhytmus: Wenn ihm jemand von der Seite zugehört und seine Bewegungen während des Singens
beobachtet hätte, besonders mit der
Mütze, die sein Schwiegersohn einmal bei ihnen vergessen hat, würde
er denken, Ferde sei irgend so ein
Rapper-Veteran, der sich verlaufen hat.
„Los, du Langohr, gib nicht auf
Schlag die Wölfe über’n Hauf
Schlag du immer nur darauf
Und dann lauf, fort fort lauf...“
Der Schmerz ist unerträglich, er singt
und läuft.
Von oben herab drückt die Dunkelheit auf den Schnee immer mehr.
Er singt und flucht.
Er läuft und denkt durch die Flüche
hindurch über seine Tochter nach,
sucht einen Weg, den schrecklichen
Schmerz zu vergessen.
Er flucht.
Er verflucht das Rückgrat und den
Chiropraktiker und die Tochter.
Und die ganze Welt.
Es gefällt ihm nicht, dass sie vor zwei
Monaten angefangen hat, als Organisatorin von irgendwelchen Konzerten zu arbeiten, für diese Jugend-
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lichen, die sich die Haare färben und
ganz durchlöchert sind, und all das
für einen Hungerlohn.
Dabei hat sie einen Juraabschluss.
„Ihr Schmarotzer“, ruft er, „denkt
ihr, ich werde euch durchs Leben
finanzieren?!“
Vieles gefällt ihm in letzter Zeit bei
ihr nicht.
Einmal, als sie sich auch die Nase
hatte stechen lassen und so nach
Hause gekommen war, konnte er es
nicht glauben.
Für ihn sah es aus, als ob sie sich
einen Nagel in die Nase geschlagen
hätte.
Wenn es nicht Koviljka gegeben hätte, hätte er ihr sowohl die Nase als
auch diesen Ohrring herausgerissen.
Später wurde sie von diesem Musiker schwanger.
„Denkt ihr, ich werde euch im Leben durchfüttern?“, ruft er wütend
und blickt hinter sich auf den Hund.
„Und du, spielst deine Gitarre den
ganzen lieben Tag lang!“, er presst
die Zähne vor Schmerzen zusammen. „Du und deine beschissene
Gitarre...“
Dann hört Ferde vor sich das Gebäll
der Hunde aus dem Dorf. Dieses
wild gewordene Bellen und an den
Ketten Zerren scheint ihm wie die
schönste Melodie.
Er bekommt neue Kraft.
Er denkt, noch ein bisschen. Nur noch
ein bisschen. Noch einen Schritt...,
denkt er.
Aber je mehr er sich dem Haus nähert, desto stärker wird der Schmerz:
Seine Augen pulsieren, als ob sie zerspringen würden.
Er zieht einen langen, hohlen Messingschlüssel aus der Tasche.
Er hält sich krampfartig mit den Fingern an der Hose, darauf achtend,
dass ihm der Schlüssel nicht aus der
Hand fällt, mit den Armen hebt er
seine Beine vom Boden.
Er stöhnt, zerrt die wehen Beine aus
dem Schnee.
TIONS
Sein Haus ist hinter dem Hügel,
gleich am Anfang des Dorfes, man
kann es noch nicht sehen.
Noch ein bisschen... Er beruhigt seinen Atmen.
Dann taucht aus dem Weiß dieser
Hund auf.
Ferde hält mitten in der Bewegung
inne... Er sieht besser hin.
Erst dann begreift er... DAS IST KEIN
HUND... SONDERN EIN WOLF.
Er sieht ihn an.
Er bricht in kalten Schweiß aus.
Er steht vor dem Wolf, der ihm jetzt
viel größer erscheint. Eigentlich, noch
nie im Leben hat er einen größeren
Wolf als diesen gesehen, noch eine
so lange gefletschte Schnauze.
Er ist sicher, dass er vorhat ihn anzugreifen. Er erkennt das an seinen aufgerichteten Ohren.
Furcht überkommt ihn, er hat Angst,
sich von der Stelle zu rühren.
Er will ihm, er will ihm in seiner Verzweiflung sagen: „...La, laaass mich...
Maa, Mann... Geh... Geh doch weg...
Du siehst doch, das ich eigene Sorgen habe...“
So schlug sein Großvater einmal Holz
im Wald und ein Bär stellte sich über
ihm auf die Hinterbeine.
Der Großvater legte ruhig seine Axt
beiseite und sagte: „Kümmer’ dich,
lieber Bär, um deine Sachen, was
willst du mit mir, ich bin alt.“
Und der Bär ging weg.
Aber Ferde überkommt Wut.
Er, er, Ferde Vidakovi} soll vor einem Wolf Angst haben.
Und das vor einem einzigen.
Er, der es einmal geschafft hat, mit
bloßen Händen sogar drei Wölfe zu
verjagen, als sie ihm die Herde angegriffen hatten.
Danach begreift er, dass er nicht
mehr den Wolf ansieht, sondern seine gespreizten Finger.
Er ist bereit, ihn zu erwürgen, wenn
es sein muss.
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RELA
TIONS
Damir Karaka{
Und es wird sein müssen, überlegt er
durch seine zusammengepressten
Zähne.
Trotzdem, er hat immer noch Angst,
sich von der Stelle zu rühren.
Da fällt ihm etwas ein.
„Na, na, na, jetzt bist du dran! Na,
jetzt bist du dran, Gevatter!“ ruft er
und beschießt den Wolf mit Blicken.
„Ha, ha, ha... Na, jetzt kriegst du’s,
Gevatter, aber reichlich dicke!“, er
zeigt ihm triumphierend das kleine
Messer. „HA, HA, HA...“
Mit diesem kleinen Messer und gesunden Armen hat er nun überhaupt
keine Angst mehr vor ihm.
Er geht los. „Ha, ha, ha...“
Bisweilen, um sich noch mehr Mut
zu machen, holt er aus und streicht
mit der Daumenkante über die kurze
Schneide.
„Komm!“, ruft er dem Wolf zu und
das Tal wird vom Echo seiner Stimme erfüllt. „Komm! Komm, wenn’s
dich traust! Komm, damit ich dir
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Maß nehmen kann! Ha, ha, ha, ha,
ha, ha...“
Die letzten fünfzig Meter bis zum
Haus fängt Ferde an, seitwärts zu laufen, dann rückwärts, die ganze Zeit
jenes kleine Messer vor sich haltend.
Er holt die letzten Atome seiner Kraft
aus sich heraus.
Der Wolf geht hinten, immer mit
gleichem Schritt: Doch die Entfernung verkleinert sich so sehr, dass
ihn Ferde fast mit seiner Spucke erreichen kann. „Was is’?! Du Lumpenhund! Komm! Dein beschissenes Gedärm werd’ ich dir rausreißen!“,
ruft er mit größter Anstrengung, er
hat gar keine Stimme mehr: Der
Atem fließt ihm das Kinn hinunter.
Er neigt ein wenig den Kopf...
LICHT.
Er ist verwirrt.
IM HAUS BRENNT LICHT.
Er lacht blöde. „Ha, ha, ha...“
113
In diesem Augenblick – stürzt sich
der Wolf auf ihn.
Danach rollen beide den Schnee hinunter.
Sobald er schmerzvoll nach hinten
knickt, wird es Ferde schwarz vor
Augen, aus den Händen fallen ihm
sowohl das kleine Messer als auch
der Schlüssel; im nächsten Ansturm
durchstößt der Wolf seine Arme und
beißt ihn in den Hals: Er begräbt ihn
unter sich.
Ferde beißt die Zähne zusammen,
schüttelt den Kopf, versucht, ihn einige Male von sich zu lösen.
Danach versucht er, einen Schrei von
sich zu geben.
Noch einige Zeit wehrt er sich verzweifelt.
In Kürze beginnt der dichte Schnee
ihn zu bedecken, wieder allem die
Form verändernd.
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
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August
TIONS
Ich sag es dir, wenn wir da sind
Marijana bleibt stehen, blickt sich
um.
Sie geht, im Mondlicht leuchten ihre
kräftigen Waden weiß.
Sie läuft die treppenartige Straße hinunter, beugt sich unter den Laken
hindurch, die ausgebreitet sind, um
den Hintereingang ins Gebäude zu
verdecken, betritt die Wohnung.
Sie machte die gelbe, trübe Glühbirne an: Das Licht zerfließt langsam.
„Eeevchen!“
Aus dem Zimmer kommt ein schlankes Mädchen.
Es reibt sich das Auge mit dem Finger.
Marijana zieht mühsam ihre Schuhe. „Evchen...“, sagt sie.
Das Mädchen sah sie an.
„Was haben wir denn ausgemacht?“
„...Dass... ich nicht dorthin gehe...“
„Und...“
Das Mädchen hält dem Blick der
Frau nicht stand.
„Wo ist denn dein Bett?“, fragt sie.
„Evchen?“
„Da“, presst das Mädchen heraus.
„Also...“
Marijana schüttelt ihr Kniegelenk:
Sie streift den Strumpf vom Bein.
„Und du hast wieder...“
„Mutti, ich werd’s nicht wieder tun“,
murmelt es.
Marijana riecht am Strumpf.
„Wie oft hast du das bis jetzt schon
gesagt?“, sie wirft den Strumpf auf
die Schuhe.
„Mutti. Ich versprech’s.“
„Nein, wirst du nicht“, murmelt sie.
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Sie geht zum Herd. Sie starrt lange
in den Topf.
Sie dreht sich um.
„Versprochen.“
„Versprochen!“
„Also gut“, sie hebt den Zeigefinger.
„Aber, pass auf, das ist das letzte
Mal.“
Das Mädchen springt fröhlich auf.
„Hat dir das aus der Schüssel heute
gut geschmeckt?“, fragt Marijana.
Es nickt. „Ja.“
„Willst du jetzt was?“
„Nein.“
„Dann geh jetzt in dein Bett, los“,
flüstert sie. „Los, Liebes. So wirst du
dich erkälten.“
Das Mädchen kriecht unter die Decke, beginnt am Daumen zu saugen.
Marijana bückt sich, kratzt sich an
der Fußsohle und schaut auf den Zylinderschlüssel im Schloss: Sie streckt
den Arm aus und prüft, ob abgeschlossen ist. „Hat heute vielleicht
jemand geklopft?“
„Nein...“
„Du sollst auf keinen Fall jemandem
aufmachen.“
„Ich weiß“, sagt es mit dem Daumen
im Mund.
„So ist es Recht“, sie küsst das Mädchen auf die Stirn. „Der Mama muss
man gehorchen.“
Das Mädchen zieht den feuchten
Daumen aus dem Mund.
„Mutti?“, sagt es mit klingender Stimme.
„Sag...“
Das Mädchen beginnt, mit dem Finger an die Wand zu malen.
„Wann wirst du den Fernseher reparieren?“
Marijana denkt einen Moment nach.
„Bald“, sagt sie.
Dann sieht sie auf den Bildschirm:
Darüber hängt das Foto eines Mannes
in Kriegsuniform: Wenn der Trauerflor nur ein paar Zentimeter tiefer
gewesen wäre, würde es aussehen, als
ob der Mann eine Augenbinde trägt.
„Mutti“, meldet sich wieder das Mädchen.
Marijana schiebt mit dem Fuß die
Schuhe zurecht. Sie nimmt einen
und schaut auf die abgelaufene Sohle.
„Sag...“
„Kann ich dich was fragen?“
„Frag?“
„Mutti“, sagt es, „...leben Schwarze
unter der Erde?“
Marijana lächelt.
„Natürlich nicht.“
„Warum sind sie dann so schwarz?“
„...Weil sie eben schwarz sind...“,
sagt sie. „Schlaf jetzt, los. Alle Kinder schlafen schon.“
Sie macht das Licht aus und geht
zum Badezimmer.
Sie lässt den stärksten Wasserstrahl
laufen.
Lange reibt sie sich die Haare, das
Gesicht, die birnenförmigen Brüste... Danach reibt sie sich fest mit
dem Handtuch ab. Sie küsst das
Mädchen und geht auf Zehenspitzen in den anderen Raum.
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TIONS
Damir Karaka{
Sie verkriecht sich unter die flauschige
Decke, dreht sich auf die Seite zum
Fenster, versucht einzuschlafen.
Er kommt herein: Der Schatten eines langen Bartes wird auf der Wand
lang.
Er entkleidet sich, zieht die Ärmel
aus dem Mantel. Er hängt ihn an
einen über der Tür eingeschlagenen
Nagel, streckt sich geschmeidig, berührt mit den Handflächen die Zimmerdecke. „Schläfst du?...“, sagt er,
ohne sich umzudrehen.
„Nein.“
Er setzt sich neben sie. Er kratzt sich
am unordentlichen Bart.
„Und was?...“
„Ich kann nicht...“
Er zieht eine Packung Zigaretten
heraus.
Er steckt sich eine Zigarette in den
Mund. „Wo ist die Kohle“, sagt er.
„In der Schublade.“
Er nickt und nimmt die Zigarette
zwischen die Finger.
Langsam steht er auf. Unter der niedrigen Decke scheint er noch größer.
Er lehnt sich gegen die Wand, zieht
die Hose hoch und sieht durch das
Fenster.
„Für morgen, da ist so ein Alter“,
sagt er.
Sie nickt.
Mit den Zähnen verschiebt er die
Zigarette im Mund. Er geht zum
Fenster, späht hinaus.
„Der gestern... das Arschloch...“, sagt
er, „ich hab’ die Scheiße aus ihm
rausgeprügelt.“
Er wischt sich mit dem Ärmel die
Nase ab. „Da schaust’... wie er’s hergibt...“ sagt er. „Wie schnell man’s
hat.“
Sie flüstert: „Dugi...“
Er gibt mit dem Kopf ein Zeichen,
dass er zuhöre.
Sie schwieg.
„Dugi... Ich habe Angst...“
Er sieht sie über die Schulter an.
„Wovor?“
„Vor allem...“
Sie wechseln noch einmal die Blicke.
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Er sagt: „Das ist gefälligst das letzte
Mal, dass du das sagst.“
Er steckt sich die Zigarette in den
Mund, zündet sie mit dem Feuerzeug an.
„Ist das klar?!“
Sie sagt: „Dugi...“
Er nähert die Zigarette seinen Augen
und schaut in die Glut.
„Du weißt ganz genau“, sagt er. „
Wenn du mit mir bist... dass du vor
nichts Angst zu haben brauchst.“
„Weißt du das?“, fragt er sie.
„Ich weiß.“
„Dann erzähl keinen Stuss“, sagt er.
Er schweigt und raucht.
Er kommt zu ihr, streicht ihr über
das Haar, drückt die Hälfte seiner
Zigarette in einem Flaschenverschluss
aus. Er zieht ein gebogenes Jagdmesser aus dem Gürtel, verschiebt den
Nachttisch auf seiner Seite des Bettes.
Er kniet sich hin. Er löst mit der Klinge etwa ein Dutzend Parkettbretter:
Dahinter erscheint ein größeres Loch.
Zuerst zieht er eine Pappschachtel
für Schuhe heraus, danach einen
Plastikbeutel mit zwei kleineren in
breites Klebeband gewickelten Päckchen. Er stopft ein Päckchen in seine
Jackentasche, legt den Beutel auf den
Boden des Lochs zurück, stellt die
Schachtel darauf. Dann ordnet er die
Parkettbretter sorgfältig darüber.
„Du wirst schon sehen, was das ist...“
sagt er. „Der Himmel auf Erden...
und nicht das hier. Dies ist eine
Senkgrube und kein Staat.“
„Dugi“, flüstert sie.
Sie umarmt ihn.
Sie nimmt seine Hand und küsst sie.
„Dugi“, sagt sie.
Er nickt ihr zu, gierig einen neuen
Zug machend.
„...Dugi...“, sagt sie, „ich möchte,
dass wir glücklich sind.“
Er steht langsam auf, watschelt zum
Fenster. Er sieht durchs Fenster. Er
winkt jemandem zu.
„Wir verlassen doch nicht diese Scheiße,“, presst er heraus, „um unglücklich zu sein.“
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Kurz darauf hinterlässt er ihr auf dem
Nachttisch ein Stückchen gefaltetes
Papier.
Er zieht das Handy heraus, stopft es
zurück in die Tasche.
„Wir seh’n uns“, sagt er.
„Wann kommst du?“, sagt sie.
„Weiß ich nicht. Wir sehen uns.“
Er nimmt seinen Mantel und geht.
Sie steht auf, schaut durchs Fenster
und sieht ihn, wie er sich mit noch
jemandem zusammen die Straße entlang entfernt. Dugi und ihr verstorbener Mann waren die besten Freunde.
Sie lernte sie kennen, als sie im Gasthaus neben der Kaserne als Kellnerin
arbeitete.
Als @or` gefallen war, war Evchen
nur einen Monat alt.
Dann hört sie das Öffnen einer Tür
hinter sich.
„Mutti.“
Sie wendet sich um.
Sie rückt das Kissen zurecht und legt
sich hin.
„Sag?“
„Ich möchte ein bisschen zu dir...“
„Evchen...“, sagt sie, „du suchst wirklich eine Tracht Prügel.“
Es hüpft ungeduldig auf.
„Mutti!“
„Los, komm herein“, sagt sie. „Aber,
dass mir das das letzte Mal ist.“
Das Mädchen verkriecht sich im
Laufschritt neben sie: Es lutscht am
Daumen, sein Näschen bewegt sich.
Marijana späht unter die Decke.
„Ein großes Mädchen“, sie schüttelt
den Kopf, „und du lutschst immer
noch am Daumen.“
Sie macht die kleine Lampe aus,
verkreicht sich tiefer unter die Decke, umfasst seine mageren Beinchen
und zieht sie zwischen ihre warmen
Schenkel.
„Mutti“, lugt das Mädchen hervor.
„Mutti...“
„Was ist jetzt?“
„Kann ich dich was fragen.“
„Sag.“
Es nimmt seinen Daumen heraus.
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August
„Haben Raupen einen Mund?“
„Nein.“
„Wie essen sie denn dann?“
„Sie essen“, sagt sie, „...sie müssen
etwas futtern.“
Sie hat geduscht.
Draußen fließt der Regen die Blechrinne hinab: Sie starrt aus dem Bett
in das trübe Fensterglas.
Sie steht auf und sucht mit den Füßen ihre Pantoffeln.
„Evchen, doch nicht barfuß“, sie
dreht sich um. „Bleib, bis Mama ein
wenig in der Küche Ordnung gemacht hat!“
Das Mädchen kehrt unter die Decke
zurück.
Sie geht wieder unter die Dusche. Als
sie fertig ist, zieht sie den Bademantel
an und geht in die Küche. Sie zieht
aus der Anrichte einige Kartoffeln.
Sie schält sie.
Danach legt sie sie in einen Topf mit
Wasser, macht den Herd an und
kehrt ins Bett zurück. Das Mädchen
schläft in Fötusstellung. Sie geht später in die Küche, beginnt das Geschirr abzuspülen. Sie scheuert es von
allen möglichen Seiten.
Sie setzt sich auf die Couch, wischt
sich mit dem Handrücken die verschwitzte Stirn ab.
Sie sitzt und lauscht, wie der Guss
irgendwelche Büchsen die Straße hinabrollt.
Dann steht sie auf, zieht aus der Anrichte zwei Sardinendosen, mischt
sie unter die gekochten Kartoffeln,
dann zerdrückt sie das alles gründlich mit einem Löffel. Die Masse verteilt sie in zwei flache Teller.
Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch,
gießt einen Krug Wasser voll, geht
zur Zimmertür und macht sie leicht
mit dem Daumen einen Spalt auf.
„Komm essen!“, ruft sie.
Das Mädchen ist unter der Decke:
Es rührt sich nicht einmal.
Marijana schüttelt den Kopf.
„Wenn ich dir gesagt hätte, du sollst
schlafen“, sagt sie, „dann wärst du
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schon am Tisch und würdest dein
Mittagessen verlangen, ha? Nicht
wahr?“, sagt sie lauter.
„Ja“, hört man unter der Decke.
Dann steht es plötzlich auf, zieht seine Pantoffeln an und läuft Marijana
hinterher.
Das Mädchen setzt sich an den Tisch,
lehnt auf seinen Ellbogen und reibt
sich die Augen mit den Fingern: Es
beginnt hastig zu essen.
„Langsaaam!“, sagt Marijana. „Es
nimmt dir ja keiner weg.“
Doch es beginnt noch schneller zu
essen: Es isst und wirft ständig einen
Blick auf die riesige Wanduhr mit
verblichenen römischen Ziffern, aus
der ein kleiner Vogel herauslugt und
kuckuck ruft. Ein paar Sekunden
bevor der kleine Vogel herausfliegt,
steht das Mädchen mit vollem Mund
plötztlich auf, nähert sich der Uhr und
hebt seinen Blick zur Öffnung – „eins,
zwei, drei...“ – zählt es aufmerksam.
Als sich der kleine Vogel ins Loch
zurückzieht und als sich hinter ihm die
kleine zweiteilige Tür glatt schließt,
springt das Mädchen plötzlich auf,
bricht in Gelächter aus.
Es sieht auf die Uhr, wiegt sich, lacht.
„...Evchen“, Marijana wirft ihr einen warmen Blick zu, „komm... das
Essen wird kalt.“
Es kommt zurück, isst.
Marijana wischt sich mit der Hand
den Mund ab.
„Was wirst du jetzt tun?“, sie kratzt
sich an der Augenbraue.
„Und wohin gehst du?“
„Arbeiten“, sagt sie. „Ich komm’ bald
zurück... Dann können wir neue
Buchstaben lernen.“
Das Mädchen nickt.
Marijana steht auf, geht in den anderen Raum, zieht sich an. Dann spaziert sie ins Badezimmer, schminkt
sich. Sie hat einen roten, engen Rock
an, einen Pullover, darüber einen
grauen Trenchcoat.
Sie nimmt aus der Badewanne den
Regenschirm, wirft die Handtasche
über die Schulter.
TIONS
„Sei brav. Und mach niemandem die
Tür auf. Mama kommt bald zurück... Leg das Heft und den Bleistift zurecht.“
„Wo sind die denn?“
„Wer hat als letzter geschrieben? Du
oder die Mama?“
„Ich.“
„Dann hast du sie auch zu finden.“
Sie geht hinaus, beugt sich unter den
Laken. Es beginnt zu nieseln. Die
Blätter kleben an ihren Schuhen.
Nach einer halben Stunde erreicht sie
ein grellgelbes Gebäude umgeben von
Zypressen. Mit den Fingern entfernt
sie die Blätter von den Schuhen.
Sie sieht sich um, geht in den Hof,
wirft einen Blick zur Spitze des Gebäudes und klingelt.
Während sie wartet, schaut sie heimlich unter dem Rand des Regenschirms
in die riesigen Balkone, darauf wartend, dass oben jemand erscheint.
In der Tür erklingt eine metallener
Klang.
Sie geht hinein.
Sie macht den Regenschirm zu.
Sie steigt die Wendeltreppe herauf. Sie
kommt schnell nach oben, lehnt den
Regenschirm daneben und klingelt.
Sie wartet, schaut auf ihre Schuhe.
Jemand sieht durch das Guckloch.
Sie zieht sich aus, mit nackten Brüsten. Unter einem starken Lichtstrahl.
Sie zieht mit den Daumen ihr Höschen aus.
Sie gleitet langsam auf dem Parkett,
lehnt sich mit dem Rücken gegen
den Schrank: Sie schließt ihre Beine
in den Knien, dann, wie der Alte es
verlangt hat, spreizt sie sie und stützt
sich stärker mit ihren Handflächen
ab; er lehnt mit dem Arm am Klavier, beobachtet sie.
Er zieht den Atem tief ein: Er gibt
ein knarrendes Geräusch von sich.
Unter dem anderen Arm hat er eine
metallene, mit Gravuren verzierte
Schachtel.
Danach spitzt er nachdenklich den
Mund, beginnt sich ihr wortlos zu
nähern.
14.4.2009, 20:30
RELA
TIONS
Damir Karaka{
Als er nur noch zwei Schritte von ihr
entfernt ist, bleibt er stehen, atmet
ein, geht langsam wieder zwei Schritte zurück.
Dann misst er noch einmal sorgfältig mit dem Blick die Entfernung
zwischen den Spitzen seiner Schuhe
und ihrer gleichgültigen Möse. Auf
den Boden stellt er, begleitet von einem Geräusch, das im Gluckern des
heißen Wassers in den Heizungsleitungen verloren ging, langsam die
Schachtel. Er zieht ein Hosenbein
nach oben und stützt sich vorsichtig
auf dem Knie dieses Beines ab.
Aus der Schachtel nimmt er eine
Murmel: Mit dem Daumen schickt
er sie gemessen zwischen Marijanas
gespreizte Beine.
Sie ist nicht überrascht, die Leute haben schon die verschiedensten Dienste verlangt.
Der Alte beugt sich zur Seite, verfolgt die Bahn der Murmel.
Die Murmel rollt langsam: Sie spult
das Licht auf.
Als das Glas endlich die Scham berührt, nickt der Alte und reibt sich die
Hände: Er nimmt eine neue Murmel.
Sie erreicht das Gebäude.
Sie geht hinunter in den Hof, blickt
sich um und rückt die Laken auf
dem Strick hinter sich zurecht.
Das Mädchen schläft mit dem Finger im Mund, neben dem Bett sind
Heft und Bleistift.
Sie geht ins Badezimmer, wirft die
Kleidung ab, stellt sich unter die
warme Dusche.
Sie trocknet sich ab.
Sie rubbelt mit dem Handtuch ihr
Haar trocken.
Dann nimmt sie die Murmel.
Sie scheuert sie mit der Handbürste.
In einem Augenblick reißt die Bürste ab, fällt hinter die Waschmaschine. „Scheiße“, sagt sie. Sie versucht
sie zu erreichen, schafft es nicht. Sie
nimmt eine alte Zahnbürste. Damit
scheuert sie die Murmel.
Die Bürste wirft sie hinter die Waschmaschine.
Sie kriecht ins Bett, schiebt ihre Arme
unter den Kopf, schläft in Kürze ein
und träumt von Sonne, Meer, Sonnenschirmen...
Sie hat Durst.
Sie steht auf, um Wasser zu trinken.
Sie lauscht.
Sie nimmt den Regenschirm und
geht hinunter auf die leere Straße.
Es ist noch nicht ganz dunkel geworden, obwohl es ihr in dem Zimmer
mit den heruntergelassenen Rollläden schien, dass draußen die tiefstmögliche Finsternis ist. Mit den Fingern überprüft sie das Geld des Alten in ihrer Handtasche.
Sie geht am Park vorbei. Die Straßenleuchten werfen eine trügerische Wärme um sich.
Die meisten sind zerschlagen, voll
mit versengten Mücken. Dann steckt
sie ihre Hand in die Tasche, bleibt
stehen und hebt die polierte Murmel unter der Leuchte auf das Licht.
Sie dreht sie.
Auf alle Seiten.
Sie läuft schneller zur Wohnung.
Sie geht, in der Tasche drückt sie die
Murmel.
Sie hört Schritte, macht die Nachttischlampe an.
Er kommt auf Zehenspitzen hinein.
Er setzt sich neben sie und steckt
sich eine Zigarette an.
Er spricht kein Wort.
Dann sagt er: „Mach die Augen zu!“,
er sieht sie an.
„Wie bitte?...“
Sie ist durcheinander.
„Mach die Augen zu!“, lacht er. „Dann
wirst du’s wissen.“
„Dugi... was ist passiert?...“, sie setzt
sich auf.
Er umarmt sie.
„Morgen“, sagt er, „...GEHEN WIR
FORT.“
Im ersten Moment reagiert sie überhaupt nicht.
Dann kommen ihr die Worte, die er
ausgesprochen hat, langsam ins Bewusstsein.
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117
Sie stemmt sich mit dem Rücken gegen die Wand.
Sie starrt ihn an: Ihre fleischigen Lippen zittern.
Er lässt den Rauch durch die Nase,
blickt dem Rauch hinterher.
„Die Bullen sind mir auf der Spur“,
sagt er.
Er macht einen tiefen Zug. „Aber...
die können... mich mal...“
Er zwinkert ihr zu. „Für den Anfang“, sagt er, „haben wir sowieso
genug.“
Er beugt den Kopf zu ihr.
„Was ist jetzt los?“, lacht er.
Sie umarmt ihn kräftig und beginnt
leise zu schluchzen.
Sie verkriecht ihren Kopf in seine
hagere, behaarte Brust.
Er streicht ihr über die Haare, zerdrückt in einem Flaschenverschluss
eine halbe Zigarette.
Er kratzt sich die Brust mit den Fingernägeln.
„Dugi“, schluchzt sie.
Sie umarmt ihn noch stärker.
„Dugi“, sagt sie, „ich bin, ich bin so
glücklich.“
Nach einigen Minuten entzieht er
sich langsam ihrer Umarmung.
Dann zieht er sich aus, geht ins Bett
und macht die Lampe über sie hinweg aus.
Einige Zeit schweigen sie, berühren
sich zärtlich mit den Händen.
Zwischen seinen Fingern quellen ihre
Brustwarzen.
Sie streckt sich ihm immer mehr
entgegen.
Dann nimmt sie sein steifes Glied
und steckt es zärtlich in sich hinein.
Sie nistet sich ein, umfängt ihn fest
um die Taille und schläft in Kürze so
ein. Als sie am Morgen ihre Augen
öffnet, kramt er im Loch im Parkett
herum.
Er trägt neue Kleidung, ist glatt rasiert.
Sie hat ihn schon lange nicht mehr
ohne Bart gesehen.
Er nickt ihr zu und fährt fort ruhig
herumzukramen.
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RELA
August
Die Blechschachtel mit dem Geld
stellt er auf den Nachttisch, danach
packt er alles aus dem Loch in eine
Tasche: Am Ende legt er die Parkettbretter sorgfältig auf das Loch.
Er schiebt den Nachttisch darüber.
„Schlaf weiter“, sagt er und legt die
Schachtel mit dem Geld oben in die
Tasche hinein. „...Ich geh jetzt all
das zusammenpacken, tauschen,
noch einige Sachen erledigen, ich bin
am Abend hier, um neun herum,
höchstens Viertel nach neun“, sagt
er. „Seid bereit... Und pack nur das
Notwendigste... Okay?“, er zwinkert.
„Dugi...“, sagt sie.
Sie umarmt ihn.
„Pass gut auf diese Pässe auf“, sagt er
zu ihr. „Pass auf, dass du nicht was
vergisst.“
Sie flüstert: „Mach dir keine Sorgen.“
Er beugt sich zu ihr, küsst sie auf den
Mund. Sie umarmt ihn und erwidert seinen Kuss, kann sich kaum
von ihm trennen.
„Dugi...“, sagt sie. „Ich liebe dich.“
Er wirft die Tasche auf den Rücken.
„Lass das jetzt“, sagt er. „Dafür wird’s
noch Zeit geben.“
Sie schläft ein. Sie schläft bäuchlings.
Das Knarren der Tür weckt sie.
„Schläfst du, Mutti?“
Sie dreht sich auf die Seite und stützt
sich mit dem Ellenbogen auf.
Sie starrt auf das Mädchen.
„Kann ich... zu dir ins Bett?“, sagt es.
„Komm.“
Sie wartet, bis das Mädchen neben
ihr liegt, dann dreht sie sich auf den
Rücken. Sie umarmt das Mädchen
kräftiger. Sie sagen nichts, liegen sich
so in den Armen.
Auf einmal kommt ihr ein Gedanke,
sie streckt plötzlich den Arm zur
Schublade aus.
Sie ballt ihre Faust, schiebt sie dem
Mädchen unter die Nase.
„Schau, was ich hab’“, sagt sie.
Sie lacht.
Das Mädchen nimmt den Finger aus
dem Mund, starrt auf die Faust.
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„Mutti, was ist das?“
„Rate mal.“
„Ein Bombon.“
„Nein.“
„Doch. Ich hab’s gesehen.“
„Nein.“
Es versucht, ihre Faust zu öffnen.
„Gib mir das Bombon“, sagt es.
„Es ist kein Bombon...“, sagt sie.
„Etwas viel, viel Schöneres“, sie neigt
den Kopf.
„Mutti, gib schon endlich“, sagt es.
„Ich halt’s nicht mehr aus.“
Marijana beobachtet ihre Tochter:
Sie öffnet die Faust.
Das Mädchen weitet die Augen.
„Oooh...“, lässt es bewundernd verlauten und nimmt die bunte Glasperle.
Sie steht in ihre Schuhspitzen versunken da.
Sie zieht zwei Koffer unter dem Bett
hervor, packt Sachen hinein. Sie
streckt sich über den Fernseher, nimmt
jenes Foto von der Wand, wischt es
ab und steckt es vorsichtig in einen
der Koffer.
Dann macht sie die Nachttischschublade auf, nimmt den blauen Umschlag mit den Ausweisen, zieht sie
heraus und steckt sie in ihre Handtasche.
Nach einer halben Stunde lugt sie
ins Zimmer.
„Evchen, zieh dich an!“, sagt sie laut.
„Beeil dich!“
„Mutti“, sagt das Mädchen, „wohin
gehen wir?“
„Auf eine Reise.“
„Wohin?“
„Ich sag es dir, wenn wir dort sind.“
Kurze Zeit darauf sitzen sie am Tisch
und warten. Das Mädchen ist schläfrig. Es öffnet und schließt müde seine schweren Lider.
„Willst du noch was essen?“
Das Mädchen schüttelt schlaftrunken den Kopf.
„Werd’ mir nur nicht hungrig, wenn
wir beim Aufbrechen sind“, sagt sie.
Das Mädchen gähnt. „Werd’ ich
nicht...“
TIONS
Marijana sieht auf die Uhr.
Sie wartet weiter. Sie sitzt und lauscht.
Sie steht auf, spaziert nervös im Raum
umher, blickt immer wieder auf die
Uhr.
Es ist längst neun vorbei.
Draußen wird der Wind immer stärker, peitscht die feuchten Laken.
Zehn. Elf...
Ein wenig später zieht sie ihre Schuhe aus, hebt ihre Füße auf den Stuhl,
umfasst mit den Armen ihre Beine
und senkt ihr Kinn langsam auf die
Knie.
Dann hört sie den immer lauter werdenden Klang eines Autos, springt
auf...
Er kommt hastig hinein; er blickt
sich im Raum um.
Er wirft einen Blick ins Zimmer,
zum Nachttisch über dem Loch.
Er sieht das Mädchen an: Es schläft
mit dem Gesicht auf dem Tisch, mit
der Hand hat sie fest die Murmel
zugedeckt. „Weck sie auf!“, sagt er.
„Worauf wartest du?...“
Sie ruft: „Evchen...“
Er nimmt die Koffer; er wiegt sie ein
paar Mal ab und stellt sie hin.
Er betastet seine Taschen. Er nimmt
die Autoschlüssel, greift sich die
Koffer.
„Wir gehen, ist alles fertig?“
„Evchen“, sie packt das Mädchen am
Arm, als ob sie es immer noch nicht
glauben würde.
Er geht hinaus, bückt sich unter den
Laken hindurch, sie ihm nach.
Er packt die Sachen in den Kofferraum: Er blickt sich um, klappt ihn
plötzlich zu. „Gehen wir!“, sagt er.
Er drückt aufs Gaspedal, der Kies
knirscht unter den Reifen.
Als sie auf die Hauptstraße gekommen sind, macht Dugi die Scheinwerfer an.
Sie dreht sich um, zieht ihre Jacke
aus und deckt hinten das Mädchen
zu.
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
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RELA
September
TIONS
ES WÄRE EINFACHER, WENN ALLES STILL STÄNDE
Die Richtung der Bewegung und der Entdeckung, des Lesens und Schreibens in VESNA BIGAS Gedichten ist gekennzeichnet durch behutsames Abweichen von der bisherigen (eigenen) Erfahrung des Erforschens der riesigen Ausstrahlung des
Wortes. Des Wortes als zentralen Themas, des „Wortes“, dem die Eigenschaft dessen zugeteilt wird, von dem es spricht,
des Wortes, das nicht nur Träger der Bedeutung, ein Körper für das Ereignis, sondern Hauptdarsteller geworden ist.
Empfindlich, geschmeidig, mehrdeutig, gesprochen und sprechend, ausgesprochen und lebendig, müde und gefährlich.
Die dichterische Strategie von Vesna Biga bestätigt ihre doppeldeutige und esoterische Position, die im Sprechen über das
Wort und sein Schicksal spricht, indem sie das Thema der doppelten Bedeutung, des Verdeckten und Sichtbaren, des
Zeichens und Bezeichneten verflicht. Das Resultat ist: Sicherheit im Werten des dichterischen Universums, das nicht selten
allein und, auf eine bestimmte Art, selbstzufrieden bleibt. Sich selbst genug.
Der Standpunkt des Anderen, das Suchen des Lesers, in dessen Erfahrung sich erschließt, was der Natur der Dinge nach
verschlossen ist, stellt eine verständliche und willkommene Intervention im Text dar, ist einleuchtend. Dem Leben der
Worte Bedeutung verleihen, seiner Vergegenständlichung und Subjektivierung – ist ein Schritt hin zum äußeren Raum, zur
Welt. Es wird an einem übersichtlicheren Textplan gearbeitet, an einem Gedicht, das zum anderen spricht, das den Leser
sucht und sein Beteiligtsein. Die Gedichte Vesna Bigas entwickeln diesen Bund mit der Welt, eine Vereinbarung darüber,
was uns umgibt, was Thema ist – was der Dichtung Vesna Bigas zugleich mehr Luft, mehr Raum gibt... Paradoxerweise hat
sich die dichterische Stimme durch das Zurückweichen vom eigenen Schwerpunkt leichter mit dem unmittelbar Umgebenden verbündet, was wahrnehmbar ist, was in seiner Fülle Signale und Licht aussendet.
Die Position des Dichters als Hörenden und Sehenden des Abseitigen bedeutet, das Wort sich selbst zu überlassen und dem,
was von selbst geschieht, der Ereignishaftigkeit, die expressiv und dehnbar genug ist, fragmentarisch und rhythmisch. Der
Raum schreibt mit seinen Figuren sich selbst aus, füllt und leert sich mit eigenen Zeichen: „ Mädchen zünden erste
Morgenzigaretten an/ kaum haben sie den Gehsteig betreten,/ Jungen schnüren ihre Schuhe,/ und spielen mit dem Rauch
zwischen den Zähnen./ Mutig marschieren diese Mädchen-Jungen.“
Aber in der Dichtung von Vesna Biga können wir nicht einfach diese Richtung gehen, denn die Rolle dessen/derer, der/die
dem Leser das Erlebnis beschafft, der/die es konstruiert und kommentiert, bleibt bestehen, von ihr lebt ihre einzigartige
dichterische Stimme. Sie (die Stimme) lebt vom Dazwischen, sie schmuggelt den eigenen Zustand, ihr ist am expliziten
Ausdruck von Empfindsamkeit und Empfindlichkeit gelegen. Der Leser gelangt schnell in die metonymische Beziehung von
Dichter und Ding, Zeit und Raum, die trotz allem unabdingbar sind, um festzustellen oder zu diagnostizieren: Was ist mit
mir, wo bin ich?
Es stimmt, eine gewisse Bescheidenheit, ein verdeckter Ehrgeiz gegenüber der bestehenden Ordnung schützt diese
Dichtung davor, auch in unserem Namen zu sprechen. Sie beugt sich dem Diminutiv gegenüber der Größe des Unbekannten, sie will im Uranfang auch den eigenen Anfang sehen. Der Dichter ist das, was für die uns umgebenden dinge andere
sind – Urmeister des eigenen Textes. Eines Textes, der die Erfahrung mit Texten in solche teilt, die ihn umgeben und die es
vor ihm gab. Es ist nicht immer klar, ob es sich um einen Monolog oder Dialog handelt!
Der Prozess der Stimmenangleichung oder die Bemühung, zu meiden, was uns in seiner Unerwartetheit entmutigt, ist
vielseitig und aufregend, es geht hier um Texte, die von der Fülle und Länge der Verse leben, mit Fragen, Antworten,
Zweifeln, Erinnerungen...
Die Kindheit und das Vergessen (wie ein Bild konstruiert wird und wie die Erinnerung einen neuen Text formt) sind für sie
immer ein willkommener Ort für das Sprechen davon, was jetzt ist. Auf dieses Jetzt hat sich kaum Staub gelegt, er gelangt
auch nicht so schnell in die polierte und klare Welt. Eine Welt, die sich schnell füllt und leert: „Fort, bloß fort von den
Sachen, die ich nicht gesehen habe, denen ich blind entkommen konnte, doch noch immer wollen sie mich fassen, die Stadt
bleibt hinter mir zurück und wird immer kleiner, und noch immer wollen sie mich aufhalten.“
Vielleicht werden wir denken, dass jemand eine klarere Richtung gesucht hat, eine Sicherheit für die eigene Stimme?
Vielleicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Abschiedsworte werden ausgesprochen, Worte, die sich in uns bohren in ihrer
Schlichtheit und Gewöhnlichkeit. Doch auch jene, die wie ein fernes exotisches Land klingen, wie ihr Rhythmus, wie ihr
Firmament, wie ein Gruß an einem gewöhnlichen Tag.
Die Dichtung Vesna Bigas ruft ihren Leser unabsichtlich dazu auf, zu seinem Körper mit ähnlichen Worten oder wenigstens
mit dem Wörterbuch der eigenen Kindheit und Erinnerung zu sprechen. Wer liest, wird das Rätsel vielleicht lösen, wird
sprechen lernen.
Miroslav Mi}anovi}
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RELA
TIONS
Vesna Biga
Poesie
Vesna Biga
Morgenkinder
Mädchen zünden ihre ersten Morgenzigaretten an
kaum haben sie den Gehsteig betreten, Jungen schnüren ihre Schuhe,
und spielen mit dem Rauch zwischen ihren Zähnen.
Mutig marschieren diese Mädchen-Jungen,
Schönheit liegt vor und hinter ihnen,
und Schönheit ist in ihnen, so viel Kichern,
doch ich werde kein Wort aussprechen,
ich werde alles von außen hören und sehen.
Kraftvoll sollen die kleinen Frauen heraustreten,
sie sollen kichern so viel sie wollen,
die Jungen sollen die Wolke steinigen und die Hundeschnauze,
wohin starren bloß die Pupillen von Straßenkötern,
nie ist etwas in ihnen, jemand soll mir sagen
was hat das Hundeauge, das Vogelauge bisher ausgesonnen?
Einem Taubenschwarm grinst der menschenähnliche Hunger entgegen,
streckt scheu die Hand entgegen, pickt sanft die Brotkrumen auf.
Zu klein ist der tägliche Hass, eine wahre Frühgeburt,
nie wird er erwachsen,
die Freude aber ist ein nachlässiger und zu schneller Kuss.
Unter der Glasdecke harren die Rosen umsonst
jemandes, der kniet, der wenigstens ein Teilchen Duft abwartet,
aber nein, niemand!
Jeder hütet die Minute, achtet auf Ellbogen und Knie,
kauft Blumen von hoch oben, als gäbe es sie immer,
in dieser Stadt der Hunde und Tauben, in der
die Morgenkinder stürmen. Fachmännisch werfen sie die Lippen auf
und lassen überschwänglich Rauchringe die Straße hinabrollen.
Wohin eilen diese Mädchen-Jungen,
warum sind ihre Köpfe nicht schon in den Wolken?
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RELA
September
Dort, wo die himmlischen Geister fliegen, bietet das Schaufenster
am meisten, doch niemand reicht an ihn heran, so ein großer Raum
und gehasst von unten! Gott, einmal muss man sich aufschwingen
und sich zeitig verwenden, doch niemand steht bereit für diese Heldentat
sondern wieder nur Engel, wer, wenn nicht sie,
vielleicht die Straßenköter und Tauben?
Und wer sagt, dass gerecht geteilt werden muss,
dem Bettler etwas Zorn, der Rose eine Minute,
jedem Mädchen-Jungen ein Flügel,
ein Rauchkränzchen, soll es doch das Nadelöhr erreichen,
wer Glück hat, bevor er zu kichern beginnt,
fädelt einen Stein zwischen die Wolken.
In einem Zug
Genau um acht Uhr und zwei Minuten, von all der Zeit
davor und danach, wurde mir, durchs Fenster, ein Wolkenzipfel zuteil,
von den Wäldern, Urwäldern, dem Sand und der See ganz zu schweigen,
all dies will mich nur mit halbem Herzen haben
ein Schritt hin und einer zurück, auf die Maße einer Spaßschachtel geeicht
im Zimmer ein Spielzeugbett, und das Schlüsselloch ein Nadelöhr, einen Fingerhut
Lächeln darf ich einfädeln, einen Augenblick Morgen verschlucken
mit dem, was in den Schluck eines Glases und mein geeichtes Auge passt,
darf ich nach Maß des Mützchens auf dem Kopf in einem Zug loskichern!
Zehn verrostete Nägelchen
Mein Blick fiel auf zehn verrostete Nägelchen,
ich zählte sie zweimal, ja, es waren zehn Nägelchen,
sagte ich zu mir, auch sie müssen hier und da mal angeschaut werden,
wie jedes andere Ding, das kann man ohnehin nicht vermeiden,
wenn sie schon da sind, wer weiß schon, wann sie das letzte Mal
angeschaut wurden, ich weiß nur, dass es jemand getan haben muss,
aber kein anderer Experte oder jemand, der nur hier vorbeigegangen ist,
hat die Nägelchen gesichtet und diesen Blick irgendwohin verlegt,
so wie man eben an einer Stuhllehne vorbeigeht,
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TIONS
RELA
TIONS
Vesna Biga
man sieht sie beiläufig an, gerade so um sie nicht zu streifen,
so schreitest du auch vor der Bank im Park, der ein Brett fehlt,
auch hier nützt es nicht die Augen zu verschließen, sie für eine andere
große Sache aufzuheben, ein kräftiges Tier, einer unbezwingbaren Welle gleich
oder einem ähnlichen Ungetüm, das du kaum erfassen kannst
mit deinem winzigen Auge, das Widerspenstige dieser Kraft kümmert sich nicht um
Nägelchen, Stuhllehnen und Bänke, denen ein Brett fehlt,
sie hat die Macht, gegen die du nicht ankommst, die nichts um sich herum
sieht, doch dafür wird sie von allen gesehen und gefürchtet, oder vielleicht,
die Macht, die selbst unsichtbar ist, doch alles um sich herum sieht,
sogar die Nägelchen, die Stuhllehne und die Bank, deren Brett fehlt,
und darüber hinaus ist mein besorgter Blick auf all das gerichtet!
Mein erster Satan
Wie fertig werden mit diesem ersten Satan, er kam voller Staub
aus einer Schachtel in einer Kindernacht,
und wohin mit dem Zug, er war jeden Tag vom Balkon zu sehen,
es war ein großes Spielzeug, doch wie jetzt die Wagons auseinander nehmen,
wie sie in die Schublade stecken für später,
und was mit den Fähnchen, den Gesichtern der Eisenbahner und so vielen Gleisen,
die zum Vorschein kommen, ganz zu schweigen von dem Landstreicher,
den man endlich von sich weisen müsste, er liegt immer noch
im Stadtpark, in eine rosa Decke gewickelt, mit dem Kopf auf einem Stein
im kalten Gras, als wären draußen plus 18, in diesem Fall
helfen kein kleines und großes Spielzeug, Schubladen und Eisenbahner,
auch all die Fähnchen helfen nicht, wie weiter, wenn sogar
die Leere der kleinen Schachtel sich weigert, auch sie lässt sich nicht beruhigen,
sie will nicht in eigene Splitter zerfallen, als wollte sie alles für immer und doch nicht,
und als wollte nichts zu Staub, und wollte und will,
nur abwarten muss man, noch immer hält sich der Kastanienkuchen gut,
er ist klebrig wie in der Kindheit, und auch die Farbe des Himbeersaftes, auch sie
kann man wieder erkennen, wie die Frucht selbst,
sie ist noch immer weich und sucht eine sanfte Hand,
vorsichtige Verpackung, Sauberkeit, das allerdings weniger als früher,
früher fiel der Staub gern auf alles, und jetzt gibt es immer weniger davon,
wird es ihn auch dann geben, wenn der Stein endlich zur Ruhe kommt und
bis zum letzten aufgeschrieben wird und das Gras, vom Gebrauch schon verschlissen,
in neuem Glanz scheint, grüner und fester von jedem Schritt, wohin dann
so staubig, mein erster und jeder andere Satan?
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TIONS
Engel der Schnelle
Fort, bloß fort von den Sachen, die ich nicht gesehen habe,
denen ich blind entkommen konnte,
doch noch immer wollen sie mich fassen,
die Stadt bleibt hinter mir zurück und wird immer kleiner,
und noch immer wollen sie mich aufhalten,
in meiner Erinnerung sehend werden, entrada, salida,
ungesehene Sachen werfe ich in die Furchen der Autobahn,
ich verlasse mich auf dich, Engel der Schnelle, dass du Balsam sein wirst,
du bist der, der die Augen tröstet, neue Angebote unterbreitet,
und ich erkläre mich bereit zu sehen, warum nicht sehen,
zwischen roten Hügeln, großzügiger Engel,
schüttelt ein Mann die Äste eines Baumes, die Fischer Oliven im Netz,
uralt das Bild, zu schnell der Weg, zu viele Oliven,
wir aßen sie im Gasthaus Vera Cruz und sahen
die Stierkämpfer an der Wand des Wohnzimmers,
sie schienen Flamenco tanzen zu wollen und nicht zustoßen!,
entrada, salida, mächtiger Engel, kehre heute in Granada ein,
vor der Kirche ist das Fest Ofrenda floral,
während Plaza de Los Campos in derselben Stadt seine Nacht lebt,
verzeih mir, Engel, dort ist Blechmusik,
ein rein mediterranes Angebot, eine Gruppe Soldaten spielt
für fünf nächtliche Spaziergänger und ein paar Touristen.
Warum erinnere ich mich gerade hier daran, wie mir einmal
ein Junge, ein Zigeuner, weissagte? Du weißt nicht, wie sehr du geliebt wirst, sagte er.
Ich weiß es nicht, ich rede zu viel mit Menschen,
die es um mich nicht gibt,
das ist ein Fehler auf dem Weg, Ohnmacht im Raum.
Ich sah einen Menschen, der den Mond nicht sah
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht in einem Höllenhaus, mit einem Netz umgürtet.
Es gehörte dem Dämon des Lärms, der sich mit allerlei Kunstfertigkeit Gehör verschaffte,
fortwährend angelte er Dutzende leere Flaschen, knisternde Tüten,
Coladosen und spielte mit einem abgetrennten Wecker, mit dem Kichern
von Mädchen hinter der dünnen Wand und dem wütenden Donnern im Morgengrauen,
der die Wolken durchbrach und den Mond mitten in den Himmel pflanzte.
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RELA
TIONS
Vesna Biga
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Ich stand auf einem Balkon aus geschmiedetem Eisen, aus was auch sonst,
in dieser Stadt, als der Mann kam, der diesen Mond nicht bemerkte.
Er schritt lautlos auf der Straße, als hätte ihn das Laster der Stille ergriffen
und jetzt will er unsichtbar zwischen den Dingen hindurchschleichen.
Man konnte das an der Art bemerken,
auf die er einen gesenkten Kopf hatte, nur dem eigenen Schritt gewidmet,
als lohne es sich nicht, den Kopf zu heben, nicht einmal wie viel man zu einem Balkon brauchte,
auf dem eine Seherin steht und den Augen Luna gönnt, oder wenigstens bis zum Netz
in dem der klangvolle nächtliche Fang schaukelt. Es gab keine Fänge im Himmel,
auch keinen Fang im Netz für diesen Menschen. So ging er die Straße entlang,
als ob es dort oben nichts gäbe, was es wert war, angeschaut zu werden, auch ich spürte
Angst in dieser Nacht, dass ich mich versündigen würde, wenn ich seinen Schritt verhexte,
es fiel mir nicht leicht, einen solchen Menschen zu durchdringen, mir,
die regelmäßig den Kopf hebt und den Mond bekennt, mir,
die der himmlische Wegbegleiter so oft verführte, so oft als Frau hatte,
dieser selbe Mond, den dieser Mensch nie am Himmel bemerkte.
Bonsai ZOO
In ein Schneckenhaus presst sich zwischen die Ohren das Wiehern eines Flusspferdes,
auf einem vorgeschriebenen Punkt zwischen den Augen schreibt sich ein Nashorn ein,
ein Wildschwein springt in einer Sekunde wütend auf, versteinert dann im Vergessen
und starrt in die vergitterte Sonne, oder in Äste eines Baumes,
geschmückt mit Farben tropischer Vögel, die Augen dieser Vögel malen
mit unbegreiflicher Geschwindigkeit im Puppenhaus, und so scheint es,
dass sie eigentlich unbeweglich sind, für immer jung und alt,
während sie ihre zugeteilte Rolle beschreiben, doch wissen sie,
dass ihr Blick nicht die Beharrlichkeit des menschlichen Gesichts abbrennen kann,
das kindlich ist, zurückweicht, wenn der Phosphor im Auge des Wolfes blitzt,
oder vor dem Aufblitzen eines Schlangenzahns außer sich gerät,
es sieht lieber zu, wie der Waschbär ein Ei unter dem Strauch vergräbt,
für später, und kümmert sich nicht um die Faunenfeder im Gras,
einst schmückte es sich gern mit dieser Feder, und jetzt konnte man auf der verrußten Bühne
dieses Bonsai-Waldes nicht so leicht einen Liebesruf abnötigen,
hier wütet kein echter Tod mehr, noch ertönt ein kräftiger Schrei,
hier wird erst der verschollene Text des Tages auswendig gelernt.
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RELA
September
TIONS
Neujahrsbaum in der Pension Dr. Gaber
Jedes Mal, wenn ich die Asche abschüttle, weiß ich wo ich bin, Wien,
Pension Dr. Gaber. Breitenfelder Gasse 2.
So steht es auf dem Aschenbecher und auf dem Prospekt daneben –
Top-Qualität zum Discount-Preis.
Ich bin in einem kleinen Zimmer, das man mit einem Sprung abmessen kann,
doch nicht mit einem Blick. Wenn ich meinen Kopf langsam drehe,
nehme ich so viele Buchstaben auf, als wäre ich in einem großen Zimmer.
Ich kann sie flüstern, wenn ich Lust habe, oder ich kann sie laut buchstabieren
Dress Star, Max Dry Steam, Philips, Saba und Krupps.
All das kann ich in diesem Zimmer, wobei ich schon heute früh bemerkt habe,
dass in meinem Hals eine Brennnessel sprießt vom erstickten Flüstern,
und dass auf meiner Zunge finsteres Gras wächst.
Ich habe einige Halme und raue Blätter in den Ausguss gespuckt,
auf dem Vitruvit steht, und ich habe im Spiegel
Marke Palladio, gesehen, wie mich Dr. Gaber aus meinen Augen ansieht
und in der Iris keimen zwei Samen der Angst
um diejenigen, die jetzt nicht hier, die weit weg sind, doch ihr Körper
fädelt sich mit Leichtigkeit und ohne einen einzigen Buchstaben in meine Augen ein,
er sehnt Berührung herbei, dieser Körper in der Ferne, der pausenlos
das Ein und Ausatmen erledigt, er lässt Nägel und Haare wachsen
und die Poren langsam tauen, als sei es neben mir!
Es wäre einfacher, wenn alles still stände, und wenn wenigstens für einen Augenblick
nirgendwo etwas geschähe, und was ich im Spiegel sehe,
sich in einen unbekannten Blick verwandelte, der nebenbei
und dreist nach allem auf einmal hungert!
Solchen Augen, ich will es nicht beschwören, durfte ich nicht in den eigenen Bauchnabel sehen!
Dann soll mir wenigstens aus dem Bauchnabel auch dieses Neujahr ein zahmes Bäumchen wachsen.
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RELA
TIONS
Vesna Biga
Kindheitsübung
Mutter Brennnessel, Vater Zauberpilz, drum herum erzwungenes Kraut,
man merkt es an winzigen Zeichen, die Duft verbreiten
und im Teller schwimmen, sie riechen nach Wald, in dem
jemandes unerzählte Kindheit lauert, als ob es eine erzählte
Kindheit gäbe, oder eine andere, in dem Vater, Mutter und Pan
gemeinsam flüsterten, genau so erfährst du, dass du geschickt pfeifen musst,
sehr geschickt, so wie es diejenigen tun, die geübt haben,
dass der uralte Geist gerufen wird, der Zwerg herausspringt, der Narr loskichert,
die Waldkönigin erglänzt, man kann nicht so einfach Kind sein,
sobald du geboren wirst, braucht es dazu Zeit und es braucht ein Stückchen Brot
zur Hand, damit die Ameise stehen bleibt, es braucht einen Würfel Zucker,
damit man das wütende Surren aufhält, man muss haben und wissen
ob du all das in diesem Wald erzählt hast oder nicht,
ob du deiner Kindheit gewachsen bist oder es nie sein wirst.
Umfassend
Ich stehe auf und werfe mich mit leichter Gymnastik
in den Panzer eines durchtrainierten Körpers, wie ein Ritter,
ein tüchtiger Yuppie, mit vorschriftsmäßigem Aufstehen beschäftigt,
der Gott weiß was geträumt haben will,
Gott weiß was schon gearbeitet haben will, während er das erste Wässerchen gluckert
im Spiegel und dann kraftvoll in das Treffen springt
mit dem Begleiter, demjenigen, der schon am Tisch wartet
in der Küche, auf die Losung, oder der sie selbst sagt,
manchmal sagen wir sie auch gleichzeitig, verwundert,
obwohl wir nicht eins sind, aber ganz gleich,
man weiß, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit ist,
und man weiß, dass es sich hier um zwei eigene Körper handelt,
beide können wir auch diesen Morgen bestätigen
dass jenes andere Gesicht am Tisch gegenüber sitzt,
und all dies geschieht im Grunde blitzartig,
in geweiteten Pupillen, da hinein passt
bequem ein Stück Zeitung, die unter dem Tisch hervor blitzt,
und Teile von Schlagzeilen anbietet – Umfassend...
Mit Pflanzen gegen... Maßband in die Hand...
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RELA
September
TIONS
Dinge in Palermo
Jedes Ding ist gleichzeitig ein Sklave der Dinge, das sehe ich im Vorübergehen,
das erste Ding dient dem zweiten, das zweite dem dritten, wie ein aufgehängter Stuhl,
der an einem Ast aufgehängt ist, für manch einen sind diese Stühle wertvoll,
wenn sie schon unter Verschluss sind und an den Baum gebunden, er bewacht sie mit Ketten
und Draht, damit sie kein Dieb stiehlt, so leisten die Dinge Sklavendienste
und eins dient dem anderen, so sehe ich das,
die Kette hat sich in den Ästen selbst gefunden, die Stühle sind ihm untertan,
die Stühle aber bedienten sich der Kette, dass sie sie nachts bewache,
so hat jedes Ding seinen Diener, und am Morgen wird der Besitzer all das
aufbinden, er wird am besten wissen, wozu der Baum, wozu die Kette,
und wozu die Stühle, er wird auch wissen, wozu der Draht, in dieser Stadt weiß man das,
mit solchen Drähten sind auch die Skelette der Vornehmen in den Kellern
des Kapuzinerklosters gebunden, das ist alles ein und dieselbe Stadt,
dieselben Drähte, hier Stühle, dort Skelette, Schädel und Gebisse,
das und das andere hängt so wie Puppen hängen, festgebunden um nicht zu fallen,
dass sie beim Fallen nicht auseinander fallen oder dass jemand sie stiehlt
der sich mit Kreide verkauft, so wie ich mich, im Vorübergehen
dem Wunsch hingebe, zu sehen, wer diese Stühle stiehlt,
wer so viele Leichen losbindet und sie eines Morgens von der Kette lässt?
Er, ich
Der Tag ist verregnet und das Geschäft riecht nach versalzenem Wind.
Hier ist Ende der Saison und das Gesicht des Verkäufers ist schon zur See gerichtet,
doch er spielt seine Rolle weiter, hält an ihr fest,
obwohl sein Blick abweisend ist und die Bewegungen schlaftrunken,
das sieht man, man kann es in der Luft riechen.
Und man sieht, dass er mir verzeihen wird, dass ich nicht kaufen werde,
und lange wende ich die Bademützen und Strohhüte hin und her,
befingere die Ware und spiele den Käufer,
während er von der Seite herüber schielt und leise den Preis murmelt.
Ja, er bietet feil und ich glotze in das Angebotene und nicke,
verlange von ihm sogar, den Preis zu wiederholen!
Warum tu ich das? Warum tu ich so, als kaufte ich und
und warum tut er so, als überblicke er alles und warte meine Wahl ab,
wenn wir uns stattdessen einfach gegenüber
stehen können, in der Stille, und uns in die Augen sehen?
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TIONS
Vesna Biga
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Waldmensch
Im Traum, den ich ein einziges Mal träumte,
war dieser Mann, roher, als es Menschen normalerweise sind
und streckte mir nicht die Hand entgegen, als ich ihn darum bat,
dabei hätte das jeder getan, wenn er nicht gerade hier gewesen wäre,
in meinem Traum, oder wenn wir uns beide in einem
dritten, fremden Traum vorgefunden hätten, so, dieser Mann
murmelte nur ich werde mich sterben und verlor sich dann
zwischen den Bäumen, und ich stand da und sah ihm nach,
im ersten Moment an einen Witz glaubend,
eine Art plötzliches Verlassen, das beim ersten
Treffen passiert und das schnell vorbeigeht,
wie wenn sich ein Erwachsener hinter einem Baum versteckt
vor einem Kind und plötzlich vorspringt und einen Schrei von sich gibt,
bloß dass es diesen Mann nicht gab und ich stand
umsonst auf der Stelle und betete zu meinem Traum,
ihn mir zurückzubringen, ich wartete bis zum letzten Moment,
dem vor dem Erwachen, dass er vor mir aufspringt
und mich mit sich nimmt, doch dieser Fremde zeigte sich nicht mehr,
von sich aus, mit der Laune eines Waldmenschen
vertrieb er uns beide aus meinem Traum, trennte uns für immer.
Den Punkt schlagen
Gehe ich zum Fenster – dann ist unten Vollmond und seine Vorhöfe.
Da flackern seidene Negative in gespenstischen Kammern von Innenhöfen.
Und oben – der Mond, in den die Augen des Mörders glotzen.
Der Mond gehört allen, das weiß ich,
oben ein Mond, unten so viel Armee.
Und der Mond, der Hurensohn, schon dreißig Jahre derselbe Hase,
entweder Hase oder das Gesicht eines dummen Dicken, mit den Wangen eines Windgeistes.
Aus einer solchen Wange kein Tropfen, nie!
Und wer soll ihm dann das Gesicht waschen und den Punkt schlagen, wer, wenn nicht ich?
Ich bin diejenige, die dem verhurten Wegbegleiter ein neues Gesicht schreibt!
So viel kann ich einem Mond von oben antun. Und einem Mörder,
bis er nicht weiß und nicht sieht, dass Luna auch dieses andere Gesicht anbietet.
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September
TIONS
Aber er weiß und sieht nicht. So isoliert und einsam sieht er immer dasselbe.
Er sieht mit denselben Augen, während sie, ein alter Stamm,
von gleichem Blut, vieläugig sind. Sie sehen und wissen, wohin das alles geht.
Sie können die Augen eines jeden Mörders von der Oberfläche des Mondes entfernen.
Sie machen Feuer, sprechen einen Fluch aus, ködern ihn mit Hasengesang,
Rasierklingen-Hochzeit. Sie fangen ihn im scharfen Röcheln.
Sie freuen sich gleichmütig. Verabschieden ihn mit Applaus.
So kannte ein Mörder niemanden.
Die Karte Kalabriens
Der Wolkenhaufen im Rückspiegel ähnelt einem grauen verworrenen Tauwerk,
oder einem Lakenzopf, der in vier Händen ausgewrungen wird, bestreut mit azurfarbenen
Körnchen des künftigen Bleichmittels, dieser Haufen verwirrt und entwirrt sich
unter dem himmlischen Röntgen, er ist dort und hier, doch ich will nicht teilen,
was dem Blick geboten wird in das, was ich durchs vordere Fenster sehe
und durchs Fenster seitlich in das, was ich im Rückspiegel verfolge und in das,
was im Spiegel über den Sitzen erscheint, ich will es nicht zerteilen in
Himmelsscherben und in Zypressen auf Hängen und danach Stückchen
einsammeln, dort oben schneidende Scherben des Lichts zählen,
oder Bäume zählen, die vor mir wachsen und dann hinter mir tauen,
der Himmel ist groß, das Auge klein, mal ist es im Spiegel, mal ist es hier,
über der Karte Kalabriens, die auf meinen Knien zittert,
selbst in Unleserliches zerbröselt, grüne und gelbe Brocken sind auf
Ameisenstraßen gestreut, diese Karte müsste man zu einem Knoten binden,
sie gut zwischen zwei Bergen festziehen, damit sie nicht auseinander fällt, müsste
man sie mit der Erde verknüpfen, mit dem Himmel und den Bäumen und sie dann fest
an die Landschaft kleben,
damit das, was eingezeichnet ist, nicht davonläuft und damit draußen wenigstens hier und da
ein Berggipfel aufersteht, den sie versprochen hat, oder etwas Fluss-ähnliches,
das auf dieser Karte und im Rückspiegel gleichzeitig sein wird,
so müsste man mit dieser Karte vorgehen, und nicht dass auf dem Weg so viel verloren geht
und dem Blick widerstrebt oder wie die Spiegel zu Hause sich krümmt,
so wie sich die Fenster des Reisens im Auge aneinanderreihen und in den Halsadern,
während im Ohr das Blechkanisterrauschen mit Benzin rasiert, aber wer weiß,
vielleicht wird alles, was ich jetzt sehe, eines Tages nach Zimt duften.
Aus dem Kroatischen
von Bla`ena Radas
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Oktober
TIONS
ZVONKO TODOROVSKI (geb. 1960 in Prizren, Kosovo) besuchte in Vara`din und Koprivnica die Schule und studierte
Philosophie in Zagreb. Seit frühesten Jugendtagen beschäftigt er sich mit dem Zeichnen von Comics und der Anfertigung
von Buchillustrationen und Grafiken. Seine Comics erschienen in diversen Tages- und Wochenblättern und waren auf gut
einem Dutzend eigenständiger Ausstellungen zu sehen. Von 1991 bis 1997 leitete er die Galerie „Forum mladih“ in
Vara`din, die den Werken junger bildender Künstler vorbehalten ist.
Seit 1999 lebt Zvonko Todorovski in Zagreb als freiberuflicher Schriftsteller. Außer Jugendromanen schreibt er Drehbücher
für Zeichentrickfilme sowie Comics in Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Magda Dul~i}. Einen Teil des Jahres verbringt
er regelmäßig in Stari Grad auf der Insel Hvar, wo er sich zu seinen Romanen inspirieren lässt. Des Weiteren verfasst er
Hörspiele für Erwachsene und Kinder.
2002 erschien sein erster Jugendroman Das Meereswunder („Mirakul od mora“). Für den 2003 veröffentlichten Roman
Das Fenster mit dem grünen Schimmer („Prozor zelenog bljeska“) wurde er mit den Literaturpreisen „Grigor Vitez“ und
„Sfera“ für den besten Science-Fiction-Jugendroman ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde das Buch für den internationalen Literaturpreis „Mali princ“ (Tuzla, Bosnien und Herzegowina) nominiert. Sein dritter Roman Der Fleck („Mrlja“)
erhielt als bester Jugendroman des Jahres 2004 den Mato-Lovrak-Preis. Im folgenden Jahr wurde der Roman Der kleine
Hafen („Mandra~“) veröffentlicht, der dem Leben des kroatischen Renaissancedichters Petar Hektorovi} in Stari Grad auf
der Insel Hvar gewidmet ist. Im Jahr 2007 erschienen gleich zwei Romane von Zvonko Todorovi}: Der blaue Bläser („Plavi
truba~“) und Die Winde Lampedusas („Vjetrovi Lampeduze“). Letzterer gehört zum Genre der Seeabenteuerromane und
erzählt aus der Vergangenheit der Inselstadt Stari Grad, den Tagen der klassischen Segelschifffahrt im Mittelmeerraum
und bringt viele anschauliche Details zu Schiffbau, Schiffstypen, Segelrouten, Wetterverhältnissen und dem Leben der
Seeleute.
Der letzte Roman Zvonko Todorovskis Das Meer des einen Kapitäns („More pravog kapetana“, 2008) erzählt die Liebesgeschichte zweier Menschen im Seniorenheim.
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Zvonko Todorovski
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Die Winde Lampedusas
¹ Abenteuerroman über das Leben der Seefahrerº
Zvonko Todorovski
Auf der Welt gibt es drei
Arten von Menschen:
die Lebenden, die Toten
und die Seefahrer.
Anacharsis, skythischer Weiser,
6. Jh. v.Chr.
¹...º
Stari Grad, Montag,
den 1.1.2007
Gestern erzählte ich Frano, was ich
gerade las und wie das Schiff im Roman hieß. In diesem Augenblick betrat
sein Vater das Zimmer, um nach uns zu
sehen, und wunderte sich, dass ich von
der „Divina Provvidenza“ wusste. Als
ich ihm sagte, dass ich aus einem Buch,
das ich auf unserem Dachboden gefunden hatte, über sie erfahren hatte,
war seine Verwunderung noch größer,
denn er hatte geglaubt, dass nur sie
ein Exemplar besäßen, und dieses wurde sorgfältig aufbewahrt und niemandem ausgeliehen. Dann erklärte er uns,
wer den Roman geschrieben hatte.
Geschrieben hatte ihn der Sohn ebenjenes Steuermanns Frano aus dem Roman, und zwar aufgrund seiner Erinnerungen an die Erzählungen des Vaters und unter Verwendung von Schiffszeichnungen, die sein Vater aufbewahrt
hatte! Frano wurde so neugierig auf
die Geschichte, dass er seinen Vater
um das Familienexemplar von „Lampedusa“ bat, um es ebenfalls zu lesen.
Ich kann es kaum erwarten, bis er mit
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den ersten drei Kapiteln durch ist, damit wir darüber reden können.
Muttis Kuchen waren übrigens Klasse,
und im Großen und Ganzen hatte ich
eine schöne Zeit bei den Maroevi}s,
obwohl ich um eins ins Bett musste.
Opa Marin und Vater Marin beschlossen gestern, sich wieder zu versöhnen,
und versprachen, nicht mehr wegen
meiner Schule zu zanken. Das war, wie
wenn Mutti jedesmal an Silvester beschloss, das Rauchen aufzugeben, und
am Dreikönigstag wieder damit anfing. Mit unseren beiden Marins währte es noch weniger. Gestern versöhnten sie sich offiziell, heute haben sie
schon wieder gestritten. Während ich
das hier schreibe, sitzt der Großvater
mit seinen Seefahrerfreunden beim
Briscola und redet mit niemand. Absichtlich bleibt er auch weiterhin bis
spät in der Taverne, nur um zu zeigen,
wie wütend er ist. Vater hat heute den
ganzen Tag mit dem Aufräumen des
Dachbodens zugebracht, nur um nicht
mit Mutti sprechen zu müssen. Er tut
so, als ob er etwas arbeitet, obwohl er
den Dachfenstergriff bestimmt bis zum
Sommer nicht erneuern wird.
Dabei ließ es sich ganz gut an. Zunächst
informierte mich Großvater nach dem
Mittagessen, er könne es einrichten,
dass ich im nächsten Sommer meinen
Bootsschein mache und so die Erlaubnis zur Führung eines Außenbordmotorboots bekomme. Das war schon immer
mein Wunsch, zumal ich jetzt schon
ein Boot führen kann. Mit dem Motor
kenne ich mich aus, aber ein Bootsschein wäre schon eine feine Sache!
Vater unterbrach Großvaters Rede und
sagte, das sei ja alles schön und gut,
doch die Zukunft liege nicht bei den
Ruderbooten, sondern bei den Computern. Ich pflichtete ihm bei und sagte,
dass ich einen neuen Computer gebrauchen könnte, denn meiner hat eine
geringere Speicherkapazität als sein
Handy. Er versprach, mir einen neuen
Computer mit Drucker zu kaufen, sobald wir nach Zagreb kämen!
Großvater Marin entgegnete, ich könnte im nächsten Sommer doch die Segelschule besuchen, er wolle mir das gerne
bezahlen, Motorboote könne man nämlich vergessen, ein richtiger Seebär
müsse rudern und segeln können. Ohne
das könne man das Meer nicht wirklich
erleben. So sprach also der Großvater.
Da verlor Vater die Nerven und sagte,
Großvater würde mich ins falsche Lager ziehen. Segeln und Rudern seien
Sportarten – Vater Marin betonte „Sch-portarten“ – gegen die nichts einzuwenden sei, aber das sei kein Beruf für
mich, denn das sei tiefstes Mittelalter!
Auf Vaters „Sch-portarten“ gab Großvater ungehalten zurück, dass jemand,
der als „stellvertretender Assistent des
Obersekretärs des Leiters des Büros für
Öffentlichkeitsarbeit im Ministerium
für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft“
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RELA
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angestellt sei, sich nicht anmaßen könne, über das Meer zu sprechen. Er fügte hinzu, dass die Fahrt mit der Fähre
nach Hvar auf der anderen Seite der
Insel ohnehin wohl die längste Seereise sei, die er je in seinem Leben unternommen habe.
Mich erstaunte, dass Großvater Marin
imstande war, Vaters lange Dienstrangbezeichnung fehlerfrei wiederzugeben. Daher bat ich Mutti am Nachmittag, sie noch einmal für mich auszusprechen, was sie gerne tat und mir
Vaters Visitenkärtchen zusteckte, auf
der dieser unglaubliche Titel geschrieben stand. Sie fügte hinzu, ich könne
sie ja in mein Tagebuch einkleben! Mir
stockte der Atem...
Als ich sie aber so kaltblütig wie möglich fragte, wie sie nur auf den albernen Gedanken kommen konnte, ich
würde Tagebuch schreiben, lachte sie
nur und sagte, dass sie in meinem Alter
auch Tagebuch geführt habe und dass
das völlig normal sei. Es gehöre zur
Entwicklung des Menschen, darüber
nachzudenken, was einem im Kopf herumgehe und wie man sich verhalte!
Ich atmete auf, denn ich begriff, dass
Mutti trotz allem nicht sicher sein
konnte, ob ich denn nun Tagebuch führe oder nicht. Sie hat also bloß Vermutungen, doch ich werde es ab jetzt
verstecken. Zum Glück gibt es in Großvaters Haus so viele Verstecke, dass es
leicht passieren könnte, dass selbst ich
mein Tagebuch letztlich nicht mehr
finden kann! Ich habe nicht geahnt,
dass Tagebuchführen mit so vielen
Gefahren verbunden ist!
Heute ist der Neujahrstag des Jahres
2007. Alles, was ich vorher mit „ach,
im nächsten Jahr“ abzutun pflegte,
werde ich nun mit „oh, dieses Jahr“
abtun, und darin liegt der ganze Unterschied. Das macht mir alles ein bisschen
Angst, obwohl ich glaube, dass mir für
die Schule noch genügend Zeit bleibt.
Letztlich liegt die Entscheidung doch
bei mir. Aber genau das macht mir ja
auch am meisten Angst... Das Beste
wird also sein, ich lese noch ein paar
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Kapitel des Romans. Mich interessiert,
wie der kleine Marin den Befehl des
Kapitäns ausführte und das Schiff rettete. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit
zwölf Jahren all das ausgehalten hätte, was der kleine Marin durchmachen
musste. Vielleicht hätte ich es aber
doch gekonnt, wenn ich ein Waisenkind wäre wie er? Ich weiß es nicht.
¹...º
Stari Grad, Donnerstag,
den 4.1.2007
Gestern ist mir wieder etwas Merkwürdiges passiert. Zuerst wachte ich
auf mit dem Gefühl, dass da jemand
war, der mir etwas sagen wollte. Das
war bescheuert, denn im Zimmer war
niemand. Ich kann nicht erklären, woher mir solche Gedanken kommen, aber
dazu dienen ja meine abendlichen Tagebucheinträge – um sie festzuhalten.
Wenn ich mir aber doch zu viele Gedanken mache?
Wer weiß, wie lange ich so herumgerätselt hätte, wäre Frano nicht erschienen. Er ist mein bester Freund in Stari
Grad. Wir sind sogar im selben Jahr
geboren, am selben Tag, dem 23. Mai!
Er ist gekommen, um mir seine neue
Militärjacke und die dazu passende
Hose zu zeigen, die ihm seine Tante
geschickt hat. Diese Tante, die er da in
Split hat, ist echt cool. Er möchte auf
die Hotelfachschule in Jelsa gehen,
weil er eines Tages sein eigenes Restaurant betreiben will. Wenn ich doch
auch so leicht eine Entscheidung treffen könnte! Wenn ich nach Bakar gehe,
wie werde ich dort mit meiner Großmutter und meiner Tante auskommen?
Wenn ich in Zagreb bleibe und dort aufs
Gymnasium gehe, werde ich wenigstens
Mädchen in der Klasse haben, auch
Frano hat das als wichtige Sache bei
der Wahl einer Schule hervorgehoben.
Wir gingen hinaus. Das Wetter war
sonnig und ungewöhnlich ruhig, ohne
einen Windhauch. Wir gingen den Uferkai entlang, und Frano erzählte pau-
TIONS
senlos von Jelsa und wie toll doch die
Hotelfachschule sei. Es sei hervorragend, sich dort einzuschreiben, auch
deshalb, weil er nie gehört habe, dass
dort je jemand sitzen geblieben wäre.
Bist du in dieser Schule erst einmal
aufgenommen worden, hast du sie auch
schon abgeschlossen!
Da kam auf einmal Wind auf, und ich
konnte Frano nicht mehr hören! Es war,
als ob ich plötzlich taub geworden
wäre, sodass ich einen Riesenschreck
bekam. Doch bald fühlte ich Erleichterung, denn mir schien, ich konnte das
Wispern des Windes an meinem Ohr
vernehmen. Es war so merkwürdig –
Frano öffnete und schloss seinen Mund
unaufhörlich, wie wenn man den Fernseher ganz leise gedreht hat, und ich
versuchte zu verstehen, was mir der
Wind da zuflüsterte...
Das Ganze dauerte kaum mehr als
zwanzig Sekunden, dann konnte ich
Franos Stimme wieder vernehmen. Er
dachte, mir sei schlecht geworden, und
ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte...
Wirklich merkwürdig, doch das erinnerte mich an das Auftreten der Wasserhose im Roman, jedesmal wenn jemand den kleinen Marin hauen will.
Doch obwohl Großvater behauptet,
dass alles im Roman wahr sei, so kann
es doch nicht stimmen. Diese Geschichte entspringt der Fantasie des Schriftstellers. Der Piratenangriff allerdings
und wie sie in die Flucht geschlagen
wurden, das hätte wirklich so passieren können, und es ist auch super beschrieben. Wer weiß, ob es auf den
Meeren heute noch Piraten gibt? Wahrscheinlich nicht mehr, denn die heutigen Schiffe sind schneller und haben
außerdem Funkverbindung.
Und zum Schluss eine gute Nachricht,
liebes Tagebuch – ich glaube, ich habe
endlich beschlossen, auf welche Schule ich künftig gehen werde! Aber ich
möchte bis morgen warten, dann werde ich Marin Eins und Marin Zwei meinen Entschluss bekannt geben, und
dann Sehen wir weiter.
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RELA
TIONS
Zvonko Todorovski
¹...º
6. DER ORKAN
In Marathonisi blieben sie zwei langweilige Tage, die so feucht und warm
waren, als würde die Luft von Schweiß
triefen statt von Wasser. Das Wetter
wurde am dritten Tag durch einen
gemäßigten Levante1 aufgebessert,
mit dem sie im Morgengrauen des
30. Juni 1865 endlich in See stachen. Zuvor in Marathonisi hatten
sie sich die Zeit mit dem Verstärken
des Vordersegels verkürzt, indem sie
neue Flicken anbrachten, da die alten ausgedünnt waren. Ansonsten
liefe man Gefahr, dass beim ersten
stärkeren Windstoß das Tuch riss,
doch galt es, bis nach Malta durchzuhalten. Der sparsame Alte hatte
nämlich beschlossen, erst nach Ankunft in Valletta die alten Segel durch
neue zu ersetzen.
Auf der Rückreise gelang es ihnen
nicht, das unselige Ionische Meer auf
demselben Kurs zu befahren, auf dem
sie nach Spetses gekommen waren,
nämlich längs der Küste des Argolischen Golfes. Die Winde schrieben hier ihre eigenen Regeln. In zehn
Tagen umsegelten sie den Peloponnes, indem sie teils gegen den Nordwind kreuzten, teils vor dem Südostwind segelten, der ihnen zupass
kam. Doch um sich die volle Kraft
des Levante zunutze zu machen, mussten sie direkten Kurs auf Norden
nehmen, bis sie das Eiland Stamfani
passiert hatten und die grauen Felsmassen des Vrachionas erblickten,
den 830 Meter hohen Inselgipfel
von Zakynthos oder Zante, wie er
von unseren Seefahrern noch im venezianischen Dialekt genannt wurde. Hinter Zante, etwas weiter nördlich liegend, zeichnete sich unheilvoll das vom Wind gepeitschte Korfu ab, an das nach den erfolgreichen
Handelsgeschäften in Piräus nie1
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mand mehr einen Gedanken verschwendete.
Die Divina Provvidenza rollte schwer
beladen mit ihrer üblichen Geschwindigkeit von sechs Knoten, während
die Mannschaft ihrer gewohnten Arbeit nachging. Einzig der alte Kapitän Maroevi} hob sich vom Gesamtbild ab, auf dem Heck stehend und
eine Pfeife rauchend, ganz in Gedanken versunken, als ob auf dem
Schiff nichts los wäre.
Die Farbe des offenen Meeres zur
linken Schiffsseite war in ihrer Eintönigkeit nahezu mit der des Himmels verschmolzen, sodass es Marin
vorkam, als hätte sich der umgebende Raum ringsumher zu einem Ganzen geschlossen. Es gab weder Meer
noch Himmel mehr, alles war zu einer Sphäre verschmolzen, in der sie
sich hin und her schaukelnd fortbewegten. Der Junge liebte solche Momente am meisten. Von irgendwoher
kamen ihm da Bilder, die ihm sogar
Angst machten, so kühn und ausgefallen waren sie. Es mochte etwa ein
warmer Wind aufkommen, und schon
flog er davon! Er flog über das Meer
dahin, von allem befreit, es gab kein
Wecken mehr und kein Waschen,
kein trockenes Brot, kein Schlafen
im Sitzen. Nichts von alledem gab es
mehr, nur noch einen Jungen, der
wie eine Möwe durch die Lüfte flog.
Da sie tagsüber keine Zeit hatten,
pflegten der Alte und Frano vor dem
Schlafengehen in der Kabine unter
dem Achterdeck die jüngsten Ereignisse zu besprechen. Die beiden Geschichten, die sie beschäftigten, waren gleichermaßen unergründlich und
rätselhaft, und trotzdem versuchte
Frano eine logische Erklärung zu finden. Allerdings war es schwer, gegen
die Skepsis des Kapitäns anzufechten.
„Aber wenn ich es dir doch sage!“
wiederholte Frano dem Vater nun
schon zum zehnten Mal. „Fabris wollte ihm eins überziehen, und ihm selben
Augenblick ließ der Wind das Schiff
im Wind schaukeln! Und wenn du
die Wahrheit wissen willst, ich glaube nicht, dass es das erste Mal war!“
„Jetzt hör mir mal zu, ich habe dich
nicht zur Schule geschickt, um mir
von dir Seemannsgarn vorspinnen
zu lassen!“ wehrte sich der Alte, obwohl er wusste, dass auf Franos Einschätzung Verlass war. Niemand vermochte, die Eigenheiten des Meeres
vollständig zu erklären, und so war
auch er wie die meisten Seeleute ein
bisschen abergläubisch, auch wenn
er das vor den anderen nie und nimmer
eingestanden hätte.
„Denk, was du willst, aber es ist die
Wahrheit“, hielt der junge Steuermann an seiner Behauptung fest.
„Ich weiß nicht, wie es funktioniert,
aber... Warum kannst du dir nicht
vorstellen, dass es noch etwas anderes gibt als das, was wir kennen? Überleg doch mal! Hinterher habe ich
mich mit ihm unterhalten und ihn –
na, du weißt schon, ganz vorsichtig
ausgehorcht. Er hat zugegeben, dass
ihm schon bei der ersten Sturmböe
Belluomo eins übergezogen hat. Doch
bei wem hätte er sich schon beschweren sollen? Wir sind ja schließlich
kein Wohltätigkeitsverein!“
„Was glaubst du, ob er wohl weiß,
was er da macht?“ fragte ihn der Alte
und senkte ganz tief die Stimme.
„Vorausgesetzt, es stimmt alles, was
du sagst, was sollen wir mit dem
Schiffsjungen machen? Unsere Matrosen sind keine schlechten Jungs,
aber sie sind nun mal so, wie sie sind,
ich kann keine barmherzigen Klosterbrüder aus ihnen machen. Mir ist
ihre Grobheit zwar oft sehr zuwider,
aber wenn ich mich einmische, wird
es für den Schiffsjungen nur noch
schlimmer. Kein Matrose verrichtet
die Aufgaben eines Schiffsjungen.
Das ist nun mal Matrosenbrauch.
Bestimmte Dinge im Leben muss
man eben durchhalten, und wenn er
Levante: Wind aus östlicher Richtung.
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RELA
Oktober
durchhält, wird einmal ein guter
Matrose aus ihm werden. Glaubst
du, ich wurde als Schiffsjunge etwa
nicht geschlagen?“
„Ich glaube, ihm ist noch nicht alles
voll bewusst. Aber ich werde ab jetzt
ein Auge auf ihn haben, um Schlimmeres zu verhindern“, schlug Frano
vor, nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Vater ihm nun endlich
Glauben schenkte. „Aber sag mal,
was machen wir mit Franetovi}?“
„Wie meinst du das?“ fragte der Vater zurück, obwohl er sehr wohl wusste, was Frano damit meinte.
„Du hast ihn gesehen, ich habe ihn
gesehen, das heißt: Franetovi} ist kein
Geist“, schloss Frano sachlich.
„Ich weiß es nicht“, sagte der Alte
kleinlaut und zutiefst verwirrt über
die Vorfälle. Nur selten bemerkte
Frano die Müdigkeit seines alternden Vaters. „Auf Lampedusa dachte
ich, es sei mir nur so vorgekommen,
deshalb habe ich nichts gesagt. Wir
hatten Wichtgeres zu tun...“
„In Ordnung. Aus demselben Grund
habe auch ich es dir nicht gleich gesagt, als ich ihn in Piräus gesehen
habe... Weißt du, mir macht das
sogar noch mehr Sorgen als die Geschichte mit dem Schiffsjungen“,
entgegnete Frano. „Es hat immer
schon ungewöhnliche Menschen gegeben, die über Fähigkeiten verfügten, die andere nicht hatten. Erinnerst du dich an die [empre{ola,
Gott hab’ sie selig? Sie heilte Ljubi}s
Sohn, als selbst alle Ärzte Wiens nichts
mehr für ihn tun konnten. Dank
ihrer Kräuter ist der Mann heute
noch wohlauf und munter. Sie verfügte über Heilkräfte und wusste
dabei selber nicht, woher sie das hatte. So ist es auch mit dem Schiffsjungen. Er vermag, den Wind herbeizurufen, na und? Wir wissen nicht, wie
er das macht, und ich bezweifle, dass
er selbst es weiß. Wenn er es aber nun
ein paar Mal gemacht hat, dann ist
das ein Umstand, mit dem du rechnen musst, so wie du mit der Wir-
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kung der Meeresströmung rechnest.
Aber Franetovi} war krank, und jetzt
ist er es offenbar nicht mehr... Das
gefällt mir nicht.“
„Ich weiß es nicht“, seufzte der Alte
wehmütig. „Ich weiß nur, dass wir
nicht noch einmal ein solches Jahr
haben werden. So viel Fisch, und
wir... Hätte ich doch nur eine große
Brigg... ah! Die Sardinen kosten hier
nur halb so viel wie in Stari Grad!
Wenn das Wetter gut bleibt, können
wir es noch zweimal bis nach Lampedusa schaffen, du hast selber gesehen, wie schnell in Piräus alles weggekommen ist! Wir haben gut verdient, und wenn ich die Auslagen
abziehe, bleibt uns eine schöne Summe übrig!!“
„Du kannst ruhig sagen, dass ich fantasiere, aber pass mal auf!“ Frano
konnte nicht zurückhalten mit dem,
was ihm auf der Seele lag. „Seitdem
er den Anker gelichtet hat, ist Bui}
auf Lampedusa nicht mehr gesichtet
worden, dabei ist er ganz bestimmt
dorthin aufgebrochen, denn wohin
sonst hätte er gehen können? Die
Tonino ist verschwunden, und der
kranke Franetovi}, der angeblich am
Vransko-See ist, tritt mal hier, mal
dort in Erscheinung! Sag doch, ist
das nicht sonderbar?“
„Beruhige dich, wir werden klüger
sein, wenn wir Malta erreichen“, beschwichtigte ihn der Alte, obwohl er
selbst beruhigende Worte hätte gebrauchen können. „Wir brauchen
neue Segel, diese sind schon ganz
abgewetzt.“
Es dauerte noch fünf Tage, bis sie
von der Insel Zante aus das Ionische
Meer durchquert und Kalabrien erreicht hatten. Als sie Kap Colonna
sichteten, drehten sie nach Südwesten und segelten volle zwei Tage bis
nach Malta. In diesen Gewässern
weht meistens ein Nordostwind, sodass sie zügig vorankamen. Am 17.
Juli schließlich, nach siebzehntägiger
Reise und von einem leichten Heckwind aus Osten vorangeschoben, lie-
TIONS
fen sie in Marsamxett Harbour ein,
dem äußeren Hafen Vallettas, den
man noch Samusat nannte.
Während der Seereise ereigneten sich
große Veränderungen. Nicht nur, dass
dem Schiffsjungen niemand mehr etwas anhaben wollte, vielmehr bemerkte dieser, dass der Steuermann
Frano ganz besonders gesprächig wurde. Zwar hatte Frano sich auch vorher
mitunter gutwillig der zahlreichen
Fragen des Jungen angenommen,
aber nie war er so umgänglich gewesen. Für Fabris, den Koch und den
Rudergänger Belluomo schien Marin gar nicht mehr zu existieren.
Wann immer sie konnten, gingen
sie dem Jungen aus dem Weg, was
allerdings nicht hieß, dass die ihm
zugedachten Schimpfwörter weniger
zahlreich geworden wären. Besonders
unheimlich waren ihre Flüche, die
sie in der Vergangenheit aussprachen, als handelte es sich um jemanden, der nicht mehr an Bord war.
Marin bemühte sich daher, so viel
und so gut wie möglich zu arbeiten;
er steigerte seinen Arbeitseifer, um
den Wutausbrüchen der Matrosen,
so gut es ging, vorzubeugen. Der
Zwölfjährige tat sich schwer, es der
gesamten Mannschaft und dem Kapitän recht zu machen. Vor Erschöpfung hielt er sich kaum noch auf den
Beinen. Als sie den Hafen von Valletta
anliefen, erklomm Marin die Wanten auf der Leeseite, deren abgeschirmte Höhe er stets für eine kleine Verschnaufpause nutzte. Da hörte
er Gobo, der zu Tadija sprach:
„Auch wenn meine Großmutter Antica immer gesagt hat, dass man Kinder nicht loben soll, so einen wie
unseren Schiffsjungen findet man
kein zweites Mal! Sobald ich auch
nur meine Augen irgendwohin wende, ist er schon zur Stelle!“
„Da hast du allerdings Recht“, sagte
Tadija lachend. „Pass also auf, dass
du dir die Augen nicht verrenkst!“
Wie immer war das Leben der Seeleute im Hafen in vielerlei Hinsicht
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RELA
TIONS
Zvonko Todorovski
anders als auf offener See. Schnell
erhielten sie vom Hafenamt Befehl
zum Löschen der Ladung, und die
ganze Mannschaft wandte sich dieser Aufgabe zu. Die Baumwolle und
den Käse luden sie ohne Flaschenzug
oder andere Hebevorrichtungen aus,
nur mit Hilfe ihrer eigenen Muskelkraft, und so verwunderte es nicht,
dass sie nach getaner Arbeit erleichtert aufatmeten.
Der Alte war in der Zwischenzeit irgendwo untergetaucht. In dieser Zeit
konnte Marin vom Schiff aus Grand
Harbour betrachten, den Haupthafen
von Valletta, in dem sie nach Löschen der Ladung das Schiff vertäuten. Malta ist nur 47 Seemeilen von
Sizilien entfernt und 167 Seemeilen
von der Küste Tunesiens, sodass sich
dank der besonderen Lage Valletta,
der größte Hafel der Insel, zu einem
wichtigen Warenumschlagplatz und
die Malteser zu trefflichen Kaufleuten entwickelt haben.
Auf Malta gibt es weder Flüsse noch
Bäche, und die Insel ist wegen ihrer
Trockenheit und der wenigen bewirtschafteten Gärten größtenteils
unbesiedelt und hierin Lampedusa
sehr ähnlich. Doch wenn es keine
Süßwasserquellen gäbe, würden die
Malteser das vom winterlichen Südostwind herangetriebene Regenwasser trinken wie die Bewohner Lampedusas. Daher sind die Menschen
hier seit jeher mit Handel als dem
einzigen Broterwerb beschäftigt.
Valletta ist eine große Hafenstadt mit
Hafenanlagen auf beiden Seiten der
Landzunge, auf der es entstanden ist.
Es verdankt seinen Namen Jean Parisot de la Vallette, der 1565 die Insel
vor den Osmanen verteidigte, und
liegt im unteren Teil der Nordostküste,
auf der lang gezogenen, schmalen
Halbinsel Monte Sciberras. An ihrer
Spitze thront das majestätische St.Elms-Fort aus dem 16. Jahrhundert,
das von den Rittern des berühmten
Johanniterordens errichtet wurde.
Neben dem Englischen als Amtssprache waren hier stets Sprachen
aus dem gesamten Mittelmeerraum
zu hören, von denen jeder Malteser
ein paar Worte beherrschte, so dass
es keinerlei Verständigungsprobleme
gab!
Bezaubert von der eigentümlichen
Musik, die ihm das vielfältige Gemisch ihm meist unbekannter Sprachen zutrug, versuchte Marin, die
Klänge des Maltesischen herauszuhören. Bestehend aus arabischem und
romanischem Sprachgut, reflektiert
das Maltesische die Geschichte der
hiesigen Bevölkerung, deren Zusammensetzung auf phönizische, griechische, römische, arabische, normannische, spanische, italienische und
britische Zuwanderer zurückgeht!
Der Junge hätte stundenlang verzückt diesem Babel der Sprachen
und Menschen lauschen und mit
neugierigen Blicken das Gewimmel
im Hafen beobachten mögen, hätte
ihn die Ankunft des Alten nicht unterbrochen. Er kam in Begleitung
zweier maltesischer Segelmacher.
Die Takelung musste endlich erneuert werden! Die Handwerksmeister
begutachteten zuerst den Fockmast
und nickten einvernehmend, als läge
alles klar auf der Hand. Dann kam
der Besanmast an die Reihe. Nachdem
sie auch das Heck in Augenschein
genommen hatten, wandte sich der
ältere der beiden würdevoll und in
fließendem Italienisch an den Alten.
„Signor capitano, in due giorni Le
consegneremo le vele di tela migliore!“2
„Guardate di fare il taglio delle vele
quanto prima, perché dobbiamo salpare“,3 bat der Alte und verabschiedete sich.
Nachdem er ihnen nochmals die
Hand gereicht hatte, gingen die Segelmacher schwatzend und nickend
2
Ital.: Herr Kapitän, in zwei Tagen werden wir Ihnen Segel aus bestem Segeltuch liefern!
3
Ital.: Sehen Sie zu, dass Sie die Segel schnellstmöglich zuschneiden, denn wir müssen in See stechen.
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davon, als hätten sie alle Weisheit
der Welt gepachtet. Wenn auch das
soeben geführte Gespräch den Anschein erwecken mochte, dass er es
eilig habe, so sagte es dem Alten
durchaus zu, einige weitere Tage in
Valletta zu bleiben. Obwohl es, abgesehen von Fischen, mit Lampedusa
kaum eine Handelsverbindung gab,
erhoffte sich der Kapitän der Divina
Provvidenza irgendeine Fracht, nur
um nicht leer zu segeln.
„Frano!“ rief er seinen Sohn zu sich
aufs Heck. „Gib dem Schiffsjungen
einen Florin, er soll seiner Mutter etwas kaufen. Macht einen Spaziergang
im Hafen und haltet die Ohren offen. Solltest du von einer Fracht hören, die wir aufnehmen können, sprich
sofort alles in meinem Namen ab.“
„In Ordnung“, entgegnete Frano
schnell und freute sich schon auf den
Landgang. „Marin, komm!“ rief er
dem Schiffsjungen zu.
„Zur Stelle, mein Herr!“ entgegnete
dieser förmlich, in heller Aufregung
darüber, dass ihn zum ersten Mal
jemand mit seinem Namen angesprochen hatte.
„Zieh Schuhe und ein frisches Hemd
an, wir machen einen Hafenspaziergang!“
Der Junge hatte sich in wenigen
Minuten zurechtgemacht, doch die
meiste Zeit verwandte er darauf, die
Schuhe für den Landgang zu präparieren. Er stopfte jeweils ein paar weiche Lappen hinein, um zu verhindern, dass er Blasen an den Füßen
bekam. Als ihm Frano auf der Mole
das Geld zusteckte, war er fassungslos. Er verließ das Schiff zum ersten
Mal, und obwohl er den gesamten
Lohn bereits der Mutter gegeben hatte, erhielt er erneut einen ganzen Florin! Er war so aufgeregt, dass er gar
nicht auf den Weg achtete. Er nahm
lediglich in der Ferne eine mächtige
Kirchenkuppel wahr und dahinter, auf
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der äußersten Spitze der Landzunge,
das Fort St. Elmo, dessen Mauern
die Stadt schützend überragten.
Sie hatten kaum die Landungsstege
hinter sich gelassen, da betraten sie
auch schon den mit kleinen Geschäften gefüllten Hafenteil, in denen man
alles Mögliche kaufen konnte. Hier
erstand der Junge sogleich einige
schöne, aber preiswerte Kopftücher
für die Mutter, drei Kämme und einen Spiegel. Er wusste, die Mutter
würde sich umso mehr über die Geschenke freuen, als sie gar nicht damit rechnete.
Während Marin einkaufte, hörte sich
Frano unter den Händlern nach einer Fracht um, doch niemand hatte
etwas, das für Lampedusa bestimmt
war. Einer der Händler entgegnete
ihm sogar barsch:
„Ha, dort wird Wasser gebraucht,
aber ich verkaufe keins!“
Sie schlenderten noch eine Weile
durch den Handelsbereich des Hafens, indem sie sich durch unübersichtliche Menschenmassen hindurchkämpften, und Frano bereute, dass er
sein Zeichenheft nicht mitgenommen hatte – so viele ungewöhnliche
Motive gab es, deren Aufzeichnung
gelohnt hätte!
Ein betrunkener Matrose schlief sitzend an eine Mauer gelehnt, gleich
neben ihm tanzte ein Hund auf seinen Hinterbeinen zu den Klängen
einer Daf, die von einem alten Bettler gespielt wurde, etwas weiter gaben Jongleure für ein paar Münzen
ihre akrobatischen Künste zum Besten. In den engen, vom Ufer in die
Stadt führenden Gassen wimmelte
es von Kneipen, in denen sich die
Besucher drängten – Matrosen auf
der Durchreise und solche, die darauf warteten, wieder in See zu ste-
chen. Der Menge der konsumierten
Getränke nach zu urteilen, gab es
zwischen diesen beiden Gruppen keinen nennenswerten Unterschied.
Frano bog in eine Gasse ein, die
Marin an die Gassen von Stari Grad
erinnerte. An der Fassade eines hohen
Hauses, deren Ecksteine von schwarzen, massiven Eisenklammern zusammengehalten wurden, hing über
dem Eingang eine runde Holztafel,
auf der die etwas längere Aufschrift
prangte: Zum schwarzen Löwen auf
dem goldenen Schild.
„Hier kannst du alles erfahren, was
dich interessiert!“ unterwies ihn Frano,
wie um sich zu rechtfertigen, dass er
das Kind in eine Kneipe mitnahm.
Der Junge konnte nicht glauben,
dass man in solch einer schweren,
von Qualm geschwängerten Luft atmen konnte, doch nach einigen Minuten begann er sich an diesen merkwürdigen Ort zu gewöhnen. Die Tische bestanden aus schweren Eichenplanken, auch die Bänke waren nicht
viel leichter. Im Hinblick auf die hier
einkehrende Kundschaft musste das
Mobiliar in der Tat kräftig gebaut
sein.
Sie fanden an einem großen Ecktisch Platz, an dem bereits ein bärtiger Seemann saß. Seine Unterarme
waren kunstvoll mit den Darstellungen verschiedener Meeresungeheuer
tätowiert, und Marin starrte wie gebannt auf die Schrecken erregenden
Bilder, die sich auf den spielenden
Muskeln des Mannes hin und her
bewegten. Kaum hatten sie sich hingesetzt, erschien auch schon, trotz
der großen Gästezahl, der Wirt, ein
wahrer Hüne, dem Belluomo seine
mächtigen Fäuste geneidet hätte. Mit
einem schmutzigen Lappen wischte er
den vor dem Steuermann liegenden
Teil der Tischplatte ab, ohne den
Schiffsjungen zu beachten.
„Wein und kaltes Wasser“, bestellte
der Steuermann, mischte in einem
Glas eine Bevanda, ein mit Wasser
verdünntes Gemisch, für den Jungen, und goss sich selber ein randvoll
gefülltes Glas Wein ein. Marin nippte vorsichtig und ihm schien, als sei
er somit ein richtiger Seemann geworden! Warum auch nicht? Ringsumher saßen lauter echte Seebären,
wie man sie sich im Binnenland nicht
einmal vorzustellen vermochte. Die
Pfeifen qualmten, neben ihnen kaute jemand Tabak und spie kräftig auf
den mit Sägespänen bestreuten Boden, und überall war, in sämtlichen
Sprachen des Mittelmeerraums übertragen, die Atmosphäre des Meeres
und der Seefahrt spürbar; eine Atmosphäre, in der sich Seemannsgarn
mit echter Seemannscourage zu einem Ganzen verband.
„Veo que sois muchachos honestos. A
dónde vais?“4 fragte sie der tätowierte
Matrose, der offensichtlich gewartet hatte, bis sie sich erfrischt hatten.
„Scusa, parlo solo italiano“5, entgegnete Frano.
„Maledetta piovra, dove vi siete diretti?“6 wiederholte der Matrose, ohne
eine Pause zu machen.
„Veniamo da Pireo“,7 entgegnete Frano listig und aus der tief verwurzelten Angewohnheit, das nächste Reiseziel zu verschweigen.
„Eh, tanto non importa dove state
andando! Ora è più importante dove
ritornerete!“8 stieß der Matrose zähneknirschend hervor und leerte mit
einem langen Schluck allen Wein aus
seinem Krug. Nachdem er sich mit
dem Unterarm den Mund abgewischt
hatte, lächelte er breit, und seine
Augen funkelten.
4
Span.: Ich sehe, ihr seid wackere Burschen. Wohin führt euch die Reise?
5
Ital.: Entschuldige, ich spreche nur Italienisch.
6
Ital.: Beim Meereskraken, wohin seid ihr unterwegs?
7
Ital.: Wir sind aus Piräus gekommen.
8
Ital.: Ha, es ist ohnehin belanglos, wohin ihr geht! Jetzt ist es wichtiger, wohin ihr zurückkehren werdet!
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„Amico, bevi ancora un boccale sul
mio conto e dimmi quel che non so.
Perché dovrei tornare indietro?“9
„Perché? Maledetta piovra, per questo
ti chiedevo dove stavate andando! Cosa
pensi perché io sono qui?“10 raunte
der tätowierte Seemann vertraulich
und rückte näher an Frano heran.
„Stai aspettando la nave“,11 entgegnete Frano.
„Macché!“ stieß der Matrose flüsternd
hervor. „Aspetto che il mio capitano
si decida per il lazzaretto più vicino!
È scoppiato il colera!“12
„Qui a Malta?“13 fragte Frano bestürzt.
„Si. Ho sentito che è stato portato qui
da un legno turco. Senza lazzaretto...“14
Fran hörte ihm nicht mehr zu. Die
Nachricht war zu schrecklich! Gerade als es mit den Geschäften bergauf
ging, brach die Cholera aus. In jenen
Tagen war dies eine unheilbare Krankheit, gefährlich zumal für Inselstaaten, die sich außer mit strengen Quarantänevorschriften im Grunde nicht
anders gegen diese schreckliche Ansteckungsgefahr zu Wehr setzen
konnten.
Franos Angst war nicht unbegründet. Der Vater hatte ihm von einer
schrecklichen Cholera-Epidemie erzählt, von der Europa und die Insel
Hvar 1855 erfasst wurden. In den
ersten 36 Tagen, vom 11. Juli bis
zum 16. August, erkrankten in Stari
Grad 499 Menschen und 204 starben! Andere Ortschaften Hvars setzten sich durch die Einführung eines
so genannten Seuchensperrgürtels zur
Wehr. Das Sperrgebiet von Jelsa umfasste den Bereich westlich von Pitve,
Vrisnik, Svir~e, Vrbanj und Vrboska.
Doch nicht allen dalmatinischen Inseln gelang es mit dem gleichen Erfolg, die Ansteckungsgefahr abzu9
wehren. Einige Ortschaften im Inneren Kor~ulas wurden von der Epidemie fast ausgelöscht. Ganz besonders schwer betroffen war Blato,
aber auch das kleine Pupnat, in dem
ein Drittel der Einwohner dahingerafft wurde!
Während Frano den Wein bezahlte,
leerte Marin seine Bevanda, und
alsbald kehrten sie mit eiligen Schritten zu den Schiffsanlegern zurück.
Die Nachricht war so schrecklich,
dass Frano sie schnellstmöglich seinem Vater überbringen wollte. Keinen Augenblick lang zweifelte er an
ihrer Richtigkeit. Seeleute hüteten
sich nämlich davor, unwahre Gerüchte über Ansteckungskrankheiten
in Umlauf zu bringen, denn allen
grauste es vor der Langeweile der Quarantäne im Lazarett. Keiner wünschte dem anderen ein solches Übel an
den Hals.
Obwohl er kein einziges Wort des
mitgehörten Gesprächs verstanden
hatte, ahnte der Junge, dass der Steuermann etwas sehr Wichtiges erfahren hatte, und so stolperte er schweigend hinter ihm her.
Als sie verschwitzt und atemlos das
Deck der Divina Provvidenza betraten, erblickte Frano seinen Vater, der
an den Schonermast gelehnt seine
Pfeife schmauchte. Der Rest der Besatzung war im Hafen ausgeschwärmt, um verschiedene Aufträge zu
erledigen.
„Ich habe mich schon gefragt, wie
lange du brauchen würdest, um es zu
erfahren!“ sagte der Alte lächelnd,
ohne das geringste Anzeichen von
Besorgnis.
„Wie hast du davon erfahren?“ wollte Frano wissen und vermied absichtlich das schreckliche Wort Cholera.
„Die Segelmacher waren hier. Im
Hafen kursiert die Nachricht, dass
die Cholera ausgebrochen ist, und
so haben sie mich davon benachrichtigt, damit wir so schnell wie
möglich ein Lazarett aufsuchen.“
„Und was machen wir jetzt?“ fragte
Frano besorgt.
„Wir fahren nach Lampedusa. Wir
warten nicht, bis wir eine Fracht gefunden haben, denn dazu bleibt uns
keine Zeit. Wir übernehmen morgen die neue Takelung, nehmen Ballast auf und stechen in See.“
„Aber wir haben kein gültiges Gesundheitszeugnis. Niemand wird es
uns hier ausstellen!“ Frano wusste
ebenso wie der Alte, dass auf der Fede
di sanità oder dem Patente di sanità
stets die Gesundheitslage des Auslaufhafens angezeigt wurde.
„Wir werden dort sein, noch bevor
das Gerücht über die Cholera eintrifft, und sollten wir es nicht schaffen, so vergiss nicht, dass ich halb
Lampedusa kenne“, sagte der Alte und
stieß mit unerschütterlicher Ruhe dicke Rauchwolken aus. „Dort befindet
sich auch Martoran; wenn niemand
anders uns glauben sollte – er wird
uns glauben, dass wir ansteckungsfrei sind. Und das sind wir ja auch!“
Als Erste kehrten der Schiffskoch
und Belluomo mit zwei Säcken voller Nahrungsmittel zurück, wenig
später auch Tadija und Gobo. Sie hatten ebenfalls die schreckliche Nachricht gehört, und niemand brauchte
eine besondere Erklärung, um zu
wissen, welch Unglück sich über ihnen zusammenbraute.
„Ab jetzt hat keiner mehr Ausgang in
den Hafen ohne meine Erlaubnis“,
sagte der Alte, sobald alle versammelt waren. „Die Segelmacher ha-
Ital.: Mein Freund, trink noch einen Krug auf meine Rechnung und erzähl mir, was ich nicht weiß. Warum sollte ich zurückkehren?
10
Ital.: Warum? Beim Meereskraken, deshalb habe ich dich ja auch gefragt, wohin ihr geht! Was glaubst du, warum ich hier bin?
11
Ital.: Du wartest auf ein Schiff?
12
Ital.: Ach was! Ich warte, dass mein Kapitän sich für das nächstliegende Lazarett entscheidet. Die Cholera ist ausgebrochen!
13
Ital.: Hier auf Malta?
14
Ital.: Ja. Ich habe gehört, dass ein türkisches Schiff sie eingeschleppt hat. Ohne Lazarett...
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ben versprochen, sich zu beeilen, sodass wir nicht zwei Tage auf die Segel zu warten brauchen. Sie werden
sie morgen liefern, und dann kommen die Steine für den Ballast. Die
Seuche ist soeben erst ausgebrochen,
und wenn wir sofort in See stechen,
treffen wir vor den Gerüchten ein...
Der Fisch kann warten! Nehmt auch
frisches Wasser an Bord.“
Obwohl Marin nichts über die tückische Krankheit wusste, war er
ebenso wie die anderen sichtbar verängstigt. Aber nach der Rede des Alten fühlten sie sich alle irgendwie
ermutigt durch den Glauben, dass
sie der Ansteckung bisher entgangen
waren. Das Leben im Hafen und auf
den Anlegern verlief, als wäre nichts
geschehen.
Den ganzen nächsten Vormittag verbrachten Tadija und Gobo damit,
das mächtige Focksegel von der Gaffel des Vormasts abzunehmen. Dann
kam das Großsegel an die Reihe, dessen Unterliek vom Baum gelöst wurde, während Belluomo und Fabris
sich auf dieselbe Weise am Toppsegel zu schaffen machten. Als gegen
Mittag die Segelmacher mit ihrem
Wagen, der mit schweren Segeltuchballen beladen war, eintrafen, konnten sie sofort mit der Arbeit beginnen. Sie gingen sehr geschickt vor
und wurden von Tadija unterstützt.
Als sie die Gaffeln hochzogen, um
die Länge der Segel zu überprüfen,
musste Marin blinzeln die Augend
zusammenkneifen, so sehr blendete
ihn das makellose Weiß der Segelplanen.
„Sie müssen noch ein bisschen gekürzt werden, denn im Wind werden sich die Planen noch dehnen“,
beteuerte der ältere Segelmacher dem
Kapitän, und da Tadija derselben
Meinung war, nahmen sie erneut
ihre Arbeit auf. Als sie fertig waren,
zahlte der Alte ihnen den gesamten
Betrag auf einmal aus.
„Jetzt können wir nach San Francesco, um Steine als Ballast zu laden“,
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sagte er zufrieden, denn die Segelmacher hatten gute Arbeit geleistet.
Ein Schiff ohne Ladung musste Ballast aufnehmen, sonst hatte es unzureichenden Tiefgang und in den wechselnden Windverhältnissen auf See
nicht die nötige Stabilität. Und konnte kein nützliches Frachtgut gefunden werden, lud man also Steine aufs
Schiff. Diese wurden über die gesamte Länge des Laderaums verteilt
und an den Seiten mit Sand überschüttet, damit sie bei starkem Seegang nicht die Bordwand des Schiffes beschädigten.
Das Einladen von Steinen und Sand
war eine ungeheuer anstrengende
Arbeit, und nach der Ankunft in
Lampedusa musste aus dem Stauraum alles wieder gelöscht werden,
damit die Fässer mit dem Fisch eingeladen werden konnten. Das war
reinste Zeitverschwendung, und Marin wurde klar, warum der Kapitän
so fieberhaft nach irgendeiner nützlichen Fracht gesucht hatte.
„So viel Arbeit für nichts und wieder
nichts!“ klagte Gobo schweißüberströmt. „Wir hätten den Koch in den
Laderaum einschließen sollen, dann
hätten wir keine Steine zu schleppen
brauchen. Sein Kopf wiegt ohnehin
schwerer als Blei!“
Gewöhnlich gelang es Gobo, wenn er
den Koch auch nur erwähnte, wenigstens Tadija zum Lachen zu bringen, doch diesmal hatte niemand
Sinn für Späße. Wenn Schiffe unter
Ballast in Valletta einliefen, luden
sie in San Francesco die Steine ab,
die später von anderen Schiffen erneut als Ballast aufgenommen wurden, so auch von ihnen. Marin befand sich im Laderaum und schüttete aus einem Eimer, den ihm der
Koch hinunterließ, Sand in die Hohlräume zwischen den aufgetürmten
Steinen, und obwohl die Hitze im
Innern des Schiffes geradezu unerträglich war, so war es doch ein kleines bisschen leichter als in der Sonne
auf Deck.
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Erst drei Tage nach ihrer Ankunft
auf Malta gelang es ihnen, ungefähr
zwei Tonnen Steine und Sand einzuladen, eine ausreichende Menge,
um der Divina Provvidenza die nötige Stabilität auch bei stärkstem Wind
zu verleihen.
„Morgen nach der Frühmesse in der
Nikolauskirche laufen wir aus“, verkündete der Kapitän nach dem Abendessen.
Als sie am Freitagmorgen, dem 21.
Juli, dem vierten Tag ihres Aufenthalts in Valletta die Anker lichteten,
atmeten alle erleichtert auf.
Kaum hatten sie die Bucht von Marsaxlokk und Kap Benghisa, den Südzipfel Maltas, hinter sich gelassen,
begann ein Unwetter aufzuziehen.
Der angenehme aus Südwest fächelnde Libeccio schlug überraschend in
einen scharf aus West wehenden Poniente um, der allmählich an Stärke
gewann. Vor Einfall der Dunkelheit
wurde der Wind noch heftiger und
blies nun aus Norden. Langsam und
unaufhaltbar braute sich ein Sturm
zusammen.
„Wie viele Knoten hast du gezählt?“
wollte Tadija, der das Handlog über
seinen Kopf hielt, von Marin wissen.
„Acht, mein Herr!“ antwortete dieser stolz, denn es war das erste Mal,
dass er unmittelbar an der Messung
der Schiffsgeschwindigkeit teilnahm.
Bisher hatte er nur die Logleine wieder
aufwickeln dürfen.
„Gut gemacht, und nun wickle die
Leine sorgfältig wieder auf“, sagte Frano, der mit Hilfe einer Uhr die Ablaufzeit der Logleine gemessen hatte.
„Wenn der Wind andauert, sind wir
in drei Tagen auf Lampedusa!“
„Bis der Sturm so richtig in Fahrt
kommt, sind wir mit ein bisschen
Glück schon bei unserem Lagerhaus“,
fügte der Alte hinzu und blickte zum
Himmel auf.
Und so begann ihr Wettlauf mit dem
Sturm.
Der Alte war ein guter Kenner der
sommerlichen Wetterverhältnisse im
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Zvonko Todorovski
westlichen Mittelmeerraum. Leichtere Unwetter pflegten unversehens
aufzutreten, waren ebenso schnell
aber wieder vorbei und daher nicht
weiter schlimm. Anders jedoch verhielt es sich mit orkanartigen Stürmen. Sie dauerten mehrere Tage und
entfachten sich zu Orkanen mit Stärken von mitunter über 60 Knoten.
Die Männer erahnten, dass jetzt genau
so etwas auf sie zukam. Tagelang
würden sich unheilvolle Wolken am
Himmel auftürmen, und wenn der
Sturm erst einmal losbrach, konnten
nur Gott und ein erfahrener Kapitän
dem Schiff beistehen.
Der Alte war sich all dessen wohl
bewusst, dennoch entschloss er sich
zur Weiterreise. Die nur Ballast führende Divina Provvidenza segelte mit
der ansonsten unerreichbaren Geschwindigkeit von acht Knoten, und
so rechnete er damit, noch vor dem
Sturm in Lampedusa einzutreffen.
Selbst wenn kein Sturm gedroht hätte, hätten sie sich beeilen müssen, um
den mit unvorstellbarer Geschwindigkeit um sich greifenden Gerüchten über die Cholera zuvorzukommen. Der Alte konnte nicht wissen,
wie viele Schiffe vor ihnen Malta verlassen hatten; er hoffte nur, dass mit
ein bisschen Glück sein Plan aufgehen würde.
Sollte man sie nicht als Choleraüberträger verdächtigen, würden sie noch
300 Fässer eingesalzener Fische für
jene Hafenstädte im Peloponnes übernehmen können, in denen keine mehrwöchige Quarantäne drohte. Danach
könnten sie wiederkommen, ein weiteres Mal Fracht aufnehmen und das
Geschäftsjahr mit einem Gewinn
abschließen, von dem sie nicht einmal
träumen konnten, als sie zu ihrer
Reise aufbrachen!
Doch wie immer galt es, hier auch
ein Aber zu bedenken. Sollte ihnen
die Nachricht vom Ausbruch der
Cholera nach Lampedusa vorauseilen, würde aus den Plänen des Kapitäns nichts werden. Auf Lampedusa
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gab es kein Lazarett beziehungsweise
keine Quarantäne, und so würden
sie in einen der Häfen an der Westoder Südküste Siziliens zurückkehren müssen, wo es sie gab, um erneut
ein gültiges Gesundheitszeugnis zu
erwerben. Für den alten Maroevi}
eine grausige Vorstellung, an die er
nicht einmal zu denken wagte! In
der Quarantäne, die 14 bis 46 Tage
dauern konnte, würden sie wertvolle
Zeit verlieren, die sie nie und nimmer
würden wettmachen können. Die
Fischfangsaison wäre längst vorbei,
und die Einbuße von zwei Schiffsladungen eingesalzener Fische bedeutete einen ziemlich hohen Gewinnverlust. Dies war also der Grund,
warum sich der Alte auf ein so risikoreiches Unternehmen einließ.
Sie verbrachten eine ruhelose Nacht,
denn außer dem Jungen war sich jedermann bewusst, in welche Gefahr
man sich begab. Der Wind blies die
ganze Nacht abwechselnd aus West
und Nord, sodass die Provvidenza
nervös in der rauen See schlingerte.
Ein bewölkter Morgen brach an, und
das Meer verdunkelte sich zu einem
unheilvollen Schwarz. Bis zum Nachmittag lichtete sich die Wolkendecke
ein wenig, doch der starke Westwind
ließ nicht nach. In den Wantenseilen
begann es gespenstisch zu pfeifen, und
ringsumher blühten weiße Schaumkronen auf den rollenden Wogen.
Zwischen Meer und Himmel war
der verschmolz nicht zu erkennen.
Alles verband sich zu einem einheitlichen Grau.
Die Gespräche verstummten, alle
standen gespannt und warteten auf
die Befehle des Alten. Es kam vor,
dass der Wind für einige Stunden
nachließ und mäßiger stark wehte,
sodass die Segel aufgerollt werden
konnten, bei starkem und stürmischem Wind jedoch rollte man sie
um zwei oder drei Handbreit wieder
ein und reffte das Toppsegel. Und so
verging der zweite Tag der Überfahrt
und ein Teil der Nacht, indem sich
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die Mannschaft ständig den Windverhältnissen anpasste.
Dennoch gab es in all dem Ungemach auch einen schwachen Trost.
Vom starken Wind angetrieben und
beladen mit ideal bemessenem Ballast, gab die Divina Provvidenza ihr
Bestes. Mit acht bis acht einhalb
Knoten flog sie über das Meer, eine
Geschwindigkeit, die ansonsten für
sie unerreichbar war. Auch diesmal
zeigte sich, dass das Glück den Kühnen dient. Die Vorboten des Sturms
sollten sie bis vor Lampedusa befördern, noch bevor das Unwetter losbrach.
Am dritten Tag der Überfahrt lag ein
unheilvoller Dunst in der Luft, der
das Grau des Horizonts violett verfärbte. Dieser ungesunde Ton machte den Seeleuten am meisten Angst.
„So ein Wetter habe ich noch nie
gesehen“, sagte Gobo, der sich nicht
länger zurückhalten konnte. „Als würde es darauf warten, bis wir in einen
Hafen einlaufen.“
„Wenigstens ist es keine Wasserhose“, lachte Belluomo grimmig. „Ich
habe wieder so richtig Lust auf einen
Sturm!“
Frano hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf den Schiffsjungen,
denn auch der kleinste Funke Gewalt würde angesichts des düsteren
Himmels und der Steinladung an
Bord eine wahre Katastrophe bedeuten. Dank der Empfindsamkeit, die
ihm in der Seele schlummerte, konnte ihn die erstaunliche Verbundenheit zwischen dem Jungen und dem
Wind nicht mehr aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, je länger er darüber
nachdachte, desto größer war seine
Überzeugung, dass es diese Verbundenheit tatsächlich gab.
Man hatte soeben erst begonnen, die
Geheimnisse der Natur aufzudecken,
doch wie viel war dem Menschen
noch verborgen? Frano hatte über
Schamanen in Afrika gelesen, die
angeblich den Regen herbeirufen
konnten. Warum sollte es dann nicht
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Menschen geben, die den Wind herbeiriefen? Die Höhen des Himmels
waren nicht weniger geheimnisvoll
als die Tiefen des Meeres. Dass in
diesem Fall ein Junge den Wind herbeizurufen vermochte, war nur ein
Beweis mehr für die Wahrhaftigkeit
dieser Annahme. Frano war fest davon
überzeugt, dass er würde beweisen
können, was er seinem Vater erzählt
hatte.
Es blieb ihm jedoch nicht allzu viel
Zeit, sich Gedanken über den Schiffsjungen zu machen, und noch weniger, sich süßen Träumereien über
Marija hinzugeben, da sich am vierten Tag ihre Überfahrt zu einem offenen Wettlauf mit dem Sturm verwandelte.
Gegen drei Uhr am Nachmittag des
25. Juli hätten sie die Küste Lampedusas erblicken sollen, doch der Nebelschleier lichtete sich erst zwei
Stunden später. Als er endlich an der
Landspitze zur ihrer Linken die wohlbekannten Steilfelsen von Capo Grecale erblickte, atmete er Alte sichtbar
erleichtert auf.
Sie schwenkten von ihrem Südkurs
nach Westen ab, passierten das lang
gestreckte Kap Sottile und erreichten die windgeschützte Seite der Inselgewässer. Die Divina Provvidenza
fuhr jetzt bedeutend langsamer. An
Bord machte sich, wie immer vor
dem Anlaufen eines Hafens, Erregung breit, jedoch nur in den Gedanken der Seeleute. Bis endlich der
Anker ausgeworfen werden konnte,
hatte jeder seine genau vorgegebenen Aufgaben zu erledigen, sodass
für nichts anderes Zeit blieb. Hinter
der Landzunge O’Spada lag die dreiarmige Bucht von Lampedusa, ihre
Zuflucht vor dem nahenden Sturm.
Der Alte setzte seine Kapitänsmütze
auf, zog aber seine Uniform nicht
an, weil es dazu zu heiß war. Er trug
ein sauberes Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine blaue
Hose und Schuhe. Die übrigen Seeleute achteten nicht so sehr auf ihre
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Kleidung, außer vielleicht Frano, der
als Steuermann eben kein gewöhnlicher Matrose war.
Marins Kleidung unterschied sich in
keiner Weise von der Kluft der anderen Seeleute: Die Sonne hatte sie ausgebleicht, den Rest hatten das Meerwasser, der Schweiß und das Einsalzen der Fische besorgt, so dass ihre
ursprüngliche Form und Farbe nicht
mehr zu erkennen waren. Das einzig
Neue waren seine Schuhe, die er für
besondere Anlässe in einem Korb
verwahrte.
Am Hafeneingang erwartete sie eine
große Barke, in der viele Fischer saßen. Zwei der Männer hielten Gewehre, und der Alte begriff sofort,
dass die Lage ernst war.
„Antonio!“ rief er, als er einen von
ihnen erkannte. „Was ist denn los?“
„Es tut mir Leid, mein Herr, aber
ohne Gesundheitszeugnis dürfen Sie
nicht in den Hafen“, antwortete der
Mann.
„Als wir das erste Mal hierher kamen,
hast du nicht nach dem Gesundheitszeugnis gefragt, Antonio!“ entfuhr es
dem Alten bissig.
„Auf Malta ist die Cholera ausgebrochen, Herr Kapitän!“ entgegnete Antonio, und dieser Umstand erklärte
alles. Dann fügte er leiser hinzu: „Es
tut mir Leid, Signore.“
„Siehst du denn nicht, dass sich ein
Sturm zusammenbraut?“ entgegnete
der alte Maroevi} nervös. „Wirst du
es wirklich zulassen, dass wir die
Nacht hier draußen verbringen?“
„Es tut mir Leid. Sie dürfen nicht
einlaufen, bevor Sie bewiesen haben,
dass Sie frei von der Ansteckung
sind“, antwortete Antonio stur und
nicht gewillt, auch nur einen Millimeter nachzugeben.
Der Alte blickte ihn finster an und
konnte seinen Augen nicht trauen.
Die Hälfte der Fischer in der Barke
arbeitete für ihn, und er kannte sie
alle gut. Es waren anständige, aber
verängstigte Männer, entschlossen,
die Einschleppung der Cholera auf
TIONS
ihrer Insel zu verhindern. Der Alte
begriff, dass er die Angst der Inselbewohner vor der Seuche unterschätzt
hatte.
„Erlaubt uns, diese Nacht im Hafen
zu verbringen!“ bat er verzweifelt,
denn der Himmel wurde immer bedrohlicher. Es schien, als könnte sich
der Sturm nicht mehr länger zurückhalten.
„Ohne ein gültiges Gesundheitszeugnis darf niemand in den Hafen“, entgegnete Antonio barsch. „Ihr kommt
von Malta. Dort ist die Cholera ausgebrochen!“
„Aber wir haben uns nicht angesteckt!“
rief der Alte, doch er sah ein, dass
jeder weitere Versuch zwecklos war.
Die Küstenwache der Fischer war
unerbittlich. Obwohl viele mit dem
Verkauf ihres Fangguts an Jure Maroevi} sehr gut verdient hatten, zeigte keiner auch nur das geringste Mitleid mit den möglichen Überträgern
der Cholera. Warum sollten sie auch?
In jenen Tagen konnte es geschehen,
dass auf kleineren Inseln sämtliche
Bewohner von einer Epidemie dahingerafft wurden.
Während der Alte verhandelte, horchten die Seeleute wie versteinert auf das
verhaltene Grollen, das mit dumpfen Schlägen langsam näher kam. Es
schien, als würde eine gewaltige Himmelstrommel immer stärker von unsichtbarer Hand gerührt. Nach dem
Donner trat gespenstische Stille ein,
noch unheimlicher als das Dröhnen
des Himmels. Marin konnte zwischen zwei Schlägen deutlich das
Schnurren des neben ihm stehenden
Katers Coto vernehmen.
Auf einmal krachte es in den tief
über ihren Köpfen hängenden Wolken, und es gab weder auf der Provvidenza noch unten in der Barke der
Küstenwache einen Menschen, der
nicht zusammenzuckte.
Den unerbittlichen, düsteren und
entschlossenen Blicken nach zu urteilen, die ihnen aus der Barke zugeworfen wurden, hätten die Seeleute,
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selbst wenn sie kein einziges Wort
Italienisch verstanden hätten, sofort
begriffen, dass aus der Übernachtung
im Hafen nichts werden würde.
Sämtliche Pläne des Alten fielen ins
Wasser, doch er wollte die Tatsachen noch immer nicht wahrhaben.
Stumm schauten sich die Männer
auf beiden Seiten an, wortlos Blicke
tauschend, während der Wind sein
Lied pfiff und die vom offenen Meer
kommende, immer steilere See die
Ruder der Küstenwache höher und
höher tanzen ließ. Letztendlich, infolge
des immer heftigeren Schaukelns,
begriff der Alte. Wütend befahl er
Belluomo, der am Steuerrad stand:
„Jere, Ree! Wir fahren hinaus!“
„Ist klar!“ bestätigte der Rudergänger mit leiser Stimme.
Es war sehr schwierig, das Wendemanöver auszuführen, da es sich jeglichem Seemannsbrauch widersetzte: Bei drohendem Unwetter wurde
einem Schiff niemals die Zuflucht in
einem Hafen verweigert. Merkwürdig, aber von allen Crewmitgliedern
der Divina Provvidenza zeigte nur
der Schiffsjunge einen friedlichen
Gesichtsausdruck, ohne das geringste Anzeichen von Besorgtheit oder
Angst. Die anderen Seeleute hatten
verzerrte Gesichter, ballten ihre Fäuste oder erhoben angstvoll ihre Blicke
zum Himmel.
Unter der festen Führung Belluomos,
dessen Hand auf dem Ruder lag, und
dem Zutun der Männer, die sich an
den Leinen und Segeln zu schaffen
machten, führte der Zweimaster die
Kehrtwendung aus und, angeschoben von dem achterlich blasenden
Nordwind, entfernte er sich augenblicklich von der Buchteinfahrt, als
würde er von einer unsichtbaren Kraft
angetrieben. Die Barke der Küstenwache verweilte noch ein paar Minuten schaukelnd auf der Stelle, dann
hoben die Fischer mit langsamen
und müden Bewegungen die Ruder
und wendeten das Boot in Richtung
der kleinen Bucht Spiaggia Guitgia,
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einem Seitenarm der großen Hafenbucht, in dem sie Wache hielten.
„Segel um zwei Handbreit kürzen!“
befahl der Alte, so laut er konnte, da
der Wind immer mehr zunahm und
mit ihm das gespenstische Pfeifen
des Takelwerks, das den Männern
das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Obwohl sich auf dem Schiff eine fast
verzweifelte Stimmung breitmachte,
stürzten sich die Matrosen sofort auf
die Arbeit, was bei dem starken Wind
überhaupt nicht einfach war.
„Bringt den Ofen in die Back!“ lautete der zweite Befehl des Alten, den
Fabris prompt ausführte. Den kleinen Ofen hätten die Wogen in wenigen Sekunden von Deck gespült, und
ohne Ofen war ein Leben an Bord
unmöglich. Obwohl ihnen allesamt
das Gulasch schon zum Halse heraushing, war es doch ein nahrhaftes
Gericht für die schwer arbeitenden
Matrosen.
„Fock bergen!“ rief der Alte, kaum
dass Tadija und Gobo zusammen
mit dem Koch aus dem Stauraum
gestiegen kamen.
„Fock klar zum Bergen!“ gaben die
Matrosen ganz außer Atem zurück
und stürzten sich auf die Arbeit.
Im selben Augenblick blitzte und
donnerte es. Der Donner wollte nicht
mehr aufhören und reichte von einem Ende des Himmels zum anderen, als würden zu beiden Seiten
Kanonen abgefeuert. Es folgte Donnerknall auf Donnerknall, ohne Unterlass, während die grell flammenden Blitze am schwarzen Himmel
aussahen, als wollten sie ihn in Brand
setzen.
Da entdeckte Marin schmale weiße
Wolkenfetzen, die mit unglaublicher
Geschwindigkeit unter dem schwarzdüsteren Gewölk entlangflogen, ein
atmosphärisches Vorzeichen, das
stets heftigste Seestürme ankündigt.
Schnell begannen sie zu zerfleddern
und sich aufzulösen.
„Gott steh’ uns bei!“ rief Fabris aus,
blass vor Entsetzen über das Erschei-
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nen der Wolkenfetzen, denn er wusste nur zu gut, was das zu bedeuten
hatte.
Auf einmal wurde die Luft von einem Rascheln erfüllt. Dieses Geräusch war noch schrecklicher als das
Grollen des Donners.
„Die See kocht!“ rief Frano.
„Ruder nach steuerbord!“ schrie der
Alte.
„Ist klar!“ erwiderte Belluomo prompt
und drehte das Ruder, weil das Schiff
sonst einen Windstoß von achtern
bekommen hätte. Im Nu trat unwirkliche Stille ein. Es verstummten Donner und Blitz; zu hören war
lediglich das gespenstische Plätschern
der Wellen an der Außenbordwand
des Schiffes. Doch nicht für lange.
Gleich darauf war meilenweit im
ganzen Umkreis wieder jenes gespenstische Rascheln zu vernehmen.
Ohne jegliches Vorzeichen folgte nun
Windstoß auf Windstoß, immer stärker werdend, als würde aus den tiefen, schwarzen Wolken alle unwirkliche Kraft des Luftraums freigesetzt.
Der Himmel wurde ganz schwarz,
der Tag wandelte sich zur Nacht.
Die Wogen begannen auf die Divina
Provvidenza einzustürmen, überstürzten sich, ringsumher nichts als Gischt,
nichts als das unruhige Schäumen
der kochenden Fluten, unter denen
sich das Meer verbarg. Der Horizont
wurde so eng zusammengepresst, dass
man glaubte, ihn mit den Händen
greifen zu können.
Beim ersten mächtigen Windstoß
neigte sich das Schiff mit einem grauenvollen Ächzen zur Seite. Obwohl
sie es schon unzählige Male zuvor
gehört hatten, erfüllte dieses ächzende Geräusch gebündelter Schiffsbalken
die Mannschaft mit tiefstem Entsetzen. Dann neigte sich der Bug so tief
ins Wasser, als wollte er nie mehr
wieder aus dem steilen Wellental
auftauchen. Das Schiff hielt für einen Augenblick inne, richtete sich
dann auf und drehte ab, bis es auf
Halbwindkurs lag.
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Die immer höher sich türmenden
Wogen erschwerten eine aufrechte
Körperhaltung an Bord, sodass sich
die Matrosen taumelnd vorwärtsbewegten, indem sie sich an den Spieren und Tauen festhielten. Der Sturm
entfesselte sich nun so heftig, als hätte er alle Geduld verloren, mit der er
sie bisher verschont hatte. Obwohl es
der Uhrzeit nach immer noch Tag war,
senkte sich eine Dunkelheit herab,
in der die vom Wind getriebenen,
breiten Gischtstreifen in der Ferne
noch deutlicher zu erkennen waren.
Marin blickte jetzt besorgt auf die
Veränderung des Meeres. Das leuchtende Azur, an dem er so gerne vor
sich hinträumte, hatte sich zu einem
tiefdunklen Indigoblau gewandelt,
und die Gischt auf den sich überschlagenden Wogen bewegte nun
auch die beherztesten Männer zu
Gebeten und Gelöbnissen. Zum ersten Mal erkannte er, zu seiner großen Überraschung, die grenzenlose
Macht und Weite des Meeres.
„Wir werden vor der Südküste kreuzen!“ rief der Alte und streifte seine
wasserdichte Regenjacke aus gewachstem Leinen über. Alle Männer trugen Kopfbedeckungen aus demselben wasserdichten Stoff mit hinten
weit überhängenden, breiten Krempen. Obwohl der Alte rief, so laut er
konnte, verstand ihn Frano nur mit
Mühe. „Dort liegen wir in Lee, und
Lampedusa selbst wird uns vor dem
Wind schützen.“
Auch in den südlichen, windgeschützten Gewässern war die See aufgewühlt, und der Wind übertönte
brausend die Rufe der Männer. Angesichts der gewaltigen Macht des
Sturmes konnte Marin erahnen, wie
stark der Wind auf der dem offenen
Meer zugekehrten Nordseite Lampedusas sein musste, wo es keinen
Schutz vor dem Orkan gab.
Im nächsten Augenblick ergoss sich
seitlich hereinstürzendes Meerwasser übers Deck, der Bug tauchte unter, das Vorsegel blähte sich und zit-
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terte, die Balken ächzten, die Masten erbebten, und ohrenbetäubendes Heulen und Pfeifen, von dem
den Männern das Blut in den Adern
stockte, fuhr durch die Taue.
„Tadija, schließ den Schiffsjungen in
die Back!“ rief der Alte, denn die
Fluten sprangen nun schon über die
Reling. Obwohl dank der Deckskrümmung das Wasser schnell wieder
abfloss, konnte der Alte nicht riskieren, dass dem Jungen etwas zustieß,
zumal er dessen Mutter hoch und
heilig versprochen hatte, er würde
ein wachsames Auge auf ihn haben.
Tadija überhörte zunächst die Worte des Kapitäns, doch als ihm dieser
ins Ohr brüllte, nickte er nur kurz.
Sich am Manntau festhaltend, das
zur Sicherung der Seeleute längs der
gesamten Bordwand gespannt war,
tastete er sich geschickt zu dem Jungen vor, der sich triefend vor Nässe
mit beiden Händen an den Wanten
festhielt und wie verzaubert auf die
ihn umspülenden Fluten starrte.
Wortlos packte er ihn an der Hand
und führte ihn zur Ladeluke auf dem
Vorschiff. Der Junge folgte ihm wie
betäubt, als wäre er sich nicht bewusst, was um ihn herum geschah.
Noch war kein Wasser in die Back
eingedrungen, doch das war lediglich
eine Frage der Zeit. Deshalb hievte
Tadija alle Seemannstruhen schnell
auf die Klappbetten, wo sie vor dem
Wasser, das den Mannschaftsraum
sicher bald überfluten würde, besser
geschützt waren.
„Was schaust du so?“ fragte Tadija
ihn müde und mit den Nerven am
Ende. „Hol schnell deinen Korb und
stell ihn auf mein Klappbett, und
bleib mir ja hier drinnen... Und bete
zu Gott, bete inständig darum, dass
wir diese Nacht überstehen. Wenn
wir es schaffen, kaufe ich dir im ersten Hafen Feigen, wie du noch nie
welche gegessen hast!“
Er strich dem Jungen zweimal kurz
über den nassen Schopf und stieg
dann umständlich, da das Ölzeug
TIONS
ihn behinderte, die Stiegen hoch aufs
Deck, wo sogleich der Orkan an ihm
zu zerren begann. Es sah ganz so aus,
als ob die Divina Provvidenza diesmal
nur durch die in ihrem Namen angerufene Vorsehung vor dem immer
stärker werdenden Orkan gerettet
werden konnte.
Der Alte gab Order, auf Westkurs zu
gehen, zur La Tabbaccara-Bucht. Die
Provvidenza kämpfte sich durch die
immer höher sich türmenden Wogen,
mit steil aufsteigendem Bug, der in
immer tiefere Wellentäler absackte...
Erst nach vier Stunden erreichten sie
die La Tabbaccara-Bucht, um jedoch
sofort wieder zu wenden, denn der
Küstenbereich, der sie vor dem Ungestüm des Orkans schützen sollte,
war hier flacher und die Gewässer
ebenso aufgewühlt wie auf hoher See.
Die Luft war erfüllt von Gischt, und
es schien, als sei ringsumher überall
nur Wasser. Infolge des Seestaubs
nahm das Meer in der Ferne eine
weißliche Färbung an, die Sichtweite
verringerte sich noch mehr, und die
Felsküste Lampedusas war zeitweilig
kaum auszumachen.
Die Stunden schleppten sich mühsam und in quälendem Schneckentempo dahin, und allen kam es vor,
als würde sich der Sturm, statt abzuschwächen, nur noch mehr entfesseln, als wollte er nie mehr enden.
Wegen der Fluten, die sich über die
Bordwand ergossen, konnten auch
die Überzieher aus imprägniertem
Leinen nicht verhindern, dass die
Seeleute völlig durchnässt waren.
Kaum war eine Woge abgeflossen,
ergoss sich schon die nächste geräuschvoll über das Mittelschiff, und
das durch den pfeifenden Wind hindurch hörbare Ächzen der Planken
erweckte den Eindruck, als wollte die
Divina Provvidenza jeden Augenblick in tausend Stücke zerbersten.
Die Matrosen, die sich am Manntau
festhielten, ertrugen geduldig, jeder
an seinem Platz, das ungestüme Gebaren der Natur, denn außer ihren
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Gebeten konnte ihnen jetzt nichts
mehr helfen. Es war völlig gleichgültig, ob sie sich auf oder unter Deck
befanden, denn das Wasser drang nun
überall ein. Kein einziger Teil des Ladeund des Mannschaftsraums blieb verschont, und niemandem war klar, wie
sich das Schiff über Wasser hielt.
Der Alte hatte keine andere Wahl,
als seinen Kurs fortzusetzen und vor
der Südküste der Insel zu kreuzen,
indem er sie als eine Art Schutzschild
gegen das gröbste Unwetter benutzte. Hätten sie Kurs auf die offene See
genommen, wären sie schon längst
gekentert.
Gobo und der Koch lösten Frano
und Tadija beim Dienst an der mittschiffs gelegenen großen Ladeluke
ab, deren Schutzplane wegen der sich
darüber ergießenden Wogen immer
wieder strammgezogen werden musste. Das Tau, mit dem das Wachstuch an der Öffnung festgebunden
war, hatte sich gelockert, sodass das
Tuch durch die Wucht des Wassers
auf einer Seite eingerissen war. Wenn
die Provvidenza auch keine Fracht
geladen hatte, die durch die Nässe
hätte Schaden nehmen können, wäre
es sehr gefährlich, wenn Wasser in
den Laderaum eindränge.
Frano, der sich am Großmast festhielt, erblickte zwischen zwei Wasserschüben den Kopf des Schiffsjungen, der vorsichtig aus der Vorpiek
lugte. Selbst wenn er Zeit gehabt hätte, ihm zuzurufen, dass er an seinem
Platz bleiben sollte, hätte ihn der Junge wegen des Lärms, den der Wind
und die aufgewühlte See verursachten, nicht gehört. So geschah es aber,
dass in dem Moment, als Marin mit
seinen Händen das Deck berührte,
das Heulen des Windes verstummte!
Frano, obzwar schon überzeugt von
der wundersamen Verbundenheit zwischen Marin und dem Wind, sträubten sich die Haare!
Sogleich suchte er taumelnd den Alten auf, der sich an den Wanten des
Großmasts festklammerte.
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„Schau mal zur Vorpiek!“ brüllte er
dem Vater ins Ohr.
Ohne eine Antwort abzuwarten, umfasste er das Manntau und begann,
sich langsam zum Vorschiff vorzukämpfen. Er musste durch einen
wahren Reißfluss knöcheltiefen Wassers waten, da Welle auf Welle folgte
und die Fluten keine Zeit hatten abzufließen. Während er sich langsam
am Tau nach vorne arbeitete, erblickte ihn der Junge und zog sich
wieder in die Piek zurück.
Kaum hatte sich der Schiffsjunge zurückgezogen, brauste der Sturm erneut los.
Frano hatte es nur seiner Voraussicht zu verdanken, dass er nicht von
Bord gespült wurde, denn er begriff
sofort, dass der Wind, der sich legte,
sobald der Junge auf Deck erschien,
bestimmt wieder anfangen würde zu
toben, wenn er wieder unter Deck
ging. Deshalb umklammerte er fest
die Wanten des Fockmasts und hielt
kurz inne, während ihm das Wasser
vom Gesicht strömte.
Links des Schiffes entlud sich knisternd Elektrizität, und im nächsten
Augenblick zerteilte der größte Blitz,
den er je gesehen hatte, mit grellem
Licht den Himmel. Man tat besser
daran, nicht zu sehen, was in diesem
Augenblick hell erleuchtet wurde.
Dem jungen Mann kam es vor, als
ob die Abertausend Tonnen Wasser,
die mächtigen Brecher, die sich schäumend von allen Seiten ergossen,
nicht nur einen grauenhaften Anblick der entfesselten Naturkräfte
darboten, sondern auch der offenkundige Beweis dafür waren, dass
das Meer und der Himmel einander
mit weit geöffneten Rachen gegenüberstanden.
Nach dem Blitz versank erneut alles
in schwarzes Dunkel, einzig der weiße Meeresschaum, der zischend vom
Deck abfloss, bezeugte, dass sie auch
weiterhin die festen, schwarz geteerten Planken der Divina Provvidenza
unter ihren Füßen hatten.
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„Marin, komm!“ rief Frano und winkte den Jungen zugleich zu sich heran,
da er im Rauschen des Wasser kaum
sein eigenes Wort verstehen konnte.
„Schnell!“
Der Junge stand zu Tode erschrocken auf der Treppe. Er konnte es
nicht mehr aushalten, in der Back
eingesperrt zu sein, sondern musste
trotz des Befehls herauskommen.
Der Anblick, der ihn auf Deck erwartete, übertraf alle seine Erwartungen, sodass er sich umgehend
wieder zurückzog. Als er jedoch Frano erblickte und ihn nach sich rufen
hörte, erfüllte ihn neues Selbstvertrauen. Er sprang aufs Deck, wo ihn
sofort die Hand des Steuermanns
packte. Kaum hatte der Junge seine
Füße auf die überfluteten Decksplanken aufgesetzt, flaute der Wind
ab und alles wurde still!
Frano erzitterte und fühlte sich noch
merkwürdiger als vorhin, als der Riesenblitz den Himmel zweigeteilt hatte. In der Stille muteten die Wogen,
die nicht sofort zum Stillstand kommen konnten, noch gespenstischer
an. Es war eine tote See...
Der Seegang war weiterhin rollend,
und die mit den Wogen schaukelnde und wieder absackende Divina
Provvidenza stöhnte und ächzte mühevoll, mit stoßweisem Jammern, als
wollte sie im nächsten Augenblick
auseinanderfallen. Doch jenes Grauen erregende, durch die Takelung streichende Pfeifen verstummte, sodass
sich der Kapitän über die jetzt geradezu
angenehmen Geräusche nicht die
geringsten Sorgen mehr machte.
Ohne den Seestaub, den der Wind
zuvor durch die Luft getragen hatte,
konnte man endlich wieder frei durchatmen.
„Bring den Schiffsjungen zurück in
die Back!“ brüllte der Alte, daran gewöhnt, das Heulen des Windes übertönen zu müssen, sodass seine Stimme nun unangenehm übers Meer
hallte. „Möchtest du, dass er über
Bord gespült wird?“
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„Hast du gesehen?“ fragte Frano.
„Der Wind hat sich gelegt! Wo bleibt
die Wasserhose?“
„Lass es mich nicht noch einmal sagen“, sagte der Alte und senkte die
Stimme. „Bring den Jungen in die
Back!“
„Steig hinunter, bis ich dich wieder
rufe, und bleib um Gottes Willen
drinnen!“ hieß Frano den Jungen aufgeregt an, der noch nichts verstand.
Unwillig, gerade wegen dieser merkwürdigen Erregung in Franos Stimme, stieg Marin langsam wieder in
die stickige Back hinab, in der das
Wasser bis zu den Knöcheln stand. Im
Rhythmus des schlingernden Schiffsrumpfs rollte es plätschernd von der
einen auf die andere Seite.
„Was ist los mit dir? Bist du verrückt
geworden?“ herrschte der Alte Frano
an und packte ihn am Arm. „Was
soll ich Signora Lucijana sagen, wenn
dem Kleinen etwas...“
Kapitän Maroevi} beendete seinen
Satz nicht, da ihn ein immer lauter
werdendes Brausen unterbrach, das
an ein wutschnaubendes Ungeheuer
erinnerte. Mit einem schauderhaften Heulen, das keiner von ihnen
jemals zuvor vernommen hatte, wanderte der Wind jetzt nach achtern.
Tadija wurde grün im Gesicht, Gobo
begann mit stummen Lippen, den
Geist seiner Großmutter Antica zu
beschwören, sogar der am Steuer stehende Belluomo begann, zum heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der
Seefahrer, zu beten. Fabris tat nichts
dergleichen. Mit offenem Mund und
weit aufgesperrten Augen stand er
da und erwartete den Untergang.
„In den Wind schießen!“ brüllte der
Alte, denn würde der Wind achterlich
einfallen, könnten sie diesen Ansturm nicht lebend überstehen. Sie
mussten das Schiff wenden, damit
der Wind von vorne kam.
„ Ist klar, Käpten!“ kam das Echo des
Rudergängers, und die Divina Provvidenza begann mit dem Wendemanöver. Von allen Segeln des Zwei-
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masters war einzig noch das Vorsegel gesetzt.
Jegliche Segelmanöver bei starkem
Wind von achtern waren wegen der
sich überstürzenden und das Schiff
mit hoher Geschwindigkeit einholenden Wogen äußerst riskant. Die
Wassermassen eines aufs Deck sich
ergießenden Brechers waren eine große Gefahr und konnten den ganzen
Decksaufbau eines Schiffes mitsamt
der Takelung und allem, was dazu
gehörte, mit sich fortreißen. Außerdem konnte durch eine hohe Welle
das Heck so weit aus dem Wasser
gehoben werden, dass das Ruder außer Kraft gesetzt wurde und das Schiff
ohne Steuerung auf dem Wasser
trieb, um sich auf dem Wellenkamm
seitwärts zu neigen und zu kentern.
Dies war das Schicksal vieler kleinerer Schiffe.
Um dieser Gefahr zu entgehen, musste der Alte mit dem Bug im Wind zu
stehen kommen und die Fahrt aus
dem Schiff nehmen. Verlor das Schiff
auf diese Weise an Geschwindigkeit
und wurde es ausschließlich von Wind
und Seegang angetrieben, beruhigte
sich in Luv, d.h. auf der dem Wind
zugewandten Seite des Schiffes die
Lage, und es entstanden keine Brecher
mehr. Wenn auch die See weiterhin
stark bewegt war und das Schiff nicht
aufhörte zu rollen, war den Wogen
doch ihre zerstörerische Kraft genommen.
Man sagt, dass in solch einem Fall
das Schiff treibt, da sich sein Rumpf
weder nach vorne noch nach hinten,
sondern querab bewegt, wobei sich
in Luv die Seen beruhigen. Der Alte
befahl dieses Manöver im allerletzten Augenblick!
Beim nächsten heftigen Windstoß
riss die Reffleine des Großsegels, sodass Fabris, der sich am Großbaum
festhielt, mit einem Ruck des nun frei
schwenkenden Segelbaums davongeschleudert wurde. Wie ein Sack
flog der Schiffskoch auf die andere
Seite des Schiffes und krachte gegen
TIONS
die Bordwand. Er schlug hart mit
dem Kopf auf und wurde im nächsten Augenblick von einer Woge überspült. Frano stolperte zu ihm und
zerrte ihn auf dem rutschigen Deck
zur Ladeluke. Hier drehte er ihn auf
den Bauch, für den Fall, dass er ohne
Bewusstsein war. Der Koch reckte
sich stöhnend, und Frano atmete erleichtert auf. Außer einem Riss im
Ölzeug war ihm nichts Schlimmeres
passiert.
„Ree!“ rief der Alte Belluomo zu, was
hieß, dass sie erneut das Ende der La
Tabbaccara-Bucht erreicht hatten
und an das andere Ende der Insel
zurückkehren mussten. Die ganze
Zeit über fiel der Wind entweder seitlich ein, oder sie segelten hoch am
Wind.
„Der Sturm zerreißt uns die Takelung!“ brüllte Frano, der sich auf dem
Vorschiff an den Wanten festhielt,
seinem Vater ins Ohr. „Du hast es
doch selber gesehen! Der Wind gehorcht dem Kleinen, er flaut ab,
wenn er auf Deck ist!“
„Wer hat denn je so etwas gesehen?!“
rief der Alte mit noch lauterer Stimme durch das Brausen des Orkans.
Seine tiefe Stimme wurde im Sturm
zur Piepsstimme eines Kindes.
„Du hast es doch selber gesehen“,
wiederholte Frano mühsam. „Du
hast doch Augen im Kopf.“
„Wie willst du das Kind in den Sturm
hinauslassen?“ knurrte der Alte, durch
Franos Zureden unsicher gemacht.
„Er wird es keine halbe Stunde aushalten, es wird ihn von Bord spülen!
Bist du verrückt? Was soll ich seiner
Mutter sagen?“
„Er muss raus...“ In diesem Augenblick wurden beide von einer Woge
übergossen und das Gespräch kurzweilig unterbrochen. Frano fuhr sich
mit der Hand über die Augen, spuckte Meerwasser aus und schaute seinem Vater unbeirrt ins Gesicht. „Verstehst du denn nicht? Er muss raus
aus der Back, das ist unsere einzige
Rettung. Warum könnten wir ihn
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nicht am Fockmast festbinden? Der
Wind wird sich legen, und er wird
nicht über Bord gespült werden!“
Der Alte blickte in den Sturm, der
mit der gleichen Macht tobte wie am
Anfang. Das Ölzeug der Seeleute war
völlig durchnässt, und die Kleider,
die sie darunter trugen, konnten sie
nicht vor dem eisigen Wind schützen. Die Überzieher, die sie beim
Bedienen der Takelung behinderte,
vermittelte ihnen jetzt eher das eingebildete Gefühl, vor der Nässe geschützt zu sein.
Mitternacht war schon vorbei, doch
der Morgen noch unvorstellbar weit.
Was konnte er verlieren? Sein Sohn
neigte normalerweise nicht zu absonderlichen Ideen; er war ein sehr
vernünftiger Junge, der sämtliche
Prüfungen auf der Seefahrtschule in
Bakar mit Auszeichnung bestanden
hatte... Doch wenn dieser Unsinn
half, dann mochte ihnen auch der
heilige Nikolaus beistehen! Es hätte
ohnehin kein anderer mehr helfen
können!
„Gut. Bring den Jungen. Binde ihn
am Mast fest und pass auf ihn auf!“
„Sofort, mein Herr!“ erwiderte Frano
und verfiel vor Erleichterung in eine
förmliche Redeweise. Von einer hölzernen Wantklampe entnahm Frano
ein zusammengelegtes Tau, das immer
zur Hand sein musste, wenn etwa
Fässer an der Bordwand befestigt
wurden. In zwei Sprüngen war er an
der Einstiegsluke, hob den Deckel
und brüllte, so laut er konnte, in die
Back hinunter:
„Marin! Komm heraus!“
Einige Augenblicke lang geschah
nichts, doch dann erblickte Frano in
der Dunkelheit unter sich vier helle
kleine Punkte und er bekam eine
Gänsehaut. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was er da sah.
Zwei Augenpaare waren es, die ihm
da entgegenblickten! Zwei weitere
Sekunden verstrichen, ehe Frano begriff, dass das untere Funkenpaar die
Augen des Katers Coto waren, den
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der Schiffsjunge auf dem Arm hielt!
„Lass den Kater, ihm wird nichts geschehen! Du musst den Sturm zur
Ruhe bringen“, sagte Frano.
„Ich komme, mein Herr, aber ich
kann Coto nicht hier unten lassen!“
verteidigte der Schiffsjunge entschlossen das einzige Crewmitglied, das
ihm dem Rang nach unterlegen war
und für das er sich verantwortlich
fühlte. „Er fürchtet sich...“
Obwohl in jeder anderen Situation
eine solche Antwort undenkbar war,
wurden die Maßstäbe des Steuermanns, mit denen er gegen Ungehorsam vorging, durch die Bedrohlichkeit der Lage gemildert, und der
Wortwechsel endete damit, dass Frano mit einer nervösen Bewegung seinen Arm hinunterstreckte, um dem
Schiffsjungen beim Aussteigen zu
helfen.
Sobald sich der Junge auf Deck befand, trat ein, worauf Frano schon
gefasst war. Wie beim ersten Mal
schwächte der Sturm in wenigen Sekunden zu einer Brise ab, dann zu
einem Windhauch, um sich schließlich ganz zu legen. Das Ganze hinterließ einen noch verstörenderen
Eindruck wegen des offenkundigen
Bezugs zwischen dem Schiffsjungen
und dem Wunder, das auf Deck geschah. Marin, der den Sturm zur
Ruhe gebracht hatte, konnte jedoch
nicht auch den Wellen der toten See
Einhalt gebieten, sodass das Schiff
auch weiterhin rollte. Doch ohne das
Ungestüm des Windes war der Seegang viel leichter zu ertragen, auch
hätten Maste und Taue dem Toben
des Orkans nicht mehr viel länger
standgehalten.
Plötzlich sprang Coto von Marins
Arm und huschte zurück in die Back.
Der Schiffsjunge blickte bittend zu
Frano.
„Ich kann ihn nicht allein lassen,
mein Herr! Ich bin gleich wieder da!“
Frano kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, geschweige denn, den
Jungen aufzuhalten, so schnell stürz-
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te Marin die Stufen hinab. Kaum
war der Junge in die Luke gesprungen, fuhr der Wind mit einer Wucht
in die Taue, die durch die vollkommene Stille unmittelbar zuvor noch
unheimlicher wirkte. Die erschöpften Seeleute hielten sich mit letzter
Kraft an den Tauen fest. Die Luft
erbebte in einem Donnern, dass es
für einen Augenblick aussah, als würden die Wolken auseinanderbrechen,
und im nächsten, als wollte der ganze Himmel in unzählige Stücke zerbersten.
„Hier sind wir, mein Herr!“ sagte
Marin, der stolz den Kater am Genick hielt. In Rudine packten so die
Katzen ihre Jungen mit den Zähnen.
Als befänden sie sich allesamt in einer vollkommen wahnwitzigen Geschichte, begann der Sturm wieder
abzuschwächen, um in wenigen Sekunden von der Gewalt eines Orkans auf das Fächeln einer Brise abzuflauen, dann zu einem Windhauch,
bis schließlich Stille eintrat.
„Ich werde dich am Mast festbinden, damit du nicht von Bord gespült wirst“, sagte Frano, als der Blick
des Schiffsjungen auf das Tau in der
rechten Hand des Steuermanns fiel.
„Mir ist egal, wie du das fertigbringst,
wichtig ist nur, dass es wirkt“, schloss
er lächelnd seinen Erklärungsversuch
ab. „Wenn du noch einmal hinuntergehst, holt uns der Teufel!“
Sämtliche Besatzungsmitglieder außer Belluomo, der zu weit hinten am
Ruder stand und nichts von alledem
sehen konnte, starrten wie versteinert auf die Szene, für die sie in ihrer
Vorstellungskraft schwerlich Raum
gefunden hätten, die jedoch wirklicher kaum hätte sein können. Marin
stellte sich an den Mast und hielt
sich mit einer Hand am Eisenbeschlag der Großbaumklau fest, woraufhin ihn der Steuermann fest mit
dem Tau umwickelte und es zum
Schluss noch einmal aufmerksam
überprüfte. Es durfte den Jungen
nicht zu fest einschnüren, musste
14.4.2009, 20:30
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RELA
Oktober
aber der Wucht der Wellen standhalten.
Tadija und Gobo sprachen kein Wort.
Fabris schnappte nach Luft, als wäre
er noch einmal mit dem Kopf gegen
die Bordwand geschlagen, und der
Alte blickte auf die tote See und wunderte sich, dass der Wind verschwunden war. Etwas Geheimnisvolles war
geschehen, einer dieser aus Seemannsgarn gesponnenen Vorfälle, an die
niemand glaubt, von denen aber jeder gerne erzählen hört. Sie betrachteten den Schiffsjungen, der den Kater Coto auf dem Arm hielt und ruhig, mit dem Tau in Brusthöhe, am
Großmast angebunden stand. Der
Anblick erinnerte nur allzu sehr an
die alten griechischen Sagen, die Doktor Nizeteo aus Stari Grad in seltenen Mußestunden dem Alten gerne
erzählte. Der festgebundene Schiffsjunge sah aus, als sollte er dem Meeresgott Poseidon geopfert werden!
Doch als hätte es in dieser Orkannacht nicht schon genug Wunder
gegeben! An den Spitzen beider Masten sah man plötzlich kleine Flammen züngeln, die in der düsteren
Nacht noch heller leuchteten, als sie
eigentlich waren. Es war, als ob jemand die Mastspitzen in Brand gesetzt hätte!
„Nikolausfeuer!“ stammelte Fabris,
der sich als Erster wieder gesammelt
hatte. Gleich darauf rief er laut und
mit der Hand nach oben weisend:
„Männer, Nikolausfeuer!“
Tatsächlich wurde diese Erscheinung
von kroatischen Seeleuten als das
Feuer des Seefahrerpatrons Nikolaus
bezeichnet, ist in anderen Gebieten
aber auch als Elmsfeuer bekannt, so
benannt nach dem Schutzheiligen
des Feuers St. Elmo. Diese Flämmchen sind durch schwache elektrische
Entladungen hervorgerufene Lichterscheinungen an hohen, spitzen Gegenständen, so etwa den Mastspitzen
von Schiffen. Den Seeleuten waren
Elmsfeuer stets willkommen, da sie das
Abflauen eines Sturms ankündigten.
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Obwohl er am Mast festgebunden
war, an dessen Spitze Flammen züngelten, fühlte Marin in tiefster Seele
eine große Befriedigung. Deshalb
hatte er auch auf Deck sein wollen,
denn mit den Bildern, die ihm der
Orkan zutrug, konnte er es nicht lange in der Back aushalten. Er streichelte den verängstigten Kater, der
wenig Verständnis für den Donner
und den Orkan hatte, und begriff
endlich: Der Freund des Mandelbaums, der Wind, hatte ihn gefunden! Der Beweis war in seinem Kopf:
Dieselben Bilder der aufgewühlten
See, die ihm der Wind in den Ästen
des Mandelbaums zugetragen hatte,
diese Traumbilder sah er jetzt in
Wirklichkeit!
Erlöst vom Peitschen des Sturmwinds, blickten die Seeleute mit neuer
Zuversicht dem Morgen entgegen,
der sich mühsam und lange hinter
den dicken Gewitterwolken ankündigte, mit denen der Horizont regelrecht verhängt war. Das vom Schiffsjungen bewirkte Wunder war keine
Gewähr dafür, dass das Unwetter
nicht erneut losbrechen und mit noch
größerer Macht wüten könnte. Die
Matrosen, vor allem aber der Kapitän, waren trotz der wundersamen
Rettung auch weiterhin misstrauisch. Obwohl sie mit ihren Kräften
am Ende waren, mussten sie auf ihren Plätzen bleiben.
„Wie können wir sicher sein, dass
sich der Wind wirklich gelegt hat?“
fragte Gobo und sprach aus, was offenbar alle beschäftigte.
„Wir schicken den Schiffsjungen in
die Back, und wenn es dann noch
ruhig bleibt, na dann wissen wir es
genau“, meinte Frano achselzuckend,
als verstünde es sich von selbst, dass
die Windlage davon abhing, ob der
Schiffsjunge an Deck war oder nicht.
Marin stieg also wieder in die Back
hinunter, doch nichts störte mehr
die Ruhe, die eingekehrt war. Es fächelte lediglich eine leichte Brise.
Alle lauschten gespannt, aber außer
TIONS
dem Plätschern der Wellen an der
Außenbordwand war kein anderes
Geräusch zu hören. Nach einigen Minuten ließ die Spannung nach. Der
Sturm hatte sich endgültig gelegt.
Unter Deck erwartete den Schiffsjungen ein schreckliches Durcheinander. Die Back stand unter Wasser,
und sein Korb und seine Strohmatte
schwammen schaukelnd neben dem
Kanonenofen. Alles, was er besaß,
war zerstört. Zum Glück war das Bild
seiner Mutter eine Blechfotografie,
der das Meerwasser nichts anhaben
konnte. Er atmete auf und machte
sich an die Arbeit.
Er packte den Eimer, der neben der
Leitertreppe schwamm, um das Wasser aus der Back zu schöpfen. Als er
an Deck stieg, war der Himmel schon
lichter. Die Wolkendecke begann zu
reißen. Im fahlen Morgengrauen erblickten sie die tief ins Land hineinragende Cala Croce-Bucht, die sie
auf ihrem Kreuzkurs im Laufe der
letzten Nacht mindestens zehnmal
passiert hatten. Er schüttete das Wasser über die Reling und stieg müde
hinab, um den Eimer erneut zu füllen. Er wusste, dass diese Arbeit andauern würde.
Während der Schiffsjunge mit dem
Lenzen der Back beschäftigt war,
näherte sich die Divina Provvidenza
dem Hafen von Lampedusa, denn
trotz der Sturmnacht hoffte Kapitän
Maroevi} immer noch, eine frische
Ladung eingesalzener Fische aufnehmen zu können. Als guter Schiffsführer hätte er auf der Stelle Kurs auf
Catania oder Syrakus nehmen müssen, um dort die vom Hafenamt vorgeschriebene Quarantäne zu verbringen. Mit einem gültigen Gesundheitszeugnis könnte er später eine
Ladung Obst oder Schwefel aufnehmen, denn das waren die Hauptwaren, die in diesen sizilianischen
Häfen umgeschlagen wurden. Doch
wegen der ertragreichen Fischereisaison, die es in diesem Umfang auf
Lampedusa noch nie gegeben hatte,
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TIONS
Zvonko Todorovski
verhielt sich der Alte immer weniger
als Seefahrer, sondern immer mehr
als Händler, der in einer Stadt billig
Waren erstand, um sie anderswo teuer zu verkaufen. Daher war er wie
besessen von dem Wunsch, eine neue
Fracht eingesalzener Fische aufzunehmen, die ihm hier zum Greifen
nah war.
Kap Guitgia kam in Sicht. Dahinter
lag Spiaggia Guitgia, eine von drei
Inselbuchten, in der die Küstenwache
die Hafeneinfahrt kontrollierte. Kaum
hatte die Divina Provvidenza den
Eingang zur Bucht erreicht, tauchten auch schon zwei große Fischkutter auf. Auf jedem standen sechs mit
Gewehren und Pistolen bewaffnete
Männer. Der Alte erblasste. Aus der
frischen Ladung würde wohl nichts
werden.
„Indietro, o affondiamo la nave!“15
rief Martoran, der sich im ersten
Kutter befand. Sofort wurde klar,
dass dieser angesehene Fischer die
Küstenwache befehligte.
Von zwölf Gewehrläufen bedroht,
wandte sich der Alte mit einem wortlosen Kopfnicken Tadija zu, der neben ihm auf dem Achterdeck stand.
Dieser hatte Belluomo abgelöst, nachdem die Sturmnacht überstanden
war. Der Rudergänger leitete sofort
das Wendemanöver ein, da es sehr
leichtsinng gewesen wäre, die Entschlossenheit der lampedusanischen
Fischer angesichts der Choleragefahr
auf die Probe zu stellen.
„Ree!“ befahl der Alte, obwohl er es
immer noch nicht fassen konnte,
dass diese Männer, mit denen er so
manches Glas Wein geleert hatte,
ihnen jetzt so grob und ohne Erbarmen begegneten.
„Klar zum Wenden, mein Herr!“
bestätigte der Rudergänger das Kommando.
„L’intera isola è sotto il controllo delle
guardie!“16 rief ihnen Martoran zur
15
Ital.: Zurück, oder wir versenken das Schiff!
16
Ital.: Die gesamte Insel wird bewacht!
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Warnung mit tiefer Stimme hinterher, damit sie ja nicht auf den Gedanken kamen, an einer anderen
Stelle anzulegen.
Angetrieben von einem leichten Westwind wendete die Divina Provvidenza scharf nach Osten und hielt sich
längs der Küste. In der Höhe von
Kap Sottile schwenkte sie nordwärts
ab und nahm Kurs auf die Südküste
Siziliens. Nach der anstrengenden
Orkannacht waren alle Mann an
Bord so erschöpft, dass die Aussichten, vor die das ungünstige Schicksal
sie jetzt stellte, niemanden mehr abschrecken konnten. Andererseits war
im Bewusstsein der Männer tief die
Überzeugung verwurzelt, dass die
Entscheidungen des Kapitäns unanfechtbar waren, und so kam niemand
auf den Gedanken, den Alten anzuzweifeln oder zu kritisieren. Seine
Befehle bestimmten ihren Lebensalltag, im Guten wie im Bösen.
Endlich blies der Wind wieder ein
bisschen kräftiger, was die Überfahrt
an die Ostküste Siziliens begünstigte.
„Wir gehen nicht auf diese Seite“,
sagte der Alte zu Frano, als hätte er
gewusst, womit sich sein Sohn in
Gedanken beschäftigte.
„Gehen wir nicht an die Ostküste?“
fragte er und meinte Syrakus oder
Catania. „Der Wind dreht immer
mehr auf Südwest!“
„Nein. Wir gehen nach Trapani“,
entgegnete der Alte zu Franos Überraschung.
Trapani war eine Hafenstadt im äußersten Südwesten Siziliens und lag
in der dem Wind genau entgegengesetzten Richtung.
Bereits zwei Tage, nachdem sie die
Gewässer Lampedusas verlassen hatten, gelangten sie durch geschicktes
Kreuzen auf die Höhe der Hafenstadt Agrigent, die fast genau in der
Mitte der sizilianischen Südküste lag.
Die ohnehin miserable Stimmung
149
an Bord konnte auch durch die Begegnung mit einem österreichischen
Dampfschiff, dessen hoher Schornstein dicken, schwarzen, meilenweit
im Umkreis stinkenden Qualm ausstieß, nicht gebessert werden. Die
großen Schaufelräder zu beiden Seiten
des Rumpfes trieben das Schiff langsam voran, das trotz seines Dampfantriebs wie ein Segler aufgetakelt
war. Die Divina Provvidenza hisste
zum Gruß die Flagge, woraufhin ihnen der diensthabende Offizier vom
Achterdeck etwas durch die Flüstertüte zurief. Wegen des Windes verstand es zum Glück aber keiner, und
alle waren erleichtert, als der schwarze Qualm endlich außer Sichtweite
war.
„Der Teufel soll sie holen mitsamt
diesem Gestank“, schimpfte Gobo
ungehalten. „Das soll ein Schiff sein:
Als hätte man einen Ofen zu Wasser
gelassen!“
„Tja, so ist das, mein lieber Gobo“,
entgegnete Tadija, den jedes Mal,
wenn er einen Dampfer erblickte,
Traurigkeit überkam. „Bald gibt es
keine Seeleute mehr. Schau sie dir an:
Heizer sind das und keine Seeleute!“
Nachdem sie wegen der wechselnden Winde mehrere Tage auf Kreuzkurs gesegelt war, brachte die Divina
Provvidenza am 31. Juli um drei Uhr
nachmittags vor dem Lazarett den
Anker aus. Alle waren erleichtert, dass
der Alte endlich seinen Trotz aufgab.
Doch so furchtbar der Orkan auch
gewesen war, hatte keiner der Seeleute große Lust darauf, in Quarantäne zu gehen. Das bedeutete einen
langweiligen Schiffsaufenthalt im Hafen, verbunden mit allen möglichen
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die strengstens überwacht
wurden.
Die Sonne spendete angenehme Wärme, und trotz der immer stärker lastenden Müdigkeit nach den Strapa-
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Oktober
zen der Orkannacht wirkte die Vielzahl der Schiffe im Hafen auf alle ein
wenig belebend. Neben ihnen ging
eine ungewöhnlich große, dreimastige Brazzera vor Anker. Mit ihren zwei
an langen, schrägen Spieren ausgebrachten Lateinersegeln an Fock- und
Großmast und einem kleinen Schratsegel am Besanmast stellte sie nach
dem österreichischen Rußdampfer
ein willkommene Abwechslung dar.
„Solche werden in Rovinj gebaut“,
murmelte sich der Alte in den Bart,
denn es war wirklich nicht wichtig,
woher die Brazzera war. Ein Ungemach lässt sich irgendwie leichter
ertragen, wenn man sieht, dass man
nicht alleine dasteht...
Stari Grad, Freitag,
den 5.1.2007
Letzte Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Niemals zuvor habe
ich etwas Ähnliches geträumt. Dass es
ein Traum war, begriff ich erst beim
Aufwachen – so realistisch war alles!
Normalerweise erinnere ich mich nur
selten an meine Träume, da ich meistens
alles vergesse, sobald ich die Augen
aufmache. Doch an diesen Traum erinnere ich mich, als ob er sich wirklich
ereignet hätte. Also, es war so:
Ich bin auf dem Weg nach Vele Rudine
und singe vor mich hin, weil es ein
schöner, sonniger Tag ist. Obwohl der
Weg steil ansteigt, komme ich mühelos voran, als ob meine Füße die Erde
gar nicht berühren. Nach der kleinen
Wegkapelle ist die Steigung sachter,
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doch ich gehe, als ob ich schwebe. Ich
komme nach Rudine vor die kleine Kirche. Kein Mensch weit und breit, das
macht mir Angst. Ich suche nach Menschen, blicke in die Häuser, alle Türen
stehen offen, doch kein Mensch, nirgends. Alle sind irgendwohin gegangen, das ganze Dorf ist verlassen. Ich
bin das einzige Lebewesen in Vele Rudine. Ich rufe und rufe, aber niemand
meldet sich. Zu hören ist nur der Wind
in den Wipfeln der Granatapfelbäume.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke!
Vielleicht sind die Menschen in Male
Rudine? Ich muss sie finden! Ich gehe
zurück bis zum Denkmal am Dorfeingang und biege dann in den Weg nach
Male Rudine ein. Ich gehe eine Weile
und ungefähr auf der Hälfte des Weges erblicke ich einen großen Baum.
Überall im Umkreis sind Felder, und der
Baum steht auf einer kleinen Lichtung,
auf der außer ihm nichts anderes wächst.
Obwohl ich eigentlich nach Male Rudine aufgebrochen bin, beschließe ich,
auf den Baum zu klettern. Ohne Schwierigkeit klettere ich bis hoch in seine
Krone. Der Himmel ist blau, und der
Wind säuselt in den Blättern.
Da schließe ich die Augen und sehe vor
mir das Bild eines Segelschiffes mit
eingezogenen Segeln. Wie auf einem
riesigen Bildschirm sehe ich das Bild
eines schrecklichen Orkans und das
Schiff, das auf den hohen Wellenbergen mächtig schaukelt. Auf einmal befinde ich mich nicht mehr im Geäst des
Baumes, sondern auf dem Schiff! Um
mich herum tobt ein schrecklicher Orkan, und im Nu bin ich nass bis auf die
TIONS
Haut! Auf dem Schiff gibt es niemanden außer mir. Das Schiff ist verlassen
wie Vele Rudine, aber ich habe keine
Angst.
Ich habe keine Angst, denn irgendwie
lebt das Schiff, so wie ich auch lebe,
nur eben anders. Und es spricht zu mir
in verständlichster Weise, in Bildern,
und ich verstehe alles, was es mir erzählt. Eigentlich kommt es mir vor, als
ob der Wind durch das Schiff spricht,
das er auf den turmhohen Wellen schaukeln lässt. Aber ich habe keine Angst,
denn die Wellen sind ein Teil dieses
Spiels. Er hat alles in seiner Gewalt und
spielt dabei nur, doch für mich besteht
keine Gefahr, da wir uns irgendwie verstehen, als ob wir Freunde wären...
Merkwürdig!
Ich wachte auf, so dass ich gar nicht
mehr nach Male Rudine kam, aber jetzt
denke ich, dass das auch gar nicht
wichtig war. Ich stieg aus dem Bett
und bemerkte, dass das Fenster ein
wenig offen stand. Mutti hat es bestimmt nicht geöffnet, weil es draußen
kalt ist, vor allem nachts. Ich aber auch
nicht. Wirklich merkwürdig.
Ich bin müde, und es ist spät, aber ich
wüsste gern mehr über den kleinen
Marin aus „Lampedusa“... Ich werde
also trotzdem noch ein bisschen lesen.
Was aber, wenn ich heute nacht wieder
von einem Orkan träume? So einem,
wie Marin ihn erlebt hat?...
Aus dem Kroatischen
von Silvia Sladi}
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November
TIONS
IGOR RAJKI (1965, Zagreb) schriebt Prosa, Dramen und Essays, sowie Kinderbücher. Er studierte Jura an der Juristischen
Fakultät und erhielt einen Abschluss für Linguistik an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Ende der 1980er Jahre
begann er, Kurzgeschichten im Dritten Progamm von Radio Zagreb sowie in Periodika zu veröffentlichen. Seit 1993 ist er
ständiger Mitarbeiter der Schülerzeitschrift „Modra lasta“, in der er Kindergeschichten und Reportagen veröffentlicht
und gemeinsam mit K. Zimoni} am Comicteil des Blattes arbeitet. Im Zeitraum von 1996 bis 2000 war er Redakteur bei
mehreren Internet-Kulturportalen. Er ist Mitglied des Kroatischen Verbandes freischaffender Künstler seit 2003 und
seitdem hat er sich ausschließlich dem Schreiben gewidmet. Ab 1990 veröffentlicht er regelmäßig Texte in diversen
Kulturzeitungen und Literaturzeitschriften sowie in weiterer Periodika. Er hat mehrere Dramastücke geschrieben und drei
seiner Hörspiele wurden in Produktion des Dramaprogrammes des Kroatischen Rundfunks aufgeführt. Seit 2008 schreibt
er auch für das Theater.
Sein erster Roman Katalog über Gottes Lieferanten („Katalog o bo`jim dostavlja~ima“, Zagreb, 2000), in dem das zentrale
Motiv das Schreiben eines Romans selbst ist, offenbart alle Merkmale seines einzigartigen Ausdrucks: Er experimentiert
mit Form, Genre und Thema, spielt virtuos mit der Sprache, von unerwarteten Wortspielen bis zu sprachlichen Zweideutigkeiten, schafft eigene Wortgebilde, bewegt sich hin und her zwischen Fantastik und Realität, stürzt Mythen und bricht
Tabus, und das immer geistreich. In seinen Erzählsammlungen (Regelwerk über das Schaffen von Vorstellungen, „Pravilnik
o stvaranju predod`bi“; Umoresken, „Umoreske“; Die Wissenschaft des Schimpfens, „Znanost pogrde“) haben oftmals
graphische und konzeptuelle Spielereien mit dem Text und Variationen des Inhalts eine Schlüsselrolle. Die Sammlung
Himmlische Semantik („Nebeska semantika“, 2007), enthält Geschichten, die in der Zeit von 1985 bis 1995 entstanden
sind und die wegen ihrer politischen Provokativität nicht früher veröffentlicht werden konnten (z. B. wenn eines Morgens
ein Kroate als Serbe aufwacht). In seinen Jugendbüchern (Erzählband Geisterköder, „Mamac za duhove“ und Roman
Schreckana, „U`asana“) verbindet er auf unterhaltsame Weise und durch eine zersauste Fabel kindlichen Fantasiereichtum, märchenhafte Elemente und Details aus der Wirklichkeit zu einem Lesestoff, der keinen Konventionen sklavisch
folgt. Im Roman Du siehst gut aus („Dobro izgleda{“) erscheint aus den Skizzen der Routine eines Liebespaares im Chaos
des Stadtlebens eine groteske Darstellung der kroatischen Gesellschaft. 2008 veröffentlichte er die Kurzprosa TreppenHausen („Stubi{tarenje“). Er ist in mehreren Anthologien vertreten, unter ihnen auch in Beste kroatische Erzählungen
2007 („Najbolje hrvatske pri~e 2007“, Zagreb, 2007).
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TIONS
Igor Rajki
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Ein konsequenter Gottloser
Igor Rajki
Seine erste Marienerscheinung hat-
te der neunundfünfzigjährige Vinko
Perin, ein zurückhaltender Heilkräuterkundiger von einer kleinen und
armen Insel, auf der ein Seufzer nach
dem Schimpfwort länger dauert als
das Schimpfwort selbst, gleich nach
Sonnenaufgang, während er in einem uralten und abgenutzten Boot
auf Fischfang war.
Das ruhige Meer, blauer als der Himmel, wurde noch blauer, als Vinko
ein starkes Zucken seiner Angel spürte. Er fing an, schnell zu ziehen, und
vor dem Herausziehen verschwand
plötzlich das Gewicht des Fangs. Hinter der leeren Angel schwebelte die
bläuliche Gestalt der Muttergottes,
die völlig trocken auftauchte, um das
Boot herum über die Oberfläche und
streckte büßerisch ihre Handflächen
dem armen Vinko entgegen, damit
er sie annahm.
Vinko, der dörfliche Wunderling
und Eigenbrötler seit jeher, verächtlich gegenüber müßigen Predigern,
ließ sich vom barmherzigen Lächeln
der Muttergottes nicht weich klopfen. Sofort griff er nach dem Ruder,
durchriss mit seinem Pfeifen die Luft
und briet ihr eins über den Kopf.
Die Muttergottes stürzte lautlos ins
Meer, wobei sich das Wasser nur unwesentlich, wie unter einem Hauch,
runzelte. Er sah ihr nach, wie ihr
blaues Gewand dunkler wurde und
zum Grund verschwand und, gran-
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tig wegen des schlechten Fanges von
zwei kleineren Rotbrassen und einer
winzigen Spitzbrasse, ruderte zur einsamen Küste an der Südseite der Insel,
an der er hauste, weit entfernt vom
Dorf, in einer kleinen und ämlichen
Fischerhütte.
Die nächste Erscheinung passierte
ihm kurz vor Mittag im Dorf, während er Franes Boot auf der Mole vor
Franes Haus anmalte. Eigentlich war
Frane, der dickliche Besitzer des dörflichen Gasthauses, der einzige, der
mit Vinko redet, ihn zwar für einen
verrückten und einsamen Wunderling
hält und ihn nie ernst nimmt, aber aus
einer riesigen Dankbarkeit für eine
Streichsalbe gegen blutige Schwielen, die Vinko für ihn aus seltenen
Kräutern zubereitet hatte und die
über Nacht verschwanden, erlaubte
er sich ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Sonderling. Und da er
ihn dabei als fleißigen Mann schätzte, teilte er ihm oft für seine Leistungen eine Mahlzeit und Wein zu.
Obwohl Vinko in der Hocke saß und
den Bootskörper weiter weg vom
Farbeimer streichte, kippte der von
selbst um und die helle Farbe, die
zerfloss, nahm das bittende Aussehen der Muttergottes an, die ihn
unterwürfig lockt. Die Falten ihres
Kleides, die auf einmal die Strahlen
des Sonnenscheins einsogen, trockneten sofort und leuchteten in einem diamantenen Glanz.
Missstimmig wegen der zusätzlichen
Arbeit, trotz Maestral, verbrachte er
mühsehlig den ganzen Nachmittag,
die Mole mit einer Bootsbürste säubernd und reibend.
Kurz vor Abenddämmerung, als er
über felsiges Gelände aus dem Dorf
nach Hause ging, hie und da Steinmauern übersprang und in umzäunte Grundstücke hineinging, um nur
ihm bekannte Pflanzenarten zu pflücken, erschien sie ihm aus den Kronen alter Olivenbäume am Bergpfad.
Unter dem geduldigen und milden
Lächeln, das sie ihm in der gedeckten Dämmerung zuwarf, leuchtete
ihr Gewand gülden.
Mit dem Gefühl einer lästigen Verfolgung, traf er sie beim zweiten Versuch mit einem Stein mitten auf die
Stirn. Die Muttergottes stürzte, lautund spurlos, in die Macchia, beugte
nur schwach die Spitzen der Buschzweige, einer Brise gleich.
Am Abend, als Vinko die gesammelten Kräuter ordentlich an der Wand
neben den aufgetürmten Kisten hinlegte, sie so ausbreitete, dass sie auf
dem irdenen Boden trockneten und
ein Feuer für den Fischrost anzündete, stieg nach kurzer Zeit die Muttergottes mit platinartigem Glanz über
dem entfachten Feuer auf und formte eine sanft offene Umarmung, als
ob sie damit Zuflucht böte.
Vinko wedelte mit einem Kartondeckel den Rauch weg, bis es schmerz-
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RELA
November
te. Als ihm das nicht gelang, urinierte er in seiner Wut auf das Feuer und
die Fische und erst dann verdampfte
die Muttergottes.
Mit der Einkehr der nächtlichen zirpgeschwängerten Stille, um seinen Hunger zu entschädigen, versuchte er im
Rauchen von altem Tabak, eingedreht in Zeitungspapier, Genuss zu
finden. Die Schärfe in den Lungen
verdünnte er mit einem Glas Rotwein von Frane, um danach seine
alte Jeans auszuziehen und umsichtig, ohne auf die Haufen von Thymian zu treten, legte er sich auf seine
holprige Schlafstätte, eigentlich eine
Decke aus Kotzen.
Die Gestalt der Muttergottes kreiste
im Raum umher.
Mitgenommen von der Lästigkeit
ihres Erscheinens, ohne darin irgendeine Inspiration zu finden, sondern
nur eine schiere Störung seines Schlafes, bewarf sie Vinko mit Kisten, aber
die Muttergottes wich aus, erneut
wiederkehrend, sich anbietend und
ihm jede Wutsalve verzeihend.
Ganz wach stand er verärgert auf und
während ihm die Muttergottes levitierend folgte, mit den Spitzen ihres
silbrigen Kleides zitternd, die umsäumt
waren von Mondlicht und die fledermausartig um seinen Kopf schwebten, ging er vor das Haus. Gereizt
wegen des geraubten Schlafes packte
er den alten rostigen Dreizack, der
angelehnt und achtlos an der Wand
stehen gelassen wurde, längst dem
zerfressenden Salz und der Feuchtigkeit überlassen. Von seinen Zacken
entfernte er zunächst mit der Hand
das dichte Knäul der aufgespulten
Spinnweben, die mit getrockneten
Seegrashalmen versetzt waren und
wartete, dass sich die Muttergottes
ihm näherte, dann, mit beiden Händen den Griff des Dreizacks packend,
rammte er die Spitzen mit einem
kraftvollen Schwung über die Schulter der Muttergottes direkt ins Herz.
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Durchbohrt blieb sie an der Rinde
der alten Tanne hängen; die Arme
glitten ihr am Körper herab, bis sie
letztendlich die Augen schloss, aber
ohne das Lächeln vom Gesicht zu
nehmen. Erst als ihr Kopf gegen die
Schulter fiel, erahnte Vinko in der
dunklen Nuance ihres Kleides mit
der Farbe einer heiteren Nacht einen
Augenblick lang ihre weiße Haut und
schlanke Figur, wobei im Nu all ihre
Gestalt in der undurchdringlichen
Dunkelheit verschwand.
Er riss den Dreizack heraus, legte
ihn an der Wand ab und wischte
sich den Schweiß über den Lippen
mit dem Handrücken ab, der usichtbare Körper jedoch knallte vor seine
Füße mit dem dumpfen Zittern eines
kurzen Erdbebens. Zunächst wusch
er im Regenfass das Blut vom Dreizack ab, das in der Dunkelheit der
Dichte von Erdöl ähnelte und dann
wickelte er sie, die Rundungen der
Muttergottes ertastend, in ein altes
Netz. Ihr Körper erhielt erst dann die
wiedererkennbare, obwohl dem Auge
schwer unsichtbare, Fülle zurück.
Er schleppte die Leiche auf den Berg
hinter dem Haus, wo er sie mit Mühe
in den harten Boden eingrub. Er
wartete, bis er wieder zu Atem kam,
warf ziemlich große Steinbrocken
über das Grab und verwischte somit
jede Spur. Nach seiner Rückkehr,
müde von den übertriebenen Aktivitäten, legte er sich rücklings auf den
Kotzen und schlief mit dem Gefühl
einer erledigten Arbeit sofort ein.
Dass er zum ersten Mal die Dämmerung verschlief und am frühen Vormittag aufwachte, schon bei ziemlich
starkem Südwind, brachte ihn auf.
Beim Ausfahren zum Fischfang gestört fühlte er sich leer und stand wie
nie zuvor regungslos und müßig vor
dem Haus, wobei er eine Zeit lang gar
nicht wusste, was er mit sich anfangen
sollte. Er bewegte sich erst, als er sah,
dass an den Spitzen des Dreizacks
die Blutstropfen nach oben fließen.
TIONS
Vinko kehrte gefasst in seine Hütte
zurück, sprach dem Wunder keine
Wichtigkeit zu und machte sich an
die Zubereitung einer mysteriösen
Pflanzenmischung, die in der Lage
wäre, für immer das Blut der Muttergottes zu entfernen. Du bist dir
am klarsten, erst wenn du dich etwas
Praktischem zuwendest – dachte er
und fing zu pfeifen an.
Den ganzen Morgen, mit einwandfreier Gründlichkeit, verbrachte er
mit dem Alchemieren der Masse. In
einem nur ihm bekannten Verhältnis vermischte er zerstoßene Mandeln, Olivenöl, zu Staub getrockneten Rochenschwanz, Haifett, ein Extrakt aus der Schale unreifer Zitronen, eine Tinkur aus Mandarinenund Minzblättern, ein Salbeidestilat
sowie die Prise einer Wurzel eines seltenen Unkrauts mit herbem Geruch.
Stolz wegen der wirkungsvollen Wirkung, im Gegenteil, die Spitzen an
dem Dreizack glänzten, als ob sie
erst hergestellt wurden, rieb er sich
die Hände und als ein Schiff auftauchte, das sich auf dem Meer wälzte, machte er sich auf ins Dorf, um
Frane beim Ausladen zu helfen.
Bei Schirokko, am heißen Nachmittag, verbreitete eine Gruppe italienischer Touristen mittleren Alters, die
ihre Jacht an der Südseite der Insel
ankerte, als sie zum Mittagessen ins
dörfliche Gasthaus kamen, die Kunde, dass ihnen die Muttergottes am
Berggipfel erschienen sei. Sie waren
insbesondere von ihrer weiblichen
Schönheit eingenommen, so dass sie
sich bemühten, bis in die letzte Kleinigkeit und Verschwitztheit, ihr sonderbares netzartiges Kleid zu beschreiben, das in greller khaki Farbe leuchtete, und das grünliche Muster, das
Flicken ähnelte, war so glizernd und
schuppig, dass alle übereingekommen sind und für einen Moment
dachten, dass es sich um eine gestrandete Meerjungfrau handelte. Doch
erst ihr klagendes und nur ihrer wür-
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RELA
TIONS
Igor Rajki
diges ehrliches Lächeln des Empfangens und Gebens von Treue, das ihr
nicht vom Gesicht wich, überzeugte
sie, dass doch von der Muttergottes
die Rede ist.
Vinko sagte nur leichthin zu Frane,
während sie ein Fass in den Keller
schoben, dass das „nicht wahr ist,
niemand kann sich aus einem verwirrten und festgeschnürten Netz
aufrichten, geschweige denn fliegen“.
Frane ließ ihn quasseln, denn Vinkos
Münchausengeschichten pflegten ihm,
nicht nur einmal, die Zeit zu verkürzen. Ebenso wie mehrmals im Winter,
als Vinko während eines ganzen traurigen regnerischen Nachmittags, ermuntert durch Kräuterschnaps, wieder
erzählt hat, dass einmal der Teufel,
„rot wie ein Krebs“, mit einem Dreizack im Huf vor seinem Boot auftauchte; gerade als er eine Zahnbrasse von zehn Kilo herausgeholt hat
und versucht hat, sie ihm wegzunehmen und in dem Hin und Her packte der Teufel dennoch den Fisch,
„aber dafür habe ich ihm den Dreizack weggenommen“.
Frane gluckste unentwegt und konnte kaum das Fass halten, denn die
Tatsache, dass Vinko erzählte ohne
aufdringlich zu sein, so dass seine
Worte resigniert waren, brachte ihn
umso mehr zum Lachen. Und es gibt
nichts Lustigeres als die geistig abwesenden Äußerungen von Einfaltspinseln.
Nach Unterhaltung dürstend provozierte ihn Frane, nachdem die Touristen gegangen waren und er ihm
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Fischsuppe und Fladen angeboten
hat, mit der Zehn-Kilo-Zahnbrasse.
„Ach, die hatte noch mehr“, wiederholte Vinko ruhig und schluckte die
Suppe ohne den Blick vom Löffel zu
wenden und auf diese Weise brachte
er Frane zum Quietschen und in so
gute Laune, dass er ihm selbst Wein
ins Glas einschenkte.
Danach vergoss Frane den Wein über
Vinko, geschüttelt vor Lachen, da
ihm dieser fast flüsternd sagte, dass
ihm „auch die Muttergottes einen
mindestens zwanzig Kilo schweren
Fang weggenommen hat“. Immer
noch mitten in einem Lachanfall
konnte Frane keine Luft holen, als
ihm Vinko, ihn nicht einmal ansehend, seelenruhig sagte, dass er sich
nicht zu entschuldigen brauche, weil
„er einen Aufstrich für das Entfernen
jeglicher Flecken hat“.
Und es ist besser, alles beim Fisch zu
belassen und zu verschweigen, dass
die Muttergottes die Gewohnheit hatte, ständig ihre Kleider zu wechseln,
denn sie verfolgt die Mode der Wechsel von Himmelslicht und Wind.
Kaum einer hätte das verstehen können, aber alle hätten zweifeln können – dachte Vinko und fing an zu
singen.
Frane prostete ihm zu und fiel ein,
ohne das er zu Ende schluckte.
Durch die Meeresstille der Nacht,
ohne Windhauch, erscholl die Melodie.
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dem Nachauseweg, bei dieser feuchten und schwülen Morgendämmerung, angetrunken und getrieben von
Zweifeln zum Grab der Muttergottes gegangen ist und um sich von der
eigenen Gründlichkeit gegenüber den
Gerüchten zu überzeugen, begann er
die Steine umzuwälzen, bis er zum
Leichnahm gedrungen war. Über den
Aberglauben der müßigen Touristen
lächelnd ertastete er die Löcher im
Netz, die kalten, aber angenehm runden, etwas größeren weiblichen Brüste. In diesem Augenblick, durchdrungen von einer erhabenen Wonne,
ließ er seine Hose plötzlich herunter,
kniete sich hin und, es beidhändig
haltend, rammte sein aufgequollenes Glied tief in die nasse Luft.
Es herrschte eine solche Schwüle,
dass er sich schwer bewegte.
Glücklicherweise hatte er den zubereiteten Aufstrich mitgenommen, dessen wohltuende Mischung ihm eine
schmerzlose Beweglichkeit ermöglichte, also spürte er durch den eintönigen Widerhall des Knirschens von
Steinen unter sich und die langen
leidenschaftlichen Seufzer in der völligen Dunkelheit des Grabes, wie das
starke Beben in seinem Körper, das
jede Religiösität überwindet, sich jedoch gleichzeitig darin auch einrahmt, den unerreichbaren Wunsch
heraufbeschwört, er möge auch der
Vater von Gottes Sohn werden.
***
Vinko Perin ließ durch nichts und
niemanden vermuten, dass er auf
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Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
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TIONS
Memoiren über den Keim der Unsicherheit
¹oder der Komplex kleiner Völkerº
Ich habe schon so viel Zeit vor dem
Spiegel im Flur verbracht, dass ich
mir nicht mehr fremd war. Ich wollte mich nur noch davon überzeugen,
dass mit die Militärfarben des Pullovers und der Mütze aber auch wirklich gut stehen. Zwar störte mich ein
wenig der rachsüchtige Gesichtsausdruck, aber es war nicht möglich,
ihn zu ändern oder zu mildern. Wie
dem auch sei, alles lief nach dem
vorgesehenen Plan und ich war vorbeireitet für die Aktion.
Das Einzige, das mich eigentlich bedrückte, war ein winziges, aber unangenehmes Gefühl: Wie sich mein
Kot durch das Gedärm bewegt und
ich besitze nicht die Fähigkeit, mit
der ich seiner Herr werden könnte;
er kitzelte mich zwischen den Pobacken; er berührte meine Unterhose mit seinem spitzigen Ende.
„Nimm die Pistole!“, sagte Nenad
zu mir und in diesem Moment betrat er mein Abbild im Spiegel und
entfernte meinen Kleinmut.
Der Kratzer von der Schnittwunde
auf seiner Wange verwandelte sich
schon in Schorf.
„Ich habe dir doch gesagt, dass es
schnell heilen wird...“, während ich
sprach, sah ich, wie ich eine Pistole
aus seiner Hand empfange, sie in
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den Gürtel stecke und mit dem Pullover bedecke.
„Ich weiß, aber es gab sehr viel Blut
und die Wunde war tief!“, sagte Nenad, während er mit einem kleinen
Lappen die kurze Maschinenpistole
um die Schließe herum putzte und
auf ihren Schaft hauchte.
Mit dieser fabelhaften Maschinenpistole mit kurzem Lauf, die er in
Italien besorgt hat, weckte er meinen
Neid. Ich brannte vor Wunsch, sie
auch zu besitzen und nicht mit dieser blöden Pistole mit nur sechs Kugeln, die in Österreich gekauft wurde,
herumzulaufen.
Ich durfte mich nicht diesem missgünstigen Gefühl überlassen, deshalb
fuhr ich fort, uns anzusehen. Wir
sahen wirklich gut aus, so bestimmt.
„Wir werden uns bei Darko für deine Wunde rächen!“, sagte ich und
zog durch den Atem am Spiegel die
schwarze Lederjacke an, wobei ich
den Kragen hochklappte, um zu sehen, wie mir ein überhebliches Aussehen steht.
„Bereit!!!“, sagte Nenad, auf seine Narbe starrend, und näherte sich ihr im
Spiegel, so zu Verstehen gebend, dass
seine Entscheidung voll ehrlichen Hasses ist, mit dem er seine wunderschöne
Maschinenpistole noch fester packte.
Der Tag gehörte zum Wochenende
und war wie bei einem Bombenalarm:
still und leer. Aus dem Gebäude gingen wir schweigend und sehr vorsichtig, damit man uns nicht zufällig
entdeckt. Entlang der Wand, bis zur
Ecke zum Park, bemühte ich mich,
so lautlos wie möglich zu gehen, fast
auf Turnschuhspitzen, obwohl mir
das eigentlich ziemlich unangenehm
war, denn die Scheiße war zur Hälfte
raus, aber ich wollte nicht alles wegen so einer Sache kaputtmachen.
Hinter der Ecke, um die wir in Kürze
spähten, waren unter einer Birkenkrone Darko und seine Rina. Darko
lag entspannt, mit dem Arm unter
dem Kopf, mit geschlossenen Augen
auf dem Gras, während ihm Rina,
mit gebeugten Beinen neben ihm
sitztend, gepflückte Gänseblümchen
zu kleinen Kränzen formte und sie
ihm auf den Bauch legte.
„Er erwartet uns nicht“, flüsterte ich
und holte die Pistole heraus.
Nenads Gesicht grinste nur boshaft.
Ich sah noch einmal heimlich hin.
Es war ein naiv idyllischer Anblick
von Darko und Rina, in der sie überhaupt nicht ahnen, was ihnen geschehen wird. Eine wahre Groteske.
Wir konnten uns kaum zurückhalten nicht zu lachen.
„Los“, schubste mich Nenad, „schieß...“
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TIONS
Igor Rajki
Die Scheiße befand sich, spürte ich,
zu drei Vierteln in meiner Unterhose und ich strengte mich umsonst an
beim Versuch sie in mich zurückzubefördern. Ich erinnerte mich für einen Augenblick an mich vor dem
Spiegel: Jener Ohnmacht, den Gesichtsausdruck zu meistern, in der
ich keinen Anteil habe sowie des
Defätismus, der mit Erscheinungen
bedrückt, die unbegreifbar und unabhängig von meinem Willen sind.
Unsichterheit keimte auf, das Unvertrauen in mich selbst. Meine Kacke kam imanent und in Eigeninitiative heraus.
Wie kommt es, dass es etwas gibt,
dessen ich nicht Herr werden kann?
Ich blieb stehen, presste meine Beine
zusammen, hielt die Pistole ganz fest
und sah Nenad hilflos an.
„Schieß doch! Du hast dir doch nicht
vor Angst in die Hose gemacht?“,
stieß mich Nenad erneut, aber nun
grober, wie ein Schlägertyp.
Es wäre wahrlich blöd gewesen, ihm
zu sagen: „Ja, ich habe in die Hose
gemacht!“. Erstens: Nenad, ganz leidenschaftlich vor Rache und deswegen verständlicherweise intolerant,
würde das nicht so begreifen, wie ich
es erlebe. Und zweitens: Ich könnte
das auch nicht vor ihm aussprechen,
denn damit würde ich nur in Zukunft
mein Ansehen in Frage bringen.
In diesem Moment begannen sich in
mir jene noch unvollständig verstandenen Nuancen des ausliterarisierten
Bewusstseins zu häufen, die sich so
sehr in den Gedanken verflechten und
durchziehen, dass sie mein Bedürfnis
nach einer Klarheit der Wünsche abbinden, wobei genau diese Wünsche
gleichzeitg nicht erlauben, dass sich
das Bedürfniss selbst so begreift, wie
ich es darstellen möchte. Also kompliziere ich dann, wie die übrigen,
denn ich bin gehemmt und beschäftigt mit dem Rückzug in die eigene
Unzufriedenheit. Und die Scheiße
hat sich auch ziemlich lang gezogen.
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Aufgrund der gespannten Unterhose spürte ich, dass sich bloß noch ein
Fünftel in meinem Hintern hielt und
das auch nur symbolisch. Lediglich
durch die schwächliche Kraft meines immer machtloseren Willens.
Ein Bein nach dem anderen ziehen,
langsam wegen der scheuen Unsicherheit, fing ich an, mich zum Eingang zurückzuziehen, darauf achtend, dass ich keinen zu hastigen
Schritt tue und den Fall der Scheiße
beschleunige, da ich immer noch
glaubte, dass noch nicht alles verloren war; dass ich es immer noch zum
Klo schaffen und sie herauslassen
kann an einem für diese Gelegenheiten vorgesehenen Ort.
„Was ist los mit dir, du Hirni?“,
schäumte Nenad, seine Stimme kaum
beherrschend; er war sogar deswegen wütend, dass er leise sprechen
muss und fuhr fort: „Du minderbemittelter Feigling...“.
Er sagte die Wahrheit, aber es beeindruckte mich überhaupt nicht, dass
er mich demütigt, noch was mit Darko geschehen wird, oder wie Rina
das ganze auffassen wird (obwohl ich
auf Darko wegen ihr eifersüchtig war).
Es war mir auch egal, wie alle anderen reagieren werden und auch nicht,
dass ich die Tür beim Hineingehen
ins Haus geräuschvoll öffnete, sie bis
zur Wand schlug, meine Position
preisgab. Nichts ging mich etwas an.
Wichtig war mir nur, dass die Sch...
Sie fiel trotzdem heraus und glitt an
meiner Hose das Bein entlang.
Zum ersten Mal im Leben fühlte ich
gleichzeitig Ekel und Wonne, die
sich in eine Wärme am Schenkel verwandelten und sie entlockte nahezu
Zärtlichkeit und Ergebenheit. Aber
da ich mich noch nicht genug kannte, in der Kunst der Entspannung,
begann ich, wie ein Verrücker die
Klingel neben der Tür zu drücken
und mich auf die Zehenspitzen zu
stellen, damit ich sie mir ständig erreichbar war.
157
Die Tür öffnet sich.
„Mama, ich habe Aa gemacht...“,
sage ich beschämt, der Unartigkeit
bewusst, aber noch nicht ihre wahre
Tiefe erahnend.
„Na und?“, fragt mich die Mutter
mit der gewöhnlichen Gleichgültigkeit gegenüber Dingen, über die man
nicht nachdenkt.
„Aber in die Hose...“, antworte ich
reuig und begreife den Fehler der
Störung des Eingebürgerten.
„Bengel!!!“, unter dem Stoß des Instinkts schreit die Mutter herrisch,
packt mich geschwind am Arm und
zieht mich ins Badezimmer.
Von draußen, hinter dem Badezimmerfenster, gewirbelt von der Ferne und
gedämpft von der Wand, prallen mit
rhytmischen Stichen in der Luft ab:
Das Rattern der Plastikkugeln aus
der wunderbaren Maschinenpistole
aus Italien (die jetzt schon auch bei
uns ohne größere Probleme zu besorgen ist); danach Rinas Schreie naiver
Extase vermischt in Nenads katharsischen Geheul und Darkos beleidigten Ausruf:
„Du Schurke! Du greifst von hinten
an!!!“
Ich fühle gleichzeitig das Gewicht
der eigenen Verzweiflung, dass ich
nicht dort bin, im freien und freiheitlichen Gelände, unter ihnen;
stattdessen hocke ich hier in der engen Wanne unter dem auf mich gerichteten Wasserstrahl aus Mamas
Hand und ihrem Gesicht, das vor
Tadel überfließt. Aber ich empfinde
auch Leichtigkeit, die niemals jemandem sinnvoll genug zu berichten ist, dass die Scheiße endlich aus
mir heraus ist.
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BORIS PERI], geboren am 25. Mai 1966 in Vara`din, Kroatien. Grund- und Mittelschule in Vara`din. Studierte Germanistik
und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Tätigkeit als Schriftsteller, literarischer Übersetzer und
Journalist bei verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Literarische Veröffentlichungen und Übersetzungen in verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitschriften, sowie diversen Anthologien. Mitglied der Kroatischen Schriftstellergesellschaft und des Kroatischen Schriftstellerverbands. Lebt und arbeitet in
Zagreb.
Veröffentlichte Bücher:
Politi~ki vodi~ – Njema~ka ¹ Politischer Reiseführer – Deutschland (politische Publizistik), Zagreb, 1992; Austrijaº Österreich, (politische Publizistik), Zagreb, 1993; Sezona stakla ¹ Glassaisonº (Prosa), Zagreb, 1993; Heartland (Prosa), Studio
grafi~kih ideja, Zagreb, 1995; Putovanje na granici ¹ Die Reise an der Gernzeº, Auswahl aus der zeitgenössischen
österreichischen Prosa, Zagreb, 1995; Quattro Stagioni (Prosa, mit Z. Feri}, M. Ki{ und R. Mlinarec), Zagreb 1998; Groblje
bezimenih ¹ Friedhof der Namenlosenº (Prosa), Zagreb, 2003; Pri~e iz be~ke kuhinje ¹ Geschichten aus der Wiener Kücheº
(Essays), Zagreb, 2004; Vampir ¹ Der Vampirº (Roman), Zagreb, 2006; Heartland i druge pripovijetke ¹ Heartland und andere
Erzählungenº (Prosa), Zagreb 2006; D’Annunziev kod ¹ Der D’Annunzio Codeº (Roman), Zagreb, 2007; Vampir ¹ Der Vampirº
(Roman), Ljubljana, 2008; Fantasti~na bi}a Istre i Kvarnera ¹ Phantastische Wesen aus Istrien und Quarnerº (Essays,
zusammen mit T. Pletenac), Zagreb, 2008.
Wichtigere Übersetzungen:
Markus Jaroschka: Grammatik der neuen Gefühle (Lyrik), Zagreb, 1993; Gabriel Loidolt: Der Leuchtturm (Roman), Zagreb,
1994; Johanna Spyri: Heidi (Roman), Zagreb, 1995, 2003; Joseph Roth: Hiob (Roman), Zagreb, 1996; Thomas Bernhard: Der
Stimmenimitator (Prosa), Zagreb, 1998, 2003; Doris Dörrie: Bin ich schön? (Prosa), Zagreb, 2000; Romano Guardini: Ende
der Neuzeit (Essays), Split, 2002; Hermann Hesse: Morgenlandfahrt (Erzählung), Koprivnica, 2002; Ingo Schulze: 33
Augenblicke des Glücks (Prosa), Zagreb, 2003; Leopold Sacher Masoch: Matrena (Kurzgeschichten), Zagreb, 2003; Arthur
Schnitzler: Die Traumnovelle (Erzählung), Zagreb, 2004; Thomas Bernhard: Der Untergeher (Roman), Zagreb, 2005; Norbert
Gstrein: Die englischen Jahre (Roman), Zagreb, 2005; Karl Jaspers: Die Schuldfrage (Essay), Zagreb, 2006; Ingo Schulze:
Simple Storys, Zagreb (Roman), 2006; Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel (Roman), Zagreb, 2006; Thomas Brussig:
Helden wie wir, Zagreb (Roman), 2007; Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies, Zagreb, 2007; Thomas Bernhard:
Die Ursache (Roman), Zagreb, 2007; Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Erzählung), Zagreb, 2007; Julian
Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit, Zagreb, 2007; Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens, Zagreb 2007;
Hermann Hesse: Spuk- und Hexengeschichten aus dem Rheinischen Antiquarius, Zagreb, 2007; Peter Handke: Don Juan
(erzählt von ihm selbst), Zagreb, 2008; Heinz Heger: Die Männer mit dem Rosa Winkel, Zagreb, 2008; Martin Heidegger:
Was heißt denken, Zagreb, 2008; Dieter M. Gräf: Buch Vier, Zagreb, 2009.
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Boris Peri}
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Der D’Annunzio Code
¹ Romanauszugº
Boris Peri}
S
– ie haben völlig Recht, Herr
Rorschach scheint tatsächlich ein etwas sonderbarer Mensch zu sein –
sagte Doberti zu mir, als ich ihn
einmal nach unserem Wiener Kollegen gefragt hatte. – Ich weiß nicht,
woran Sie gedacht haben, ich empfinde ihn jedenfalls als etwas konfus.
Aber das dürfte nur der äußere Eindruck sein. Seien Sie versichert, er ist
sehr gewissenhaft und – warum sollte ich Ihnen das vorenthalten? – er
schätzt Ihre Arbeit sehr.
Ich konnte ihn natürlich nicht nach
jenem unangenehmen, süßlichen Geruch fragen, noch weniger hätte ich
erwarten können, dass Doberti sich
mit mir überhaupt über derartige
Dinge unterhalten möchte. Wir spazierten über den Korso, wo sein Großvater vor vielen Jahren den Dichter
Marinetti gesehen hatte, bevor dieser von D’Annunzio der Stadt verwiesen wurde. Nichts anderes hatte
er über seinen Großvater erwähnt,
obwohl ich bezweifle, dass er über
diesen Teil der Vergangenheit von
Rijeka nicht unterrichtet war. Egal,
dachte ich, warum hätte ihn gerade
das jemals interessieren sollen? Aber
was für Interessen hatte er überhaupt?
Die Arbeit am Institut? Diese schien
niemanden zu interessieren. Ich muss
gestehen, Iva hatte sich da besser zurechtgefunden, aber sie hatte ja an-
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dere Motive. Und ich? Was hatte ich
für Motive?
Ich hatte eine Arbeit aufgegeben, die
ich für sinnlos hielt, um mich einer
anderen, nicht unbedingt sinnvolleren zu widmen, hatte einer Stadt den
Rücken gekehrt, die ich, aus welchem
Grund auch immer, nicht mehr als
die meinige empfand, um in eine
andere zu ziehen, in der ich von Personen gejagt werde, die fremden Besessenheiten und fremden Vergangenheiten entstammen. Warum sollte irgendjemand, sei es auch dieser
stinkende Rorschach, meine Arbeit
loben wollen, wo es am Institut doch
praktisch keinerlei Spuren meiner
Arbeit gibt, wie sie, willkürlich oder
nicht, auch die anderen nicht hinterlassen haben, fragte ich mich, schon
etwas wütend. Brauchen sie mich für
irgendetwas? Bin ich nur ein Paravent für deren Perversionen? Werden sie, wenn sie alles Geld, das
Europa für ihre undefinierte Tätigkeit zu zahlen gewillt ist, zum Fenster hinausgeworfen haben, alle Verantwortung mir zuschieben, damit
ich die exklusive Schuld für das Scheitern eines ohnehin bereits gescheiterten Projekts trage? Meine Mitarbeiter geben sich dem Müßiggang hin,
und ich bin selbst nicht besser, da
ich zwischen ihnen und irgendeiner
anderen Instanz keinerlei Lücke fül-
le, sei sie auch noch so unbedeutend.
Im Kompliment des kahlköpfigen
Fettwanstes, ja sogar in Dobertis bereitwilligem Bejahen dieser überaus
leeren Worte, klang etwas Heuchlerisches mit, aber mir war keineswegs
klar, warum sich die beiden mir gegenüber überhaupt so verhalten müssten. Die gesamte Menschenverachtung, mit der ich an meinen früheren
Arbeitsplätzen in Berührung kam,
war hier noch offensichtlicher, obgleich es sich auch nicht leugnen ließ,
dass sie hier in weit verlockenderes,
blau-goldenes Papier einer weitaus
edleren Form eingewickelt war. Wir
befassen uns mit der Anpassung unseres Wertsystems an europäische
Normen, lösen rechtliche, ethische,
ja sogar ästhetische Fragen, all diesen
Scheiß hatte ich mir schon in Wien
von Rorschach anhören müssen, und
doch konnte ich nach wie vor nicht
begreifen, was für eine hirnverbrannte
Ästhetik dies hätte sein sollen, um einer derartigen Anpassung unterzogen
werden zu können. Außerdem arbeitete ich die ganze Zeit über an einer
vergeblichen wirtschaftlichen Analyse der Region von Rijeka, die nie jemand lesen, geschweige denn sich im
Fällen geschäftlicher Beschlüsse nach
ihr richten würde. Wo ist da, bitte
schön, die Anpassung und wer hat eine
solche Anpassung überhaupt nötig?
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Nie zuvor war ich in Dobertis Gesellschaft dermaßen abwesend. Ich
traue mich sogar zu sagen, abwesend
und schlecht gelaunt. Er erzählte mir
etwas, ich hörte nicht einmal richtig
hin, und als er mir, als wolle er mir
damit noch näher kommen, um nicht
zu sagen, sich auf mein Niveau herablassen, vorschlug, wir sollten ein
unweit gelegenes Wirtshaus aufsuchen, das, wie er sagte, nicht gerade
vornehm, aber doch ganz hübsch sei,
und uns dort bei einer hausgemachten Jota und einem Liter @lahtina
oder Malvazija über alles unterhalten, was mich interessiert, verspürte
ich den unerträglichen Wunsch, allein zu sein. Ich entschuldigte mich,
ich hätte eine unaufschiebbare Verpflichtung, obwohl ich sicher war, er
wisse genau, dass ich eine solche
nicht haben könne, und machte mich
auf den Weg zu meiner Wohnung.
Ich ging am Hauseingang vorbei und
spürte, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllten. Es war kein
Kummer, eher eine unerträgliche Beklommenheit, deren Ursache ich nicht
auszumachen vermochte. Trotzdem
weinte ich. Ich muss gestehen, ich
weine selten, aber wenn mir das dennoch passiert, verspüre ich nachher
meistens den Wunsch spazieren zu
gehen. Ich wusste nicht, wohin ich
mich begeben sollte. Vielleicht nach
Kozala, zum Friedhof, dort herrscht
wenigstens Ruhe, oder nach Trsat,
um mich alleine dem grimmen Blick
des Basilisken gegenüberzustellen?
Ich ging nirgendwohin. Ich spazierte lediglich die De`manova auf und
ab, was in Anbetracht der geringen
Straßenlänge keinen nennenswerten
Spaziergang darstellt.
Ich weiß nicht, ob es an der Beklommenheit lag, die mich befallen hatte,
aber ich hatte keine Lust, in meine
Wohnung zu gehen. In der Supilova
setzte ich mich in ein Café und bestellte etwas zu trinken. Die Kellnerein brachte mein Getränk und stellte
es vor mich auf den Tisch. Dabei
machte sie eine Reihe sonderbarer
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Gesten, zumindest hatte ich sie zu
diesem Zeitpunkt so empfunden, als
wolle sie mir Zeichen geben. Genießen sie es, sagte sie, drehte sich um
und ging. Ich kann nicht behaupten,
dass sich meine Laune davon unbedingt gebessert hätte. Warum möchte sie, dass ich Genuss verspüre? Oder
hätte ich ihrer Meinung nach Genuss verspüren sollen, weil ich es
sonst nicht in genügendem Maße tue?
Und was hätte ich überhaupt genießen sollen? Mein Getränk? Etwas
anderes? Wollte sie vielleicht in irgendeiner Weise diesem Genuss beitragen? Und was sollten eigentlich
diese Zeichen, die ich nicht zu deuten vermochte? Waren es überhaupt
Zeichen? Was ist ein Zeichen?
Ganz Rijeka war voll von Zeichen,
die auf mich sonderbar wirkten. An
einer Fassade in der Innenstadt hatte
ich ein Relief gesehen, das eine Fledermaus darstellte. Hätte das eine
Warnung sein sollen? Oder eine Aufforderung, das dunkle Gässchen gleich
neben dem Relief zu betreten? Ich
wusste nicht, wofür ich mich entschließen sollte. In der Mauer der
Veitskirche sah ich eine Kanonenkugel. Die Engländer hatten sie abgefeuert, vom Meer aus, als sie die
Franzosen aus der Stadt gejagt haben.
Stand diese in irgendeiner Verbindung zu Laval Nugent? Zum Basilisken vor seinem märchenhaften Mausoleum? Hätte mich die Kugel dort
hinführen sollen? Auf gleiche Weise
hatten die Italiener 1920 D’Annunzio
aus der Stadt gejagt, davon hatte ich
schließlich geträumt. War das ein
Zeichen? Eine Verbindung, die auf
ersten Blick vielleicht nicht sichtbar
ist? Warum gibt Rijeka mir Zeichen,
fragte ich mich, der Kellnerin nachblickend, die an der Theke mit dem
Ausspülen von Gläsern beschäftigt
war. Will Rijeka etwa, dass ich Genuss verspüre? Aber wie? Es war mir
nie an einem besonderen Genuss gelegen. Ehrlich gesagt, ich glaubte nicht
einmal, dass so etwas wie Genuss
überhaupt existiert, zumindest nicht
TIONS
so, wie es andere meinen, wenn sie
von diesem Wort Gebrauch machen.
Im Buch jenes Anarchisten, der in
seinem D’Annunzio gewidmeten Kapitel dessen „nekromantische Zeremonie“ erwähnt hatte, war ich in
einer Fußnote auf den Ausdruck
„Genussdiktatur“ gestoßen. Gemeint
waren wahrscheinlich die zahlreichen
Theaterspektakel, Konzerte und Ansprachen des Dichters, denen sämtliche Einwohner von Rijeka beiwohnten, obwohl dies manchmal auch
nicht ganz freiwillig zustande kam.
Was gibt es denn daran auszusetzen,
fragte die Stimme des Autokraten in
mir. Manchmal wird es wohl auch
nötig sein, die Menschen zu zwingen, ihre Sinne für die Kunst zu öffnen. Der Widerhall meiner Gedanken hatte mich zutiefst verwirrt. Woher diese Stimme, die so anders ist,
als jene, die mir sonst zuflüstern, was
ich zu tun oder zu lassen habe? War
es ein Dämon? Habe ich ihn auf
irgendeine Weise geweckt? Übt meine Umgebung, die mich sonst mit
Tausenden als Gewohnheiten getarnten Geboten bedrängt, plötzlich
eine Genussdiktatur über mich aus?
War es das, was die Kellnerin vorhin
sagen wollte? Sind das Zeichen und
was für Zeichen hatte nur D’Annunzio
den Menschen gegeben?
Ich trank aus und ging wieder auf
die Straße hinaus. Draußen herrschte
das übliche Gedränge. Da ich mich
nicht besonders wohl fühlte, bemühte ich mich, die Menschen um mich
herum nicht als Ganzes, sondern nur
ihre Schritte auf dem Gehsteig zu
betrachten. Aus Schritten lässt sich
in Gedanken ein Mensch formen,
umgekehrt geht es nicht. Ein kleines
Mädchen platzte zufällig mit dem
Gesicht in meine niedrige Perspektive. Es sah lieblich aus, lächelte fröhlich, so dass ich mir alle Mühe gab,
nur seine Lieblichkeit und seine Fröhlichkeit zu betrachten, nicht aber sein
Gesicht. Hatte ich dabei Erfolg? Ich
erinnere mich nicht mehr, ich würde
sagen, ich hatte keinen. Ein Wagen
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TIONS
Boris Peri}
war so geparkt, dass eines seiner vier
Räder auf dem Gehsteig stand, was
mich kurz zum Lachen brachte. Ich
blickte auf sein Landeskennzeichen,
es war das dänische. Einen Augenblick lang empfand ich es als völlig
verständlich, nicht in Rijeka zu sein,
sondern, sagen wir, in Paris. „Haben
Sie einen Dichter?“, glaubte ich jemanden im Vorübergehen fragen zu
hören. Ich hatte keinen, vielleicht
auch doch, ich weiß es nicht. Ich
wusste nicht, ob es überhaupt angebracht sei, diese Frage zu beantworten.
Ich überquerte die Straße. Der dänische Wagen treib mich nicht mehr
zum Lachen. Die Zeichen um mich
herum vermehrten sich nach wie vor
und belasteten mein Gehirn mit ihren
unmöglichen Anforderungen. Trotzdem waren sie anders, als jene, die
ich früher zu empfangen gewohnt
war, obwohl ich nicht glaube, dass es
mir bis heute gelungen ist, die Welt
jener niederträchtigen Verstellung zu
verlassen, deren Atem ich an schlechteren Tagen deutlich am Hals spürte. Bei diesen Zeichen, das muss ich
ihnen noch sagen, ist vor allem interessant, dass sie nicht jedes Mal an
denselben Orten vorhanden waren.
Dort, wo ich sie wahrzunehmen pflegte, hatte sich nichts verändert, nur
sie waren nicht mehr da. Aber an
diesem Tag gab es sie im Übermaß und
deshalb meine ich, dass der Glaube
an dämonische Kräfte nicht völlig
grundlos ist, denn es muss einfach
einen unbegreiflichen und meist unsichtbareren Jemand geben, der den
Dingen und Erscheinungen Bedeutungen zuweist und sie dieser wieder
entledigt. Ich blickte bergauf, der
Gouverneurspalast war nicht zu sehen, ich wusste jedoch, er befindet sich
dort. Mehr noch, ich hatte Angst, ich
könnte, würde ich bis zu ihm hinaufgehen, in meinem eigenen Traum
landen, der in einer dunklen Ecke
meines Unterbewusstseins bestimmt
nach einer Fortsetzung verlangte.
Ich betrat daher abermals die De`manova und ging sie einige Male auf
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und ab. Schließlich machte ich vor
dem Haus gegenüber des meinigen
Halt. Auf den ersten Blick wirkte es
nicht anders als die übrigen in dieser
Häuserzeile, und ich weiß auch nicht,
was mich an ihm so anzog. Ich sah
nicht nach, was für Leute das Haus
bewohnten, denn diese Tatsachen
würden mir nichts sagen. Über der
Eingangstür und den verschlossenen
Fenstern erblickte ich merkwürdige
Details an der Fassade. Kränze mit
Schlangenknäueln, Eulen, abstrakte
Symbole, deren Namen ich nicht
kannte, all das konnte dem sezessionistischen Baustil zugeschrieben werden, mit dem das Gebäude zeitlich
auch zusammenzufallen schien. „Der
Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“, kam mir die Aufschrift auf dem
Gebäude der Wiener Sezession in den
Sinn. Von deren wahrscheinlich bekanntestem Vertreter, Gustav Klimt,
stammen wiederum die Deckengemälde in einem angesehenen Theater in Rijeka, worüber, außer in Fachkreisen, kaum jemand spricht. Mir
hatte davon, wie von allem anderen
auch, natürlich Slavica erzählt.
Nachdem ich meine Aufmerksamkeit mit einiger Mühe wieder auf das
Haus, vor dem ich stand, gerichtet
hatte, wurde ich ungefähr in Augenhöhe eines rätselhaften Frieses gewahr, bestehend aus einer Reihe von
Vierecken, die man auf der abgasverschmutzten Fassade kaum erkennen konnte. Auf einigen der Vierecke waren Streifen abgebildet, deren
Muster an Hakenkreuze erinnerten,
während die anderen sonderbare
Symbole enthielten, die ich beim
besten Willen nicht zu entziffern
wusste. Während mich die Zeichen
um mich herum an diesem Tag äußerst lebhaft angesprochen hatten,
hüllte sich die braune Fassade, die
einmal weiß gewesen sein musste, in
tiefes Schweigen. Da haben wir es,
dachte ich, am Ende steht doch das
steinerne Schweigen. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, wie viele Bedeutungen die Menschen bisher dem Schwei-
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gen beigemessen haben? Schweigen
ist der Rest und Schweigen ist Gold,
Schweigen macht Menschen zu Philosophen, Schweigen ist die Eigenschaft der Musen, wenn Waffen sprechen. Dieses Schweigen verleitete
mich schließlich auch dazu, die Tür
zu öffnen und mich in den Gang des
Hauses zu schleichen.
Drinnen fand ich nichts Unerwartetes. Trotzdem ahnte ich, dass ich
mich nicht ganz ohne Grund entschlossen hatte, das Innere des Hauses zu betreten. Um mich herum war
alles ruhig und still, bis auf das Summen eines unsichtbaren Lichtautomaten irgendwo über meinem Kopf.
Als ich an das Treppenhaus in Slavicas Wohnhaus dachte, wurde mir
beinahe schwindlig. Irgendwie war
ich immer noch dort, gefangen in
einem Augenblick meiner eigenen
Erinnerungen, die ich nicht auszulöschen vermochte, obwohl ich sie
auch nicht für besonders wichtig
hielt. Von Slavica habe ich niemals
Antwort auf meinen Abschiedsbrief
erhalten, obwohl ich ihr nachträglich meine neue Adresse zugeschickt
hatte. Es kam nur ein Schreiben von
unserem Rechtsanwalt, in dem stand,
unser Scheidungsverfahren sei im
Gange. Ich fragte mich, wie es wohl
den Kindern gehe, dann fiel mir
aber ein, dass ich mich zu jeder Zeit
bei meinem Bekannten, dem Schriftsteller und Professor, danach erkundigen konnte, dieses Thema jedoch
nie angesprochen hatte. Durch ein
Fenster am Ende des Ganges fiel fahles Nachmittagslicht herein. Alles
war still, außer dem Automaten.
Zu meiner Linken stand eine Tür
eine Handbreit offen, auf der weder
ein Namens- noch ein Firmenschild
angebracht war. Ich sah durch den
Türspalt und erblickte eine Treppe.
Sie führte in die Tiefe. Würde mich
ein Strudel hinunterziehen, wenn ich
die Tür öffnen würde, fragte ich mich
und lachte leise. Nein, würde er nicht,
antwortete eine Stimme aus dem Inneren meines Kopfes, der Abstieg ist
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Dezember
sicher. Woher wusste sie, dass ich
hinuntersteigen wollte? Und wer versteckte sich eigentlich hinter dieser
Stimme? Einer meiner Dämonen,
deren Namen ich nicht kenne? Für
alle Fälle ließ ich die Tür offen und
betrat die glitschigen Stufen. Es waren nicht viele, ich stieg vielleicht ein
Stockwerk hinab, überzeugt, ich würde in den Keller gelangen. Ich gelangte jedoch in einen kleinen kreisförmigen Raum, aus dem eine offenstehende Tür in eine Art Garten führte. Über der niedriger gelegenen Straße
musste dieser eine Terrasse bilden.
Niedrige Fenster, beinahe in Bodenhöhe, besagten, dass es einen noch
tieferen Raum geben musste. Leider
konnte ich nichts finden, was als Eingang zu diesem hätte dienen können.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie
weit sich der Gras- und Unkrautbewachsene Garten erstreckt hatte,
glaube aber, an seinem Ende entweder Büsche oder Baumkronen gesehen zu haben, die aus einem niedriger gelegenen Innenhof, wahrscheinlich in der Kurel~eva-Straße, emporzuragen schienen. Im Garten herrschte vollkommene Ruhe. Der entfernte, eintönige Widerhall des Stadtgewirrs umrahmte die Stille. Die späten Sonnenstrahlen fielen schräg und
warfen lange Schatten. Die Wände
des kreisförmigen Raumes, in dem ich
stand, verstärkten durch ihre Akustik jedes Geräusch, so dass ich beinahe
zu atmen aufhörte. Einige Minuten
lang stand ich so da, und als ich endlich meinen Blick senkte, entdeckte
ich auf dem steinernen Boden ein
Mosaik, geheimnisvoll wie die Verziehrungen an der Fassade.
Inmitten einer schwarzen Kreislinie
befand sich ein kleinerer, gelber Kreis,
in dem ein Stern mit fünf schwarzen
Zacken und einer roten Mitte abgebildet war. Im weißen Feld zwischen
Kreis und Kreislinie sah ich fünf
Druckbuchstaben – zweimal ein I,
ein U, ein R und ein S – jeder von
ihnen zwischen je zwei Sternzacken.
Ich las sie in allen erdenklichen Rei-
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henfolgen, bis ich schließlich mit
Mühe entzifferte, was tatsächlich auf
dem Boden geschrieben stand: SIRIUS.
Dasselbe S stand als erster und letzter Buchstabe des Wortes und bildete daraus einen Kreis. Uroboros, fiel
mir ein, was Slavica mit über Symbole erzählte hatte, die Schlange, die
ihren eigenen Schwanz verschlingt,
eine uralte Allegorie der Ewigkeit
und der Totalität, des mystischen
Spiels des Werdens und Vergehens,
des Zerfalls und der neuen Vereinigung. Ich war mir nicht sicher, ob
ich sie nicht auch an der Fassade des
Gebäudes gesehen hatte. Und wenn
schon, dachte ich und spürte die
Spannung in mir wachsen. Meine
ursprüngliche Beklommenheit war
ganz und gar von mir gewichen.
Würde ich denn ihre Bedeutung an
diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt
zu deuten wissen? Eine leichte Brise
wirbelte im Garten die ersten abgefallenen Blätter auf. In der Luft, die
mich umgab, verdichtete sich der
Herbst. Der Fluss bringt den Herbst,
lange stirbt die Stadt, summte ich
geistesabwesend ein liebes Chanson.
Die Schlange zu meinen Füßen begann
langsam zu mir zu sprechen, stumm
und geheimnisvoll, wie Schlangen
eben sprechen, mit der Stimme eines
Dämons, der auf den angespannten
Saiten meiner Nerven tanzt. Sirius,
fuhr es mir durch den Sinn, der
Hundsstern, hatte mich denn Iva erst
vor wenigen Tagen nicht nach ihm
gefragt? Während der Hundstage,
unter der Herrschaft des Sirius, so
wird gesagt, schlüpft aus einem Ei,
das von einem Hahn gelegt wurde,
der widerwärtige Basilisk. Dieser
steht drüben, in der Burg von Trsat,
und hütet wachsam den Eingang zu
Nugents Mausoleum. Nacht Trsat,
erzählt eine andere Legende, brachten vor langer Zeit Engel auf leichten Schwingen das Heilige Haus aus
Nazaret. Drei Jahre und einige Tage
später wurde es dann von den Winden des Schicksals ins italienische
Loreto getragen. Obwohl die Kirche
TIONS
nicht besonders begeistert war, ließ
Gabriele D’Annunzio, ein leidenschaftlicher Liebhaber von Geschwindigkeit und Technik, und als solcher
einer der ersten, die sich wegen zu
schneller Fahrt vor Gericht zu verantworten hatten, die Santa Casa aus
Loreto auf die Tür seines Fiat 4 malen, damit sie ihn vor bösen Missgeschicken bewahre. Und mit demselben Wagen fuhr der Comandante im
September 1919 auch in Rijeka ein.
Der Kreis hatte sich geschlossen, die
Schlange hat sich in den Schwanz
gebissen, der eherne Basilisk in der
Burg von Trsat schwang unsichtbar
seine Flügel. Wie betäubt stand ich
da, während ein ungebetenes Fieber
abermals von meinen Sinnen Besitz
nahm. Auf einmal, glauben Sie mir,
ich weiß selbst nicht, wie viel Zeit
verstrichen war, riss mich ein schrilles Knarren jäh aus meiner Meditation. Die Tür, ich fuhr zusammen,
jemand öffnet sie gerade und wird
gleich die Treppe hinuntersteigen,
und ich werde erklären müssen, was
ich hier überhaupt zu suchen habe.
Aber ich hatte mich getäuscht, die
schwere Holztür ging langsam zu,
bis sie sachte ins Schloss fiel. Meine
Angst wurde durch die Tatsache verstärkt, dass ich mich nicht erinnern
konnte, ob ich an der Innenseite der
Tür überhaupt eine Klinke gesehen
hatte. Ich schaute mich um, konnte
aber keinen Ausgang aus dem Garten entdecken. Ich wusste, es wäre
blanker Wahnsinn, an sein Ende zu
laufen und mich Hals über Kopf in
jemandes Hof in der Kurel~eva zu
stürzen, sollte ein solcher überhaupt
existieren. Ich stand über dem fünfzackigen Hundsstern und versuchte
mir auszumalen wie – und warum
eigentlich? – der Basilisk von Trsat
Ivas Freund Wagner in seinen Bann
gezogen hatte. Keine plausible Erklärung kam mir in den Sinn, ich
wusste nur, dass ich mich in derselben Lage befand. Die erste Dämmerung senkte sich über den Garten.
Abend kehrt in alten Garten; Sonjas
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TIONS
Boris Peri}
Leben, blaue Stille, rezitierte ich stotternd vor mich hin, um mein Unbehagen zu unterdrücken, verstärkte es
mit diesen düsteren Versen jedoch
nur. Sonja, würde ich heute sagen,
was für ein schöner und passender
Name. Sonja, Sofia, Weisheit; Sonja
Marmeladowa, die Hure mit ihrem
enormem Heiligenpotential, die als
Allegorie jeglicher Abwege und reinster Moral dem geliebten Mörder Raskolnikow freiwillig ins tödliche Sibirien folgte. Ich meine, die Figur
der Sonja ist gewiss kein Alibi für
das, was ich Ihnen jetzt sagen werde,
aber wann immer ich über Perversionen nachdenke, die, wie mein Bekannter, der Schriftsteller, bestimmt
sagen würde, das System der europäischen Präferenzen weitgehend dominieren, kann ich nicht umhin, mir
vorzustellen, wie aus dem Boden dieser dekadenten Fäulnis früher oder
später die ersten Heiligen hervorgehen werden, ob wir dafür nun Verständnis haben oder nicht. Aber über
solche Dinge habe ich, wie Sie jetzt
richtig annehmen werden, in jenem
kreisförmigen Raum, über den fünf
steinernen Zacken mit dem Namen
des Hundssterns, gewiss nicht nachgedacht.
Die Minuten verstrichen, meine Unruhe wuchs ins Unermessliche, und
die Tür, davon war ich fest überzeugt,
konnte nach wie vor nicht von innen
geöffnet werden. Ich hätte warten
können, bis jemand zufällig nach der
Klinke greift, oder aber ich hätte hinaufgehen und wie wild drauf losschlagen können, wodurch ich mich
bestimmt ordentlich blamiert hätte.
Außerdem hätte ich das Misstrauen
des gesamten Hauses auf mich gezogen, egal, wer seine Bewohner waren. Ich ging wahrscheinlich recht in
der Annahme, dass keiner von ihnen
mit den geheimnisvollen Symbolen
an der Fassade etwas zu tun hatte,
geschweige denn mit dem Stern, den
ich fortwährend anstarrte. Umso mehr
wäre ich in ihren Augen ein Sonderling, und es hätte mich auch nicht
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gewundert, wenn jemand von ihnen
die Polizei gerufen hätte. Ich beschloss daher abzuwarten, mag kommen, was wolle. Je mehr ich über die
Tür nachdachte, umso sicherer war
ich, dass es von innen keine Klinke
gibt, und so wurde sie für mich zu
einem immer schwerer zu bewältigenden Problem. Man könnte sagen,
ich schloss mich mit meinem fieberhaften Nachdenken von Sekunde zu
Sekunde immer stärker ein. Und
über den Garten in seinem Herbstmantel senkte sich schon die Dunkelheit herab.
Als ich jedoch nach geraumer Zeit,
trotz steigendem Fieber und immer
größerer Unruhe, die Ausweglosigkeit meiner Lage begriffen und beschlossen hatte, an die Tür zu klopfen und jenem, der mir öffnet, zu
sagen, ich hätte mich zufällig in diesen Teil des Gebäudes verirrt, wurde
mir schlagartig klar, dass es während
meiner gesamten eingebildeten Gefangenschaft keinen Grund zur Panik gegeben hatte. Es gab von innen
zwar keine Türklinke, aber ebenso
auch kein Schloss, mit dem man die
Tür hätte zusperren können. Ich öffnete sie ganz leicht, indem ich sie
mit der Hand in Richtung Gang
drückte, und lief rasch auf die menschenleere Straße hinaus. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung
hatten die sonderbaren Symbole an
der Fassade des Gebäudes ihre tägliche Erkennbarkeit zur Gänze eingebüßt. Ohne sein stummes Reden in
einer Sprache, die niemand zu übersetzen wusste, wirkte das Gebäude
noch unheimlicher. Aber nachts,
traue ich mich zu sagen, sehen alle
Häuser gleich unheimlich aus. Vor
dem nächtlichen Himmel zeichnen
sich schwarz die Dächer ab, es locken uns blinde, erloschene Fenster,
und sollte in einem von ihnen tatsächlich noch Licht brennen, fragen
wir uns voll Misstrauen, was für ein
Verbrechen dort gerade im Anzug
ist. Was meinen Sie, wie oft ich hier
auf der Insel darüber nachdenke,
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wenn ich aus der Einsamkeit der
Oberen Gasse heraus die schlafenden Dächer der Stadt betrachte?
Während ich nach dem Schlüssel
suchte, um in mein eigenes Haus
eintreten zu können, sah ich eine vertraute Silhouette aus dem Dunkel
auf mich zukommen. Es war Filippo
Doberti, der entweder mit den dämonischen Kräften im Einverständnis war, die mich dort unten angekettet hatten, wie einen Galeerensklaven an die Bretter im Unterdeck
seiner Galeere, oder der mich die
ganze Zeit über verfolgt und in der
Nähe meines Hauses auf mich gewartet hatte. Dass wir uns zufällig getroffen haben könnten, daran glaubte ich nicht, und ich tue es auch
heute nicht, denn hinter dem Zufall,
wie wir ja schon immer gewusst haben, steckt nur eine unerkannte Verbindung. Er wirkte äußerst gut gelaunt, in der Hand hielt er eine Flasche Wein, mit der er, wie er mir
sofort sagte, vorhatte, sich für seine
früheres Benehmen zu entschuldigen. Obwohl ich derjenige war, der
sich nicht anständig benommen hatte, nahm ich seine Entschuldigung
an und lud ihn ein, mit mir in meiner Wohnung ein Glas davon zu
trinken. Ich wusste nicht, ob ich ihm
vom unliebsamen Vorfall im Keller
des Nachbargebäudes berichten sollte, weil ich fürchtete, er könnte mich
für unseriös halten, vor allem, wenn
ich ihm von den sonderbaren Assoziationen erzählen würde, die der steinerne fünfzackige Stern in meinem
Gehirn hervorgerufen hatte.
– Hübsch haben Sie die Wohnung
eingerichtet – sagte er gleich nachdem wir eingetreten waren.
Es war mir keineswegs klar, was er
damit meinte, denn ich hatte in der
Wohnung hinsichtlich Aussehen und
Ausstattung keinerlei Veränderungen vorgenommen. Die Möbel waren dieselben, die ich angetroffen
hatte, als ich eingezogen war, die
wenigen Bücher und anderen persönlichen Gegenstände, die ich mit-
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gebracht hatte, hoben sich auf den
alten Regalen gar nicht hervor. War
er etwa gekommen, nur um mich
zum Narren zu halten? Daran konnte ich beim besten Willen nicht glauben. Andererseits war diese Geste
auch durch seine übertriebene Höflichkeit zu erklären, die nicht jedes
Mal die exakten Sachverhalte in Betracht zog. Ich versuchte, seine Worte ohne Hintersinn wahrzunehmen,
was mir aber nicht gelingen wollte.
Er luchste durchs Zimmer, als würde
es ihn auch stören, dass auf dem hölzernen Tischlein in der Ecke keine
Uhr stand. Bald begriff ich jedoch,
dass ihn eigentlich gar nichts störte.
Er begann, seelenruhig an seinem
Weinglas zu nippen und mir von
irgendwelchen Hobbys zu erzählen,
mit denen er sich in früheren Jahren
die Zeit zu vertreiben pflegte, bis er
sie seiner Diplomatenkarriere wegen
aufgeben musste. Eine Zeitlang, sagte er, züchtete er Pferde, irgendwo
im Norden Italiens, dann, ich war
nicht wenig erstaunt, das zu hören,
sammelte er Uhren, und widmete
sich schließlich dem Studium alter
Bücher, die durch ihre okkulte Thematik meinem Bekannten, dem Zagreber Schriftsteller, gewiss nicht uninteressant sein dürften. Letzteres,
sagte er, tat er nur aus purer Neugierde, denn er sei, wie die meisten
Menschen, immerhin ein Kind des
aufgeklärten Zeitalters und könne
sich nicht ohne weiteres dem Aberglauben hingeben. Darin war er, wie
ich später begreifen werde, nicht
ganz ehrlich, und dennoch ist es nur
allzu verständlich, dass „Kinder des
aufgeklärten Zeitalters“, angetrieben
von Zweifeln und Wissensdurst, früher oder später beginnen, an das zu
glauben, was sie vorher noch als Aberglauben abgetan haben.
Obwohl mich, ehrlich gesagt, sein
Interesse für Okkultes zu diesem Zeitpunkt weit mehr interessierte, unterhielten wir uns über Uhren. Es versetzte mich in Erstaunen, wie gut er
sich nicht nur in künstlerischen und
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stilistischen Epochen, sondern auch
in der für das Verständnis der Uhrmacherlehre unentbehrlichen Mechanik auskannte. Denn Doberti
hatte die Uhren, die er in Antiquitätengeschäften in ganz Europa gekauft hatte, falls sie nicht intakt waren, vorwiegend selbst repariert. Ich
weiß nicht warum, aber dabei fiel
mir Meyrinks verrückter Uhrmacher
ein, dessen Uhr nur einen Zeiger
hatte, während das Zifferblatt aus
Tier- und Dämonenköpfen bestand.
Und statt zwölf, zählte sie vierzehn
Stunden. Ich glaube, dabei muss es
sich um seine versteckte Allegorie
gehandelt haben, so etwas wie die
fünfundzwanzigste Stunde des Tages oder der dreizehnte Monat des
Jahres. Dazu zählen letztendlich auch
die Hundstage der Ägypter, Tage, an
denen alles erlaubt ist, denn niemand
am Himmelszelt herrscht über sie,
außer dem Sirius, dessen dunkles
Geheimnis offenbar erst noch gelüftet werden muss.
Ich erwähnte all die Miniaturchronometer, von denen ich die Jahre
hindurch gelesen hatte, darunter auch
D’Annunzios Totenschädel aus Elfenbein, den ich später in Zürich tatsächlich gesehen habe. Er hatte, natürlich, davon gehört, wie auch von
einer Vielzahl anderer Juwelen des
filigranen Uhrmacherhandwerks. Als
ich aber den Dichter erwähnte, hielt
er einen Augenblick lang inne. Hätte
ich ihn nicht besser gekannt, hätte
ich gesagt, es sei ihm wegen seines
älteren Volksgenossen unangenehm
gewesen, der in der Stadt, in der wir
beide arbeiteten, immerhin im üblen
Ruf eines Besatzers stand. Obwohl
all dies in den letzten zwanzig Jahren
ziemlich schleierhaft geworden ist,
klang im Wort Besatzer nach wie vor
ein gewisses Unbehagen mit, ohne
dass jemandem dabei der Comandante oder sein kurzlebiger Staat in
der Kvarner-Bucht eingefallen wären. Der bissige Satz von den zwei
alten Weibern blieb der kroatischen
Allgemeinkultur ebenso fremd, wie
TIONS
auch D’Annunzios Bücher oder der
Marsch seiner Legionäre auf Rijeka,
denn der kroatischen Allgemeinkultur, fürchte ich, dürfte heutzutage viel
mehr fremd sein, als nur diese kleine
historische Episode. Im übrigen bezweifle ich auch, dass es im heutigen
Serbien noch jemandem geben könnte, der aus D’Annunzios „Ode an
das serbische Volk“ Begeisterung oder
Verbitterung schöpfen würde.
Als die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte, schon zur Neige ging,
wechselte Doberti plötzlich das Thema. Aufrichtig, wie ein alter Freund,
und dennoch ohne freundschaftlichen Eifer, sah er mir in die Augen
und sagte:
– Ich werde den Eindruck nicht los,
Sie seien verspannt und etwas würde
ihnen Kummer bereiten. Ich wünschte, ich könnte ihnen bei Ihrem Dilemma helfen, sofern es sich tatsächlich um ein Dilemma handelt.
Ohne Erklärung zauberte er eine
neue Flasche Wein aus der Luft und
stellte sie auf den Tisch. Als ich ihn
auf der Straße getroffen hatte, hatte
er keine zweite Flasche bei sich, und
ich hatte sie ganz bestimmt nicht gekauft. Trotzdem ließ ich ihn die Flasche entkorken und mir von Neuem
einschenken.
– Tja, wissen Sie, unser Institut –
begann ich umständlich. – Ich muss
Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich
mir über seinen Zweck nicht völlig
im Klaren bin, geschweige denn über
die Dinge, die dort passieren.
– Lieber Freund, niemand ist sich
darüber im Klaren – erwiderte Doberti versöhnlich. – Glauben Sie denn,
ich hätte eine komplette Einsicht in
unsere Institution? Ich weiß nur, was
mich interessiert, beschäftige mich
mit Dingen, mit denen ich mich beschäftigen möchte, und Ihnen würde
ich raten, dasselbe zu tun. Sehen Sie
sich mal jene beiden im Zimmer neben dem ihrigen an. Was tun die? Sie
drücken sich vor der Arbeit, tun so
als ob, vertrödeln ihre Zeit, warten,
bis der verdammte Arbeitstag zu Ende
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Boris Peri}
ist, um sofort zu vergessen, was während der Arbeitszeit getan wurde.
Oder mein Dienstbote, der nur Papiere von einem Ort zum anderen
trägt? Aber diese Leute, das können
Sie sich ja sicher denken, leiden unter keinerlei Zweifeln, sie gehen zu
ihren Frauen und Kindern oder besaufen sich im erstbesten Wirtshaus
und damit ist die Arbeit getan. Und
morgen, wie man bei Ihnen auf dem
Balkan zu sagen pflegt, Jovo nanovo.
– Und wie erklären Sie dann, dass für
so eine schlampige Arbeit, falls überhaupt von Arbeit gesprochen werden kann, von irgendwo auch noch
Geld kommt? – ermutigte ich mich
zu fragen.
– Es kommt nicht von irgendwo –
verbesserte er mich. – Es kommt aus
Brüssel, und dorthin kommt es aus
verschiedenen Teilen des Kontinents,
ja sogar von hier. Dieses ganze sinnlose zirkulieren des Geldes, das ist
wie das Prinzip verbundener Gefäße.
Wir nehmen von den Naiven, um
ihnen einen bestimmten Teil zurückzugeben, während wir mit dem Rest
das finanzieren, was uns sonst niemand, der recht bei Trost ist, finanzieren würde, nämlich unseren Müßiggang. Das ist der Lauf der Welt,
oder wozu, meinen Sie, sind die Theorien über die Anpassung von Wertsystemen nütze, wenn nicht, um uns in
eure Gesetze einmischen zu können?
– Aber Herr Rorschach erwähnte in
Wien auch gewisse ästhetische Fragen – fiel ich ihm ins Wort.
– Ach, Rorschach beschäftigt sich
hier mit seinen Fixierungen, von denen ich Ihnen lieber nicht erzählen
möchte, und redet manchmal allerlei
Unsinn – erwiderte Doberti und zündete sich eine Zigarette an. Nie zuvor
hatte ich ihn rauchen sehen. Aus Achtung vor ihm zündete ich mir selbst
eine an. – Rorschachs finanzierter
Müßiggang heißt Sex, vielleicht etwas
morbide und widerwärtig, aber alles
in allem geht es um Sex. Warum
auch nicht? Schließlich kommt er ja
aus Freuds Heimat, oder etwa nicht?
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– Freuds und Mozarts – fügte ich
höhnisch hinzu.
– Da sehen Sie, wie gut sie die Dinge
begriffen haben – gratulierte mir Doberti lächelnd. – Freuds und Mozarts,
das ist die hohe Kultur, das sind die
ästhetischen Fragen, das ist der perverse Charme der untergegangenen
k. u. k. Monarchie, und sollte Sie der
gelegentliche Gestank stören, machen Sie doch das Fenster auf, das ist
doch die einfachste Lösung.
Ich schwieg. Ich wollte ihn in diesem Augenblick fragen, was das für
Dinge seien, die ihn interessieren
und unter die Sparte „bezahlter Müßiggang“ fallen, traute mich aber
nicht. Jede Antwort, die ich hätte
erwarten können, schien mir gefährlich, vielleicht sogar verheerend für
meine fragile Überzeugung, in der
Welt existiere immer noch etwas, was
wir eine gewohnte Ordnung nennen
könnten. In seiner Einstellung klang
etwas von jener mit, die D’Annunzio
mit dem Wort disobbedisco bezeichnet hatte, ich konnte jedoch beim
besten Willen nicht verstehen, an
wen Doberti eine derartige Parole
adressieren sollte. Jenes trübe Gebilde über ihm, das wir Europa nennen,
erwartete von Menschen seines Schlages offensichtlich keinerlei Gehorsam. Es forderte ihn von uns kleinen,
unbedeutenden Leuten, denen es Gnade erwies und abgenagte Knochen
zuwarf. Disobedisco? Ich fürchte, das
gibt es nicht mehr, weil sich die Dämonen versteckt haben oder eingeschlummert sind. Oder sie tanzen
irgendwo allein, wie in jenem Lied.
– Wo wir schon beim Sex sind, wie
steht es denn bei Ihnen damit? – fragte Doberti unerwartet.
– Wie bitte? – fuhr ich zusammen.
Ich hatte alle möglichen Fragen erwartet, nur nicht diese.
– Ich meine, verstehen Sie mich bitte
nicht falsch – fuhr er fort. – Das ist
wichtig, das ist eine wesentliche Vorbedingung jeglichen seelischen Gleichgewichts, außerdem entspannt es den
Menschen. Wenn ich Sie so ver-
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spannt dasitzen sehe, frage ich mich,
hat mein Freund überhaupt ein gesundes Sexualleben?
Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Doberti griff zur Flasche und füllte unsere Gläser nach.
Während ich mein Glas festhielt,
berührte er sanft meine Hand. Von
der Stelle seiner Berührung strömte
eine seltsame Elektrizität durch meine
Nerven, als würde jemand in meiner
Nähe Hochspannungsexperimente
durchführen. Treppenbeleuchtung,
dachte ich. Es half aber nichts. Ich
hörte, wie in der Dunkelheit die Eingangstür aufging. Natürlich, ich war
nicht der einzige, der einen Schlüssel
zu meiner Wohnung besaß, das hätte
ich ja vorausahnen können. Gewiss
besaß auch Doberti einen und wer
weiß wer noch alles. Ein stilles Knarren der Dielen im Flur kündigte einen Besucher an und in der Tür erschien zu meinem Entsetzen Alice in
der Tür. Sie trug ihren schwarzen
Regenmantel, während ihre Augen,
sie werden es gewiss schon erraten
haben, hinter ihrer schwarzen Sonnenbrille versteckt waren, obwohl
ich mich fragen musste, wie sie sich
in der Dunkelheit, die uns umgab,
überhaupt zurechtfinden konnte. Ich
dachte an die Fassade mit dem Fledermausrelief. Auch das half nichts.
Alice lächelte uns zu, ging in die Küche und kam mit einem leeren Weinglas zurück. Sie nahm mir gegenüber
in einem Sessel Platz und warf mir
durch ihre schwarze Sonnenbrille
unsichtbare Blicke zu, die mich ziemlich in Verlegenheit versetzten. Um
ehrlich zu sein, am meisten tat es mir
Leid, dass sie sich nicht zwischen
Doberti und mich gesetzt hatte, um
den Stromkreis zu unterbrechen, der
mein ursprüngliches Fieber zusätzlich in die Höhe trieb. Doberti grüßte
sie freundlich und legte seine Hand
auf meine Schulter. In seiner Berührung lag etwas Vertrautes, ich traue
mich beinahe zu sagen, Verlockendes,
zugleich aber auch Eiskaltes, Abweisendes, als sei die Hölle selbst auf
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einmal zugefroren und strecke nun
ihre schleimigen, klammen Tentakel nach meiner schwankenden Welt
aus. Als hätte Doberti ihr ein vorher
ausgemachtes Zeichen gegeben, zog
Alice ihren Mantel aus. Ich sah viel
Schwarzes, hauptsächlich Spitzen und
Nylon, aber auch viel nacktes, weißes
Fleisch. Ich dachte an das Schlangenknäuel im Kranz an der Fassade gegenüber. Natürlich, auch das half nicht.
– Entspann dich, lieber Freund, wir
wissen genau, was du jetzt brauchst –
sagte Doberti mit versöhnlicher Stimme, umarmte mich und küsste mich
auf den Mund. Im nächsten Augenblick merkte ich, dass ich kein Hemd
mehr anhatte. Alice stand auf und
entledigte mich meiner restlichen
Kleidung. Zugleich entledigte sie sich
auch selbst all jener verführerischen
Modedetails, wie eine Stripperin in
einem Nachtclub. Es folgte eine Berührung, ich kann nicht sagen von
wessen Hand, und schon reckte sich
der Obelisk meiner Scham stolz in
die Höhe, in der heißen Luft obszöner Lusttempel zitternd, vom ausgelassenen Babylon bis zu den Bordellen in Odessa, von den Docks in
Amsterdam bis hin zu Sodom und
Gomorrha. Vom Fieber des Augenblicks gepackt, dachte ich an den
Sirius, an die Hundstage und den
grimmen Basilisken, an Engel, die
Reliquien durch die Lüfte tragen und
den rasenden Fiat 4 des Dichters, an
die nekromantischen Zeremonien unter den Zypressen eines namenlosen
Friedhofs und an etwas, das plötzlich eine völlig neue Bedeutung erhalten hatte und einst, in der Zeit von
D’Annunzios zweifelhaftem Ruhm,
Santa entrada hieß. Genießen Sie es,
sagte mir die Kellnerin im Cafe. Genießen sie es, befahl mir Rijeka durch
sein perfide ausgeklügeltes Zeichensystem. Genussdiktatur, fuhr mir die
Phrase aus dem Büchlein des Anarchisten durch den Sinn. Aber nichts,
nichts half.
„Er eroberte Fiume, die Duse und
das Besitztum am Gardasee, aber
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nicht einen Filmkredit“, sagte, soviel ich weiß, Bertolt Brecht über
D’Annunzio: „Er war ein Scharlatan, aber dieser Scharlatan schrieb
Hirtengedichte, die kaum untergehen werden. Auch seine Provokationen könnte man, mit Opusnummern
versehen, herausgeben. Seine Eitelkeit ist der Selbstgefälligkeit Hollywoods turmhoch überlegen, so ist es
sein Geschmack, wenn er auch etwas
zu disparat ist, und sein ganzer Lebensstil, der immerhin nicht nur der
Arbeit, sondern auch der Ausschweifung etwas Produktives verleiht.“
Verstehen Sie, was ich damit sagen
will und warum mir von allen Dingen auf der Welt in diesem Augenblick gerade diese Sätze eingefallen
sind? Wissen Sie, der große deutsche
Schriftsteller schrieb auch über Sodom
und Gomorrha, wo laut seiner Einsicht in den Stand der Dinge nichts
passiert ist und gerade in diesem
Nichts lag der Kern aller Ausschweifung und Sittenlosigkeit: „In Sodom
und Gomorrha haben sie den ganzen
Tag die Hände in Fotzen gehabt und
nichts anderes gemacht, als gefickt und
geleckt, aber keinem ist’s gekommen.“
Natürlich, auch die Nacht unserer
Ausschweifung war auf ähnliche Weise verstrichen. Denn, soviel wir, entschuldigen Sie den Ausdruck, auch
gefickt hatten – eigentlich waren es
ja jene beiden, die sich wie lustgeile
Aasgeier auf mich gestürzt hatten –
blieb die einzige Einschränkung, die
der aufrührerische Engel in seinem
Fall als dauerhaftes Handikap, manche würden gewiss auch sagen, als
zweifelhaften Segen, erhalten hatte,
auch in dieser Nacht in Kraft: Der
Teufel kann nicht kommen, wie es
auch in den Städten der Unzucht
und der Lüsternheit, die durch die
Hand Gottes von den kargen Landkarten irdischer Moral gelöscht wurden, niemandem gekommen ist. All
die Geschichten vom Samen, der eiskalt wie Quellenwasser sein soll, werden wohl eher auf Hirngespinste
notgeiler Dorfhexen zurückzuführen
TIONS
sein, wie sie von impotenten Inquisitoren, die ihre Federn streichelten,
statt unter die eigene Kutte zu greifen, in ihren widerwärtigen Analen
aufgezeichnet wurden. Als draußen
der Morgen zu dämmern begann,
waren wir drei immer noch wach.
Durch unzählige Spiegel gebrochen,
erschien in der Glastür des Balkons
das rote Abbild der Sonne. Ich fühlte
mich nicht besonders benutzt, aber
auch nicht besonders glücklich, obwohl mir mindestens einmal im Laufe der Nacht das unwiderstehliche
Wesen aus dem Warteraum im Krankenhaus in den Sinn gekommen war,
in dessen Schönheit sich, zumindest
in meiner Vorstellung, die besten Eigenschaften beider Geschlechter zu
vermischen schienen.
Ich dachte über die Zahl Elf nach,
von der, so hatte ich es mir zumindest
eingebildet, meine seltenen Leidenschaftsausbrüche begleitet wurden,
die ich heute, in Anbetracht der unerbittlichen Entwicklung der Ereignisse, getrost zur Vergangenheit zählen kann. Caro alla mia superstizione,
murmelte ich vor mich hin, während
Alice ihren biegsamen Körper erneut
an mich schmiegte. Die Nacht lag
schon weit zurück, als sie endlich ihre
Sonnenbrille abnahm. Jetzt schaute
sie mich mit ihren leeren Augen an,
deren Farbe ich im fahlen Morgenlicht unmöglich bestimmen konnte.
Doberti saß an der Bettkante und
zündete sich eine Zigarette an. Seine
Berührungen begleitete die ganze
Nacht hindurch ein fernes Unbehagen, weil mir die Agenten des Alltags
aufgetragen hatten, mich von dieser
Art Intimitäten fernzuhalten, oder
sie wenigstens geschickt zu vertuschen, sollte ich je in deren Umarmung geraten. Und ich hörte auf sie
und flüchtete zu Slavica und dann
auch noch zu Elizabeta. Und was hat
mir das gebracht? Einige Fachkenntnisse in bildender Kunst. Ich fürchte, nicht viel mehr.
Aus dem Kroatischen
von Boris Peri}
14.4.2009, 20:30