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RELA TIONS Inhalt 1 RELATIONS Literarisches Magazin Zeitschrift der Kroatischen Schriftstellervereinigung 1-2/2009 Das Wort des Redakteurs Herausgeber Kroatische Schriftstellervereinigung Marina [ur Puhlovski .............................................................................................................................................................. 3 ................................................................................................................................................................................................ 7 JANUAR Schlaflosigkeit Redaktion ¹ Chefredakteurº FEBRUAR Roman Simi} Bodro`i} Ivan Rogi} Nehajev ¹ Redakteurinº Auszüge aus dem glagolitischen Fundus Jadranka Pintari} ....................................................................................................................... 27 a A Z ¿ (A) ¹27º; E E S T ¿ (E) ¹28º; I I (I) ¹29º; S S L O V O (S) ¹30º; U U K ¿ (U) ¹31º; O o n ¿ (O) ¹32º; D D O B R O (D) ¹33º; V v e d e (V) ¹34º; L LJ U D I E (L) ¹35º Lektur / Korrektur Marijana Mili~evi} Redaktionsadresse MÄRZ Kroatische Schriftstellervereinigung Basari~ekova 24 Tel.: (+385 1) 48 76 463 Fax: (+385 1) 48 70 186 Ratko Cvetni} www.hdpisaca.org [email protected] APRIL März ......................................................................................................................................................................................................................... Aida Bagi} Wenn ich Sylvia heiße Preis 15 3 39 ........................................................................................................................................................................ 53 Proustische Zeiten ¹53º; Das Plakat ¹54º; „Es ist in der Tradition der russischen Literatur, ¹54º; Es blitzte die ganze Nacht. Und es donnerte, ¹54º; Und doch habe ich einmal auf dem Asphalt gesessen, ¹55º; Vanja sagt, ¹55º; Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen ¹56º; Im Spiegel ¹56º; draußen ist es besser ¹57º; meer angst und sturm ¹57º; vom backofen und von turteltauben ¹58º; nach dem regen, die conquista ¹59º; und tagelang übte ich auf den zehen ¹60º; häufigkeit des geschlechtsverkehrs ¹61º; natürliche methoden ¹62º; die spinnräder drehen sich schnell ¹63º; geometrie des raumes, den ich bewohne II ¹64º; gedächtnisschwund ist kein gebrechen ¹65º; dysthymie ¹66º; ich würde lieber wachsen ¹67º Umschlag „Crtaona“, Ivona \ogi} \uri} Prepress Kre{o Tur~inovi} Gedruckt in Kroatien bei „Profil“, Zagreb ISSN 1334-6768 MAI Die Zeitschrift wird vom Ministerium für Kultur der Republik Kroatien und vom städtischen Fond der Stadt Zagreb finanziell unterstützt. relations 2009.pmd 1 Neven U{umovi} Der Mohnsamen ........................................................................................................................................................................................ Vere{ .......................................................................................................................................................................................................................... 14.4.2009, 20:30 71 74 2 RELA Inhalt TIONS JUNI Ma{a Kolanovi} Die Traumhochzeit ............................................................................................................................................................................................................................................................................... 83 JULI Bekim Sejranovi} Nirgendwo, von nirgendwo her ............................................................................................................................................................................................................................................. 93 Licht im Haus .............................................................................................................................................................................................................................................................................................. Ich sag es dir, wenn wir da sind ............................................................................................................................................................................................................................................ 107 114 AUGUST Damir Karaka{ SEPTEMBER Vesna Biga Poesie ....................................................................................................................................................................................................................................................................................................................... 121 Morgenkinder ¹121º; In einem Zug ¹122º; Zehn verrostete Nägelchen ¹122º; Mein erster Satan ¹123º; Engel der Schnelle ¹124º; Ich sah einen Menschen, der den Mond nicht sah ¹124º; Bonsai ZOO ¹125º; Neujahrsbaum in der Pension Dr. Gaber ¹126º; Kindheitsübung ¹127º; Umfassend ¹127º; Dinge in Palermo ¹128º; Er, ich ¹128º; Waldmensch ¹129º; Den Punkt schlagen ¹129º; Die Karte Kalabriens ¹130º OKTOBER Zvonko Todorovski Die Winde Lampedusas ¹Abenteuerroman über das Leben der Seefahrerº ......................................................................................................................... 133 Ein konsequenter Gottloser .......................................................................................................................................................................................................................................................... Memoiren über den Keim der Unsicherheit ¹oder der Komplex kleiner Völkerº ........................................................................................................ 153 156 NOVEMBER Igor Rajki DEZEMBER Boris Peri} Der D’Annunzio Code ¹Romanauszugº .................................................................................................................................................................................................................. relations 2009.pmd 2 16.4.2009., 12:47 161 RELA TIONS Naslov 3 Das Wort des Redakteurs Verehrter Leser, vor euch liegt der zweite Teil des Projekts Kalender der kroatischen Literatur. Auch dieses Mal steht hinter jedem Monat ein Schriftsteller und hinter dem Jahr stehen Mini-Porträts der Zwölf, der Prosaisten und Dichter, die – der Meinung sind wir – dem kroatischen Literaturjahr 2009 ihr Zeichen aufsetzen werden. Was das Konzept angeht, so haben wir nicht viel geändert. Die Reaktionen auf die letztjährige „Kalenderausgabe“ haben bestätigt, worauf wir gehofft hatten – Pirelli liegt noch in leiser Führung im Bezug auf Masse, aber die Klasse, die Relations letztes Jahr an den Tag gelegt hat, ging nicht unbemerkt vorüber: Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass sowohl relations 2009.pmd 3 die einen als auch die anderen (wenigstens noch ein kleines bisschen) erprobte Formel und Kriterien beibehalten haben. Was Relations angeht – unsere zwölf Gesichter stellen auch dieses Mal Autoren dar, dessen Werke nicht ins Deutsche übersetzt sind und ohne die die Darstellung der kroatischen Literatur schwerlich komplett sein kann. Sie sind Dichter und Prosaisten; poetisch und generationsmäßig unterschiedlich, manchmal auch diametral gegensätzlicher literarischer Interessen – und obwohl sie in diese Auswahl aus unterschiedlichen Ecken der kroatischen Literaturszene gelangten, gemeinsam haben sie, dass sie dieser Szene mit ihrer Arbeit Lebendigkeit und Qualität verleihen. Das, was wir ihnen mit diesem Pro- jekt zu verleihen versuchen, ist – ein Gesicht. In der Hoffnung, dass euch die Gesichter der kroatischen Literatur und das Jahr, dass sie präsentieren, gefallen werden, bleibt uns nur, uns bei denen zu bedanken, ohne die es diesen ungewöhnlichen Kalender nicht gäbe: den Übersetzern und Fotografen. Danke noch einmal an Marijana Mili~evi}, Boris Peri}, Bla`ena Radas und Silvija Sladi}, die die Texte der kroatischen Schriftsteller ins Deutsche übersetzt haben, sowie an Martina Kenja, die den Texten ein Gesicht gab, ohne ihnen die Seele zu rauben. Wir wünschen euch alles Gute im Jahr 2009! 14.4.2009, 20:30 Redaktion 4 relations 2009.pmd RELA Inhalt 4 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 5 6 RELA Inhalt TIONS MARINA [UR PUHLOVSKI (1948, Zagreb) schreibt Romane, Erzählungen, Prosagedichte, Reiseberichte, Essays, Kurzgeschichten. Sie besuchte in Zagreb die Schule und beschloss dort ihre Ausbildung mit dem Diplom für vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie an der Philosophischen Fakultät. Eine Zeit lang war sie als Journalistin tätig und schrieb Literaturkritiken, aber kurz darauf widmete sie sich völlig dem Schreiben. Sie veröffentlichte die Romane Die Trojanische Stute („Trojanska kobila“, 1991, zweite Auflage 2006), Der Nichtsnutz („Ni{tarija“, 1999), Schlaflosigkeit („Nesanica“, 2007); die Erzählsammlungen Der Hase auf dem Dachboden („Zec na tavanu“, 1996), Das geheime Leben („Tajni `ivot“, 1997), Die Geschichte von der ehemaligen Sängerin..., („Pripovijest o biv{oj pjeva~ici...,“, 2000), Unter dem Tisch („Ispod stola“, 2001), Die Goldbrasse („Orada“, 2002); die Prosagediche Eingekerkertes Wissen („Zato~eno znanje“, 1998); die Reiseprosa Notizen von den Knien („Zapisi s koljena“, 2002), Aufzeichnungen außerhalb des Tagebuches („Izvandnevni~ki zapisi“, 2003), Neue Notizen von den Knien („Novi zapisi s koljena“, 2008), sowie eine Sammlung von Essays mit dem Titel Antiglossar („Antipojmovnik“, 2005). Den Roman Schlaflosigkeit erzählt die Heldin Sofija, eine 57-jährige Schriftstellerin, gut situierte Zagreberin, verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter, mit einem gewissen Literaturopus hinter sich, der sie zwar nicht berühmt gemacht hat, aber mit dem sie sich in großem Maße verwirklichen und Selbstbewusstsein erlangen konnte. Jedoch im Augenblick, als sie beginnt, die Schlaflosigkeit zu schreiben, dessen Erzählspanne von spätabends bis frühmorgens, in einer Nacht, bis kurz vor Morgengrauen, stattfindet, als sie leicht von Bedrücktheit und Kränklichkeit übermannt wird, die auch die durch Alkoholismus verursachte Schlaflosigkeit potenziert, „stimmt“ ihr Leben nicht mehr: Sie muss einen Großputz des Lebens vornehmen und ihre Illusionen wegwerfen. Dabei suchen sie alle Geister ihrer Vorfahren heim, so dass sich ihre Inventur in eine Inventur des gesamten Stammbaums verwandelt. Um einen Gedankenfluss-Effekt zu erzielen, bemühte sich die Autorin, ihren Stil auzuarbeiten, zu schleifen und zu feilen, verzichtete auf überflüssige Interpunktion, beschwor Gedanken in einer assoziativen (die nicht immer auch eine logische ist!) Folge, verfiel in (gesprächliche) Digressionen und wiederholte Refrains (auch um die Aufmerksamkeit der Leser aufrecht zu erhalten). relations 2009.pmd 6 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski 7 Schlaflosigkeit Marina [ur Puhlovski S ... eit meinem zehnten Lebensjahr war ich immer in jemanden verliebt, ich erinnere mich, fast gerührt, es waren ja doch angenehme Zeiten, als man träumte und sich was vorstellte, aber zum Genießen brauche ich eine Frau und keinen Mann, keine schwachen Feiglinge, wie meine Cousine, die sich lange vor mir entjungfern lässt, weil es ihr an Fantasie mangelt und sie sich mit nichts aushelfen kann, nichts hat, womit sie den Mann ersetzen kann, sie muss ihn in sich lassen, und die mir mit zwanzig Jahren, schon verheiratet und Mutter, erklären wird, dass man in „einer Ehe nur am Anfang genießt, später ist das nichts“, also ein ständiges Nichts, wenn du keine Hure bist, ich brauche jemanden, der so couragiert ist wie ich und den der Körper so verrückt gemacht hat, dass er entzweit ist, also finde ich meine nächste Partnerin in meiner Nachbarin Nata{a, befreundet schon seit der Vorschule, seit der Kinderherberge, der gleiche runde Tisch ewig voll geckleckert mit etwas, ewig klebrig, ohne Tischtuch, und Teller, die mit Fleisch und Eintopf gefüllt werden, obwohl noch nicht einmal die Suppe aufgegessen wurde, die gleiche Pulvermilch in Wasser, vermischt mit Zucker, Zichorie und Caro, zum Erbrechen, Margarine, gelber Käse, das immer gleiche gestrige Brot, was wir alle trinken und essen, was nur Nata{a ablehnt, sie und ihre Schwes- relations 2009.pmd 7 ter Mina, so dass beide Haut und Knochen sind, wie man auf gemeinsamen Fotos von Vis sehen kann, eine Insel am Ende der Welt, eine ganze Tagesreise, zuerst mit dem Zug, panierte Hähnchenschlegel, Tomaten und Kekse essend, dann mit dem Schiff, wo wir mit der „Kollonie“ die Sommer verbringen, in einer Kaserne im Wald, einem gepflegten, dichten Kiefernwald, ich habe sie unlängst gesehen, diese Kaserne im Wald, ganz dornenverwuchert, wie Dornröschens Burg, außer Betrieb noch seit dem Unabhängigkeitskrieg, wir schlafen auf dem Boden auf Strohsäcken, die wir von zu Hause mitgebracht haben und wo mich Nata{a zum ersten Mal schief angesehen hat, weil ich ständig nach der Mutter weinend, von der ich behaupte, dass sie „tot“ sei, „Wenn sie leben würde“, erzähle ich, „würde sich meine Mutter bei mir melden“, das Mitgefühl der Herbergsdirektorin erweckt habe, einer rassigen, dunklen Schönheit, mit schwarzem weichem Blick, ein großer Haarknoten im Nacken, deren Namen ich vergessen habe, an Lelas erinnere ich mich, aber an ihren nicht, das Paradox vom Nirgends, die ich schon früher in Zagreb mit dem Satz für mich eingenommen habe, der während eines Gruppengesprächs am Montagmorgen ausgesprochen wurde und der mit der Frage eröffnet wurde „Was haben wir am Sonntag gemacht?“, und der lautete „Ich mag keine Sonntage. Dann nimmt mich mein Papa bei der Hand und wir gehen von Neipe zu Neipe“, ich habe nicht gesagt, dass ich seine Gläser zähle, auf Mutters Geheiß, „drei und kein einziges mehr“, und dass ich ihn Mutter verrate, wenn er sich auch ein viertes genehmigt, trotz Bestechung mit Eiscreme und Himbeersaft, wir nehmen alles, aber wir betrügen Mutter nicht, „So ein ehrliches Kind ist mir noch nicht untergekommen“, sagt die Mutter zur Direktorin, seitdem bin ich ihr Liebling, ich, Sofija, zum ersten und letzten Mal, und auf Vis erlässt sie mir den täglichen Nachmittagsschlaf, das Vortäuschen von Schlafen unter der ewig aktiven Rute von Tante Lela, und bringt mich in der Zeit in ihr Büro mit Blick auf den Wald, wo sie mich mit Keksen und Himbeersaft bewirtet und mit mir gemeinsam einen Brief für die Mutter aufsezt, die mir anwortet, sie lebt, ist gesund, denkt an ihre Tochter, Gott sei dank, wonach wir ihr wieder schreiben, jeden Nachmittag, ein Privileg, das Nata{a auf keinen Fall ertragen kann, als ob ich mir eigentlich etwas angeeignet habe, das ihr gehört, ebenso wie das Herausreißen von Knöpfen an den Mänteln, die im Gang der Kinderherberge hängen, „Warum machen sie das?“, wunderte sich mein Vater, denn Knöpfe braucht doch niemand, das sind keine Murmeln, „Das ist wegen der Pulvermilch und 14.4.2009, 20:30 8 RELA Januar dem Eintopf in der Suppe, wegen der Rute von Tante Lela“, antworte ich ihm wortlos heute, ein halbes Jahrhundert später, in dieser Nacht meiner Schlaftlosigkeit, ich, eine Siebenundfünfzigjährige, die trinkt, wie ihr Vater, den sie hasste, in der ersten Klasse sitzen wir in der gleichen Bank, wir, die Verbündeten aus der Kinderherberge, erste Buchstaben, dünner, dicker, wir schreiben mit der Feder, die wir in das in die Bank eingebaute Tintenfass tauchen, Nata{a schreibt besser als ich, eine angelernte Rechtshändige, wie sich vierzig Jahre später zeigen wird, als ich mich an den Computer setze, während meines Aufenthalts auf Brioni regelmäßiger Briefwechsel, aber Umgang nur im Frühling und Winter, Nata{a besucht mich nicht auf Brioni, weil ihr Vater „Sträfling auf Goli1 war“, wie ich von meinen Eltern gehört hatte, wie sie von uns Kindern zu hören bekommt, wenn wir uns wegen etwas kabbeln, wegen diesem Vater ist Nata{a nichts, ebenso wie ich nichts bin, weil mein Vater ein Säufer ist, „Dein Vater war auf Goli otok!“, „Und dein Vater ist ein Säufer!“, werfen wir uns bei Schlägereien an den Kopf, im Hof oder vor dem Haus, es gibt noch keinen Verkehr, die Straße gehört uns, jeden Tag Spielen bis zum Dunkelwerden, wenn sie uns von den Fenstern oder Balkonen nach Hause rufen, uns Glückliche, wir haben keine Ahnung, was Goli otok ist, oder was ein Säufer ist, wissen wir eigentlich auch nicht, wir wissen nur, dass es etwas Schimpfliches ist, sowohl Sträfling als auch Säufer, was den anderen zu einem wirklichen Taugenichts macht, und uns gleich mit, ihr Vater ist Montenegriner, aufgerichtetes Schweigen, so wie die Mutter, dunkle schlanke Menschen, die mit niemandem verkehren und vom Umzug nach Belgrad träumen, in die Hauptstadt, so 1 weit wie möglich aus dieser Stadt, in die sie nach dem Krieg gekommen sind, aufrecht, aus dem Wald, und wo sie später vernichtet wurden, obwohl nicht tödlich, wenigstens das, tödlich vernichtet werden sie in Belgrad, was sie noch nicht wissen, die Töchter sind dunkeläugige und dunkelhaarige Schönheiten mit weißer Haut, besonders die ältere, Nata{a, mit allen Merkmalen ihrer montenegrinischen Rasse, bei der jüngeren Schwester Mina ist die Rasse schon etwas abgeschwächt, auf Vis tragen beide noch geflochtene Zöpfe um den Kopf gewickelt, damit man einen Korb auf den Kopf stellen kann, wie es ihnen ihre Mutter beigebracht hat, später wird man Mina das Haar bis zu den Ohren abschneiden, eine Prinz-Eisenherz-Frisur, Nata{a niemals, denn die Rasse in ihr ist stark, niemand traut sich, sie anzurühren, nur das Schiksal, sie wird es dicht und glänzend, im Pferdeschwanz gebunden tragen, nach der Rückkehr von Brioni wieder die selbe Klasse, die selbe Bank, fünfte Klasse, sechste, als wir begonnen haben, uns zu verändern, wie ich begreife, als ich neben ihr in der Bank sitze, auf der Straße in Spielen, Ball, Brennball, gemeinschaftliche Spiele, heute verschwunden, zusammen mit den Höfen und Straßen, „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“, „Blindekuh“, „Himmel und Hölle“, „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser“, was auch meine Mutter gespielt hat in ihrem Hof in der Klai}-Straße, wo wir als Kind wohnen, wir, Slavica, keine zehn Minuten zu Fuß von der Ka~i}-Straße, in der wir geboren wurden, wenn wir die Mutterschaft unserer Amme, der [inkova-Straße, nicht anerkennen und der Druga-Pavlova-Straße, wohin wir über die Heirat gelangten, das ganze Leben im Rahmen von ein paar Straßen, bis uns die Tochter von hier umgesiedelt hat, wenn ich Mutter nicht umgesiedelt hätte, würde sie vielleicht noch leben, sage ich manchmal zu mir selbst, als ob ich sie mit diesem Umzug getötet hätte, obwohl ich es nicht getan habe, das Schicksal hat sie getötet, diese weiße dunkelhaarige Nata{a war das, was ich brauche, ein Gesicht mit perfekten Wangenknochen und einem perfekten Oval, gerade Nase und gewölbte Lippen, als ob sie mit Silikon aufgefüllt worden wären, von Natur aus rot, runde weiße Stirn, dichte, ein bisschen zusammengewachsene Augenbrauen, heute noch kann ich sie auf Fotos nicht genug bewundern, eine Schauspielerin, keine Frau, der Höhepunkt eines Typs, also locke ich sie, wie auch die Cousine, in das Netz meiner Lust, sie und noch ein Dutzend Mädchen, alle aus den Gebäuden in der Straße, ich habe keine Ahnung, wie ich das gemacht habe, mit welcher Geschichte und Intrigen, wie das begonnen hat, ich war dreißig, als ich das zum ersten Mal jemandem erwähnte, und dann auch nicht ausführlich... „Warum schreibst du nicht darüber?“, wunderte sich ein Freund, mein einziger, ein Schriftsteller ohne Schrift, der angefangen hat zu trinken, begeistert von dieser Geschichte, erzählt auf der Straße vor dem Haus, in dem das alles passiert ist, dem neben meinem, mit der Hausnummer fünf, einst Eigentum von Viktor Kova~evi}, entschwunden in der Irrenanstalt, einem gewöhnlichen Haus und die Bewohner augenscheinlich gewöhnlich, obwohl es solche nicht gibt, außer in Worten, „Weil wir mit dreißig keine Courage hatten“, antworte ich ihm heute, mit siebenundfünfzig, als alle Heiligtümer abgekrazt sind, dem Gott sei dank, weil sie sowieso alle falsch waren, keine Ahnung, was ich ihm mit dreißig geantwortet habe, wahrscheinlich habe ich mich herausgeredet... Abkürzung für die Insel Goli otok (die nackte Insel), auf der sich zur Zeit Jugoslawiens ein Strafgefangenenlager befand. relations 2009.pmd 8 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski ...Wir trafen uns bei Nata{a, wir, die Mädchen aus der Straße, nur aus der Straße, nicht aus der Schule, außer mir und Nata{a, nicht auch meine Cousine, schon abgeschrieben, wir versammelten uns in ihrer Wohnung, im Haus neben meinem, im zweiten Stock, in der Wohnung mit identischer Raumaufteilung wie in meiner, nur heller, doch auch in diesem Licht einer dunklen, denn die Zimmer in den Wohnungen sind nach Norden gewandt, nicht Licht kennzeichnet sie, sondern Schatten, von dem ich jahrelang weglaufe auf die andere Seite, die südliche, die Pflanze in mir will ohne Licht verenden, und ohne die Pflanze nichts, alles soll sein, was wir sind und was wir waren, und wir waren alles, der Stein und die Pflanze und das Tier, bevor wir all das wurden, was wir jetzt sind, vergewissern uns einige, und uns scheint das glaubhaft, bei Nata{a treffen wir uns, wenn niemand zu Hause ist, Nata{as Eltern arbeiten, alle müssen arbeiten, damit die Minderheit bequem leben kann, worüber sie keine Ahnung haben, die Naivlinge glauben, dass sie sich für sich opfern, wie sie das Nirgends überzeugte, beziehungsweise seine Besitzer, Mina ist in der Schule, sie ist nicht dabei, vielleicht hat sie Nata{a mit einem Trick aus dem Haus geschickt, wer weiß das schon, Leidenschaften sind immer einfallsreich, wir sammeln uns zum „Arzt und Patient“ Spiel, wie wir es nennen, eingepfercht in der halbdunklen Halle, in die die einzige Helligkeit durch das Oberlicht eindringt, voll mit angehäufem Müll, von dem wir uns mit einem Vorhang wehren, alle Bewohner gleichermaßen, für den Anfang verteilen wir die Rollen der Ärzte und der Patientinnen, jedem Arzt seine Patientin, wer einmal Arzt war, der Mann, ist beim nächsten Mal Patientin, die Frau, Veränderungen sind Gesetz, ebenso wie die gerade Zahl der Anwesenden, sonst wäre relations 2009.pmd 9 eine von uns übrig geblieben, wir wissen noch nicht, dass am Verkehr drei teilnehmen können, obwohl in der Schule ein Bild mit einer Pyramide von Körpern, die miteinander durch Paaren verbunden sind, die Runde machte, De Sade und die Libertins, weiß heute meine Belesenheit, ein Schmutz, den ich sofort weitergeleitet, nie vergessen habe, manchmal kabbeln wir uns, wenn jemand einen anderen will, nicht den, der ihm zugeteilt wurde, bis wir zur Wahl durch Auslosung übergegangen sind, die Gerechtigkeit des Zufalls, vor der wir uns alle verneigen, wie es das Nirgends verlangt, ich will jedes Mal Nata{a, aber ich kann sie nicht bekommen, ich muss mich mit einer anderen begnügen, alle Namen habe ich vergessen, sogar ihre Gesichter, von diesen Seancen erinnere ich mich nur an Nata{a, jedes Mal will ich nur Nata{a und will der Arzt sein, der Mann, aber es geht nicht, sie lassen sich nicht manipulieren, die Biester, also muss ich mich unterwerfen, die Frau sein, die Patientinnen ziehen sich zuerst aus, während die Ärzte noch angekleidet sind und ihre Körper untersuchen, sogar im Spiel sind Frauen die Opfer, so viel wissen wir schon vom Leben, die Männer herrschen und die Frauen müssen gehorchen, der Stärkere muss dem Schwächeren gehorchen, sonst wäre das Gleichgewicht angeschlagen, die Männer würden gleich bei der Geburt mit einem gebrochenen Bein enden, alle verkrüppelt, damit sie sich nichts einbilden, wie in Griechenland in Zeiten der dreifaltigen Göttin, behauptet Graves, und wir plappern es ihm nach, über Krüppel lässt sich Herrschaft ausüben, unhaltbar auf zwei gesunden Männerbeinen, deshalb brechen wir sie, und wenn sie seinen Knüppel braucht, legt ihn die Amazone einfach flach in die Bodenfurche, besteigt ihn, saugt ihn leer und nimmt sich seinen Samen, wonach die Tren- 9 nung erfolgt, Krüppel, marsch zur Arbeit und wir werden herrschen, war einmal und ist nicht mehr, weil nach den Krüppeln die Helden auftauchten, seitdem ist die Frau auf dem Rücken, „Wo haben Sie Schmerzen?“, „Hier?“, fragen sie, betasten ihre Brüste, dann den Bauch, rate ich, denn ich erinnere mich an nichts, nur an Körper, aufgetürmt im Halbdunkel der Halle, an ihr Weiß, den intensiven Schweiß und unordentlich herumliegende Kleidungsstücke, dann immer tiefer, zuerst zögerlich, mit den Fingern über ihre erregte Haut gleitend, die noch sauber ist, von unbestimmter Form, weder Mann noch Frau, Frau werden wir erst noch, dann beginnen sie sie fester anzupacken, wie richtige Herren und Meister, quetschen ihre Brüste, küssen sie, beißen sie, stecken endlich die Finger zwischen ihre Beine, wo es feucht ist, reiben sie unten mit ihren lüsternen Fingern, die noch nicht ausgewachsen und nie sauber sind, die schmutzigen Nägelchen sind ununterbrochen in der Nase, alle vor allen, was uns alle zusammen aufgeilt, die Orgie steckt uns im Blut, wenn man uns nicht hemmen würde, würden wir alle Orgien feiern, denn es ist möglich, jeder mit jedem, Erwachsene, Kinder, Tiere, im nirgendlichen Fest des Fleisches, wie es De Sade schon längst bewiesen hat und die vereinigte königliche Clique aller Rassen, von der schokoladigen bis zur rosafarbenen und, wie heute Filme und Bücher beweisen, nicht nur die pornographischen, wir haben uns nach Jahrhunderten des Versteckens dazu ermannt, den Dreck aus unseren Köpfen in die Welt zu schütten, wir, schiere Möglichkeiten, während sie das tun, dürfen die Patientinnen sie nicht anfassen, sie müssen sich zurückhalten, das vergrößert den Genuss, die Ärzte küssen die vor Verlangen schon Wahnsinnigen, bis auch sie sich endlich ausziehen, wir sind alle nackt, aber 14.4.2009, 20:30 10 RELA Januar wir haben auch weiterhin unsere Rollen, das sind wir nicht, Gott behüte, das ist alles ein Spiel, Schauspielerei, wie man in Filmen schauspielert, das ist ein Film, keine Wirklichkeit, wenn es Wirklichkeit wäre, würden wir alle vor Scham sterben, wir Zwölfjährigen, noch steht Keuschheit hoch im Kurs, alles andere sind Möglichkeiten... ...Wenn die Ärzte sich ausziehen, stürzen sich die Patientinnen auf sie, ich erinnere mich, die Bilder tauchen vor meinen Augen wie aus einem Nebel aus, in dem sie wieder ertrinken ohne scharf zu werden, jetzt küssen sie sie, quetschen, drücken ihre frisch gewachsenen Büsche, diese Haare sind über Nacht erschienen, ebenso wie die unter den Achseln, gewachsen wie Gras nach dem Regen, verflucht sollen sie sein, das Drücken ist noch der Kern unserer noch ungelernten Berührungen, wir fassen dorthin, wo der Genuss zu spüren ist, das Spiel wird gegenseitig, die Paare erregen einander gleichzeitig, liegen sich in den Armen, tanzen alles quetschend, was zu quetschen ist, küssen sich in den Mund, und vielleicht auch woandershin, auf Stühlen oder dem Boden, hier gibt es kein Bett, und die Zimmer sind uns verboten, wir dürfen die Betten nicht entweihen, nicht einmal Nata{as, immer eine Grenze, in allem, das ist der Grundstein der Gesellschaft, du bist erst dort grenzenlos, wohin du niemals hingehst, weil sie es dir nicht beigebracht haben, aus böser Absicht, um dich benuzten zu können, innerhalb deiner selbst bist du nur für den anderen wichtig und das nur in Bewegung, nicht in deinem Ruhen, im Ruhen bist du ein Verfluchter, der gegen die Gesellschaft agiert, deshalb marsch zur Arbeit für alles, was du brauchst und nicht brauchst, und zur Erholung renne, schwimme, dehne 2 dich, leg dir Muskeln zu, saufe, nimm Drogen, ewige Aktivität, damit wir ja nicht dahinter kommen, bis jede von uns ihre Lust befriedigt hat, wie dieser Zustand heißt, klar, falsch, denn alle Worte sind falsch, etwas Fabelhaftes solange es dauert, denn endlich verlassen wir uns selbst, unsere Maske, den Lebenskerker von Nirgends, zum ersten Mal frei, wenigstens für einen Augenblick, frei vom anderen, nur uns selbst gehörend, doch ohne uns, denn darin liegt der Witz, nicht zu sein, was du bist, nur das Ich ohne irgendwas, ohne Geschlecht und Namen, und ekelhaft, wenn es vorbei ist, weil wir zurück mussten ins Nirgends, in Lügen und Beziehungen, von denen wir nicht einmal den Namen wissen, einen falschen, wie alle Namen sind, Worte sind hier, um uns zu verstecken, nicht um uns zu entlarven, wir wissen nur, dass „es“ passiert, dass wir „es“ mithilfe unserer Körper hervorlocken können und dass wir bereit sind, uns für „es“ zu opfern, uns der Angst preiszugeben, den Gewissensbissen, der Verurteilung und der Strafe, ich erinnere mich an das düstere Ende dieser Orgien, jedes Mal das gleiche... ...Wir befürchten alle, entdeckt zu werden und fühlen uns schuldig, wir Zwölfjährigen, geboren Mitte des letzten Jahrhunderts, Kinder der Nachkriegszeit und neu erdachter Heiligtümer, da die alten beschissen waren, wofür der Krieg sorgte, waren schuldig, weil wir etwas tun, was verboten ist, was uns niemand verboten hat, nicht mit Worten, wir sind keine Gläubigen, sondern Pioniere2, aber dennoch ist es uns verboten, weil es ihnen verboten war, unseren Eltern, das heißt, es ist auch uns verboten, Verbote werden vererbt, wie man auch die Form der Nase vererbt bekommt, bis alles zum Teufel geht, wenn alles fertig ist, trauen wir uns nicht einmal einander anzusehen, wir Delinquentinnen und Schamlosen, voreinander nackt, verschwitzt, zersaust, mit verdächtigen Gerüchen, noch mit Gesichtsausdrücken, die wir, eine bei der anderen, bemerkt haben, irgendwie abscheulich, nun, als alles vorbei ist, als wir befriedigt und unglücklich sind, völlig leer, denn Lust ist keine Liebe, sie hat nichts, um dich auszufüllen, sie wird dich nur ausleeren, weiß die siebenundfünfzigjährige, die von Schlaflosigkeit geplagt ist und vom klaren Gefühl, dass sie nach nirgendwo gelangt ist, nach all den siebenundfünfzig Jahren Bewegung, durch dies und jenes, Gerümpel des Lebens, wie sich jetzt zeigt, zertrümmerte Überreste, eingewickelt in Spinnweben, die sich einst als wunderbare, kristallene Paläste darstellten, das ist das Resultat des Verlangens, die Siebenundfünfzigjährige weiß das, die Zwölfjährige fühlt es nur, keine von uns Mädchen spricht, wir trennen uns in Stille, Nata{a will, dass wir uns beeilen, als ob sie uns jetzt erst bemerkt hat, die Eltern werden kommen und dann ist das ihr Untergang, wiederholt sie, wie in Trance, keine Chance, dass sie kommen, aber doch gibt es eine Chance, hat mein Vater nicht gerade an jenem Morgen seinen Knöchel verstaucht, als ich ins Kino gegangen war, morgens um zehn, Matinee, was man mir verboten hat, eigentlich bin ich folgsam, aber diesmal nicht, im Film ging es um den Ansturm von Termiten, Marabunta, das muss ich sehen, seit dem achten Lebensjahr bin ich verrückt nach dem Kino, auf Brioni sitze ich jeden Tag im Kino, sogar zweimal täglich, unbedingt abends, aber auch in der Nachmittagsvorstellung fürs Militär, für Matrosen, die mir meine Mutter verbietet, Matrosen vertrauen wir nicht, denen könnte unsere Kleine Mitglieder der politischen Pionierorganisation für Kinder im ehemaligen Jugoslawien. relations 2009.pmd 10 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski auffallen, Gott behüte, und sie können ihr später auflauern, „Was könnten sie mir antun?“, frage ich die Mutter, aber zwecklos, es gibt keine Antwort, die Mutter sagt das nur so, rede ich mir ein, obwohl ich schon ahne, was sie mir antun könnten, mich auf den Boden werfen und mir meine Beine spreizen, wie ich es in Filmen gesehen habe und wie sie es einer Kaja angetan haben, einer Fünfzehnjährigen, die sich herumtrieb, bis sie von der Insel verschwand, ein gut entwickeltes Mädchen, zum Untergang verurteilt, wie auch wir nicht gut entwickelten, doch manchmal kann ich dem Ruf des Kinos nicht standhalten, ich gehe heimlich hin, wie auch an diesem Morgen in Zagreb und während ich mir im Kino den Ansturm der Termiten ansehe, wie sie im Nu einen Mann aufressen, sie überschwemmen dich und schon bist du in ihnen verschwunden, nur ein Schrei im Moment, als sie sich in deine Augen und Ohren verkriechen und dich aussaugen wie einen Krebs, einen Hummer, zu dem mich mein Vater als Achtjährige brachte, damit ich sehe, „was Herrschaften essen“, Hummer mit Mayonnaise und Scheiben gekochter Eier, ich habe es gesehen und begriffen, seitdem kann ich so viele Krebse erträumen, wie ich will, doch auf dem Tisch ist nie was, wenigstens bis zur Erbschaft meines Mannes, bis sie dahinschmolz, meinen Vater bringen sie nach Hause mit verstauchtem Knöchel, den Vater, der vor dem Tag meines Ungehorsams noch nie etwas verstaucht oder gebrochen hat, alles ist entdeckt, dass ich ausgehe, dass ich nicht brav bin, wir stellen uns vor, dass sie Nata{as Vater ins Haus bringen und dass er uns in seiner Wohnung in Unordnung findet, uns Mädchen von kaum zwölf Jahren, die Freundinnen seiner Tochter, die noch mit Puppen und Ball spielen, mit roten 3 relations 2009.pmd Wangen, vom Schweiß verklebtem Haar, das wollen wir uns gar nicht vorstellen, es ist zu schrecklich... ...Wir trennen uns ohne Worte, wir, die zwölfjährigen Delinquentinnen, in Scham und Verachtung, jede für sich, in Nata{as Wohnung kommen wir weder noch verlassen wir sie zusammen, um nicht das Interesse der Nachbarschaft zu wecken, zum Beispiel der [tefekica, die ständig in den Hof pilgert, weil sie im Keller lebt, wo sie die Wäsche aufhängt oder Katzen vertreibt, die auf der Betonterrasse der Schuppen schlummern, eigentlich Ställen, die in Schuppen verwandelt wurden, die nach dem Krieg der jetzt schon ehemalige Hausbesitzer Viktor Kova~evi} baute, mit der Idee, darin Kühe zu beherbergen, mit deren Milch er das Viertel beliefern wird, denn in der Stadt gibt es keine Milch, die Kinder weinen, die Mütter sind verzweifelt, meine steht jeden Morgen um drei Uhr morgens auf, sie muss weit gehen, an den Stadtrand, wo gegen Karten Milch verteilt wird, drei Stunden Gehen und Warten in der Schlange, „Mach dir keine Sorgen, Slavica“, sagt ihr der ehemalige Hausbesitzer, „bald werden wir Milch im Überfluss haben“, für die Ställe hat er all sein verbliebenes Geld ausgegeben, das er vom Staat bekommen hat für das enteignete Eigentum, zwei Wohnhäuser, eine Villa auf Tu{kanac, eine Werkstatt für die Herstellung von Autokennzeichen, eine Goldschmiede, von all dem ist ihm nur eine Wohnung im Dachgeschoss geblieben, in der einst meine Mutter „glücklich war“, wie sie wiederholte, Krieg wird geführt auch damit Eigentum verteilt wird, gib mir, der ich nichts habe, was du hast, du verdammter Hurensohn, hinaus aus meinem Haus, und später werden wir mit unserem Patriotismus großtun, gegen Ende des Krieges tauscht Mutter diese Wohnung im Dachgeschoss gegen eine größere im Nachbarhaus im Erdgeschoss mit dem Neffen des Hausbesitzers, einem Ustascha, Ferdo Kova~evi}, der beschloss, aus der Stadt zu fliehen, wie auch der Poglavnik3, weil der Krieg verloren war, wenigstens für diese Seite, die Partisanen sind schon von östlicher Seite in die Stadt marschiert, die Ustascha sind nach Westen geflohen, „die einen kamen hinein, die anderen hinaus“, erinnerte sich meine Mutter, als ob dieser Wechsel in einem Tag vonstatten ging, es ist höchste Zeit zum Fliehen, begriff der Neffe des Hausbesitzers, Ferdo Kova~evi} und lichtete den Anker, sagt die Phrase, und tauschte vorher die Wohnungen mit meiner Mutter, in der Hoffnung, dass er durch diesen Tausch wenigstens die Möbel, das Klavier, die Teppiche, das Kristall, die Gemälde bewahren würde, die, die geblieben sind, endeten in der Heimwehr-Ustascha-Kolonne, die auf einem Feld in Bleiburg angehalten wurde, klar, mit Schnellfeuer, oder in der anderen Kolonne, bestehend aus Überlebenden, die neun Tage sinnlos im Land herumwandern, unter Kanonenbeschuss, bis alle umgekommen sind, sechzig Menschen wurden in diesem Marsch getötet, flüsterte man, so diskret, dass ich das erst ein halbes Jahrhundert später erfahren habe und nicht glauben konnte, in meinem Kopf töteten die Ustascha die Partisanen, und nicht auch umgekehrt, außer in Selbstverteidigung, was man niemandem verübeln kann, wenigstens nicht auf den ersten Blick, auf den zweiten dann doch schon, denn du kannst dich immer opfern, sagen manche, und uns scheint das plausibel, obwohl sich mit der Kolonne auch Mutters Cousine Julija schleppte, mit ihrem Mann Martin, einem Ustascha, vier Kindern und einer Dienerin, die Eigentlich „das Oberhaupt“, Ante Paveli}, Führer Staates Kroatien des Unabhängigen. 11 11 14.4.2009, 20:30 12 RELA Januar nicht nach Bleiburg gelangten, weil ein Kind krank wurde, Gott segne es, deshalb hielten sie auf halbem Wege an, wo Martin einen Mann trifft, dem er einstmals das Leben verschonte, als er erschossen werden sollte, indem er ihm sagte, er solle wegrennen und er und sein Kompagnon schossen in die Luft, damals ein Kommunist, jetzt Partisane, der ihnen rät, nicht weiter auf dem Weg fortzufahren, keinesfalls weiter, wo sie Kanonen erwarten, was er nicht sagte, aber Martin hat begriffen, so dass sie zurückkehrten, sobald das Kind einigermaßen wieder auf den Beinen war, gesund und munter, und Martin ergab sich der Obrigkeit, nach dem Krieg kam die Tochter vom Ustascha, um die Sachen zu holen, mit ihrem Mann, einem Partisanenleutnant als persönliche Leibgarde, ganz aufgeblasen von dieser Rettung, bereit, meine Mutter zu erschießen, wenn etwas verloren gegangen sein sollte, das Kristall, ein Gemälde oder, Gott behüte, ein Teppich, und vor allen Dingen das Klavier, aber alles war dort und sie nahm alles ohne ein „danke“ mit, vermutlich wütend, dass sie diese Wohnung verloren hatte, wenn ihr Vater ein wenig gewartet hätte, hätte sie sie behalten können, dafür hätte ihr Partisanenleutnant gesorgt, auch wenn das ihren Vater vielleicht den Kopf gekostet hätte, sie wollte auch die Lüster in der Halle und im Elternzimmer haben, aber meine Mutter sagte „nein“, trotz Drohungen, ihre Lampen hinterließ sie ihrem Onkel, dem ehemaligen Hausbesitzer Viktor Kova~evi}, der in der Wohnung seines Neffen gelandet ist, einer Einzimmerwohnung, Halbmansarde, so dass diese jetzt die ihren sind, weswegen der Partisanenleutnant „vor Scham in die Erde versinken wollte“, erzählte die Mutter, außer ohne seine Besitztümer ist der Hausbesitzer schon ohne seine Frau, eine Schönheit, geblieben, bis zu dieser Hochzeit Besitzerin eines Mantels, mit zwei anständigen Kleidern und mit zwei Paar Schuhen, die Kleidermenge, die zum Tragen in der NDH4 erlaubt war, alles darüber war schon ein Vergehen, was die Behörden mit Einfällen in Wohnungen überprüfen, erinnerte sich meine Mutter, in ihre niemals, als der Krieg zu Ende war und der Hausbesitzer gerupft, verschwand die Schönheit mit einem anderen, einem Doktorbonzen, bei dem sie ihre Unfruchtbarkeit behandeln ließ, selbstverständlich zwecklos, den Nachbarn eröffnend, dass ihr Mann „Schon immer verrückt gewesen ist“, „In der Hochzeitsnacht hat er zwischen mich und sich ein Messer gelegt“, vertraute sie meiner Mutter an, „so dass ich ganz erstarrt war“, „Trotzdem hat sie ihn erst verlassen, als er zugrunde gerichtet war, nicht eher“, kommentierte meine Mutter und sie nahm ihren Sohn mit, den sie als Kozara-Weisen5 adoptierte, damit sie das Ende des Krieges in mehr Sicherheit erwarten konnten, der kluge Hausbesitzerkopf, bis er sich geleert hatte, aber auch dann funktionierte er, obwohl in die falsche Richtung, zuerst die Ställe für die Kühe, dann das landwirtschaftliche Gut in seinen Wohnräumen, Weizen und ein Ferkel, der präzise Durchblick in das brennende Nahrungsmittelproblem, das die Chemie lösen wird, während er im Irrenhaus ist, oder uns könnte die Frau des Metzgers bemerken, aus dem Hochparterre, deren mit einer Dauerwelle verschönerter Kopf von unbestimmter Mausfarbe mit grünlichem sumpfigen Glanz ewig am Fenster herumlungert, das Gesicht sommersprossig, narbig und böse, Narbigkeit wirkt TIONS bösartig, sie sieht uns mit kleinen, fiesen, fast unsichtbaren Augen an, die in einem Netz dünner fächerartiger Falten verschwinden, und die Geschichte, dass sie irgendwo einen unehelichen Sohn hat, schwebt um sie herum und macht sie noch bösartiger, es ist ein Wunder, wie solche immer zahme Männer finden, so wie ihr Metzger einer ist, ich erinnere mich, ein sanfter schlaksiger Kerl mit einer gewissen Traurigkeit in den Augen, Metzger sehen immer sanft aus, als ob sie ihre blutige Metzgerarbeit so macht, das Messer in fremdem Fleisch, das nicht verwüstet werden will, als ob die Sanftheit eine Entschuldigung für das Opfern von Fleisch ist, dieser Sanftheit überließ mein Vater auch das Ferkel, das er betrunken irgendwo vor Weihnachten bekommen und nach Hause gebracht hat, damit wir es essen und das wir später als Haustier halten, wie einen Hund, obwohl in einer Kiste, bis es zu einem dicken, stinkenden Schwein herangewachsen war, das die Kiste völlig ausfüllte und uns morgens mit seinem herzlichen verständigen Grunzen begrüßte, den Napf in der Schnauze haltend, um zu zeigen, das es hungrig ist, wer würde das essen, das wäre das gleiche, als ob wir unseren Hund essen würden oder, noch besser, ein menschliches Mitglied des Haushalts, wir übergaben es unserem Nachbarn, dem Metzger, seiner Traurigkeit und Sanftheit und wir haben ihn nie gefragt, was er mit ihm gemacht hat, vermutlich hat ihn dieser ondulierte Kopf mit grünlichem sumpfigem Glanz verdrückt, dachte ich, ganz unglücklich, was ist das für ein Treffpunkt, hätten sich die Nachbarn fragen und die Eltern alarmieren können, wir haben alle vor den Nachbarn Angst, am meisten Nata{a, die 4 Nezavisna Dr`ava Hrvatska, Unabhängiger Staat Kroatien 1941-1945. 5 Kozara-Gebirge in Bosnien und Herzegowina, nach der Schlacht 1942 zwischen den Achsenmächten und Partisanen sind viele Weisenkinder hinterblieben; eine Adoption brachte bei der jugoslawischen Regierung Pluspunkte ein. relations 2009.pmd 12 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski uns ihre Wohnung zur Verfügung stellt, gegen ihre Eltern und damit auch ihren Stamm, sie sind noch ein Stamm, wir, die Bürger, sind das nicht mehr, ihr Verrat geht tiefer als der unsrige, ihre Schuld ist riesengroß, aber auch die unsrige ist nicht klein, wir sind alle schuldig, sündig, wir werden alle böse enden, obwohl wir uns diese bösen Enden nicht vorstellen können, außer dass uns die Eltern, wenn sie uns erwischen, „umbringen werden“, wie wir denken, und worunter wir uns Prügel und Strafen, Hausarreste, Taschengeldentzug, stundenlange Predigten vorstellen, weshalb die Abschiede bei Nata{a immer erbärmlich und düster sind, nachdem wir es mit Schwierigkeiten schafften, unsere Kleidung überzuziehen, die Körper sind verschwitzt, sie widersetzen sich dem Anziehen, wir laufen voreinander weg und vor uns selbst, ich zweifellos, die übrigen frage ich nicht, ich beruhige mich erst im Schutz meiner Wohnung, wo ich alles vergesse, darüber will ich gar nicht nachdenken, mein Erlebnis streife ich ab wie eine Karnevalsmaske, die wir nach Gebrauch in eine Kiste legen, nicht nur wir, so lebt man, nichts ohne Maske, außer Masken haben wir nichts, weiß die Siebenundfünfzigjährige, die Zwölfjährige ahnt es erst, heute ist meine Kiste voll von Karnevalsrequisiten, Tochter, Mutter, Ehefrau, Geliebte, Frundin, Schriftstellerin, Säuferin, was bin ich nicht alles, bald alte Frau, die vorletzte Maske, wenn wir die Todesmaske als letzte rechnen, das Leben ist ein Karneval, auch wenn es ernst erscheint, ein Karneval, auch wenn sie uns den Kopf abschlagen, wie Maria Stuart, wenn wir zum ersten Mal über alles lachen können, ehrlich, von Herzen, weil wir uns zum ersten Mal sehen, was wir in Wirklichkeit sind, in die Kiste haben wir letztendlich auch unseren Körper gelegt, ganz, mit allem innen und außen, mit dem Herz, relations 2009.pmd 13 den Lungen, der Leber, den Nieren, dem Blut, dem Gehirn, was alles zusammen ebenfalls nur eine Maske ist, Karnevalskleidung aus Knochen, Blut, Fleisch, ein nächstes Treffen wird es nicht mehr geben, schwöre ich mir in der Sicherheit meiner Wohnung, wie die übrigen Mädchen, nehme ich an, denn wir sprechen nicht darüber, weder Nata{a noch ich sprechen über das, was wir in ihrer Wohnung machen, so nahe stehen wir uns nicht, wenn ich besser darüber nachdenke, wir stehen uns überhaupt nicht nahe, trotz Kinderherberge, trotz der Rute von Tante Lela, etwas verhindert diese Nähe vermutlich auf beiden Seiten, obwohl ich gerne für alles Nata{a die Schuld geben würde, aber am Tag des Treffens gehe ich wieder dorthin, wie in Trance, um nichts in der Welt würde ich das verpassen, ich muss dort sein, wir alle müssen es, wir sind alle gleich lüstern, denn wir sind alle Tiere, einmal, zweimal wöchentlich und so das ganze Jahr lang... ...In den Abständen unserer Nichttreffen sammeln wir unsere Kräfte, erinnere ich mich gleichgültig aus meinen siebenundfünfzig Jahren heraus, als alle Heiligtümer krepiert sind, in meinem zwölften Lebensjahr sind sie noch lebendig, es ist keine Kleinigkeit seine Körper entgegen allen möglichen Vorschriften zu gebrauchen, deshalb gibt es auch die Tage des Karnevals, sonst würden wir ihn jeden Tag praktizieren, und wer würde dann arbeiten, wer würde malochen für das Kapital, an das wir letztendlich alle verkauft sind, wir sind alle gleich als Sklaven des Kapitals, ich wäre lieber Sklavin in Rom, kommt es mir so manches Mal in den Sinn, oder in Griechenland, du wusstest, wer du bist und wer dein Herr ist, wenigstens das, Sklave bist du immer noch, aber du hast keinen Herren oder du kannst ihn wenigstens nicht sehen, das Kapital ist unsicht- 13 bar, also kannst du dir vieles einbilden, wie Kafkas Landmesser K., der ins Schloss gerufen wurde, in das sie ihn dann nicht hineinlassen, er kann auch nicht zu seinem Herrn vordringen, um diese Frage zu klären, er gelangt nur zu seinem Diener Klamm, mit beschränkten Befugnissen, der dir nichts erklären will, bis uns Nata{a an Sonja verrät, die Einserschülerin, eine olivenfarbige Schönheit mit mandelförmigen grünen Augen, obwohl durch eine Brille verdeckt, Gesichtsknochen zum Umfallen, der Mund lieblich, wie bei Japanerinnen, der Körper einer Venus, nur ihr Fleisch ist sonderbar, wie sich in der Gymnastikstunde zeigt, weich wie Butter, wenn du es mit dem Finger berührst, fällt es hinein und es entsteht eine Vertiefung, die sich zu langsam schließt, sie ist seit Kurzem in der Klasse, „Woher bist du gekommen?“, „Aus Bitola“, erwidert sie hochmütig, als ob sie aus London gekommen wäre, „Mazedonierin?“, frage ich, „Mein Vater ist Serbe, meine Mutter Mazedonierin“, antwortet sie noch hochmütiger, ihre Zähne blitzen weiß, sobald sie in die Klasse eingetreten ist, hat sie mir Nata{a weggenommen, beide träumen vom Umzug in die Hauptstadt, nach Belgrad, dieses Thema bringt sie einander näher, außerdem sind sie keine Konkurrentinnen füreinander, Sonja schreibt nicht wie Nata{a und ich, sie schert sich nicht um Poesie und Büher, mit dem kleinen Finger bewältigt sie jeden möglichen Lehrstoff und träumt von einem mit Perserteppichen ausgelegtem Haus, was sie auch erreichen wird, denn das ist kein „Kunststück“, insbesondere nicht für eine Schönheit, Perserteppiche haften sich an solche, sie werden im Laden verkauft, wie ein Ehemann und Kinder, wie Häuser und Titel, alles Wunderbare und Unwichtige kann man irgendwo kaufen, man muss nur Moneten haben, habe ich schon längst begriffen, obwohl zu spät, vermutlich ist Sonja 14.4.2009, 20:30 14 RELA Januar heute Nacht nicht irgendwo wie ich, frage ich mich, sicher nicht, mit ihrem Mann, dem Ingenieur, ist sie nach Amerika ausgewandert, die hat nicht den Fehler gemacht, einen Verrückten zu heiraten, später dann einen Spieler, noch ist sie, wie Nata{a, später unter einen Zug geraten, obwohl man auch auf Perserteppichen nach Nirgendwo laufen kann, wissen wir aus Erfahrung, aber nicht in Amerika, dort ist das Nirgendwo verboten, es gibt es nicht einmal in Filmen, du bist immer irgendwo, auch wenn du weißt, dass du nirgendwo bist, dafür sorgen Zeitschriften, Ratschläge für ein erfolgreiches Leben, denk positiv, arbeite negativ, überlege ich, immer noch auf der Toilette, als ob ich vorhabe, dort zu bleiben, zu faul um aufzustehen... Nata{a und ich sind Konkurrentinnen, weil wir beide schreiben, erinnere ich mich, grundlos, als ob ich mir was zu erklären habe, was ich nicht tue, denn es lässt sich wirklich nicht erklären, nur noch mehr trüben, Gedichte und Prosa auf Bestellung, Kriegsthematik, für die verschiedensten Veranstaltungen, alle zwei Monate jeweils eine, um eine Gehirnwäsche vorzunehmen, an den Gehirnen zukünftiger Arbeiter, Sklaven, die man Arbeiterschaft nennt, wie ich während einer Produktionsarbeit in der zweiten Klasse6 des Gymnasiums begriffen habe, in einer Schuhfabrik, in der einst auch meine Mutter ackerte, vor Brioni, zwar in einem Büro, mich steckten sie in den Betrieb, damit ich „lerne, was Arbeit ist“, Gymnasiasten unter die Arbeitschaft, damit sie sich ja nichts einbilden, damit sie verstehen, wo sie leben, jeden Morgen aufstehen um halb sechs in der Früh, dann in die Straßenbahn mit ungewaschenen Zombies, die keine Ahnung vom Leben bei Tageslicht ha6 ben, im Dunkeln gehen wir hin und im Dunkeln kommen wir zurück, den Tag bewältigen wir unter dem künstlichen Licht der Fabrik, streichen Klebstoff auf die vorbereiteten Schuhsolen, benommen vom Kleber und vom Wiederholen der Bewegungen, die Sohlen erreichen uns auf dem Band, Sohle, Streichen und ewig so weiter, acht Stunden mit Mittagspause in einer Mensa, die nach Leder beim Gerben stinkt, abends steckt ihn dir ein Arbeiter ins Loch, dir, der Arbeiterin, damit du dich daran erinnerst, dass du lebendig bist, auf die Schnelle, denn man muss sich ausschlafen, sonst würden wir den Akkord nicht schaffen, und dann lebwohl dem Geld für das Untermieterzimmer, die Flasche Branntwein und die Dauerwelle, lehrte mich das Leben während dieser Produktionsarbeit, Klebstoff streichen nur die Frauen auf die Sohlen, nicht auch die Männer, ein Haufen Frauen, die ununterbrochen reden, alle auf einmal, ihre Monatsregeln, Binden, Laufmaschen in ihren Strümpfen, ihre Männer, Liebhaber, Bälger, Nachbarn, eine gute Schule, ich verlasse sie, entschlossen, nie zu arbeiten, „für nichts auf der Welt“, nicht nur in keiner Fabrik, „nirgendwo“, schwöre ich, „niemals nirgendwo“, ich bin nicht dafür geschaffen zu arbeiten, jemand hat mich übers Ohr gehauen, ja zum Beruf, aber danach stop, ja zum Schreiben, aber nichts anderes, ich weiß nicht, wie, aber stop, ich weiß nicht, womit, aber stop, nie ein Lohn, oder Rente, die Ideale meiner Mutter, Gewerkschaftskartoffeln, -kohl und -schweinshälften, ein Verrat, den man mir bis zu meinem Tod verübeln wird, wer sich um die Pflanzen kümmert, wird sich auch um mich kümmern, wer sich um die Vögel kümmert, wird sich auch um mich kümmern, fabuliere ich wie Jesus, obwohl mit anderen Worten, aber der Sinn ist wichtig, nicht die Worte, also komme ich durch, auch ohne Arbeit, wenigstens die evidentierte, ohne Arbeitsbuch, Dienstjahre und Schweinshälften, bis zu diesen siebenundfünfzig Jahren und bis zum Nirgendwo, das ich auch erreicht hätte, wenn ich meine Rente verdient hätte, nur, dass ich mir das damals nicht eingestehen wollte, wir haben nicht fürs Nirgendwo gearbeitet sondern für die Rente, behaupten die Sklaven, die sich Arbeiterschaft nennen, weil das besser klingt, auch der Arbeiterstaat klingt besser als das Königreich, da können die Arbeiter nicht meutern, wie sollten sie auch gegen sich selbst meutern, was für ein Trick, hier habt ihr einen vermeintlichen Staat, damit ihr darin arbeitet und wir darin herrschen, Mehrheit und Minderheit, die Mehrheit sorgt wieder für den Unterhalt der Minderheit, auf eigene Kosten, egal, wie sich der Staat nennt, alle zwei Monate wird etwas gefeiert und verherrlicht, damit die Gehirne ständig gewaschen werden, damit sie nie zu sich kommen, Tag der Republik, Tag der Armee, Tag der Arbeit, Tag der Befreiung, Tag der Jugend zum Geburtstag des Präsidenten, wenn wir auf dem Fußballstadion in einer Koreographie auftreten, alle in gleicher Kleidung, die uns auslöschen soll, du bist nur ein Gebrauchswert, austauschbar mit ebenso einem, das ist die Botschaft dieser Kleidung, in der wir unsere Beine zeigen, wir Dreizehnjährigen, damit den Alten das Wasser im Mund zusammenläuft, sportliches Vieh rennt durch das Land eine Staffel tragend, zum Zeichen von Brüderlichkeit und Einigkeit, die nie existiert haben, außer in Worten und darin auch nicht lange, damit man nicht vergisst, wer hier gefallen ist, für was für eine Idee und wen man verherrlichen soll, eure Obrigkeit, die euch Diener angeb- Zehnte Klasse. relations 2009.pmd 14 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski lich in Herren verwandelt hat, wie ihr euch fühlen sollt, wenn euch der Wecker um fünf Uhr morgens aus dem Bett klingelt und wenn ihr noch schläfrig zur Straßenbahn und zur Arbeit rennt, nach der Arbeit könnt ihr zu Hause malochen, wahrlich das Leben eines Herren, denn ihr tut ja angeblich alles für euch, sowohl in der Arbeit als auch zu Hause, für niemanden sonst, als für sich selbst, verklikern sie euch ununterbrochen, als ob sie nicht von eurer Arbeit leben würden, eure Politiker, euch angeblich zu Diensten, überall gleichermaßen, das Kapital ist, was es ist, die Rage der Materie, egal, wer es angeblich verwaltet, eine Korporation oder der Staat, auch wenn er ein Arbeiterstaat ist, denn niemand verwaltet es, wie auch die Naturgewalt nicht, diese Gewalt ist künstlich, aber das ändert nichts an der Sache, als ob die Natur eigentlich auch künstlich ist, nur sind ihre Erschaffer vergessen, also haben wir uns eingebildet, dass es sie nicht gibt, wir, die fortschrittlichen Affen, die Verwalter sind ewig gierig nach deinem Schweiß, um den ihren nicht zu vergießen, ohne den alles angeblich zusammenbrechen würde, ohne den Pöbel geht es, ohne Verwalter keinesfalls, also schwitzen wir, die Verwalter, nur auf Jachten und auf Skiern, niemals bei der Arbeit, ich bin geschickter im Verherrlichen dieser Obrigkeit als Nata{a, ich posaune besser als Nata{a immer das gleiche Lied vom Kampf und den Opfern, vom Sieg und der Arbeit, vom Genossen Tito, von der Brüderlichkeit und der Einheit, also sind meine und nicht ihre Arbeiten, Gedichte und Aufsätze gesucht, sie verlangen immer nach meinen, befreien mich vom Unterricht, damit ich schreiben kann, sie schicken mich nach Hause, damit ich in Ruhe schaffen kann, in der Klasse packe ich meine Tasche zusammen, während mich alle neidisch ansehen, insbesondere Nata{a, was soll man machen, lache relations 2009.pmd 15 ich überheblich, während ich aus dem Klassenzimmer voll falscher Größe verdufte, du wirst schon noch dafür bezahlen, aber jetzt verdufte, blas dich auf, denke ernsthaft, dass wir alle keine Genies sind, du dumme Dreizehnjährige, ich bin Mozart, sie Salieri, sie wird gesucht, damit sie bei den Veranstaltungen meine Gedichte vorträgt, weil ihre Stimme klangvoll ist, jedoch samtig, ohne Mikrofon dringt sie bis zu den letzten Rängen im Saal, eine Wunderstimme, die alles um sich herum zum Schweigen bringt, „Die orthodoxe Mutter“ ist ihr Triumph, aber dieser Triumph bedeutet ihr nichts, sie zerfrisst sich vor Neid, weil meine Arbeiten zu Stadtwettbewerben geschickt werden, wo ich Gott sei dank nie erste bin, immer zweite oder dritte, ich bezahle schon und weiß, dass ich bezahle, es gibt immer besser, mehr, kraftvoller, sobald du vorne bist, heißt das, dass du hinten bist, ewig in der Falle... ...“Jemand hätte vielleicht mehr erreicht als du“, sagt Nata{a zu mir, nach so einem Wettbewerb, an dem sie nicht teilgenommen hatte, wie üblich, offensichtlich an sich denkend, als ich zum ersten Mal das Ausmaß ihres Neides begreife, bis dahin blieb er mir irgendwie in ihrer wunderschönen Gestalt verborgen, ich sollte auf sie neidisch sein, ich kann ihr wenn es ums Aussehen geht nicht das Wasser reichen, weder ihr noch Sonja, obwohl ich immer Verehrer habe, wahrscheinlich bin ich ihnen sympathisch, sympathisch, nicht schön, „Du wirst nie so schön sein wie Sonja“, sagt ein Junge aus der Klasse zu mir, hoffnungslos in mich verliebt, „Nie schön“, damit muss man sich abfinden, was mir schwer fällt, ich möchte die schönste sein, nicht nur „charmant“, wer würde das nicht wollen, ebenso wie Nata{a, die erste im Schreiben sein möchte, der Hofpoet, wie ich, alle möch- 15 ten etwas Anderes sein und nicht das, was wir sind, wir sind schon zerstört und nicht einmal fünfzehn Jahre alt, wenn es möglich wäre, würde ich gerne mit Nata{a tauschen, was hast du vom Talent, wenn du keine Schönheit bist, ich bezweifle, dass Nata{a dem Tausch zugestimmt hätte, sie ist hochmütig, sie will alles, bekommt einen ganz roten Kopf, wenn die Lehrerin von mir verlangt, ich solle meine Hausaufgabe vorlesen, immer meine, nie ihre, in ihrer Wohnung bei den Seancen verweigert sie mir aus Rache ihren Körper, wann immer es möglich ist, Streitigkeiten riskierend, wegen dieser Streitigkeiten haben wir uns mit der Zeit auf ein Los umorientiert, wir ziehen durcheinander gemischte Zettel mit Namen aus einer Schüssel, keiner gewöhnlichen, einer kristallenen, wenn ich Nata{a herausziehe, wird sie ganz garstig, presst wütend ihre Zähne zusammen, aber sie muss nachgeben, ich möchte sie gnädig stimmen, deshalb schlage ich der Kroatischlehrerin für die nächste Veranstaltung das Lesen ihres Arbeit vor, „Der Aufsatz ist ausgezeichnet“, sage ich ihr unter vier Augen, zähle seine Vorzüge auf, aber die Lehrerin begreift nicht, die blöde Kuh, „Es ist schon beschlossen“, lehnt sie ab, als ob das überhaupt irgendwelche Beschlüsse wären und nicht ein Getue, an das keiner glaubt, außer gewaschenen Gehirnchen und die werden es auch nicht lange tun, Nata{a muss wieder meinen Aufsatz lesen, die Vorbereitungen laufen, Nata{a ist eingeschnappt, aber sie lehnt es nicht ab, ihn zu lesen, bis knapp vor der Veranstaltung, kurz bevor sie auf die Bühne gehen muss, als sie unmissverständlich erklärt, dass sie „nicht vorhat, zu lesen“, sie will und will nicht, es helfen auch keine Drohungen, die Lehrerin ist ganz außer sich, was für eine Unverschämtheit, sie auf diese Art zum Besten zu halten direkt vor der Aufführung, die Kleine wird ihr das büßen, 14.4.2009, 20:30 16 RELA Januar auf die Schnelle wird eine Schülerin gefunden, die lesen wird und Nata{a bleibt ganz verweint vor der Tür der Kinothek, wo die Aufführung stattfindet, in der Nachbarschaft unserer Häuser, sieht mich hasserfüllt an mit ihren wunderschönen Augen, die Sternen gleich leuchten, wie sie die Dichter beschreiben würden, die alten, heute ausgestorbenen, die Wimpern gebogen dank Mutter Natur, nicht mithilfe einer Zange, denn ich bin auch dort, ich bin draußen geblieben, um sie ein wenig zu beruhigen, doch sie will meine Hilfe nicht, wie denn auch, wer geht hin und sucht Hilfe bei der Schlange, die einen gebissen hat, Sonja hält sie im Arm, die konnte es kaum abwarten, mich um Kopf und Kragen zu bringen, sie will auch niemanden zwischen sich und Nata{a, warum zum Teufel schere ich mich nicht davon, nach allem, was ich getan habe, sagt mir ihr Ausdruck, eine angeekelte Grimasse... ...Am nächsten Tag zieht Nata{a aus unserer Bank aus, nach vorne, in Sonjas, erinnere ich mich, für nichts und wieder nichts, denn das wird nichts ändern, weder die Vergangenheit, noch die Zukunft und eine Gegenwart haben wir sowieso nicht, entweder erinnern wir uns oder wir warten und dazwischen nichts, Sonja sitzt vorne, klar, weil sie halbblind ist, sie hasst Brillen, denkt, die „machen sie hässlich“, sie denkt über Kontaktlinsen nach, ohne Kontaklinsen wird es wohl mit den Perserteppichen nichts werden, nichts mit dem Ingenieur-Ehemann, sie tauschte mit Mirjana, der es egal ist, wo sie sitzt, die schert sich weder um Nata{a noch um Sonja, das Mädel hat eigene Sorgen, eine geschiedene Mutter mit Liebhaber, einen seltenen Vogel, Mütter waren einst da, um sich für ihre Familien zu opfern, nicht um es sich recht zu machen, ich habe sie unlängst getroffen, nach etwa dreißig Jahren oder so, Markt, Frühling, sie ist aufs relations 2009.pmd 16 Haar gleich geblieben wie in der Klasse, ein längliches Gesicht mit hervortretendem Kinn, die Nase ein wenig eingedrückt, das Doppelkinn hervorstechend, honigfarbenes Haar bis zu den Schultern, nach innen geföhnt, mit Haarlack gefestigt, alles ist gleich, nur alt geworden, nicht auch verändert und auf diese Weise jung, immer noch eine Kopie der Mutter, die sie auch als junges Mädchen war, eine Kopie der Mutter, die mit dem Liebhaber zusammenlebt, zur Schande ihrer Tochter, sie hat mich nicht bemerkt oder erkannt, ich wollte zu ihr gehen, dann habe ich es mir anders überlegt, denn Mirjana war mir nichts, nur ein Ersatz für das Unersetzliche, für Nata{a, sie zieht um und lässt mich erniedrigt in meiner Bank zurück, die Verlassenen sind immer erniedrigt, doch nicht einmal das ist ihr genug, sie will mich völlig vernichten, auch wenn sie damit auch sich vernichtet, also erzählt sie Sonja von unseren Seancen in ihrer Wohnung, von unseren Treffen, eine Verräterin aller Verräter, ich habe keine Ahnung, wie viel sie sich traute zu erzählen, doch genug, damit uns Sonja zu Huren erklärt... ...“Ihr Mädchen werdet Huren werden“, sagte Sonja, der die Jungs schon damals die Hände in die Unterhose steckten, was sie geschickt von uns verbirgt bis zur Abschlussfahrt, als sie uns eröffnet, dass sie schon längst keine Jungfrau mehr ist, ebensowenig wie ich, nur dass sie zwischen den Beinen durchlöchert ist, wie es auch sein soll, und ich nicht, ich bin im Kopf durchlöchert, Hymena sollte man bei der Geburt durchschneiden und nicht, dass uns so ein selbstherrlicher Pimmel von riesenhaften Ausmaßen zerreißt, wie der von meinem ersten Mann Pele, der Pimmel eines Verrückten, der mich wie ein Tier abgeschlachtet hat und wegen dem ich heute die kleinen bevorzuge, wie TIONS sie glücklicherweise in der Mehrzeit sind und vor den großen laufe ich weg, wie der Teufel vor dem Weihwasser, Sonjas Prognose macht uns Angst, als Huren gibt es nichts Schlimmeres, wissen wir, das sind betrunkene Frauen, die im Park Zrinjevac herumlungern, mit blau gewordenen, aufgedunsenen Gesichtern, heiseren Hälsern, alle krank, von feinen, teuren Huren haben wir noch nicht gehört, wenigstens nicht bei uns, die gibt es in Romanen und Filmen, aber bei uns in der Wirklichkeit nicht oder man sieht sie nicht, klar, man sieht sie nicht, erfahre ich als Erwachsene, denn Damen huren hinter geschlossenen Türen von Villen herum, sie breiten sich aus für Luxus, nicht für trocken Brot wie jene jämmerlichen Kreaturen, die sich auf den Gehsteigen anbieten, Ehefrauen und Töchter von Ärzten und Anwälten in den Betten ihrer Bekannten, wie man begriffen hat, als die Schande herauskam, als sich ein Vater aufgehängt hat, wegen seiner Frau und seiner Tochter, als er ihre Fotos im Katalog eines Bordells gefunden hatte, eines, klar, geheimen, wohin er als Kunde gekommen war, die Moral des Nirgends, und sie drohte, dass sie uns „verpetzen würde, wenn wir nicht damit aufhörten“, sie wird uns bei der Klassenleiterin verpetzen, der Hauswirtschaftslehrerin, denn das lernte man einst auch bei uns in der Schule, stricken, sticken, den Tee richtig zubereiten, wenn die Kamille taugen soll, darf sie nie aufkochen, ist die ganze Weisheit, die ich aus diesem Untericht herausgesogen habe, eine arme alte Jungfer, die wie eine Ameise aussah, ein mageres ausgemergeltes Gesichtchen mit weit außeinander stehenden runden Augen, eine dünne Nase und der Mund wie Kirschstengel, schütteres fettiges Haar und die Haut müde, wie eine alte Schuhsole, deren Ungeschicklichkeit, nicht Bosheit einen Skandal hervorrufen könnte, so dass Nata{a 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski und ich von der Schule fliegen oder wenigstens einen Verweis bekommen, ganz zu schweigen davon, wie es uns zu Hause ergehen würde, die würden uns das Fell über die Ohren ziehen, danach verschließt uns Nata{a die Tür ihrer Wohnung, ihres Körpers und der Freunschaft, mir, Sofija, zweifelsohne, ich erinnere mich an das Ende dieser unglücklichen Treffen mit Nata{a, ohne dass ich geschissen habe, denn ich hasse es zu scheißen, also habe ich auch den Körper verzaubert, der sich zuwider ewig die Scheiße zurückhält, sogar auch wenn ich ihm mit Abführmitteln helfe, Händewaschen, Abtrocknen am Saum des Nachthemdes, wir haben vergessen, ein Handtuch neben das Waschbecken zu hängen, wir, die falsche Haushälterin Sofija, die sich im Haushalt eingenistet hat, wie eine Maus in die Vorratskammer, und das verschmutzte haben wir schon gestern entfernt, wie jeden Freitag, wenn die Putzfrau kommt, ein sonderbares, unregelmäßiges Gesicht, ähnlich einer Papiertüte, aus der jemand mit der Schere Mund und Augen herausgeschnitten und die Nase aufgemalt hat, so dass das Gesicht platt gedrückt aussieht, zurück in unser Zimmer, die Pantoffeln schleifend, jetzt in Angst vor den Kakerlaaken, die überall auftauchen können, ich kann eine schwangere Kakerlaake, nachdem ich sie getötet habe, nicht unter den Schrank schubsen, wie mir der Kakerlakengiftmörder geraten hat, was die übrigen abstoßen wird, das wäre gegen meine Überzeugung, wenn ich eine Kakerlaake töte, ab auf die Müllschaufel, dann in die Toilette, oder lebendig in die Toilette, während sie noch panisch auf der Müllschaufel umherrennt und ich Gänsehaut habe, „Die Kakerlaake ertrinkt“, lehrte mich der Giftmischer, zurück in die Schlaflosigkeit, die nicht aufhört, vielleicht würde ich einschlafen, wenn ich es geschafft hätte zu scheißen, überlege relations 2009.pmd 17 ich, angeekelt, ich mag es nicht, über Kacke nachzudenken, noch weniger darüber zu reden, Männer unterscheiden sich hierin von den Frauen, über Kacke zu reden, ist für sie ein Genuss, als ob die Kacke etwas ist, was ihnen gehört, etwas Intimes, alle, die ich kenne und die ich nicht kenne beten ihre Furze, Pisse, Fäkalien an, ihre Körperausscheidungen, einer hat nach dem Scheißen immer seine Kacke beobachtet, um zu sehen, ob sie gesund ist, ob darin kein Blut ist, kontrollierte ihre Farbe, bis er bei gesunder gelber Kacke an einem Herzinfarkt gestorben ist, ein anderer steckte seine wertvolle Kacke in Plastikbeutel und bewahrte sie im Schrank auf, vermutlich weil er sich davon nicht trennen konnte, als ob er sich damit von sich selbst trennen würde, es ist ein wahres Wunder, wie gerne sie darüber reden, dass sie geschissen haben, wie gerne sie furzen, wie sie betrunken genussvoll an jeder Ecke pissen, wie Hunde, das Ding heraus aus der Hose und pisse, wo du gerade bist, Männersachen... ...Was Frauen angeht, die sind absolut nicht vertrauenswürdig, begreift die Dreizehnjährige, ein für allemal, wenn du es am wenigsten erwartest, kehrt sie dir den Rücken zu, wie meine Cousine Ljubica, verrät dich sogar, wie Nata{a, also bleibt sie wieder einsam mit ihrem Körper und seiner verdammten Lust, Mädchen kommen nicht mehr in Frage, Jungs noch weniger, daran hat sich nichts geändert, sie ekeln sie körperlich an und von ihnen könnte sie „schwanger werden“, wie sie ihre Mutter gewarnt hatte, was ein Unglück ist, außer du bist volljährig und verheiratet, dann kannst du dich darüber freuen, musst es sogar, die gleiche Melodie, aber das Lied ist nicht das gleiche, das eine feiert, das andere begräbt dich, was sich im Nirgends Moral nennt, was bleibt ihr anderes übrig, als sich sich selbst zuzuwenden, sie kann sich 17 selbst berühren, wie sie Nata{a berührt hat und alle anderen, die sich bei ihr getroffen haben, hat sie das nicht schon mit vier-fünf Jahren begriffen, als sie sich auf dem Balkon ihrer Cousine Kristina ausgepeitscht hat, es gibt einen Ort, wohin sie ihre Finger nicht stecken kann, wenn sie sich schon nicht küssen kann und sie kann sich vorstellen, dass ein anderer das tut und dass sie selbst ein anderer ist, nicht die Dreizehnjährige namens so und so, Tocher dieser Mutter und jenes Vaters, Schülerin, Mittlere Reife, bereitet sich aufs Gymnasium vor, dann aufs Biologiestudium, denn die Mutter zwingt sie, einen Beruf außerhalb des schon erwählten zu wählen, des Schreibens, was kein Beruf ist, sondern eine Berufung, die die gesamte Zeit erfordert, doch wen kümmert es, davon lebt man nicht, bleibt die Mutter hartnäckig, schon von Panik ergriffen, wohin das alles schon gegangen ist, dieses Schreiben ihrer Tochter, Kindergedichte in Ordnung, und Schreiben für Aufführungen in Ordnung, aber richtige Gedichte nein, sie hat genug arme Leute gesehen mit Heften voller Gedichte, männliche arme Leute, Frauen sind ja klüger, außer ihrer Kleinen, doch dafür ist die Mutter hier, um sie in die richtige Richtung zu lenken, eine Ärztin, Anwältin, sie kann auch Lehrerin sein, Grundschullehrerin, was ihre Mutter werden wollte, aber Dichter nein, der Tochter scheinen diese Berufe von vornehin verfehlt, sie wird doch keine Toten aufschneiden, Menschen in Gerichten herumzerren oder Kinder quälen, für diese Schrecken ist das Leben zu kurz, außerdem, was soll man da machen, was für eine Entdeckung zum Ruhme der Menschheit und zum eigenen Ruhm, wenn auch posthumen, wovon sie träumt, sie ist noch treudoof und glaubt an diesen Blödsinn, glaubt, dass ein Mensch in seinem Werk weiterlebt, dass hierin seine Unsterblichkeit liegt, 14.4.2009, 20:30 18 RELA Januar aber ja doch, das ist Unsterblichkeit, wie die vom Regenwurm, doch die Kleine wurde einer Gehirnwäsche unterzogen, der Kleinen hat man gesagt, dass das Leben ein Wettlauf ist, also lauf um die Wette, im Kopf und im Leben, sie hat genug Biographien aus der Zeitschrift Otkri}a verschlungen, in der ihre Mutter arbeitet, seit sie von Brioni zurück sind, natürlich Buchführung, also ist die Wohnung voll davon, alles glänzende, berühmte Köpfe, Physik, Chemie, Mathematik, Biologie, aussschließlich Naturwissenschaften, aus den geistigen wird nie was, predigt die Mutter, also muss man ihr glauben, wo könnte sie da unterkommen, fragt sich die Dreizehnjährige, in Mathematik ist sie schwach, in Physik mittelmäßig, Chemie interessiert sie nicht, übrig bleibt die Biologie, also Biologie, sie kann der zweite Charles Darwin werden, die Welt bereisen oder, noch besser, lass uns zum AmazonasFluss gehen, das zieht sie an, der Urwald, Insekten, Fleisch fressende Pflanzen wilder Farben und Formen, mit denen sie einen Käfer anziehen, um ihn dann zu fressen, sie hat schon einen Frosch für die Bedürfnisse eines Wettbewerbes getötet, dessen Schreie noch heute in ihren Ohren widerhallen, auf dem Balkon hat sie ihn an ein Brett genagelt, an allen vier Beinen, hat ihn gekreuzigt, wie sie Jesus gekreuzigt haben, Körper um Körper, der von Jesus und der vom Frosch gleichermaßen und schlitzte seinen Bauch auf im Glauben, dass er mit Äther betäubt ist, was er nicht war, wenigstens nicht genug, als beide das begriffen haben, war es zu spät, der Frosch, aufgeschlizt und lebendig, durchbohrt ihr die Ohren mit seinen schrecklichen Schreien, nicht nur die Ohren, durchbohrt sie ganz, sie muss ihm den Rest geben, aber sie weiß nicht zu töten, sie weiß nicht, wie sie dem Frosch die Qualen verkürzen kann, also dauert dieser Horror an, stirb, befiehlt sie ihm, relations 2009.pmd 18 aber der Frosch stirbt nicht, er schreit und schreit, er hat die ganze Nachbarschaft, die sich an den Hoffenstern und Balkonen aufgepflanzt hat, herbeigelockt, was stellt diese Kleine nur an, sie quält einen Frosch, bis er endlich gestorben, für mich für immer zu spät, und in einer Flasche mit Formalin geendet ist, weiß und aufgespreizt, den ich ordentlich in die Schule mitbringen werde, wie mit der Lehrerin abgemacht, verdammtes Naturell, Sternzeichen Jungfrau, nichts kann mich vom Weg abbringen, wegen dieses Frosches werde ich in der Hölle landen, überlege ich trotzdem, als alles vorbei war, der Frosch tot, aufgespreizt, Aufgabe ordentlich ausgeführt, ich bestrafe mich damit, dass ich bei jenem Wettbewerb letzte bin, eine völlige Null, ich weiß nichts, auch das, was ich weiß, weiß ich nicht, als ob mich der Frosch verzaubert hätte, die Biologielehrerin sieht mich wortlos an, was für eine Blamage, macht nichts, denke ich, das werde ich schon alles wieder am Amazonas gut machen, ich bin jemand anderes, während ich mich mit meinem Körper, der mich verrückt gemacht hat, vergnüge, nicht die blöde Kuh, die ihre Tagebücher mit Liebessehnsüchten füllt, heute diese, morgen jene Liebe, ich schreibe sogar mit meinem eigenen Blut, das ich aus dem Finger fließen lasse, damit alles grandioser wird, auch die ist nicht in meinen Spielen, den Spielen einer Dreizehnjährigen, die ihr Körper quält, in diesen Spielen sind Figuren aus Romanen und Filmen mit lasziven Inhalten oder wenigstens lasziven Teilen, kriminalistischen, historischen, die mein Vater kauft, seit er in Vorrente ist, zu viel Herumliegen, Langeweile, insbesondere, wenn er nicht trinkt, nach dem Brechen von Blut, muss er sich von Zeit zu Zeit doch vom Trinken erholen, dann ist er ein Nervenbündel, also liest er, um seine Couch herum liegt haufenweise so ein Schund herum, mit Kaffee TIONS verschüttet, fettig vom Essen, keiner verbietet mir, das zu lesen, die Zeit ist noch teilweise sittsam, in Romanen, sogar im Schund, ist alles nur angedeutet, aber wir sind fantasievoll, wir erweitern die Dinge, aus den Andeutungen schaffen wir fertige Bilder, schon bei Nata{a habe ich mir Rollenspiele beigebracht, ich war sowohl Patientin als auch Arzt, ich kann also sein, was ich will und auch meine Hand kann ich wem auch immer leihen, einem bekannten oder unbekannten, wie mir gerade danach ist... ...Obwohl Bekannte nicht in Frage kommen, keine Chance, nur Unbekannte, was ich ja auch für mich selbst bin, nur eine Figur aus Filmen und Büchern mit lasziven Inhalten, ich bin eine kleine Tippse, die ohne Unterhose zur Arbeit kommen muss, damit der Chef sie im Laufe der Arbeit flachlegen kann, er kriegt einen Steifen schon bei dem Gedanken, dass die Kleine keine Unterhose anhat, dass unter dem Rock nur die warme Möse ist, der feste nackte Popo, zu seinen Diensten, die kleine Pussy, die er feucht machen und in sie gleiten wird, wie in eine Badewanne mit heißem Wasser, ein Augeblick höchster Verzückung, das hebt seinen Elan, verleiht ihm Energie, deshalb wird mehr Geld in seine Kasse fließen, schwarze Strapse und Strümpfe an den Beinen, damit sie mehr sexy aussieht, wie die Huren aus den Filmen, denn das Bild erregt uns mehr als die Wirklichkeit, das weiße Fleisch über der Spitze, in das man eintauchen kann, an dem man knabbern kann, dort wo es weich ist, auf der Innenseite, während er schon den Duft ihres Ausflusses in der Nase spürt, wenn ihm danach ist, spreizt er nur ihre Beine, schiebt zwei Finger hinein, riecht an ihnen und leckt sie ab, ein wahrer Feinschmecker, dann stellt er sie an den Arbeitstisch, mit dem Popo zu sich hin, mit den Brüsten nach vorne, die die Kleine 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski herausnehmen muss, heraus aus dem Büstenhalter, damit er sich an ihnen festhalten kann und schiebt ihn ihr von hinten hinein, zwischen die gespreizten Beine, um ihr zu zeigen, was er ist, was er kann, sie ausfüllen mit seiner Pflanzstätte für Bälger, sie kann ihn mit nichts ausfüllen, selber schuld, er ist dafür geschaffen, sie auszufüllen und sich daran zu ergötzen, also rammelt er sie vor riesigem Vergnügen wiehernd, was für ein Entzücken, ihn in so junges Fleisch zu stecken, dessen fester glatter Po dich am Bauch kitzelt, bis du in ihr Inneres explodierst und am Ende gibt er ihr einen Klaps auf den vorgestreckten Po, ebenso wie er einem Kind einen Klaps geben würde, so dass es knallt, los Kleine, geh’ arbeiten, du warst gut, lecker, deine Fotze ist ohnegleichen, wenn du so weitermachst, gebe ich dir eine Lohnerhöhung, bevor ich nach Hause gehe, lege ich dich noch einmal flach, denn zu Hause habe ich nichts, eine mürrische Frau mit Wicklern, die sich ständig herauswindet, ein Mensch macht einen Fehler, wenn er sich zu früh bindet, wir werden wieder die Türe abschließen, die Kleine wird für ihn einen Striptease aufführen, wie eine Bardame, langsames Aufknöpfen der Bluse, damit man die Tittchen sieht, dann herunter mit dem Büstenhalter, alles im schlangenartigen Winden, damit die Titten wackeln, danach der Rock, der Tanz der Möse in Strapsen, ihm vor der Nase, dann der Tanz der Pobacken, bis ihm das Wasser im Mund zusammenläuft, dann wird sie der Chef aller Chefs auf den Boden schmeißen, auf den weichen Teppich, mit dem Rücken nach unten und die Kleine wird ihn von beiden Seiten mit den Beinen umfangen, ganz nackt, splitterfasernackt, sie kann nur die Pumps anbehalten, die kleine Hure, was alle sind, sie sind entweder Huren oder Weiber mit Wicklern, und mit ihrer Möse über seinem Gesicht relations 2009.pmd 19 wedeln, noch näher, das Loch muss man von innen sehen, unter den Haaren, ein wunderschöner Anblick, dafür leben wir eigentlich, für diese Kurven und Ritzen über unseren Gesichtern, mit wundersamen Gerüchen, „Wasch dich nicht, ich komme!“, schreibt Napoleon an Josephine, zum Ruhme des Fotzensaftes, sagen böse geschichtliche Zungen, und wir machen es ihnen nach, die Kleine ist über ihm aufgespreizt wie ein Frosch und er macht sie mit der Zunge fertig, komm noch näher, damit ich sie dir ablecken kann, gierte der Chef und hopp auf den Knüppel, die am Bersten ist, du wirst meine Reiterin sein, so, spring, „Fick dich leer, Hure!“, der Chef liebt es, schmutzige Wörter auszusprechen, das Schmutzige vergrößert seinen Genuss, das sind erste Fantasien, als ich noch unwissend war, als ich noch nicht wusste, dass man mir den Pimmel in den Mund stecken kann, dass man ihn mir in den Anus stecken kann, dass ich fähig bin, gleichzeitig drei zu bedienen, in den Mund, in den Anus, in die Muschi, dass sich Helden auf mir abwechseln können bis sie mich unten in einen blutigen aufgerissenen Krater verwandeln, all das kommt erst, wie alles kommt, mit den Jahren, ich erweitere unnötiges Wissen, Wissen über Unwichtiges und das Repetoir meiner Fantasien, ich bin eine Hure in einem Bordell, auf der sich Freier abwechseln, respektable Väter ihrer glanzvollen Familien, fähige Kaufleute, Politiker, ehrenwerte wissenschaftliche Mitarbeiter, alle lieben das Fleisch, an das sie nicht denken müssen, ebenso wie sie nicht an die Kühe, Schweine und Hühner denken, die ihnen ihre Frauen als Mahlzeit servieren, ich gebe mich liegend, stehend, hockend, reitend hin, aber keine Perversionen, kein Peitschen, niemand wird auf mich scheißen oder pissen oder das gleiche von mir bekommen, auf einmal zwei ist in Ord- 19 nung, nie drei, mal der eine, dann der andere, gleichzeitig nein, obwohl wir zustimmen, einen von ihnen zu lutschen, während der andere ihn uns hineinrammelt, Frauen sind erwünscht, zwei auf einen, soll sich der Held doch beweisen, auch mein Zuhälter lässt sich von mir verwöhnen, der liebt es, aus meiner Vagina Champagner zu schlürfen, wie eine Biene Blütennektar, er kommt zwischen den Freiern, während ich mich noch nicht einmal gewaschen habe, denn er liebt es, sich in fremnden Körpersäften zu suhlen, doch wenn er in meinem Mund kommt, wäscht er ihn immer, wenigstens das, überlege ich, ganz gebrochen, denn ich lutsche nicht gern Phalluse, außer in Außnahmefällen, wenn ich sehr geil bin, weil sie schleimig sind und stinken, ich bin die Frau eines Geschäftsmannes, die sich einem Mafioso hingegeben hat, damit der ihm seine Schulden erlässt, im Gegenteil, Kopf ab, wir lieben ein bisschen Dramatik, schon als er sie nach Hause führt, greift er mit der Hand in ihr Dekollete, quetscht ihre Titte, damit sie weiß, wem sie gehört, wie ich es in einem Film gesehen habe, es gibt kein Ablehenen, Herauswinden, Betrügen, der Körper ist ein Ding, also kann er auch gehören, überlege ich, nachdem ich ins Zimmer zurückgekehrt bin, ins Bett, versuchen einzuschlafen oder sich aus dem Fenster lehnen, auf die Straße, Luft holen, ein wenig Durchzug durch die Toilettengrube meines Lebens, damit wir nicht in ihr ersticken und schon bin ich am Fenster, keine Spur von Dämmerung, kein Anzeichen, die Straßenbahnen fahren nicht, die Vögel zwitschern nicht, auch weiterhin tiefste Nacht auf der erleuchteten Straße, jetzt schon ohne Passanten, außer jenen in Autos... ...Wir sollten wissen, wie man sich vom Körper trennt, sonst sind wir verurteilt, als Dinge zu leben, über- 14.4.2009, 20:30 20 RELA Januar legt die Siebenundfünfzigjährige, und was ihr nichts nutzt, wir sind nur Gegenstände des Nirgends, die versetzt und aufgebraucht werden, heute der Gebrauchsgegenstand eines Zuhälters, morgen eines Mafioso, die ebenfalls nichts anderes als Dinge sind, Dinge benutzen Dinge, Persönlichkeiten existieren nicht, wenn wir Persönlichkeiten wären, würden wir auch nicht nach Nirgendwo gelangen, denn Nirgendwo ist das Schicksal der Dinge, egal, wie wir dieses Ding auch nennen, Tochter, Ehefrau, Hure oder Mutter, Ministerin oder Putzfrau, wer als Ding lebt, wird auch als Ding sterben, unsere Leber wird zerfallen, das Herz entzwei brechen, die Nieren versagen, jemand wird uns überfahren, während wir die Straße überqueren, unter die Räder, krepier, wie meine Mutter, man wird uns mit einer Bombe in die Luft jagen, mit einer Kugel, mit einem Messer aufschlitzen, erdrosseln wie meinen nichtexistierenden Urahn, als man die Gräfin los werden sollte, Bakterien werden uns den gar ausmachen, Viren, der Krebs wir uns auffressen, wir werden uns den Hals brechen, ertrinken, ein Hai wird uns auffressen, Termiten aussaugen, der Blitz wird uns treffen, wir kommen auf eine Weise, Gebärmutter, aus ihr heraus, und wir gehen auf zahllose Weisen, das Kommen ist eintönig, der Abgang fantasievoll, man kann uns auch im Gasofen verbrennen, doch gebären wird uns kein Baum, keine Wolke oder Hund, darin verbirgt sich die Botschaft, aber ich weiß nicht, was für eine, dem Tier geht es ebenso, eine Art des Kommens, zahllose des Abgangs, was vermutlich bedeutet, dass das Kommen wichtig ist, nicht der Abgang, das eine, nicht das zahllose, wichtig in der Ordnung der Dinge, die wir Natur nennen, aber es nicht wissen, wir haben alles durcheinander gebracht, das Kommen halten wir für selbstverständlich, wir sind relations 2009.pmd 20 hier, na und, an das Kommen erinnern wir uns nicht, wir kümmern uns nicht darum, uns quält nur der Abgang, sobald wir schnallen, dass er folgen wird, als ob das irgendwas Mysteriöses wäre, was es nicht ist, Dinge werden verbraucht, wie wir jeden Tag sehen, und der Körper ist nichts anderes als ein Ding, ebenso wie Schuhe, zuerst neu, danach alt, mit einem Loch in der Sohle, also müssen sie ausgetauscht werden, gebt uns neue und die alten auf die Müllhalde, mysteriös ist das Kommen, wenn man noch alles machen kann, wir haben ein Gehirn, damit wir es zu hundert Prozent ausnutzen, aber Pustekuchen, wir schlagen zwei Drittel tot und mit dem übrigen Drittel enden wir nirgendwo, denn statt uns ziehen wir Masken auf, wir sind nicht wir, sondern Frauen, Töchter, Mütter, Ministerinnen, Putzfrauen, Professorinnen, Männer, Söhne, Väter, Präsidenten, Müllmänner, deren Wunsch einzig und allein ist, zu bleiben, was sie sind, diese Maske, die Masken möchten auf keine Weise gehen, sie möchten ewig hier bleiben, ewig Dinge sein, wie wir von Geburt an sind, davor nicht, doch uns ist es wurscht, was wir vorher waren, bevor wir nicht waren, waren wir auch nicht, denken wir, was von der Wahrheit weit entfernt ist, wenn wir jetzt sind, dann waren wir auch, etwas kann nicht aus nichts entstehen, es ist ein wahres Wunder, wie offensichtlich diese Dinge sind, und sie werden doch nicht gesehen, wir sehen nicht, dass wir unsterblich sind, sondern wir wollen es werden, dort, wo es unmöglich ist, im Leben der Dinge, wir begreifen nicht, dass wir Unsterblichkeit gar nicht wollen würden, wenn wir sie nicht schon hätten, wenn wir nicht mit ihr geboren wären, die Möglichkeit ist die Verwirklichung, und nicht unsere Bemühungen, alle falsch, alle eine Beute des Abgrundes, wohin Dinge gehen, nicht so wir, die Unsterblichen... TIONS ...Und der Mafioso, der mich meinem Mann weggeschnappt hat, dem Geschäftsmann, weil er ihm Geld schuldete, der verließ meine Muschi eine Woche lang nicht, bis er genug von mir hatte, er entleerte sich in mir in einem Zimmer voller Spiegel, an der Decke, an den Wänden, nur der Boden ist hölzern, damit er stets sehen kann, was er tut, was er in mich steckt, den Penis, die Zunge, den Finger und was ich bei ihm tue, lutsche den Phallus, knete die Eier, diese Samensäcke, wo sich unsere Unsterblichkeit angeblich in Sterblichkeit verwandelt, wo zukünftige Schnittmuster für unsere Körper geschneidert werden, in die wir einziehen, wenn die Panzer fertig sind, wenn sich der Samen mit dem Ei verbindet und zu einem Baby heranwächst, zwischen diesen Aktivitäten füttert er mich und wässert, ich lebe ohne Kleidung auf roten lakierten Pumps, mit rasierter Muschi und Achseln, der Mafioso mag keine Haare, klar, fremde, die Muschi rasierte er mir, bevor er ihn das erste Mal hineinsteckte und nachdem er sie rasiert eine halbe Stunde lang herumgezerrt hatte, als ob er sie vor Gebrauch studieren muss, während ich im Sessel mit gespreizten Beinen dasaß, vervielfacht in meiner Nacktheit, lassen sie meinen Mann kommen und zusehen, den Hurensohn, durch ein Loch in der Wand, zusammen mit dem Türsteher, der ihn zum Loch geführt hat, er sieht zu und genießt wie der Mafioso, wir sind alle Voyeure, denn wir sind alle gespalten, alle verrückt von unseren Masken, derer wir uns nicht zu entledigen wissen, weil man uns das nicht beigebracht hat, sie haben uns gesagt, dass wir Masken sind, also sind wir auch zu ihnen geworden, sobald wir eine aufsetzen, wachsen wir sogleich in sie hinein, wenn wir eine abnehmen, wachsen wir in eine andere hinein, Ovid in der Praxis, sagt unsere Belesenheit, mit der wir ins Nir- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski gendwo geglitten sind, wie in einen weichen Handschuh, mein Mann, der Geschäftsmann in Anzug und Krawatte, einer teuren, Pierre Cardin, bekommt einen Steifen, während er beobachtet, wie mich der Mafioso von hinten besteigt, wie ein Huhn oder mich auf seinen strammen Pimmel pflanzt, der Mafioso ist kräftig, behaarte Arme, Brustkorb und Rücken, ein wahrer Nachkomme seiner Ahnen, er hebt mich hoch und nagelt mich aufgespreizt wie einen Frosch, einen besseren Vergleich sehen wir nicht, die Phallusse in meinen Vorstellungen sind immer groß, aufgerichtete fleischige Knüppel, wie ich sie im Leben nicht ertrage, oder er fesselt meine Arme und Beine an die Bettpfosten und bohrt mich dann, wobei ich mich nicht einmal bewegen kann, ich bin das Ding aller Dinge, so lieben sie mich am meisten, machtlos, das gibt ihnen die Macht, an der sie, mit Recht, schon längst zweifeln, schon seit Zeiten des Kraljevi} Marko7, der sich der Macht der Frauen mit dem Knüppel erwehren musste, „Schlag die Frau, spare nicht ihren Laib, bis ihr die weiße Niere zerplatzt“, singt dieser Held aller Helden, das Abbild der Männlichkeit, der eigenen Schwester haben wir die Brüste abgeschnitten, wir, Kraljevi} Marko, „die weißen Brüste“, zur Strafe dafür, dass sie sich hat vergewaltigen lassen, eine Nutte und keine Frau, der man es zeigen muss, nach einer Woche will mich der Mafioso nicht mehr, er lässt mich nackt im Haus herumscharwenzeln, mit rasierter Muschi, in roten lakierten Pumps, mit dem Recht, dass mich jeder seiner Bediensteten nimmt, der Türsteher, der Fahrer, der Butler, der Sekretär und zwei Köche, wenn es um Huren geht, sind Männer Kommunisten, alles wollen sie teilen, im Flur, durch den ich zur Toilette gehen muss, fängt mich sein Fahrer ab, 7 relations 2009.pmd „Lass mich dich durchficken“, sabbert er mir ins Ohr und lehnt mich an Ort und Stelle gegen die Wand, verlangt, dass ich ihn mit meinen Beinen um die Taille umfange, damit er mich im Stehen knallen kann, vor Genuss schreiend, der Butler überrascht mich in meinem Zimmer und besteigt mich von hinten auf einem Stuhl, nachdem er mir die Augen zugebunden hat, Abartigkeit ist verbreitet, in der Küche, wohin ich gehe, um Essen zu holen, legen mich der Koch und sein Gehilfe mit dem Rücken auf den Tisch und nudeln mich auf einem Haufen frisch geschnittenen Gemüses durch, der Koch steckt ihn hinein, während mich der Gehilfe festhält und mir seinen Knüppel in den Mund steckt, danach tauschen sie, der Koch im Mund, sein Gehilfe in der Vagina, der Türsteher verlangt, dass ich ihm ihn auf der Toillete lutsche und den Samen schlucke, der Scheißkerl, danach bin ich frei, der Sekretär hat sie mir geleckt, dann hat er ihn mir in den Arsch gesteckt, wobei ich knien musste und er „Schweinchen“ säuselte und mich in die Schenkel kniff, endlich sammeln sich alle, die mich gehabt haben, im Spiegelzimmer, platzieren sich nackt um einen runden Tisch herum, meine Ritter, und ich muss unter den Tisch, vom einen zum anderen auf Knien kriechen, wie auf dem Kreuzweg und die Namen der Rammler über ihre Knüppel raten, die wie Kerzen aufgerichtet sind vor dem Anblick der nackten Frau, die auf den Knien kriecht, welcher gehört zum Sekretär, welcher zum Koch und seinem Gehilfen, welcher zum Butler, welcher zum Fahrer, Dinge haben immer Namen, mein „Ich“ hat ihn nicht, einzig der Mafioso nimmt nicht an diesem Ratespiel teil, er ist nur gekommen, um zuzusehen, insbesondere das Ende der Vorstellung, wenn sie sich der Größe 21 nach auf mir reihen, vom kleinsten bis zum größten, nachdem sie sie vor Lachen platzend ausgemessen haben, durch das Loch in der Wand sieht mit dem Mafioso auch mein Mann zu, der Hurensohn, denn das geht auch in die Begleichung seiner Schulden, heimlich bereit, mich gemeinsam mit denen da drinnen zu bumsen, bereit, den Film zu kaufen, auf den die Reihenübung aufgenommen wurde, damit er in Ruhe zu Hause damit wichsen kann, all das ist möglich, also ist es auch wirklich, es ist passiert, weil es passieren konnte, obwohl es das nicht ist, obwohl ich mir alles nur vorgestellt habe, was ist Fantasie, wo war ich nicht alles in all diesen Jahren, bis sie mich endlich durchbohrt haben, in Wirklichkeit, nicht in der Fantasie, und auch später, denn es ist zur Gewohnheit geworden, hie und da Unterbrechungen, und dann Rückkehr zum Alten, ich habe meine Zeit verlassen und bin nach Rom gegangen, nach Ägypten, nach Istanbul, nach Auschwitz und was war ich nicht alles, ich, ein Haufen Masken, Sklavin, Jungfrau, Haremsdame, Lagerinsassin, arme Jüdin... ...Auf meine Rollen bereite ich mich im Zimmer der Eltern vor, ich, die Dreizehnjährige, seltener in meinem, in meins kehre ich wie die seelige Jungfrau Maria zurück, um von Jungen zu schwärmen, das Zimmer bekam ich, nachdem Verwandte es verlassen haben, plötzlich, unerwartet, sie sind über Nacht ausgezogen, heute sind sie noch hier und morgen ist das Zimmer leer, als ob alle gestorben wären, der totale Horror, sie sind in einen kleinen Bungalow gegangen, nicht in eine Wohnung, zwei Zimmer am Stadtrand plus kleine Küche, ein schlammiger Hof, wo sie fortfahren so zu leben, wie sie es gewohnt sind, auf dem Rücken, sie stehen nur auf, um auszugehen und zu Königssohn Marko, zentrale Figur der südslawischen Volkspoesie, Beschützer der Entrechteten und Unterdrückten aus der Zeit des Osmanischen Reiches. 21 14.4.2009, 20:30 22 RELA Januar kochen, alles andere erledigen sie auf ihren zwei Ehebetten unter dem retuschierten Bild von ihrer Hochzeit, von dem aus sie Ljubica verrückt gemacht haben, für die Orgien benutze ich lieber das Elternzimmer, die wir später durch Truhen, schwarze, aus der Renaissance, ersetzen werden, mit er ehemaligen Sekretärin des Poglavnik und der ehemaligen Kreuzordnerin Mima, nicht meins, in ihrem habe ich es bequemer, die Möbel sind massiver, passender als Kulisse, ein massiver runder Tisch, grünlich gepolsterte Stühle, Ornamente auf grünem Untergrund, bauchige Schränke mit Mutters intimen Sachen, eine Psyche mit Spiegel, in meinem Zimmer gibt es keine, vor der ich mit den Vorbereitungen beginne, wann immer ich alleine in der Wohnung bin, nachdem ich zuvor die Rollläden an den Fenstern heruntergelassen habe, so dass das Licht durch enge Holzschlitze eindringt, ich kann es kaum erwarten, die Mutter ist in der Arbeit, der Vater in der Kneipe an der Theke, der Ellbogen oben, Zigarette, in der anderen Hand das Glas, kokettieren mit der Wirtin, und die Kumpels um ihn herum, alle schon mit Organen, die der Alkohol zerfrisst, Ciboci, das ewig unrasierte Gesicht mit blutigen Augen, dessen Frau sich aus dem Fenster gestürzt hat und er weiß nicht, warum, also hört er nicht auf, darüber zu reden, mit dem Glas auf den Tisch schlagend, wann immer er auf die Wahrheit trifft, Ri|i, der es hasst, dass man ihn „Roter“ nennt, als ob das etwas schimpfliches wäre, rot und sommersprossig zu sein, mit rosafarbener Haut, und so nennen ihn alle, sobald er ihnen den Rücken zukehrt, erbittert, weil er so viel Geld verdient, wie alle zusammen, dann ein Berg von einem Mann namens Stevo, der in die Stadt gekommen war, um Klempner zu werden und nicht Verwalter eines Straflagers, wie 8 es gekommen ist, der Sträflinge „entledigte er sich mit einem Faustschlag“, erzählte der Vater mit einer gewissen Portion Bewunderung, Angst und Verachtung, denn wir sind nicht fähig, eine Ameise zu zertreten, wir, Puba, obwohl wir mit Nachnamen Kralj8 heißen, und jetzt schlägt ihn seine Frau, die ehemalige Lagerinsassin Jelica, die ihm sowohl in Größe als auch in Gewicht pariert, beide schikanieren die ehemalige Sängerin, mit der sie als Mitmieter in ihrer ehemaligen Wohnung leben, die nach dem Krieg verstaatlicht wurde, worüber mir diese erzählt, jedes Mal, wenn ich sie auf der Straße treffe, sie habe vor ihre Tür geschissen, ihre Katze getötet, sie redet und weint und ich höre ihr zu und weiß nicht, was ich sagen soll, noch weniger, was ich tun sollte, die ehemalige Sängerin ist eine alte Frau, die Witwe eines Richters aus Banski stol, winzig, gebückt, in uralter Kleidung, Seide, von Motten zerfressene Pelze, obwoh sie nach Naphtalin stinkt, alles, was ich tun kann, ist, sie in die Geschichte einzufügen, schon längst tot, wie das im Nirgends so geht, der Vater verfällt öffentlich, die Kumpel heimlich, so dass alle vor ihm abgekrazt sind, dem fast Unsterblichen, an Herzversagen, an Nierenversagen, an verkalkten Blutadern, sie sind einfach nur verschwunden, Ciboci, Ri|i, der Verwalter des Straflagers... Krankenhaus, dann Sarg, mit dem Küchentuch verdecke ich das in dunklen Farben gehaltene Ölporträt meines Vaters, wie auch die Zeit ist, als es geschaffen wurde, Mitte des Krieges, Ermordungen und Vertreibungen, auf dem Ban-Jela~i}-Platz gehängte Menschen, ein Porträt, das er in seiner Jugend von einem später bekannten Maler anfertigen ließ, damit der mit etwas sein Mittagessen bezahlen konnte, ein ärmliches, wie auch seine Kleidung war, als er zu Ruhm gelangt ist, sagte der Maler meiner Mutter auf der Straße, dass sie „{mucig“ sei und weigerte sich, nachträglich sein Gemälde zu unterzeichnen, wie kommt er denn dazu, für diesen Preis, am liebsten würde er das Bild pfänden, einmal ist Mutter in ihrem verschlissenen Regenmantel gegangen, um seine Ausstellung zu sehen, die erste in ihrem Leben, wer hat denn Zeit Ausstellungen zu besuchen, wenn einem der Mann im Sterben liegt, „Der malt nur Fleisch in Metzgereien“, sagte sie skeptisch, als sie zurückkam, „Der Arme war immer hungrig“, „Wer hat’s, der hat’s“, sage ich zu meiner Mutter, die schon seit zehn Jahren verstorben ist, ich durchwühle Mutters Schubladen auf der Suche nach schwarzer Wäsche, schwarz erregt mich, die Huren aus den Romanen sind immer in schwarz, oder in rot, aber rot tragen wir nicht, wir, Slavica, schwarze Strümpfe ja, Strapse ja, schwarze Unterhöschen gibt es leider nicht, auch nicht schwarze Büstenhalter, Höschen gibt es überhaupt nicht, nur weiße Unterhosen bis zum Nabel und die mit Bein, hässliche Dinger, aber Mutter will nicht anziehen sondern abstoßen, in tiefster Seele ist sie immer noch Nonne, obwohl sie mit der Kirche gebrochen hat, Höschen und Büstenhalter improvisiere ich aus schwarzen Tüchern aus Seide und Tüll, die Mutter auf Beerdigungen trägt, schwarze Strümpfe und Strapse hat sie ebenfalls wegen dieser Beerdigungen, und nicht damit Mutter mit ihnen Vater verführt, durch das Tuch aus Tüll sieht man meine Brüste, schon große, hervortretende, was verlockend wirkt, manchmal binde ich sie so, dass sie ganz durch die Binden hervorlugen, sie sind vom Binden vorgestreckt, richtige Hurenbrüste, sie treten hervor, einen lüsternen Mund lockend, aus dem Seidentuch improvisiere ich die ersten Tangas, hinten, auf dem Hintern bedeckt das Tuch meinen After, König. relations 2009.pmd 22 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Marina [ur Puhlovski vorne die Klitoris, in die es einschneidet, dann Strapse, dann schwarze Nylons, beide leider ohne Spitze, auch Spitzen sind für Huren, dann schwarze Schuhe mit hohen Absätzen, ebenfalls von der Mutter, ich trage noch flache, so herausgeputzt spiele ich vor dem Spiegel alles, was mir geschieht, wie sie mich und wo anfassen, beißen, herumzerren, ich beuge mich, spreize meine Beine, knete mich, die Entwicklung des Geschehens murmele ich in einer nicht existierenden Sprache, sinnlose Wörter mit Akzenten, englischen, französischen, deutschen, italienischen, eine Ursprache, wie sie vor dem Abriss des Turmes von Babylon war, als sie zerfallen ist, so dass man seitdem alles übersetzen muss von einer Sprache in die andere, vom Lecken ins Leere, denn die Sprache des Nirgends kann nichts begreifen, nur das Schweigen begreift, doch wer kann schon schweigen, alle wollen nur reden, reden und übersetzen, Jahre des Paukens, damit man etwas schon gesagtes sagt, als ob wir sowieso nicht zu viel quatschen würden, wem’s gefällt, wir vergeuden unsere Zeit nicht, ich befummele mich überall, wo ich mir vorstelle, dass sie mich befummeln würden, ich küsse meine Arme, Brüste, wenn ich schon feucht und verrückt vor Lust bin, wechsle ich auf den Stuhl, wo ich mit gespreizten Beinen sitze oder ich werfe mich auf die Couch, Mutters, nie Vaters, wo ich komme, indem ich mir die Hand zwischen die Beine stecke und sie fest zudrücke, nur ein Zudrücken fürs Kommen... ...Und darin liegt die Pointe, weiß ich heute, einst wusste ich es nicht, darüber habe ich nicht einmal nachgedacht, was von Bedeutung ist, nach Vergessen wird gesucht, nicht nach Erinnerung, ich bin gekommen, aber meine Figur nicht, die kleine Tippse wird nie kommen, auch nicht die Hure im Bordell, auch nicht die Frau relations 2009.pmd 23 des Geschäftsmannes, die dem Mafioso ausgeliefert wurde, auch nicht die Sklavin des Heerführers, auch nicht die Odaliske aus dem Harem, auch nicht die Jungfrau, auf die sich schreiend der Pharao geworfen hat, eine von zehn, die er eine nach der anderen in den halbdunklen Räumen seiner wolllüstigen königlichen Unterwelt entjungfern wird, verglichen mit den einstigen Lüstlingen sind die heutigen nichts, lehrt uns die Geschichte, auch nicht die kleine Jüdin, die zum Vergnügen deutscher Soldaten mitgebracht wurde, die in der Straßenbahn, während sie sie ins Lager geführt haben, einer der Wächter unten gepackt hat, „Verglichen mit dem, was dich dort erwartet, ist das nichts“, erklärte er ihr, nach einem Weg suchend, sie an Ort und Stelle flachzulegen, ich erinnere mich noch gut an diese Szenen aus den Büchern, obwohl wir langsam schon vergessen, die Dinge verlieren ihre Namen auf unserem Weg zum Tod, sie kommen nicht, weil sie vergewaltigt wurden und da gibt es kein Kommen, nur Qual und Abscheu, Ekel, Hass, Misshandlung des Körpers, nichts ohne Zustimmung, die hier immer ausbleibt, wenn der Chef weggeht, bleibt die kleine Tippse wie angepinkelt zurück, verwandelt in nichts, ein alter Lappen zum Bodenwischen, im sparsamen Haus, im verschwenderischen benutzen sie neue, sie bleibt ohne Wonne und Traurigkeit, in völliger Leere, da sie vergewaltigt wurde, da ist das Grundlegende, diese Einblidung, in der ich ewig vergewaltigt bin, erniedrigt, vernichtet, in der ich das Opfer, das Ding bin, es gibt keine Diskussion darüber, ob ich bin oder nicht, ich bin ein Ding und fertig, das ist meine Vorstellung von mir und meinem Geschlecht in meinem dreizehten Lebensjahr, die sich bis heute nicht geändert hat, obwohl ich nie vergewaltigt wurde, wenigstens nicht ohne meine Zustimmung, vergewaltigen 23 kann euch auch der, den ihr ranlässt, so wie mich mein erster Mann vergewaltigt hat, Pele, als er mich entjungfert hat, ohne dass ich etwas gespürt habe, außer Widerstand und Schmerz, und auch später nie etwas, nur das Verhindern, dass er ihn mir zu tief hineinsteckt, denn das tut teuflisch weh, und so blieb es all die Jahre, bis ich ihn losgeworden bin, ihn einer anderen übergeben habe, die hat ihn im Kaffeehaus gefunden und mitgenommen, angezogen von seiner Krankheit oder hat die Krankheit sie wahrgenommen, wie sie mich wahrgenommen hat, die Krankheit hat gewählt, nicht sie, nicht ich, die andere Frau ist auch mit einem Kranken groß geworden, einem kranken Bruder, sie war von Krankheit umgeben, von vornehin Opfer, sie nahm ihn zu sich mit und rettete mich vor seiner Rückkehr, die vor dem Winter unausweichlich war... ...Und ein Opfer bin ich vermutlich, um nicht schuldig zu sein, weil ich das tue, was mir verboten ist und was der Niedergang ins Böse ist, überlege ich immer noch ans Fenster gelehnt, ich, die Siebenundfünfzigjährige, stecken geblieben in ihrem dreizehnten Lebensjahr, wer weiß schon warum, ja, ich bin böse, aber so bin ich, weil ich angegriffen wurde, sie nehmen mich gefangen, vergewaltigen mich, widersetz dich da mal, was kann schon ein Mädchen, das zum Pharao geführt wird, damit der es knallt, es kann absolut nichts machen, aber ich bin trotzdem schuldig, weil ich genossen habe, die kleine Tippse hat keinen Augenblick lang genossen, ich aber schon, ich komme jedes Mal, ich verpasse es niemals, ich bin schuldig und ich bin nicht schuldig, wer soll sich da schon zurechtfinden, vor allem mit dreizehn Jahren, auf der einen Seite hast du ein Loch, damit sie es dir tun können, wenn du unten flach und zementiert wie Barbie wärst, würden sie sich nicht 14.4.2009, 20:30 24 RELA Januar in dich drängeln, der Phallus des Pharao geht nicht in Stein hinein, sondern in ein feuchtes Loch, das für ihn auch geschaffen wurde, auf der anderen Seite Regeln über die Besitzergreifung dieses Loches, wann, mit wem, auf welche Weise, alles streng vorgeschrieben, Natur und Gesellschaft im Konflikt, immer der Konflikt, und die Dinge sind noch komplexer, auch mit dir selbst kannst du nicht ohne Schuld genießen, wenn alles vorbei ist, erscheine ich im Elternzimmer wie Gott mich schuf, verschwizt, keuchend, mein Fleisch ekelt mich an, rundherum Mutters Sachen, die ich in meinen Orgien geschändet habe, zerknittert, verschmutzt, man muss sie lüften, noch immer habe ich Angst vor Vaters Porträt, als ob mich von ihm aus mein Vater ansehen wird und nicht seine Vorstellung, wenn ich es seiner Abdeckung entledige, wenn ich mich in meinem Zimmer vergnüge, schrecke ich auch vor dem Kanarienvogel zurück, so dass er auch unter ein Tuch kommt, wo der Arme schweigt, auch den Hund werfe ich aus dem Zimmer heraus, damit er nicht sieht, was ich mache, da hast du den Genuss, panisches Aufräumen der Requisiten der Unzucht, in Angst, dass mich diese Sachen verraten werden, dann wieder schwören, dass ich das „nie wieder tun werde“, wie bei dem Abschied bei Nata{a, obwohl ich weiß, dass ich es tun werde, dass ich mich nicht widersetzen werden kann, das Leben mit diesem Geheimnis, das nie sicher ist, die Erde schwor dem Himmel, dass alle Geheimnisse herauskommen, droht ein Sprichwort, Frieden lediglich in Bezug auf die Frage, ob ich „eine Hure werde“, wie mir Sonja prognosiert hat, „Wirst du nicht“, antwortet das Buch, das mir meine Mutter besorgt hat, das mit schwarzem Einband und vergossenem Menstruationsblut, „Geschlecht, Liebe und Ehe“, von dr. M. Ko{i~ek, ein kompilatorischer Mischmasch, relations 2009.pmd 24 wie ich nachträglich dahinterkomme, als mir aufgeht, was was ist, „das, was du tust, ist kein Herumhuren, sondern Onanie, und das machen alle“, sowohl der Vater als auch die Mutter, atmete ich auf, oder sie haben es in ihrem dreizehnten Lebensjahr getan, was ich mir nicht vorstellen kann, die Mutter entschieden nicht, schon mit dreizehn hat sie an Altären herumgehangen, was nicht mit Onanie in Einklang zu bringen ist, mit Wichsen, was meine Tochter angeht, so weiß ich nicht, was sie in ihrem Zimmer tut, nicht früher, nicht heute, und ich will es auch nicht wissen, wer würde es ertragen, dass dein Kind ein Wichser ist, alle sind Wichser, nur dein Kind nicht, weder dein Kind, noch deine Mutter, auch du bist kein Wichser, lüge ich mir ins Gesicht... ...Es war anders, als man nachts lesen konnte, erinnere ich mich, noch am Fenster, in nichts schauend, am Tag und in der Nacht in ein Buch eintauchen, auf Brioni habe ich meine eigene Bücherei, denn diese besucht niemand außer mir, rundherum Pinien, die Bibliothekarin döst vor sich hin und ich sitze an einem Buch wie der absolute Herrscher der Welt, nach der Rückkehr nach Zagreb muss ich die Bücherei teilen, aber sie fühlt sich auch weiterhin privat an, meine und niemandes sonst, der Besuch in der Bücherei ist das Tagesereignis, Bücher von den Regalen nehmen, in ihnen blättern, sie riechen, nach Hause mitnehmen, wobei sie dich unter dem Arm wärmen, als ob sie lebendig wären, die Wärme des Geistes strömt aus diesen Büchern, so dass ich ganz seelig bin, es sich zu Hause mit ihnen auf dem Bett bequem machen, wie mit einem Liebhaber, umringt von Keksen und Obst und so tagelang bleiben, nur ich und die Bücher, wir brauchen niemanden, wir haben alles, was wir brauchen, das Sein singt für uns durch die TIONS Schönheit, nur für uns, für unser privilegiertes Ohr, wir weinen mit dem Sein und wir lachen mit dem Sein, wenigstens glauben wir das, nicht unsere Dummheiten, Lachen und Weinen des Universums, keine Menschenseele, um uns zu stören, um uns für nichtig zu erklären, nirgendwo das Verdammen des anderen, ich bin eine Fliege auf der süßen Sahne, die aus lauter Genuss so sehr mit den Flügeln geschlagen hat, dass Schlagsahne entstanden ist, wie es in einem Film hieß, Burton und die Taylor, also erstickte die Fliege, die Bücher sind auch weiterhin da, aber sie sind zu nichts nutze, welche auch immer ich öffne, es erwartet mich mit einer Reihe von Buchstaben ohne Bedeutung, nur Stolzieren, Vertuschen, dass du nirgendwo bist, ein fernes Erinnern, was sie einst waren, süße Sahne, bis sie uns erstickten, ich gehe noch manchmal in die Bücherei, drehe Bücher in den Händen herum, blättere in ihnen, dann stelle ich sie in die Regale zurück, ich nehme nichts nach Hause mit, wozu sie nach Hause tragen, wenn sie sich nicht lesen lassen, wenn sie herumliegen, wie geruchlose Leichen, ein Leben, dargestellt, wo keins ist, als ob es da ist, als ob es nicht nur ein Traum ist, aus dem du nicht aufwachen kannst, weil du nicht weißt, wie, weil du denkst, dass du wach bist wie ich in dieser Nacht, nur weil dein Körper aufgewacht ist, er ist eingeschlafen und aufgewacht, was gar kein Aufwachen ist, ich in meinem Körper bin nicht aufgewacht, ich träume auch weiterhin dieses Leben, ich lebe es nicht, sondern träume es, ein Drittel des Tages betrunken, weil ich nicht weiß, wie ich aufwachen soll, mich aus dem Traum herausziehen soll, sage ich der Nacht auf der Straße, die nicht schwarz ist, denn die Nächte sind immer erleuchtet, wenigstens in der Stadt... Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 14.4.2009, 20:30 str. 25 26 RELA Februar TIONS IVAN ROGI] NEHAJEV (1943, Lukovo) arbeitet nach dem abgeschlossenen Studium der Psychologie, Soziologie und Philosophie zunächst am Urbanistischen Institut Kroatiens. 1989 übernimmt er den Lehrstuhl für Urbanismus an der Architektonischen Fakultät in Zagreb. Er ist Mitbegründer und Direktor des Ivo-Pilar-Instituts für Gesellschaftsforschung (1991), wo er heute als wissenschaftlicher Beirat tätig ist. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, Studien und Bücher aus dem Bereich der Soziologie und des Urbanismus hat er unter seinem Namen Ivan Rogi} veröffentlicht. Nicht allein der Umfang, sondern auch die Qualität seiner Schriften machen Rogi} zu einem der führenden Essayisten im Bereich der allgemeinen Kultur- und Gesellschaftsproblematik. Wenn er jedoch als Dichter das Wort ergreift, publiziert er unter dem Namen Rogi} Nehajev. Seine erste literarische Veröffentlichung ist der Gedichtband Vorwort („Predgovor“) aus dem Jahr 1969, der bereits ein charakteristisches poetisches Modell erkennen lässt. Thematisch spannt der Dichter einen weiten Bogen von der Erotik bis zur Natur, wobei vornehmlich die Landschaft des Mittelmeerraums gemeint ist. Bereits in dieser ersten Gedichtsammlung wird der verspielte Umgang mit Sprache sichtbar, die durch die Verwendung von Neuschöpfungen und Archaismen geprägt ist. Oft gibt allein der Klangeffekt von Lautzeichen, Wörtern oder Wortfolgen den Ausschlag. Rogi} Nehajev spielt mit Worten, indem er sie wie Klänge und Bilder behandelt. Er beteiligt sich am zeitgenössischen literarischen Diskurs, zumal dem poetischen, während er andererseits auch seiner literarischen Tradition verbunden bleibt. Sein dichterisches Schaffen offenbart zunächst einen postmodernistischen Hybridcharakter; später wird Rogi} Nehajev zu einer eigenständigen, oftmals hermetischen Ausdrucksweise finden. Generationen von Poesieliebhabern schätzen seine dichterische Thematisierung von Motiven wie Frau und Eros, Sexualität und Begierde, Lüsternheit und Leidenschaft (Maras Krone – „Marina kruna“, 1971). Auch seine Gedichtsammlung Gedichte über Namen, Frauen und anderes („Pjesme o imenima, `enama i drugom“, 1985) hat unter Kennern der Dichtkunst Kultstatus. Im Rausch der Leidenschaft ist, so die Sicht des Dichters, der gesamte Kosmos enthalten. Während des kroatischen Unabhängigkeitskriegs (1991-95) sowie in den Nachkriegsjahren entstehen Zyklen von Kriegsgedichten oder besser: Aufzeichnungen an der Grenze von Poesie und Prosa (Schieß und zünde eine Kerze an – „Pucaj i u`e`i svije}u“), in denen der Dichter „lernen muss, wie er mit dem bitteren Geschmack so vieler Tode im Mund weitermachen soll“. Eine kritische Ausgabe mit insgesamt sechs Gedichtsammlungen Rogi} Nehajevs erschien 1999 unter dem Titel Mediterran, zum siebten Mal („Sredozemlje sedmi put“, 1999). 2005 wurde der Autor mit dem Literaturpreis für dichterisches Schaffen „Goranov vijenac“ geehrt. Sein jüngster Gedichtzyklus ist angeregt durch die Glagoliza, die älteste slawische Schrift, die unter den Kroaten bereits vor mehr als tausend Jahren in Gebrauch war. Heute ist sie fester Bestandteil des kulturellen Erbes, der mit Stolz erneuert und revitalisiert wird. Jede Letter stellt dank ihrer spezifischen Form, die sowohl Symbolcharakter als auch ästhetischen Wert besitzt, eine Herausforderung an den Dichter dar, nicht nur im assoziativ-meditativen Sinne, sondern auch rein kognitiv, indem er nämlich der Frage nachgeht: Was kann ein des Lesens und Schreibens kundiger Mensch, der vor vielen Jahrhunderten lebte, heute über uns aussagen? relations 2009.pmd 26 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ivan Rogi} Nehajev 27 Auszüge aus dem glagolitischen Fundus Ivan Rogi} Nehajev a A Z ‡ (A) und, schau, zum dreizack verband die hand sich mit zweiblättriger lymphe sag nicht: die armen meeresgötter, müssen denn ausgerechnet sie zu opfern eines werkzeugraubs werden, eines schnöden in uskokenart, eher gilt (suchte man nach einem willen): das meer hat es so gewollt, der sorglose zwilling der lymphe: dort drüben, und hier leuchtet es einem schiff unbekannter herkunft entgegen, unglücklich, weil es sich mit dem abfall kosmischer doppellaute teilen muss den glanz jener in sich befangenen kugel, jedoch freudvoll, weil die einsamkeit, die ach so lange, endlich endet im blauen widerschein, wo durch woge und maschine sich glücklich verbinden die heiterkeit der heiteren und die schönheit der sterblichen; und mit der vergessenen pünktlichkeit einer goldenen laune wiederholte es (das meer): es verdient diesen dreizack jener unbekannte niemand, der beheimatet ist in der schrift; und, schau, zum dreizack verband die hand sich mit zweiblättriger lymphe niemand war in der nähe, als das erste eigenständige zeichen in den aufrechten rachen einen selbstlaut stülpte, gemäß der himmlischen ordnung im recht auf einatmen/ausatmen, um sich selbst kreisend durch heißes schauern und die vielzahl fremder zwischen seinen beinen, jener blaue feuerstein, das golden komprimierte ur-, jenes lagerhaus der heimaten; niemand war in der nähe, einzig der mund öffnete sich freigebig, den rhythmus vorgebend dort in den steppen der schenkel, in den grabkammern des hirns, wo das jenseitige, kurzsilbig zusammengefasst, hineinwächst in die königliche weite der haut, in den ozonzauber der frauen, wo das du, das ich, und wieder das du, abstammend von der grundlinie, von der zarten haut der lymphe keimt, wohin es nie endend strebt: in das A der asse, in den azurnen dreizack relations 2009.pmd 27 14.4.2009, 20:30 28 RELA Februar E E S T ‡ (E) und als nibiru tiamat traf: jene geflügelte kugel, geprägt von der 12, jene andere kugel, welche wiederum ungeflügelt, aber angefüllt mit wasser, war das ein billardspielpunkt ohnegleichen, berichteten begeistert die sumerer, die propheten an alter übertreffend, so schön ist es, wenn die götter geistreich sind und die liebe jung, ergänzten sie noch, indischen feigenmost trinkend und sich in frauen ergießend; aber jene dritte kugel, eigentlich ein kügelchen, ohne umlaufbahn, sie macht uns traurig, unser mond und als ein fremdling, angeblich nefil, eher: der aus der schrift abstammende, die augen schloss angesichts dieser gebündelten kohleglut, lärmumhüllt, erneut dieser sternenabfall das auge, ertönten erneut anstößige geschichten über die ersten, auch über das arme volk, in seiner hässlichkeit jenseits allen mitleids, da schnürte es ihm die kehle zu, gerne stieße er hervor: was schert mich euer gott, doch scharf, von oben gebietet es ihm einhalt: seine unbekannte herkunft erlaubt ihm keine garstigkeit über andere, könnte er doch selber einer von ihnen sein, wirklich gutes billard, bekannte er ungefragt, und jene dritte kugel, eigentlich ein kügelchen, die schrift möge sie bewahren, unseren mond und als ein ami mit kindlichem lächeln, das vielleicht geborgt war nur für diesen anlass, denn wer würde sonst sagen: armstrong, zum schritt ansetzte auf dem grauen bildschirm, provisorisch bezeichnet als mondoberfläche, war es wenig wahrscheinlich, dass ihm an jener glagolitischen letter in form einer glänzenden sichel wichtig war jener scheinbar schräge, scheinbar messerscharfe doppelstrich, ähnlich dem doppelstrich unter einer rechnung für essen/trinken in der kneipe, der königlich souverän die weiten ovale zähmt; doch, man sah es gut, entspannt stützte er sich auf ihn schon beim ersten schritt in den grauen bildschirm wie auf den wichtigeren teil eines antriebsgeräts, übernatürlich sicher, dass alles gut gehen würde, gerade wie einstmals der gottesdiener auf dem ararat, eingebettet in die handschrift der ersten gezeiten, geradeso wie ich übrigens, im nullten ringkampf um luft und wasser im jahr einundneunzig, ich weiß nicht, hat es ihm jemand gesagt: man bewahrt sie in der schrift, diesen doppelstrich, diesen mond relations 2009.pmd 28 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Ivan Rogi} Nehajev I I (I) ich biete eine wette an dem, der will, wenn auch leider ohne aussicht auf den glücklichen ausgang in der bank (wie so viele meiner anderen wetten): cézanne gefiel die glagoliza, paul, der in apollinaire oft den gedanken an pascal hervorrief, wie liebte er: offen, insgeheim, ich weiß es nicht, aber ich bin sicher: liebe war mit ihm spiel; betrachtet man für nur einen augenblick die linie zwischen lebenden und nichtlebenden, jene launenhafte und doch schöne linie, wobei die hand, sie begleitend, sich zu klarheit verpflichtet (geradeso wie cézannes hand), kann man denn die ablagerung jenseitiger spuren in den leichten formen der geometrie, dem einatmen/ausatmen verwandten, von der linie vertreiben? wohl ahnend, wie es darum stand, ist cézanne, offenbar ein mystiker ohne magengeschwür, geradewegs in die provence aufgebrochen, nach aix, ach was, nach x, lieber stelle ich mir vor: er nahm das vinodol1 schräg unterhalb des velebit dorthin mit, wo die sonne leichter brennt, und dort fuhr er fort, mit der hand eines unbekannten niemands der glagoliza eine neue letter anzufügen mit neuer geste, wo ein dreieck weich verwächst mit einem kreis; diese versuchsweise vervielfältigung weicher verbindungsglieder zwischen unendlich weiten nullen stieß aus ein unbekannter jemand, selber unendlich weit entfernt, ein vorfahr längst abgeschrieben, mit mir zum paar verbunden durch ein übermütiges i2, i auf i, i gegenüber i, i durch i, im ikavischen eine menge arbeit, bis ans ende der welt relations 2009.pmd 1 Ebene nordwestlich von Novi Vinodolski (Nordadria) am Fuße des Velebitmassivs (Anm. d. Übers.). 2 Kroat. i = und (Anm. d. Übers.). 29 14.4.2009, 20:30 29 30 RELA Februar S S L O V O (S) oben, über der dreispitzigen strenge einer pyramide, oder etwas ähnlichem, das an ähnlichem sich erbaut, also oben, darüber, nirgendwo sonst ergänzt man den entwurf des himmelsovals: es tröste sich der schlafende, vielleicht entschlafene, dort im kern, von wo aus man, angeblich, den ausgang nicht gut sieht, er tröste sich wenigstens mit einer besseren sicht auf sirius, venus: jene ersten frauen, achtlos verstreut in der liebesnacht der ersten mitlaute, aber auch auf anderes, das sich durch reiben von haut blau entflammt, verlautet der wächter vom rande der schrift, die kommata spitzend, die punkte rundend, es ziemt sich, den entschlafenen im grab zu trösten mit der ovalen kontur einer tür, und sei es auch ein O wie in ozon ooooo wer hat gesagt: staub zu staub, als würden herzen verteilt in unraa-paketen aus den fünfzigern, mit milchpulver und anderem pulver, eiern und all dem zeugs, ich war dort, merkt an der wächter vom rande der schrift, die kommata spitzend, die punkte rundend, für einen augenblick war die mit dunkler last belandene schwerkraft auch den ahnen klar, ja ihnen gewogen: gleitend durch das O wie in ozon, oben, darüber, nirgendwo sonst, verpflichte ich meine lungenflügel mit der parabel des zugwinds, atme, blut, nicht kehrst du zurück zum monoxyden X, das schlangenförmige S ergänzt sich froh zur ergänzung und entfacht die kapazität der lungenflügel, bei mir, bei dir, murmelt der wächter vom rande der schrift, die kommata spitzend, die punkte rundend, atme, blut relations 2009.pmd 30 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Ivan Rogi} Nehajev U U K ‡ (U) schreib, so sprach zum wächter der schrift der sumerische baumeister, wie ein esel betrunken, es fehlen zwei eier an jedem keil, schreib also doppelt: eine feste vier, zweimal die kerbe, zweimal ins denken versunken schreib, so sprach zum wächter der schrift der barhäuptige cheops, ägyptens pracht, es fehlen zwei eier an der spitze der mündung, schreib also doppelt: eine feste vier, der nil hat nicht macht, er hat übermacht schreib, so sprach zum wächter der schrift der gotische wanderer, der die märchen bevölkert, es fehlen zwei eier an jedem X, schreib also doppelt: eine feste vier, damit füllig die eckige rune sich mehrt schreib, so sprach zum wächter der schrift pissend der haarige meister der trockenmauer, es fehlen zwei eier in schlummernder mündung, schreib also doppelt: eine feste vier, sonst wird meine holde nymphe noch sauer schreib, so sprach zum wächter der schrift lachend der priester, am wegrand ruhn’d, es fehlen zwei eier in jedem schoß, schreib also doppelt: eine feste vier, zu zweifacher aufnahme: in uterus und mund relations 2009.pmd 31 14.4.2009, 20:30 31 32 RELA Februar O TIONS o n ‡ (O) was brachten die veden, was der schweiß dieses und jenes kummer, was sonst du hast keine wahl: schreibend bist du schrift, und in der zweistadt1 entzweit der weg sich zweibahnig steigend mit zweibogigem schwung, im paar also ein paar, paarzeichen, von geschwungener lippe schwingen ringe sich hinauf, wiederhole: schreibend bist du schrift; pssssst: belohnt werden die überlebenden, nur sie, jene gemächigen spiralen, jene voluten zwischen null und null, wenn die zeit kommt, und sie wird kommen, wird es keine zeugen geben zu deinen gunsten, im paar also ein paar, paarzeichen, wird die lunge überallhin ausdehnen, die zweistadt, was sonst asien etwa? schmaler als eine zeile und von ausgesuchten schrecken, und afrika? diktiert vom asthma des digitalen dogmas, andere kontinente? spiel nicht verrückt, wer hielte ernsthaft noch die rauheit der jahreszeiten in den taschen galaktischer ovale für den geeigneten raum, um raum zu krümmen; du hast keine wahl: schreibend bist du schrift einatmen ausatmen zweiwegigkeit ordnet dich lebenden und noch lebenden zu, und tote gibt es nicht, das fehlte noch, mörder ohne arznei zählen nicht, die zweistadt, was sonst was brachten die veden, was der schweiß dieses und jenes kummer, was sonst 1 Anspielung auf das mittelalterliche Städtchen Dvigrad (wörtlich: Zweistadt) in Istrien, das sich mit zwei parallelen Stadtkernen auf zwei benachbarten Hügeln entwickelte. Seit dem 17. Jh. verlassen (Anm. d. Übers.). relations 2009.pmd 32 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ivan Rogi} Nehajev D D O B R O (D) lasst euch nicht verwirren durch zwittrige kiefern, welche ringen in geradlinigem wuchs: sie sind aus der ära der stille, als die wesen nicht der rede mächtig waren, sondern nur reichten dieses dahin, dorthin, ohne erinnerung an roten süden noch weißen westen, vielleicht satte strahlen in goldener unendlichkeit, mal leichte, mal grobe nähe, das ja; auch in der liebe liebte man nicht mit küssen flink aus dem nirgendwo, ins weite dahingestreckt lag sie hier, da ähnlich rauer haut an bestimmten stellen und dann wandelten die wandel, was des wandels ist und die kiefern zählte man nicht mehr zu den ahnen und es musste sich die bahn zwischen diesem, jenem von rechts du, von links ich, sie musste sich, das bezeugt auch jener letzte priester der zweistadt, der in der schrift beheimatet ist, musste sich zum bogen krümmen gemäß der parabel des azurs, dann das aufgequollene zerteilen, die ballen verbinden mit hohem bogen – so viel schmerz quoll auf ohne genaue stelle, färbte sich blau; vielleicht hoffte er insgeheim, er würde einmal nur noch aufrecht wachsen und pfeil sein zum gedenken an die kiefern und an feuerstein, und so strebte er nach oben, aber um die schrift, in die er sich einprägte, und was sie pflichtgemäß verbirgt, wusste er nicht diese bahn, dieser bogen; ließ sich blind nieder zwischen den ovalen, an den enden kurz, im bogen lang; dass man gerade diesem zeichen die hypothek des guten aufbürdete1, weiß denn das dieser letzte nachfahr der zweistadt, weiß denn das überhaupt jemand 1 relations 2009.pmd Die Bezeichnung der Letter ŠDobro’ bedeutet Šgut’ (Anm. d. Üb.). 33 14.4.2009, 20:30 33 34 RELA Februar V TIONS v e d e (V) mögen die veden dich durch die zweistadt führen, trotz ihrer trefflichkeit sind sie kein vorbild an klarheit, weniger noch ein fingerzeig des zeigefingers, zu erahnen ist kein wurf aus ihrem herzen hinauf in das schauern aus azur, doch sie wissen ihr wissen besser, stehend in symmetrischer haltung zwischen so vielen irrtümern: dort, im nirgendwo, ist ein ort, an dem sie stehen gleichermaßen alt, gleichermaßen neu, jene zeichen ohne herkunft, die mich mehren mit heimatlicher fürsorge, mögen die veden dich durch die zweistadt führen, wenn rede kullernd, gurgelnd dir aus noch gepresster kehle weicht, mich lass beiseite, sagt der geflügelte priester, die voluten morgendlicher güte hinuntergleitend, gib dem leib, was du in reserve hast, es wird besser sein bei jedem übergang ins jenseits, merkt an der priester, schon frosch geworden vielleicht reicht es ja auch nicht zu sagen: um die eichel des schwanzes schmiegt sich diese letter, jenes zeichen, das ohne vorzeichen nicht auskommt (das rig, allein, und so fort), doch noch halfen westen und süden: der westen hob die kugeln seitlich an, der süden zog den rest nach unten, sodass des schreibers hand genau erkennen konnte, wie sie über diesem erstlingsstück, bei dem niemand weiß, was daran heimatlich ist, sich aber zwischen den zeilen abzeichnet, wie sie genau ausholen sollte; merkwürdig, keinerlei befehl gab es weder am anfang noch später, obwohl man zu ähnlichem anlass jemanden passenden erwartete (einen herrischen, einsamen), merkwürdigerweise ist da niemand, nur dieser erstling vermehrte sich zwischen den zeilen, unbekümmert fröhlich, und je mehr zeilen es gab, desto mehr gab es auch von ihm zwischen den zeilen relations 2009.pmd 34 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ivan Rogi} Nehajev L LJ U D I E ( L ) mut muss man haben und mit drei kleinen kugeln ein dreieck skizzieren und sagen: schau, menschen1; gut, die zeit der menschen ist vorüber und es ziemt sich, sie zu versammeln wie zu beginn einer billardpartie ein guter stoß mit dem queue wird ohnehin kein wunder entfachen, man kann sagen, wie vormals auch, des stoffes traurigkeit erlaubt es nicht, aber besser ist es, auf den idiotismus der kugeln zu setzen nun, was hat damit diese letter zu tun, eine neben vielen anderen: sie soll wörter hervorbringen, nicht vernichten, sprach man schon damals – als man diese lettern aussprach, und insbesondere die liebe, die an sich schon so unstete, wie edelgase oder etwas anderes unheilbar edles jenes eine jung ist das herz, jung die glagoliza, das heimatliche in der schrift wettet auf die schrift, was denn sonst, die zeit der menschen ist vorüber – soll man es beklagen, ohnehin waren sie schlechte schreiber und noch schlechtere leser, aber drei kreise im dreieck sind vielleicht noch eine warme spur jenes eine, das hier österliche läuterung Aus dem Kroatischen von Silvia Sladi} 1 relations 2009.pmd Die Bezeichnung der Letter ŠLjudie’ bedeutet ŠMenschen’ (Anm. d. Üb.). 35 14.4.2009, 20:30 35 36 relations 2009.pmd RELA Februar 36 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 37 38 RELA März TIONS RATKO CVETNI], Publizist und Erzähler, veröffentlichte 1997 Ein kurzer Ausflug („Kratki izlet“), einen Roman, der zu den besten Werken – für viele ist es das beste Werk – der kroatischen Kriegsliteratur zählt. In Ein kurzer Ausflug zeigt sich Cvetni} als ironischer und sozial bewusster Erzähler, der zugleich kritischer Essayist ist. In seinem Erzählwerk zerbrechen Schicksale von hoch-individualisierten Figuren, die sich dem Mechanismus der – in Kriegssituationen so häufig vorkommenden – kollektiven Identitäten und Manifestationen der Massenpsychologie verweigern. Der neue Roman von Ratko Cvetni}, mit dem Titel Halbschlaf („Polusan“), thematisiert Zagreb gegen Ende der 80er Jahre, in einer Zeit der Auflösung des sozialistischen Systems und des Entstehens neuer wertlicher, politischer und ideologischer Modelle. Die Hauptfigur in Cvetni}s Roman ist der siebenundzwanzigjährige Jura-Absolvent Vjekoslav Modri}, durch dessen Erzählprisma in der ersten Person wir die dargestellten Ereignisse verfolgen. Seine Charaktermerkmale sind gleichzeitig die Merkmale des Erzählers: Es handelt sich um einen ironischen und selbstironischen Erzähler, der dazu neigt, die Wirklichkeit aus der Distanz zu beobachten und sie zu beschreiben. Die zweite Hauptfigur ist Hrvoje Modri}, Vjekos Cousin und Altersgenosse, der durch seine Lebensart die antagonistische Position im Verhältnis zur „Lebenseinstellung“ der Hauptfigur verkörpert. Durch abwechselndes Erzählen der Ereignisse aus ihrem Leben in einem Rahmen von eineinhalb Jahren wird das Bild von Zagreb und von Kroatien gezeichnet, in einer Zeit persönlicher, aber auch kollektiver kultureller Identitäten. Die Einteilung des Romans in Monate (von April des einen bis September des nächsten Jahres) ermöglicht Cvetni} eine besondere Erzählrhythmik: Im Zeitverlauf, der natürlich erscheint, verdichtet er das Erzählen in einigen Momenten – die für die Figuren maßgebend sind – zu Szenen. Vjekoslav Modri} ist auf gewisse Weise ein moderner „Picaro“, ein urbaner und intellektueller Herumtreiber, der im Laufe von einigen Jahren mehrere Arbeitsplätze wechselt und so durch den eigenen Lebenslauf unterschiedliche Aspekte der kroatischen Wirklichkeit am Übergang von den Achtzigern zu den Neunzigern zeigt – Lager-Kühlhallen, eine Kunstgalerie, das Journalistenmilieu der Tageszeitung „Vjesnik“ aus der Perspektive der Korrekturabteilung in einem Keller, ein Unternehmen im Privatisierungsprozess... Indem er seine Geschichte mit den Figuren einer Generation in einer relativ kurzen Periode verbindet, zeichnet Cvetni} das präzise Bild einer Zeit und ihrer Paradoxe. Auf der einen Seite ist die zweite Hälfte der Achtziger eine Zeit, in der die Geschichte scheinbar „ohne Perspektive aufhört“, während sich auf der anderen Seite in derselben Zeit Ereignisse häufen, die nach dem Fall der Berliner Mauer folgen: das Entstehen erster bürgerlicher politischer Parteien und eine umfassende Veränderung des politischen Lebens. Dessen ist sich Cvetni} sowohl als Autor als auch als Erzähler durch die Figur Vjeko Modri} bewusst, so dass als Hintergrund des Romans die geschichtliche und dokumentarische Wirklichkeit durchscheint. Weder ist Halbschlaf von Ratko Cvetni} ein „Schlüsselroman“, noch eine dokumentarisch begründete Geschichte, sondern es ist ein Roman, der moderne Figuren im Kontext eines geschichtlichen Moments zeigt. Man könnte sagen, dass es auf paradoxe Weise ein Nachkriegsroman ist, der die Vorgeschichte des Krieges erzählt. Der größte Wert von Cvetni}s Schreiben ist sicherlich seine Erzählkompetenz, mit der er narrative und reflexive Teile verflicht und sie an den Charakter der Figur bindet. Die „Fiktionalisierung“ der Geschichte steht hier in der Funktion des Schaffens einer überzeugenden Erzählwelt, die der modernen Variante existentialistischer Literatur nahe steht. Die erzählerische und erzählanalytische Fähigkeit Cvetni}s, die wir im früheren Roman erkennen konnten, entwickelt sich in Halbschlaf mit der Absicht, geschaffene Stereotypen zu dekonstruieren und Schlüsselbilder zu demontieren, die auf unserer Literatur-, Publizistik- und Medienszene dominieren. Cvetni}s Absicht ist es, mit subtilen Erzählmethoden die Welt aus der Perspektive seiner Figuren zu formen und nicht mit Hilfe vorgefertigter kulturgeschichtlicher Vorstellungen. Der Autor, der sich der Spannung bewusst ist, die zwischen persönlicher und kollektiver Identität herrscht, wählt Erzählsituationen, die das Anders-Sein der Hauptfigur im Verhältnis zu den Standards normalen Verhaltens bemerkbar macht. Der Hang zum sozialen Randgebiet und den Marginalisierten führt ihn zur Darstellung des urbanen Alltags und den „kleinen Geschichten“, die nicht der dominanten Mehrheit angehören. Dies macht sein literarisches und essayistisches Schaffen besonders interessant, denn er verschreibt sich einem Erzählen, in dem es auf existentielle Fragen keine endgültigen allgemeingültigen Antworten gibt, sondern nur vereinzelte menschliche Entscheidungen. relations 2009.pmd 38 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} 39 März Ratko Cvetni} Ich wachte etwa zehn Minuten vor dem Wecker auf, als der Zug aus dem Bahnhof von Ni{ fuhr, doch als ich zur Toilette wankte – vielleicht dieselbe, in der Bambi sein schapyrographiertes Manifest versteckte – vergaß ich den Wecker auszuschalten, so dass er in der Tasche meiner Armeejacke losging, die ich zusammengefaltet auf das Kopfende gelegt hatte und weckte das ganze Abteil auf, wahrscheinlich auch die zwei daneben. Ich kehrte ins Abteil zurück, in dem er in traurigen synthetischen Jamben klingelte, während die aufgeweckten Mitreisenden ohne Worte – aber natürlich nicht ohne Botschaft – darauf warteten, dass ich endlich auf den Knopf drückte. Ich ließ ihn noch eine Weile piepsen, damit sie nicht dachten, dass ich auf ihre Stimmung etwas gab, besonders nach dem Empfang gestern. Ja, liebe dunkle Freunde, euer Bleichgesicht wird euch jetzt zusammen mit seinem digitalen Terror verlassen: Ich lächelte ihnen im Hinausgehen freundlich zu, einige Minuten bevor der Akropolis kurz und ein wenig wider Willen in Sinkovac zum Stillstand kam. Sie reckten sich ein wenig, sahen mich mit stummer Missbilligung an und verschwanden erneut, eingehüllt in ihre bunten Laken wie Haustierjunge. Als ich gestern Abend versucht hatte, auf Gleis 1 mit dem Fahrschein in der Hand die Tür des Abteils zu öffnen, gelang es mir nicht, relations 2009.pmd 39 weil sie sich von innen verbarrikadiert hatten – wahrscheinlich hatten sie die Klinke und einen Haken mit einem Gürtel zusammengebunden. Das war ihr kleiner Trick, dessen Erfolgsaussichten minimal waren, wie, allgemein betrachtet, alle ihre Aussichten minimal waren. Ich hatte keine Lust, mich mit ihnen anzulegen, also ging ich sofort zum Schaffner und der rüttelte an der Tür und schlug einige Male mit seiner breiten Handfläche auf den Türgriff, als die dunklen fettigen Haarbüschel in das grelle Licht im Gang blinzelten, mischte er sich munter zwischen sie, als ob er einen Hühnerstall beträte. Erst nachdem er alle vier oder fünf in die Ecke des Abteils gescheucht hatte, gab er mir zu verstehen, dass ich hinein könne: In die Schachtel, in der mich verbrauchte Luft und ihre dunklen Gesichter erwarteten. Das erinnerte mich an den Gestank, den ich jedes Mal gespürt hatte, wenn wir im Klassenverband Josip Ranogajac besuchten, bis ihn eine Krankheit außer Gefecht gesetzt hatte. Die Ranogajci lebten in der Kellerwohnung im Hof in der Ka~i}-Straße: Eine halb debile Alte, die immer überrascht kicherte, während wir uns um sein Bett aufstellten und der Alte, Straßenkehrer am Markt Dolac, der abends mit einer Tasche voll fauligen Obsts und betrunken durch die Prilaz-Gasse wankte. Wenn er uns noch bei Josip antraf, dann schloss er mit dunkler Zufriedenheit die Tür hinter sich zu und begann einen seiner endlosen Vorträge über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, bei denen wir uns alle Gründe seines verhinderten Glücks anhören mussten. „Aber dafür kann ich jedem in die Augen schauen. Fragt eure Eltern, ob sie dem Mate Ranogajac in die Augen schauen können?“ Josip kauerte sich in einer Bettecke zusammen und wir suchten panisch nach einer Ausrede, um irgendwie entkommen zu können, während die Alte weiter dümmlich kicherte und dabei verstohlen zur Tür blickte, als ob sie am liebsten mit uns abhauen wollte. Josip zog morgens einen Pullover über sein Pyjama, über den Pullover eine Kutte und so gelangte der Gestank seiner Kellerfamilie fast unbefleckt in die Klasse. Ich roch ihn jedes Mal, wenn wir uns in der Pause rauften, und die Mädchen aus der Klasse streckten zwei Finger hoch: „Frau Genossin Lehrerin, bitte können Sie Josip in die letzte Reihe setzen. Na, weil er stinkt.“ Später machten wir unsere kleinen Grausamkeiten mit kollektiven Besuchen in der Hütte in der Ka~i}-Straße, in der Josip lag, wieder gut, gequält von einer seiner Millionen Kellerkrankheiten, und zeigten ihm die Hausaufgaben, um ihm zu helfen – wie die Genossin Pädagogin sagte – um nicht zurückzubleiben. Später, in der 14.4.2009, 20:30 40 RELA März kleinen Kaserne in Banja Luka, lernte ich diesen Gestank ganz genau erkennen – es ist der Gestank der Armut; derselbe Gestank, der mir im Eingang des Abteils entgegenschlug ist der Gestank des Ostens, der Gestank einer lebenslänglichen Karpaten-Armut. Auf der anderen Seite wusste ich, dass ich in einer solchen Umgebung die Schuhe ausziehen, mich ausstrecken und schlafen konnte, ohne dass jemand den Untergang der Zivilisation beklagen würde. Die Idee, den Zurückgebliebenen zu helfen, hatte mich sowieso schon lange verlassen. Der Busbahnhof war gleich vor dem Bahnhof. Ich hatte noch das eklige Gefühl, dass meine Kleidung steif geworden war, was immer passierte, wenn man in Tageskleidung schlief. Ich konnte mich davon und von dem Gefühl, dass statische Elektrizität den Stoff an meinen Bauch und Hüften geklebt hatte, nur dadurch loswerden, indem ich in der frischen Luft spazieren ging, indem ich mich lüftete wie eben Bettwäsche. Bevor ich hineinging, machte ich einige Runden um den Bus (die Liniennummer stand mit dickem Filzstift auf einem Stück Karton auf der Fahrerseite), schüttelte ich den Überschuss Elektronen aus den Ärmeln, Hosenbeinen und dem T-Shirt. Im Bus war niemand außer dem Schaffner, der an einem in fettiges Papier eingewickelten Börek kaute und mich beobachtete. Zehn Minuten später erschien der kräftige glatzköpfige Fahrer, bestieg den Sitz und rückte den Rückspiegel zurecht. Der Schaffner knüllte daraufhin die Reste vom Börek und dem Papier zu einem fettigen Ball zusammen und schoss alles zusammen mit routinierter Bewegung durch die Bustür, die mit einem Klappern zuging. Die Zeichnung in Hrvojes Brief war einfach, aber instruktiv. Sinkovac war in jener fatalistischen Stimmung gebaut worden, die besagte, dass es relations 2009.pmd 40 sinnlos ist, zuviel Arbeit oder Material zu verbrauchen, weil eine Macht – natürliche, militärische oder administrative Macht – sowieso früher oder später alles zerstören würde. Ende des Zweiten Weltkrieges hatten hier deutsche Truppen aus Griechenland Halt gemacht. Die besiegte, aber noch immer organisierte Armee sollte sich in langen Zuggarnituren für die Heimkehr umgruppieren, zur letzten Verteidigungslinie. Der Aphorismus des berühmten Lec: „Wer das Ziel trifft, verfehlt alles Andere.“ wurde in der RAF wahrscheinlich nicht studiert, aber die britische Schwadron hatte sich für alle Fälle genügend über die Reichweite der Flugabwehr erhoben, um beim Bombardieren der Gleise und des Bahnhofs die halbe Stadt dem Erdboden gleichzumachen und einen Großteil der Bevölkerung umzubringen. Dieses Lec’sche Verfahren nennt man in der Militärterminologie „Coventrieren“ und das niedergebrannte und massakrierte Sinkovac glühte und rauchte, völlig totgeschwiegen von der jugoslawischen Geschichte, in keine ihrer flachen Schubladen passend; die Geschichte vom Coventrieren schulde ich einem Brief von Doktor Hückstaedt, Hrvojes Mentor in Berlin, dessen Vater, Artillerie-Unteroffizier, an diesem Morgen im September vierundvierzig im Park im Zentrum von Sinkovac beide Beine verlor. Es wunderte mich daher nicht, dass der Ort auch heute noch unfertig aussieht; Häuser, ganze Straßen, waren wie eine längst verlassene Baustelle, so dass die nicht zu Ende gebrachte Arbeit schon mit Staub bedeckt war. Der Geist sinnloser Arbeit. Der Bus schlängelte geschickt durch das Netz kleiner und großer Straßen, verließ den Asphalt und fuhr auf einem Schotterweg weiter, überholte malerische Pferdewagen, die von schäbigen Ponys gezogen wurden – die auch Katastrophenopfern TIONS ähnelten – und fuhr die ganze Zeit um das Stadtzentrum herum, das sich, wenn ich mich nicht irrte, dort zwischen den Wohntürmen in etwa ein Kilometer Luftlinie befinden musste, doch immer etwas seitlich von unserer Fahrtrichtung. Für jemanden wie mich, der so wenig Erfahrung und Lust zum Herumlungern hat, stellte eine neue Stadt eine topographische Verwirrung dar. Ich bemerkte einige auffällige Gebäude und erkannte sie wieder, aber ich konnte die Punkte nicht zu einem Raum verbinden und das bringt mich in einer unbekannten Stadt an den Rand der Panik. In Zagreb kann ich mich zum ersten Mal in einem Vorortlabyrinth befinden, aber ich weiß immer in welchem Verhältnis sich das unbekannte Netz von Straßen und Abzweigungen zur Stadt steht und damit – wenn das nicht zu anmaßend ist – auch zu meinem Leben. Hier ist mir sogar der Begriff der Ganzheit unklar und ich nehme an, dass das defragmentierte Bild von Sinkovac, das ich durch das verdreckte Busfenster sah, dem entsprach, wie ein Kind die Welt sieht oder, sagen wir, ein herumirrender Hund. Nachdem wir noch zweimal die Gleise überquert hatten, verlor ich die Orientierung. „Sie haben Hisar nicht vergessen, oder?“ fragte ich den Fahrer. Ohne vom Gaspedal zu treten, sah er mich an. In den dunklen Brillengläsern sah ich meinen erwartungsvollen Ausdruck. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zur Straße. Pavle Vujisi}, in einer seiner Fahrer-Inkarnationen. „Junger Mann, glaubst du, du bist der erste, den ich in die Kaserne fahre?“ Er hielt etwa einen halben Kilometer weiter, genau bei dem Schild, das anzeigte, dass Fotografieren verboten war. „Hisar, junger Mann. Raus mit dir.“ HRVOJE kam den breiten Weg zum Kaserneneingang herab, in seiner 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} Ausgeh-Uniform, aufgerichteter, offensichtlich definierter im Vergleich zu seiner birnenförmigen Silhouette in Zivil. Sicherlich eine Folge des Gewichtsverlusts, insbesondere der unproduktiven Speckringe, die er geerbt hat von den [aguds. Die vergangenen fünf Monate sind die längste Zeit in unserem Leben, in denen wir uns nicht gesehen haben und als wir uns umarmten, spürte ich oder bildete es mir zumindest ein, dass unter diesem groben Stoff nicht mehr der weiche Junge war, den ich Zeit meines Lebens kannte. Und die Kurzhaarfrisur, ohne überflüssige Büschel, ein Crew-Cut, den er sich sicher in der Altstadt hat machen lassen, als kleines Zugeständnis an seine Kindheit, die wir uns noch einmal in der Armee gönnen. Mir schien sogar, dass sein Kopf geschrumpft war, was nach einem Jahr Armee eine ganz natürlich Folge des Zusammenziehens der zerebralen Masse war. Als wir uns in die Stadt aufmachten, auf einem Weg, der um den Hügel herum zum Fluss führte, wiederholten wir – uns ständig ins Wort fallend – alles, was wir einander in Briefen geschrieben hatten, als ob wir, bevor wir überhaupt einen Spaziergang in Sinkovac anfingen, zum Ausgangspunkt unserer Trennung zurückkehren wollten, zurück zu jener Oktobernacht auf Gleis 1 im Bahnhof. Wir tranken einen Kaffee im Restaurant des Hotels Evropa, in dem ich ein Zimmer für die Nacht genommen hatte. Eine sozialistische Lounge, aber guter starker Kaffee, den man morgens um neun von einer Kellnerin mit Oberlippenbart in orthopädischen Schuhen erwartete. Von hier aus bot sich ein Blick durch die messing- und kiefernholzgerahmte Glaswand auf den Boulevard und die Hauptstationen von Hrvojes Alltag: Kommandozentrale der Stadt, das JNA1-Gebäude, die Post, die 1 relations 2009.pmd Technikstation, in dem sie sich mit Zubehör für ihre Informatikspiele eindeckten und dort hinter dem Zigeunerviertel, in der Richtung, in der sich der Morgennebel an einem Berghang oder Waldrand verdichtete – das Polygon. Der frühlingshafte Tag legte sich auf das Tal. Dieser Himmel – aus dem vor mehr als einem halben Jahrhundert seine verschwiegene Geschichte herabgekommen war, als Maßnahme der Bedeutungslosigkeit, die jeden wahren Sinn des Krieges enttarnt, erstrahlte im Licht der erneuerten Sonne. Ein heiterer Tag, wahrscheinlich wären sich die Bewohner und Flugpiloten schnell einig geworden, dass es ein schöner Tag gewesen war, vielleicht war er genauso schön, als sich der große Arm der Vergeltung über Sinkovac ausgestreckt hatte, wie eine Panzerraupe über einen Maulwurfshügel. – Kein einziges Wort habe ich hier über dieses Ereignis gehört. Unglaublich. So ein body count und keine Erwähnung. Hückstaedt behauptete, die Bombardierung war mit den lokalen Partisanen ausgemacht, die danach in die Stadt marschiert sind. Die Luftwaffe der Alliierten war, objektiv gesehen, nie in besonderer Reichweite der Partisanen-Geschichtsschreibung gewesen. Vierundvierzig hatten sich die Flieger schon über die Rechweite der deutschen Flaks erhoben, ein paar Monate später würde sie oberhalb des internationalen Kriegsrechts fliegen – ausreichend für ein sicheres Überfliegen von Dresden und Hiroshima. Geschichte für die Mittelschule. Ich konnte mir ohne besondere Mühe diese Bomben über Sinkovac vorstellen, wie sie in ruhiger, beinahe geometrischer Regelhaftigkeit eines schweren Gegenstandes herabfielen, um in jemandes Garten einzuschlagen, zwischen Kinder, die in den Keller rannten, in einen Stall, aus dem ein irre gewordenes Rind herausrannte und die eigenen Gedärme hinter sich her zog. Im „Bokal“ hatte ich eine Frage, die sich mir auf dem Weg nach Sinkovac unbemerkt wie ein Kaugummi auf die Schuhsohle gehaftet hatte. „Glaubst du jetzt, nach fünf Monaten Armee, dass es Krieg geben könnte?“ „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Weißt du noch, was Tito uns beigebracht hat: Wir leben so, als ob es ihn niemals geben werde, bereiten uns aber vor, als würde er morgen beginnen. Ich befürchte, dass die Betonung langsam zum zweiten Teil des Verses gewandert ist. Milo{evi} weiß, dass es Tito nicht mehr gibt und das verschafft ihm einen enormen Vorsprung bei der Konkurrenz. Im Unterschied zu Markovi} weiß er auch, dass Liberalismus nicht für dieses kleine Volk geeignet ist. Kleine Völker sind wie kleine Kinder, sie kennen nur die Grundphilosophie: Wir haben Hunger, es ist kalt, wir sind nackt und barfuß, verschuldet bis über die Ohren... Serbien hat in Milo{evi} eine Lösung für die Vorbereitungsphase gefunden. Ich weiß nicht, was bei uns los ist. Ra~an hat anscheinend die Bolschewiken innerhalb der Partei zurechtgewiesen, gratuliere, aber wenn er einen hungrigen und aufgewühlten Arbeiter sieht, spricht er von der Krise der Ideologie. Wenn diese Unterschiede innerhalb Jugoslawiens unerträglich werden, ist ein Krieg sehr wohl möglich. Obwohl, ganz persönlich, glaube ich das nicht.“ Für mich waren Unterschiede ganz und gar nicht unerträglich; für mich war die Ähnlichkeit unerträglich. Ich winkte dem Kellner, damit er noch ein Soda und einen Gurken-Tomaten-Salat brachte. Das Goldene Bokal wirkte entspannend, der Wein war mittelmäßig, aber das Soda machte es milder, auch das Grillfleisch – hervorragend, obwohl etwas zu scharf JNA, Abkürzung für Jugoslavenska Narodna Armija – Jugoslawische Volksarmee. 41 41 14.4.2009, 20:30 42 RELA März für meinen Geschmack – sondern auch den ganzen Druck, den die so genannte Wirklichkeit schuf, die auch etwas zu scharf für meinen Magen war. Mitten im Kauen wischte sich Hrvoje mit der Serviette den Mund und zeigte diskret hinter meinen Rücken. „Du erinnerst dich an Miki?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich uns genähert hatte. Ja, ich erkannte ihn, obwohl er etwas runder geworden war und sein Haar spärlicher. In Zivil, im blauen Puma-Trainingsanzug, noch immer dem Jungen ähnelnd, der vor etwa zehn Jahren die Kamera und den Projektor im Keller der Volkstechnik an der D`amija2 zusammen- und auseinanderbaute. Grajfer und das Gesetz der Rampe. Er grüßte mich verhalten, als sei er nicht ganz sicher, ob ich mich wirklich an ihn erinnerte. Wir tauschten einige höfliche Kommentare über Zagreb aus und über die Zeit, die seit damals vergangen war, über den Tod der Achtmilimeter-Kinomatographie und danach gab ihm Hrvoje die Exemplare der Zeitschrift „Danas“, die ich mitgebracht hatte. Aus der Geschwindigkeit, mit der er sich entfernte, begriff ich, dass er aus diesem Grund ins Bokal gekommen war. „Er hat mir den Schlüssel eines Schrankes in der Kommandozentrale der Stadt gegeben. Unsere Zeitschriften bewahre ich lieber dort auf, als dass sie sie in der Kassette finden. Normalerweise signalisiert er mir solche Maßnahmen. „Mladina“ ist sicher auf dem Index, so wie alles Slowenische, und ich befürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, wann alles in lateinischer Schrift geschriebene an die Reihe kommt.“ Mühelos gab ich seinem Bedürfnis zu sprechen nach. In einem Brief, der in die Stille segelt, kann der Mensch die eigenen Gedanken nicht 2 richtig hören, jenes spezifische Echo, das bestätigt, dass die Botschaften am Ziel angekommen sind und er hatte das Bedürfnis, endlich von jemandem gehört zu werden, der seine innerste Sprache verstand, jene, in der der Mensch spricht, wenn er mit sich selbst spricht. Mein Bedürfnis war nicht anders, aber ich ließ ihm den Vorrang und stellte ihm all meine Geduld zur Verfügung. Eine meiner schlechten Angewohnheiten war mir dabei behilflich – ich esse schnell, „stopfe alles in mich hinein“, wie Mira gern bemerkte und dabei immer dieselbe Grimasse schnitt – so dass mich sogar, bevor ich satt war, eine besondere Dumpfheit übermannte, die signalisierte, dass das Blut in Richtung Verdauungstrakt geschossen war. In diesem Zustand konnte ich mir alles anhören, sogar Geschichten über die JNA und die Notwendigkeit, dass die Armee eine rationale Struktur und keinen administrativ-ideologischen Apparat russischen Typs haben müsse und dabei bin ich in der Lage, ganz locker zu nicken und den Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen zu befördern. „Wenn das die viertstärkste Armee in Europa ist, was ist dann die dritte – die Heilsarmee, die Schweizer Garde des Papstes?“ Ich wollte mich nicht nur auf das Kopfnicken beschränken. Meine Zweifel waren nicht von so komplexer Gestalt, sie waren eher auf die zwanzig noch was tausend Mark gerichtet: Ein Unternehmen in der Branjevina oder eine Einzimmerwohnung in Neu-Zagreb. Außerdem hatte ich noch einige literarische Ideen, die ich im Gespräch mit ihm abklopfen wollte, bevor ich mich an die Ausarbeitung machte, doch ich bewahrte meinen Teil diszipliniert für unsere morgige Sitzung auf. Ihn hatte bereits der Alkohol erwischt. „In den ersten Tagen in der Armee begann mich ein ungesundes Bedürfnis zu verfolgen – ein dunkler Wunsch, die verlorene Zeit zu überspringen. Zuerst befiel es mich im Dienst: Wenn ich doch diese zwei Stunden überspringen könnte. Dann Sonntagabend, das sind wohl die traurigsten Stunden in der Kaserne, wenn ich doch die Werktage bis zum nächsten Wochenende überspringen könnte, diesen Winter, diesen Wehrdienst... Am Ende bin ich aus diesem Wahn aufgewacht – all das ist doch meine Zeit, jede Sekunde dieser Zeit gehört ganz und gar zu meinem Leben und warum sollte ich davon etwas überspringen wollen. Mein Leben ist jetzt in diesen Stiefeln. Außerdem werde ich wohl nie wieder im Leben die Gelegenheit haben, mich mit mir selbst zu befassen und der Welt um mich herum, auf so bequeme Weise. Noch ein halber Liter wurde auf den Tisch gestellt. Das Haus hatte bemerkt, dass es mit einer ernsten Kundschaft zu tun hatte und ließ es wissen. Ich bezweifelte nicht, dass ich mich bei Kneipenschluss mit ihm über die Rechnung streiten musste und am Ende doch Kürzeren ziehen würde. Als ob er mir Recht geben wollte, riss er die Flasche an sich und schenkte beiden ein. „In der Armee setze ich den Helm auf und ich bin allein unter dieser Mütze, das heißt, in manchen Augenblicken scheint es mir, dass ich noch nie im Leben ein ordentlicheres, intimeres Zimmer gehabt habe als das unter dem Helm. Natürlich fehlt mir Mira in solchen Momenten, aber ich sehe das Leben vor uns als Gutmachung für all die Tage, die ich gezwungen bin, ohne sie zu verbringen. Ich will mit einem festen und klaren Blick in die Zukunft von hier weggehen. Er hat sich wirklich verändert. Eine Volksweisheit, die wir von unseren D`amija – eigentlich die Moschee – ehemals Museum der Revolution. relations 2009.pmd 42 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} Großvätern haben, sagt, dass man Jungen so früh wie möglich in die Armee schicken soll, damit sie „echte Männer werden“. In Hrvojes Fall scheint dieses alte Rezept zu wirken. Vielleicht hat er die Chance genutzt, die eine ganz neue Umgebung bietet, dass man ganz frei sich selbst neu erfinden kann, aus dem eigenen Kopf neu geboren werden kann. Fast hätte ich mir selbst eine solche Gelegenheit gewünscht: Eines Morgens in einem Raum voller abgeschabter Rekrutenköpfe aufwachen, unter denen es kein Körnchen Wiedererkennen gibt, aufwachen ohne das Erbe der eigenen Geschichte, die man mit anderen teilen muss, aufbrechen mit einem großen Kredit unverplanter Zeit in eine frei gewählte Richtung, als wäre man an diesem Morgen – mit noch immer lebendiger Erinnerung an das frühere Selbst – wieder neu geboren worden. Wir trennten uns vor dem Hotel kurz vor Mitternacht und machten aus, dass ich ihn morgen gleich nach dem Frühstück in der Kaserne abholen sollte. Die frische Luft hatte mich munter gemacht und ich ging auf dem leeren Boulevard spazieren und rauchte die letzte Zigarette auf der Brücke über dem kleinen schmutzigen Fluss. AM MORGEN erwachte ich mit Kopf- schmerzen, wobei ich nicht ganz sicher war, inwiefern der übliche Kater eine Folge dessen war, was wir getrunken hatten und inwiefern – im Resümee unseres gestrigen Abends – dessen, was wir, um es so auszudrücken, thematisiert hatten. Ich brauchte eine halbe Minute, bis mein Blick klar genug war, um die Uhrzeit zu erkennen: Es war schon halb zehn, was bedeutete, dass ich nicht nur den Morgen, sondern auch unsere Verabredung verschlafen hatte. Bei dieser Verabredung verstand sich zwar von selbst, dass wir ausschliefen, aber im militärischen Sinne, nicht nach relations 2009.pmd 43 zivilem Zeitplan. Ich hatte schlicht und einfach vergessen, den Wecker einzuschalten. In aller Eile packte ich meine Sachen zusammen, beglich die Rechnung an der Rezeption und sprang in das schmutzige Taxi, das zwischen den Blumenkübeln parkte. „Keine Besuche“ wiederholte der Junge in der Kaserneneinfahrt, ein kleiner gedrungener Dummkopf mit breitem Gesicht, den der Helm wie einen Pilz aussehen ließ. „Keine Besuche, es ist Alarm in der ganzen Kaserne!“ Von einigen übel gelaunten Leuten aus Tuzla, die auf den Bänken im Wartesaal saßen, hörte ich, dass der Alarm schon vor Morgengrauen losgegangen war, denn ein Kurier hatte ihren Sohn im Motel abgeholt, in dem sie übernachtet hatten und jetzt warteten sie um zu sehen, ob all das eine Routineübung war oder etwas Ernsteres. Jedenfalls ist die Truppe mit Lastwagen weggefahren, höchstwahrscheinlich in die Berge ostwärts. Der gräulich-olivgrüne Pilz gab keinerlei zusätzliche Informationen und wehrte sich mit „Militärgeheimnis“, obwohl klar war, dass er so viel wusste wie wir. Wie es aussah, würde ich Hrvoje nicht mehr sehen. Es gab keinen Sinn, vor der Kaserneneinfahrt zu hocken, also kehrte ich um in Richtung Stadt, um zu frühstücken. Aus dem Hotel rief ich noch einmal die Dienststelle an. Sie waren nicht zurückgekehrt. Später rief ich wieder aus dem Goldenen Bokal an, mit derselben Antwort, aber dort war wenigstens der Gastwirt, der mich mit einer Schorle auf Kosten des Hauses tröstete, nachdem ich mit einem Sliwowitz meinen Kater kurierte. Dann öffnete er die Tür zur Küche ein wenig und ließ den Durchzug den Rest des Marketings erledigen: Und tatsächlich befiel mich nach zehn Minuten ein Bärenhunger, den man nur mit etwas Gegrilltem stillen konnte. Ich kam mehr als eine Stunde vor der Abfahrt im Bahnhofsgebäude an, 43 meine Zunge prickelte vom Bratensaft und der Weinschorle. Ich wollte noch in der Stadt spazieren gehen, um das ungeplante Zeitloch zu füllen, in der eigentlich ein ganzer Tag verschwunden war, doch dann ließ ich es sein. Wohin auch? Hrvoje hatte mir gesagt, dass sich das frühabendliche Gedränge auf der lokalen Promeniermeile in nichts von dem auf der Masaryk-Straße unterschied, dass es aber schon um achte keine einzige Frau mehr auf der Straße gab. Hier herrschte offensichtlich noch Ordnung. In den Cafés saßen Männer, Zigarettenrauch bis zum Boden, es wurde über Politik geredet, billiger Schnaps gekippt. Die Langeweile des kleinstädtischen Abends legte sich wie eine Strafe auf die Stadt und in den Zimmern der Dachwohnungen schälten sich zarte Mädchenbeine aus italienischen und griechischen Jeans und träumten davon, so schnell wie möglich abzuhauen. Ich konnte den Gedanken an den Septembertag vierundvierzig nicht abschütteln und an die Tatsache, dass seine Spuren (Krater, Gräber, Löcher im Erdboden, Narben, die vom Flugzeug aus zu sehen waren...) aus dem kollektiven Gedächtnis wie eine Schande gelöscht waren. Wie kann aus einer Bedeutungslosigkeit ein Mythos entstehen? Die Bedeutungslosigkeit mit zehn multiziplieren, mit hundert? Der Gedanke an den Krieg war mir nicht zufällig gekommen, selbst wenn ich tief drinnen nicht an eine solche Möglichkeit glaubte. Obwohl jedem mit etwas Verstand klar war, dass Jugoslawien, so wie es war, heute im geopolitischen Sinn so weit unten stand, dass es einem Stammeskonflikt überlassen werden konnte – charakteristisch für die Blockfreien – glaubte ich dennoch, dass es unter den Antagonisten zuviel Bluff gab, als dass einer von ihnen wirklich zur Pistole gegriffen hätte. Doch unabhängig davon, dass 14.4.2009, 20:30 44 RELA März unsere Meinungen zu diesem Thema im Großen und Ganzen dieselben waren, gab mir das Gespräch mit Hrvoje ein Gefühl von Vertrauen in den Gesprächspartner wieder, das ich seit seinem Weggehen nur an jenen Abenden mit Hrestak gespürt hatte. Daraufhin versuchte ich noch einmal aus dem Wartesaal des Bahnhofs in die Kaserne anzurufen, doch auf der anderen Seite meldete sich niemand. Ich weiß nicht, woher sie gekommen waren, vielleicht war ich in sie hineingeraten, in jener schönen Dekonzentriertheit, die die leichte Alkoholisierung verursachte, auf jeden Fall hatte mich die Stille in der nicht gerade großen Kneipe nicht darauf vorbereitet, dass es sich um eine Gruppe handelte. Erst als ich mich an den Kellner wandte, als mich also meine Sprache verriet, fragte mich einer von ihnen, wohin ich fuhr und ich begriff, dass der ganze Raum meine Antwort abwartete. Es waren klassische Aufrührer, unrasiertes Gesindel mit Zahnlücken, das jedes Wochenende für ein paar Groschen kreuz und quer durch Serbien fuhr. Die Situation befand sich objektiv gesehen am Rande der Scheiße. Deva hatte mir erzählt, dass ihm etwas Ähnliches in der Hoteleinfahrt in Uro{evac passiert sei, wo ihn sein Nachname gerettet hatte, den der Rezeptionist kurz davor auf seinem Ausweis bemerkt hatte. Wenn ich nicht so entspannt angetrunken gewesen wäre, betäubt in einem Maß, das nur ein Mensch hinbekommt, der den ganzen Tag alleine trinkt, dann hätte mich natürlich die Panik ergriffen. Ich war in einem Zustand, in dem sich die völlige Gleichgültigkeit ihrem Schicksal gegenüber zu einer ziemlichen Gleichgültigkeit gegenüber meinem eigenen gesellte. Soviel ich über die Moral des dinarischen Menschen weiß, war dies ein gutes Beispiel für Männlichkeit und Heldentum. relations 2009.pmd 44 „Bis Zagreb“ antwortete ich. „Und, was sagt man in Zagreb?“ Hängt davon ab. Zum Beispiel haben Deva und ich eines Abends darüber gesprochen, dass die Frage nach der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit am meisten von denjenigen gestellt wird, deren Vorstellung von Gerechtigkeit am unklarsten ist. Dieses Phänomen hat die Belgrader Zeitung Politika ausgenutzt, indem sie das Geistesalter ihrer Leser auf der Ebene von Teenagern fixiert hat. Ich gebe zu, das ist hinterhältig, aber es würde die Kommunikation mit meinen neuen Freunden erleichtern. Ich gab ihnen natürlich Recht, aber ich behielt die ganze Zeit die Pose eines Mannes, der vorsichtig jedes Argument abwog und ließ sie wie Grundschüler einander übertreffen. Das zeigt nur, würde Deva sagen, dass eine der wichtigsten Aufgaben in unserem Fach darin bestand, unsere Klienten im Gefühl zu bestärken, dass sie Opfer der Ungerechtigkeit seien. Und dass wir hier und da etwas in Rechnung stellten. Diese hier erinnerten mich sehr an Milo{, meinen Mitbewohner aus dem Armeeklub in Banja Luka und sein unermüdliches Bedürfnis, im Recht zu sein, jeder erdenklichen Situation zuvorzukommen, in der er sich ohne überlegene Antithese finden könnte. Aus unbeweglicher, unendlicher, mirgränebefallener Winterlangeweile, in der mich der Kerl ununterbrochen mit seinen spießigen Mythen, Geschichten und Ereignissen terrorisiert hatte, die ich schon hundert Mal von hundert solchen provinziellen Quälgeistern gehört hatte, die nicht aus Eigennutz logen, sondern aus dem Gefühl der Nichtigkeit, packte mich der starke Wunsch, ihn genauso schmoren zu lassen, wie unseren armen Ofen. „Stimmt es, Milo{, was die Russen sagen, dass bei euch in Valjevo...“ „Fünf? Wieso fünf, Mann. Fünfzig. Der Liter!? Ein Liter ist noch nicht TIONS mal für Kinder... Polizei? Noch nicht einmal die Armee darf...“ Mit allem Möglichen habe ich in diesem langweiligen und verlorenen Winter die armselige Fantasie dieses Jungen gefüttert und sie dankte es mir mit immer dümmeren und vorhersehbareren Fantasien, so dass es mir manchmal Leid tat, all das alleine mitanzuhören. Aus Valjevo kamen noch immer Neujahrsgrüße als Dank für die Nachmittage – in denen ich von Frage zu Frage aufdeckte, was im Prinzip richtig war, nämlich die Unwiederholbarkeit seiner Existenz – die seit vorletztem Jahr von einer gewissen Olivera mitunterschrieben werden. Natürlich war in ihrem Bemühen viel Misstrauen. Sie versuchten ihre Zweifel gegenüber meiner gelassenen Zustimmung zu verbergen, denn sie hatten genug Verstand zu wissen, dass sie dort, wo ich herkam, keine Verbündete mehr suchen konnten. Aber abgesehen davon, dass ich nicht vorgehabt hatte, den Abend unter einem Berg zerbrochener Barhocker zu verbringen, war mir alles Andere scheißegal. Ihre Geschichte war für mich unwichtig, nicht, weil sie Serben waren, – das war mir völlig egal, ich war im apodiktischen spießigen Glauben erzogen worden, der besagte, dass alle Menschen gleich waren und dass man keinem von ihnen glauben dürfe – sondern weil sie Herumtreiber waren, eine übernationale transkontinentale, areligiöse Kategorie, ansteckend wie Lepra. Ich fühlte den schrecklichen Gestank jener, die ihr Schicksal nicht mehr in der eigenen Hand hatten, sondern die von einem zum anderen Ende ihrer Ohnmacht rollten wie Erbsen in der Pfanne. Ich bestellte eine Runde für alle. Bahnhöfe gehören sowieso zu meinen traumatischen Erfahrungen. Ich lernte sie erst nach Vaters Tod kennen, als wir kein Auto mehr hatten und als sich unsere regelmäßigen, 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} wöchentlichen Ausflüge nach Branjevina, wie überhaupt das Reisen, in einen Albtraum verwandelten, dem ich manchmal noch im Schlaf begegnete. Meine Mutter zog mich am Arm durch die langen Bahnhofsgänge (wir waren immer spät dran), durch die Ausdünstungen des Bahnhofsgesindels, das sich in den Ecken, neben dem Ofen versammelt hatte und dann durch kalte Wagons, in denen die Reisenden zusammenrückten, um uns ein wenig Platz zu machen. Ausgerechnet uns, die wir sie bis gestern noch mit dem Auto auf der geraden Strecke der Hauptstraße von Branjevina überholten, vom Bahnhof bis zur Kirche, wo mich der Alte das Lenkrad halten ließ und zweidreimal auf die Hupe drücken. Für die Alte musste diese Veränderung noch viel traumatischer gewesen sein als für mich. Im Zug begegnete sie ihren Freundinnen, Schulkameradinnen, Gleichaltrigen, in deren Augen sie im Frauen-Wettbewerb einen offensichtlich unerreichbaren Vorsprung erreicht hatte: Mann, wenn auch älter, aber solide, Position, Limousine, Sohn... Nach der Rückkehr in den Zug, in das gemeinsame Schicksal, gab es kein Ende für Ihr Mitleid und ich verließ den Zug nach solchen halbstündigen Fahrten, gemästet mit Krapfen, Keksen, Schokoladenbonbons. „Ich glaube nicht, dass ihr da drüben ein Bild davon habt, was hier passiert.“ „Aber, sagen Sie mir meine Herren, stimmt es, was die Franzosen sagen, dass die Kosovoalbaner Gift in die Böreks tun?“ Zum Glück kam ihr Zug zwanzig Minuten vor dem Akropolis. Sie erhoben sich mit dem Gefühl unverrichteter Arbeit: Einige sahen mich überhaupt nicht mehr an, als sie aufstanden, einer – der sich bestimmt als erster auf mich gestürzt hätte, wenn ich das falsche Wort ausgesprochen hätte, auf das sie die ganze relations 2009.pmd 45 Zeit gewartet hatten – nickte mir mit einer Mischung aus Gruß und Drohung zu: „Wir sehen uns in Zagreb.“ Natürlich, ich zwinkere ihm zu und strecke den Daumen nach oben. Ich nahm an, er hat diese Geste in Filmen gesehen und dass sie ihm gefiel. DER FRÜHLING bringt auf gewisse Weise immer wieder frische Erinnerungen an die Pubertät: Steile Höhenflüge, begleitet von Turbulenzen aller Art, Adrenalin und das Rauschmittel der erwachten Natur, vermischt mit Augenblicken totaler Erschöpfung, für die es eigentlich keinen anderen Grund gibt, als den, der unsichtbar irgendwo in der Essenz des Frühlings schwebt. Gerade im Zustand dieser völlig pubertären Erschöpfung schleppte ich mich mit dem grauen ^rnomerec-Cañon auf der Straße Ilica bis zur Fabrik „Dioda“, wo Devas Vater für mich ein Vorstellungsgespräch organisiert hatte. Ich wartete, dass mich Herr Farka{ im Büro empfing, nachdem ich schon die Anwältin erledigt und mit ihr einen süßlichen Kaffee getrunken hatte. Empfehlungen des Genossen Radevi}, egal wie pauschal sie waren, verkürzten die Wartezeit vor den Büros und sicherten auch eine einigermaßen gute Bedienung. Die kleine sympathische Sekretärin, die den Kaffee gebracht hatte, sah mich heiterem Interesse an, das ich nicht deuten konnte. Die Annahme, so willkürlich sie auch war, das Interesse könnte sexueller Natur sein, hob immerhin meine Stimmung. Im Sessel vor der Tür des Ingenieurs Farka{, neben dem geöffneten Fenster, das einen Blick auf einen unbestimmten Teil des ^rnomerec-Waldes über den Hof von Dioda bot, versank ich plötzlich in Erinnerungen an die Jahre meines Erwachsenwerdens. An die Zeit, in der man sich mit der Welt um sich zu befassen beginnt, mit Mädchen, aber in erster Linie, mehr als alles andere, 45 mit sich selbst. Wenigstens war das bei mir so, denn im Unterschied zur Mehrheit meiner Altersgenossen, die der Pubertät mit einer freudigen Erwartung begegneten, hielt ich mich, so lange es ging, krampfhaft an die warme Küste der Kindheit, die Arsen Dedi} besungen hatte. Meine Mutter hatte mir Bücher gekauft, wahrscheinlich um ihre pädagogische Inkompetenz zu kompensieren – oder die Tatsache, dass ich keinen Vater hatte, sie wählte hauptsächlich in der „]iril und Metod“ Bücherei, deren Autoren, die die Pubertät mehr oder weniger wie eine latente Geschlechtskrankheit behandelten, die die Jungen dem Weib näher bringt und von Gott entfernt. Nachts weckten mich Wadenkrämpfe, verirrte Säfte schossen ohne ersichtlichen Grund durch den ganzen Körper: Schweiß, der einen unangenehmen Geruch auf der Kleidung hinterließ, grundlose Tränen, verräterische Spuren nächtlicher Ergüsse. Und natürlich das Bedürfnis, alles und jeden zu verachten. In den Büchern blätterte ich mit immer größerem Unbehagen und versuchte einen Trost in der Tatsache zu finden, dass ich nicht der einzige war, dem das passierte. Hrvoje hatte als Letzter die Pubertät erreicht und als Erster verlassen, was man auch daran sah, wie wenig Spuren diese Zeit auf seiner kissenweichen Beschaffenheit zurückgelassen hat – als hätte es ihn nur ein wenig kompakter gemacht und etwas durchsichtigen Flaum über der Lippe sprießen lassen. Bei ihm war die Pubertät vor allem eine Zeit, in der er anfing, mit den Themen der Erwachsenen Schritt zu halten. Auch er las, aber nicht über die Pubertät, sondern über Ban Jela~i}, Staatsrecht, Maltechniken, Volkstechniken... Und nicht zu vergessen Krle`a, das erste und letzte Thema. Obwohl die traumatischen Erinnerungen an diese Jahre langsam verbleichen, erinnerte mich der Frühling noch immer manchmal an die 14.4.2009, 20:30 46 RELA März Mühsal des Erwachsenwerdens: Aus Angst vor dem Schrecklichen, das ich kommen sah, stellte ich überall Mauern um mich herum auf und verkroch mich in mir. Das Bedürfnis nach einem Vater war in dieser Zeit besonders schmerzhaft, und die aufopfernden Versuche von Onkel Jakov kratzten nur an den Wunden. Von all den Fragen gequält, die ich niemandem stellen konnte, ging ich oft zur Beichte bei einem alten Routinier in der Blasiuskirche. Dieser Priester, dessen Revers und Schultern immer voller Schuppen waren, konnte mir nicht die Antworten geben, die mir mein Vater gegeben hätte, aber wenigstens hatte er genug Nerven, um ständig Öl mit Wasser vermischen zu wollen. „Warum, warum, warum?“ zitterten meine mutierenden Stimmbänder im vergitterten Halbdunkel des Beichtstuhls. „Weil wir die Pläne Gottes nicht kennen, aber Er kennt die unseren besser als wir“ seufzte er. „Aber ich halte das nicht aus.“ „Liebes Kind, im Leben eines Menschen gibt es nichts, was man nicht aushalten kann. In unserem Sein ist alles vergänglich.“ Ja, alles, bis auf die Schuppen, Hochwürden. Ich wartete die Erlösung mit tränengefüllten Augen ab und kehrte aus der Kirche, von Ohnmacht und Zweifel erschöpft, zurück, aber trotzdem irgendwie ruhiger und bereiter, mich meiner Familie zu stellen, sogar Mutter, die über den Wäschekübel gebeugt immer weniger Platz einnahm in dieser Welt, die sich von Tag zu Tag änderte. In dieser Phase sah ich in den Vätern meiner Freunde lebende Denkmäler des eigenen Unglücks. Allen voran Onkel Jakov, dann Bla` Su~i}, den dunklen und groben „Patron“ vom Bambi, der in sich das Gefühl des drohenden Unbehagens komprimierte und der gezwungenermaßen in relations 2009.pmd 46 Deutschland bleiben musste, ausgerechnet in der Zeit, als im Fernsehen diskret Devas Vater auftauchte. Eigentlich sahen wir Onkel \or|e häufiger im Fernsehen als im wirklichen Leben. Er gehörte zur unbeliebten Garnitur, die nach dem Zusammenbruch des kroatischen Frühlings aufgetaucht war, als man allgemein dachte, dass die große Generation kroatischer Nachkriegspolitik durch Exemplare ersetzt worden war, die nicht nur politische Feinde der Idee waren, sondern auch substantiell inferiore Typen waren, hohle Kopien statt Originale. Milka Planinc statt Savka, Vrhovec statt Tripalo, Milutin Balti} und Du{an Dragosavac statt Sre}ko Bijeli}. Und Ivo Pettieri statt Vice Vukov. Natürlich dachten wir damals nicht darüber nach, \or|e Radevi} war einfach Devas Alter, ein Bonze, der aus dem Ausland Achtmilimeter-Highlights von amerikanischem Basketball oder Pornos mitbrachte und der im Gegensatz zu Onkel Jakov oder Onkel Bla` nie in unsere Zimmer kam. Auch sonst, sogar zu der Zeit seines Mandats im Zentralkomitee kam es Genosse Radevi} nicht in den Sinn, sich aufzudrängen, egal in welcher Hinsicht. Er hielt sich an die dritte Reihe, aus der er, dank seiner kaltblütigen Intuition, immer eine Antwort zu allen Fragen des politischen Überlebens hatte. „Gromykos Schule“ pflegte Onkel Jakov leise brummend zu bemerken, wenn er vor dem Fernseher saß. Aus dieser Position bot er seinem Bruder Neboj{a und dessen Anwaltsbüro die unentbehrliche Logistik, die den Verkehr auf den immer lebendigeren Umwegen der sozialistischen Ökonomie verfolgte. Der Sozialismus war eine tolle Sache, aber was können wir tun, wenn die arbeitende Bevölkerung keine Fiats und Trabanten kauft, sondern Opel, Volkswagen, Peugeots... Versicherungen, Entschädigungen, sowie Vertretungen, die TIONS durch ein undurchsichtiges Selbstverwaltungs-Franchise blockiert waren, diverse Jugoexporte und Jugoimporte, von denen auch der liebe Gott nicht wusste, womit sie sich eigentlich beschäftigten – das war der natürliche Spielraum dieser zwei Spieler. Beschenkt mit ganz bourgoiser Rationalität ergänzten sie sich sehr gut, aber man muss zugeben, dass beide Menschen Gefallen taten, die objektiv nicht in der Lage waren, sich zu revanchieren. So wie mir zum Beispiel, als dringend das ArmeeProblem gelöst werden musste und als Onkel Jakov erfolglos Büros des städtischen Volksverteidigunksamtes abklapperte um – seinen Stolz und Ekel diesen Schlangennestern gegenüber herunterschluckend – darum zu bitten, mich früher den Wehrdienst leisten zu lassen, damit ich kein Jahr verlor. Devas Alter rief ein hohes Tier aus Lika an und die Sache war in fünfzehn Sekunden vor meinen Augen gelöst: Schatten in der Banja Luka, eine Kaserne, in die sich ansonsten unambitionierte Söhne höherer Armee-Funktionäre verkriechen, in der wahrscheinlich auch Deva gelandet wäre, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zur Armee zu gehen. Was „Dioda“ angeht, hatte Onkel \or|e jetzt seinen kleinen Anteil fehlerlos getan. Deva hatte mir natürlich den wahren Stand der Dinge übermittelt: Die Firma war kurz davor unterzugehen. Es gab keine Arbeit, die Gehälter waren minimal, die Arbeiter aufrührerisch, jeder der etwas drauf hatte, war in eine andere Firma gewechselt oder ins Ausland gegangen. „Aber wenigstens bist du dann kranken- und rentenversichert. Und du hast Zeit für die „Grundlagen“, wenn du sie in der Zwischenzeit nicht ins Antiquariat verfrachtet hast.“ Herr Farka{ war ein Fünfzigjähriger mit angenehmem Äußeren, der im Grunde fortführte, was Deva angekündigt hatte. Er wirkte wie ein älte- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} rer Zagreber Junge, der sich um das Protokoll bei Abiturfeiern kümmerte und in den Ruhestand verabschiedeten Arbeitern mitfühlend Vasen überreichte. Freundlich bot er mir einen Sitzplatz an. „Sie werden in der Reklamationsabteilung arbeiten: Die Käufer schicken manchmal Beschwerden, darum muss man sich dann kümmern – je nach Typ klassifizieren und den Sachbearbeitern weitergeben. Und irgendwelche Antworten schreiben und die dann mir bringen. Beziehungsweise demjenigen, der mich vertreten wird. Sie werden nicht viel zu tun haben, Beschwerden sind selten. Nicht, weil unsere Produkte gut sind, sondern weil niemand sie kauft. Am Anfang arbeiten Sie ein bisschen mit Karlo Mlinari} zusammen, bis Sie den Dreh raus haben. Ich werde Sie bekannt machen. Bo`ena, (er beugte sich vor und sprach in das vergitterte Quadrat auf dem Tisch) rufen Sie doch bitte Karlek. Er kennt diesen Sektor genau und wenn Sie Geduld mit ihm haben, sparen Sie viel Zeit. Er wird gleich damit prahlen, dass er das ganze Schreibbüro flachgelegt hat, die halbe Buchhaltung, meine Sekretärin ... und so weiter. Nehmen Sie es ihm nicht übel, er hat zu Hause drei Töchter und eine Ehefrau, die doppelt soviel verdient wie er. Außer Mlinari} steht Ihnen Herr Bakulj zur Verfügung. Schwuchtel und Hypochonder. Keine Angst, er hatte schon sein Coming Out und mag feminisierte Jungen. Er gabelt sie im Bacchus und in Tunesien auf. Und so weiter. Sie werden schon sehen. Ich bin ab morgen krank gemeldet und unter uns gesagt bezweifle ich, dass wir uns wieder begegnen.“ Er streckte mir seine warme pummelige Hand entgegen. „Und grüßen Sie Genosse Radevi} von mir.“ Der kurze Rhythmus seiner Sätze wies zweifellos daraufhin, dass Herr Farka{ schon gepackt hatte. Und so wei- relations 2009.pmd 47 ter. Wenn ich jemals vorher so präzise Arbeitsanweisungen bekommen hätte, dann wäre ich jetzt vielleicht Geschäftsführer im „Vital“. Karlo Mlinari}, dieses angekündigte Exemplar eines sozialistischen Gewerkschafts-Don-Juan, musste sich nicht sonderlich bemühen, um mir unsympathisch zu werden. Gleich in der Tür legte er los. „Bravo, Alter, die Firma ist am Arsch, aber es gibt Weiber: Kannst du Papa ruhig glauben.“ „LIEBES Bruderherz, nur noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht und ich finde erst jetzt ein wenig Ruhe. Heute haben wir, mit den unvermeidlichen Pionieren und der Sozialistischen Jugend den Tag der Kaserne gefeiert. Den ganzen Tag Volksmusik und warmes Bier, Heldengeschwätz und blondierte Offiziersfrauen. Am Nachmittag ein Volleyball-Turnier und Geländelauf mit Urlaubstagen für die Erstplatzierten. Jetzt quälen mich Kopfschmerzen, wegen denen ich wieder nicht bis zum Morgen einschlafen kann. Es ist alles katastrophal gelaufen, ich habe beinahe den Wunsch, mich bei dir zu entschuldigen. Am Ende erwies sich auch dieser Alarm im Grunde als Farce, denn (das hat mir M. im Vertrauen gesagt) sie mussten die Kaserne räumen um in Ruhe einige Positionen im Gebäude abzusuchen – natürlich alles mit den Ureinwohnern unserer Halbinsel verbunden, auch wenn schon wir anderen unwiederbringlich verdächtig sind. Noch ein zwei Tage danach herrschte eine hysterische Atmosphäre unter den Offizieren, aber es gab keinen konkreten Fang, soweit ich in Erfahrung bringen konnte. Ich habe mit M. über diese Sachen gesprochen und seine Eindrücke und Informationen deuten darauf hin, dass eine Umstrukturierung der Armee von einem jugoslawischen zum großserbischen Organ hin jetzt ganz offen betrieben wird, was bedeutet, dass die so genannte 47 Differenzialisierung schon in der serbisch-montenegrinischen Leitung Fuß gefasst hat: Nationalisten vs. Unitaristen, Roter Stern vs. Partisan. Ihm gegenüber sind sie sehr offen, zumindest zum Schein, denn sie glauben, er ist einer von ihnen“ – Name und Vorname verraten ihn sowieso nicht, er deklariert sich als Jugoslawe und in einem Dokument bei Dienstantritt haben Sie versehentlich aus Samobor Sombor gemacht. Er sagt – ich habe mich rechtzeitig zurückgehalten, eine Verbesserung zu verlangen. Und der Oberst bezeugte auf seine Weise dasselbe, er versank vor den Ereignissen in immer tiefere innere Emigration. Er schließt sich im Büro ein und sitzt unter Titos Bild mit derselben fundamentalen Frömmigkeit, mit der unsere Urgroßväter aus der Cetina vor der Heiligen Mutter Gottes niederknieten. Ich kann nicht sagen, dass er mir nicht Leid täte, er ist ein guter Mensch und seine Pensionierung naht, aber falls er sich in der Zwischenzeit nicht irgendein Wochenendhäuschen an der montenegrinischen Küste unter den Nagel gerissen hat, aus dem er einen Blick aufs Meer hat (was für Rentner immer eine gute Vorbereitung auf die Ewigkeit ist), steht es schlecht um ihn. Immerhin haben sich die Dinge hier seit deinem Besuch zum Guten gewendet. Erstens ist es wärmer geworden. Wenn es in der Armee eine Jahreszeit gibt, dann würde ich sagen: Frühling. Außerdem wurde beschlossen, dass um die Kaserne eine Mauer hochgezogen wird und jetzt wird der Gefreite Modri} nicht mehr für seine sowieso zweifelhaften martialischen Fähigkeiten sondern als Baumeister gebraucht. Ich helfe zudem Miki dabei, ein Computer-System einzurichten, das wir aus den so genannten heimischen Komponenten konfigurieren wollen. Es hatte sich auch ein junger Ingenieur aus der EI Ni{ angeschlossen, aber der Junge hatte Ljepojevi} beim ersten Treffen an der Kopf geworfen, dass man aus den heimischen Komponenten nicht 14.4.2009, 20:30 48 RELA März einmal ein Taschenmesser, geschweige denn einen Computer konfigurieren könne. Ich muss nicht extra betonen, dass wir ihn sofort verloren haben. Am nächsten Tag kam er, um sich bei mir und Miki zu entschuldigen, dass er mit den Nerven am Ende sei, denn er laufe schon seit Monaten mit dem Angebot von Siemens in der Tasche herum, seine Frau könne er nicht überreden wegzugehen, und jetzt machten sich Offiziere wichtig... Es tut mir Leid, denn der Junge war sympathisch und kompetent; ich hatte gehofft, etwas von ihm zu lernen. Alles scheint darauf hinauszulaufen, dass ich den Rest meines Wehrdienstes hier ableisten werde, im Kommando der Stadt, in anständiger Entfernung zum Polygon, zum Südostwind, Schlamm und unseren kleinen Kor~agins, in deren Augen ich jeden Tag verlorene Jahrzehnte sozialistischen Aufbaus sehe (wenn du glaubst, ich übertreibe, dann unterbreche mich ruhig). Das heißt aber auch, dass ich nicht so schnell Urlaub bekomme. Sinkovac verlassen im Moment, wenn ich endlich eine Beschäftigung habe? Au contraire, lieber Bruder, jetzt muss man erst recht anpacken. Die Danas-Hefte habe ich mit Ungeduld gelesen aber ich habe begriffen, sogar mit einer Dosis Wut, die mich überfallen hat, dass ich für diese Art von Analysierei immer weniger Verständnis aufbringe: Ständig stoße ich auf Phrasen über die „Grenzen sozialen Durchhaltevermögens“ und dass es die letzte Stunde sei. Das ist eine Rhetorik, mit der sich Politiker und Journalisten gegenseitig schönreden, wenn sie einen so genannten öffentlichen Dialog fingieren. Die letzte Gemeinheit des Kommunismus ist die, dass er seinen Niedergang als soziale Frage darstellt. Wenn dieses „Soziale“ überhaupt ein abstraktes Gewicht (Wo? In Polen? DDR?) haben kann, dann hat Jugoslawien nie eine andere Frage als die nationale gekannt. In Belgrad weiß man das. Was die Grenzen des sozia- relations 2009.pmd 48 len Durchhaltevermögens betrifft, kann diese letzte Stunde Jahrzehnte dauern, wie es in Russland, Albanien und Korea und ähnlichen Ländern der Fall ist, in denen die Sonne tatsächlich „niemals untergeht.“ Wenn die Menschen einmal zu Vieh verwandelt werden, dann versteht man unter Grenzen sozialen Durchhaltevermögens einen kalten und leeren Stall, und vielleicht gibt es Zeit und Raum, dass auch dieser Grenzposten ein wenig in Richtung Nichtigkeit bewegt wird. Aber hier geht es um andere Sachen, und wenn wir in Kroatien so tun, als wäre das um uns herum soziale Poesie – alte Leute vor Containern, Schlangen vor Lebensmittellläden und ähnliche erbärmliche Bilder, dann wird uns der Teufel als erste holen. Doch kommen wir vom Allgemeinen zum Persönlichen: Ich freue mich, dass es mit Dioda geklappt hat. Deva hat mir schon von dieser Möglichkeit geschrieben – aber ich nehme an, dir ist bewusst, dass das eine vorübergehende Lösung ist. Bevor ich es vergesse (wenn mich Mira nicht schon gelobt hat) – auch im Hydromont habe ich es endgültig versiebt. Jetzt nehme ich mir das nicht mehr zu Herzen, sondern stelle es nur fest. Mir bleibt noch, mich bis zum Ende der Dienstzeit mit heimischer Hardware und der Kasernenmauer zu beschäftigen, die wir auch aus heimischen Komponenten konfigurieren. Zweieinhalb Meter hoch und ein halber Meter dick zwischen der Armee und den bescheidenen Versuchungen, die das serbische Manchester bietet. Grüße an dich, Tante und Brankica Es umarmt dich Hrvoje. DIE KARWOCHE erwachte an ei- nem dunklen und regnerischen Morgen, an dem die Zukunft der überflüssigen Firma und ihrer ebenso überflüssigen Angestellten trüber aussah als sonst. Ich saß am Fenster im Büro und sah auf den leeren Hof, auf TIONS dem jemand einen Transporter mit eingeschaltetem Blinklicht abgestellt hatte. Ein kurzer Text in „Ve~ernji List“ hatte mir den Montagmorgen verdorben, diese äußerst schwache Stelle in der Woche, so dass auch kein Kaffee meine Stimmung aufhellen konnte: Rubrik „Gespräch im Vorübergehen“ – und die Begegnung mit dem Dichter Josip Rogini}, der dieses alles bloß nicht zufällige Gespräch nutzte, um am Ende anzukündigen, dass er gerade mit seinem ersten Roman fast fertig sei. Wie alle Literaturheinis, denen der Stoff ausgegangen war, hatte auch Rogini} sich entschlossen, sich dem zuzuwenden, was er in der Leere seines Talents als die einzige Fülle des Schreibens fühlt – dem Roman. Wir können einen Avantgarde-Pianisten verstehen, der nach einstündigem Hammerschlägen auf die Klaviatur das Bedürfnis nach einer zusätzlichen Stunde Essayisieren über die moderne Musik hat – gewöhnlich verbirgt sich hinter diesem Stück Prosa ein verletzliches kindliches Ego, das nach etwas Verständnis sucht – aber wenn ein etikettierter Dichter, ein Opferpriester, unter dessen Fingern beim Vermitteln zwischen der Ganzheit der Welt und ihrem Sinn eine unendliche Klaviatur erzittern müsste, die die Ganzheit der Sprache heißt, wenn so einer mit dem Hammer zuerst auf die Bühnenbretter einschlägt und dann auf den Roman, dann ist das Kapitulation, eine Heimniederlage. Die schöpferische Ohnmacht kann vom Roman immer das hohle Maß formaler Dimensionen leihen – dreihundert Seiten, halbes Kilo, fester Einband – aber dahinter gibt es nichts, auf das man mit einem Hammer drauflos schlagen könnte. In zwei Worten – Prolegomena für ein schnelles Ende des Dichters Rogini}. Es wäre weder etwas Neues noch Merkwürdiges, wenn die Journalisten nicht nur zehn Zeilen darunter, über den Roman als etwas sprechen 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ratko Cvetni} würde, das man „mit Ungeduld erwarte“. Welche Ungeduld? Wer wartet? Diese Kuh, zwei ältere Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für neuere kroatische Literatur und ein zugekokster Herausgeber, der sowieso am Rande des Selbstmords schwankt. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob diese Leichtigkeit des Modellierens von Stereotypen meinen Wunsch zu schreiben fördert oder tötet, aber ich weiß auf jeden Fall, dass sie meinen Wunsch, Journalist zu werden, längst getötet hat. Ich stand im Flur, nervös den Rauch aus der feuchten Zigarettenkippe saugend, als Bo`ena mit einem Kaffee im Plastikbecher auftauchte. „Ist dir nicht kalt draußen im Flur?“ fragte sie und betrat das Büro. Ich wollte ihr etwas entgegnen, was ihre Aufmerksamkeit von dem Loch im Büroflur, in dem sie verschwinden würde, abgelenkt hätte, aber sie hatte die Tür schon geschlossen. Heute habe ich kein Glück mit Gesprächen im Vorübergehen. Aus der Buchhaltung drang Karleks dramatische Schilderung des gestrigen Gedränges auf dem Jela~i}-Platz, so dass mir die Lust, dem Kaffeeduft zu folgen sofort verging, obwohl Bo`ena, Hand aufs Herz, die einzige war, die diesem Vormittag einen Sinn verleihen konnte. Außerdem konnte ich im Flur warten, dass sie wieder auftauchte und sie zu einem Imbiss im Brauereigasthof einladen. Mit dieser heiteren Frau hatte ich vom ersten Moment an jenen Grad an Nähe gefühlt, die man nicht erreichen kann, sondern die einfach da ist, beim ersten Gruß sozusagen, in einer Art Wiedererkennen, auf die besonders diejenigen empfindlich reagieren, deren Wert auf dem sexuellen Markt schon am Boden war, meistens durch die Ehe. In einem alten Liebeslied heißt es: Hätten wir uns doch früher getroffen. Sie war wie ein Sportwagen: klein, lebhaft, Rundungen an den richtigen Stellen und in ihrer Anwe- relations 2009.pmd 49 senheit spürte ich eine Kombination von Begehren und Gelassenheit, die leicht im Bett enden kann, obwohl wir eigentlich bis auf die fragmentarischen Gespräche über den baldigen Zerfall der Firma nie an anderen Themen rührten. Doch die Gerüchte vom baldigen Tod der Firma näherten sich der Wirklichkeit. „Dioda“ war eine Hülse, in die man noch ein- und ausging, aber es gab keine wirkliche Arbeit. Man hielt sich noch immer an das pflichtgemäße Kartenstechen um acht und um vier; die gesamte Zeit dazwischen stand den Arbeitern zur Verfügung, die meistens schwarz arbeiten gingen, während man in den Büros Nachrichten kommentierte (ich konnte ohne Boshaftigkeit bemerken: auf viel dümmere Art als im „Vjesnik“). Und Intrigen wurden gesponnen, aber soweit ich beurteilen konnte, ohne großen Einfluss auf den Stand der Dinge. Das Gehalt kam unterdessen regelmäßig und wahrscheinlich beruhte darauf der Rest der inneren Disziplin. Technisch gesehen musste ich um Viertel nach sieben aufstehen, die Stechkarte stempelte ich um acht ab und um halb neun hätte ich schon wieder im Bett sein können. Selbst das hätte man wie in allen anderen Firmen dieses Typs durch eine Abmachung mit dem Pförtner vom Wachdienst „Sigurnost“ abmildern können. „Sigurnost“ hatte seine Leute zwar rotiert, so schnell es ging, aber ohne besondere Wirkung, denn das Maß ihrer Käuflichkeit war dieselbe, sodass die Kontrolle der Arbeitszeit mehr vom unmittelbar übergeordneten Faktor abhing, was in der gestörten inneren Struktur von „Dioda“ nicht wirklich etwas bedeutete. Devas Instruktionen hatten sich in jedem Fall als richtig erwiesen; die Firma war dabei zu zerfallen, und irgendwo über ihren faulen Dächern schwebte wie ein Geier die Oligarchie der Arbeitgeber: ein dicklicher 49 Volkswirt, ein magerer Parteisekretär, der Generaldirektor Vlado Pu{kari} und noch ein paar Mitglieder des Teams, die im Direktorzimmer in der Var{avska-Straße residierten. Was die Arbeit selbst betraf, so verirrte sich manchmal eine Reklamation auf meinen Tisch, oft Schriftstücke auf Kyrillisch aus Serbien oder der Vojvodina, auf ultradünnem Schreibmaschinenpapier, in blauen Buchstaben von Rand zu Rand beschriftet, die mir Karlek brachte, nachdem sie tagelang auf seinem Tisch gelegen hatten. Es waren in der Regel Versuche eines ironischen Diskurses, auf der Spur nach dem allgemeinen Ton der „Echos und Reaktionen“ in der „Politika“, Invektiven in der Interpretation eines halb gebildeten technischen Sachbearbeiters aus Obrenovac oder Ljig, geschmückt mit so vielen unnötigen Anführungszeichen, als kämen sie aus der Sportredaktion. Ich konnte mir den Genossen Techniker vorstellen, wie er in einer rjepinischen Szene, umgeben von ungehobelten Lagerarbeitern und Fahrern der Sekretärin mit Zahnlücken diktierte: „Vielleicht können wir im so genannten Klein-Serbien nicht Januar von Juni unterscheiden, aber wir unterscheiden noch immer einen funktionierenden von einem nicht funktionierenden Adapter, besonders in der Garantiezeit, die erst im Dezember des folgenden Jahres ausläuft... außerdem möchte ich Sie an den Fall LEDDiode erinnern, vom Mai letzten Jahres, oder wenn es für Sie einfacher ist, im fünften Monat, als Sie uns mit Transformatoren beglückten, von denen kein einziger...“ Ich ließ einige Tage verstreichen und legte ein Blatt in die Schreibmaschine: „Ihr Schreiben hat viele Echos und Reaktionen in unserem Kontrolldienst verursacht“ schrieb ich in die Vorlage, woraufhin mir Karlek, (der die kyrillischen Schreiben anstarrte, als sähe er eine Seite des Al Ahram) reagovanja durchstrich und reagiranja drüber schrieb, 14.4.2009, 20:30 50 RELA März und nutzte die Gelegenheit, wenn sich eine der jungen Daktylographinnen in der Nähe befand, mir aus der Höhe seiner Chef-Rechtschreibung einen kurzen Vortrag zu halten. „Kollege, im Kroatischen ist die Endung für Verben „-iranje“ und nicht „-ovanje“. Ich ließ mich mit dem Dummkopf nicht auf Debatten ein. Überhaupt ließ ich mich in „Dioda“ auf nichts ein, nicht weil ich es als ein Gelübde gewählt hatte, sondern weil mich die Erfahrung im „Vjesnik“ und „Galerija“ darin bestärkten, dass meine beste Einstellung zum Arbeitsplatz noch die im „Vital“ gewesen war. In den ersten Tagen brachte ich eine Zeitung zur Arbeit mit und nach einer Büroregel wurde sie schon gegen neun zum Allgemeingut und zerfiel in mehrere private Blätter. Karlek nahm den Sportteil, die Schwuchtel die Klatschseite, Banjac und der Partisane Janjanin den Politikteil, die vollbusige Buchhalterin die Todesanzeigen... relations 2009.pmd 50 Eines Tages sammelte ich die Fetzen in meiner Pause ein und ordnete sie zu meiner Zeitung: ein vertrockneter Kaffeerand auf der Titelseite, mit Kugelschreiber gekritzelte D-MarkUmrechnungen, ein halb gelöstes Kreuzworträtsel und ein mit Skalpell ausgeschnittenes Rechteck oberhalb des Tollwut-Artikels. Ich wusste, dass sie diesen Ausschnitt, den Titel oder einen Teil, mit Tesafilm auf den Rücken von jemandem geklebt hatten. Das Spiel kannte ich noch aus „Vjesnik“ – so werden gewöhnliche Büroclowns geschmückt, die dann mit der Etikette nach Hause gingen und die Pförtner, die in ihrer kleinlichen Art keine Sekunde Verspätung duldeten, ließen die Menschen so auf die Straße und empfanden es wahrscheinlich als Verarsche. In einer möglichen Klassifizierung könnte diese Art von Zeitvertreib unter die Rubrik „Bürohumor“ fallen, das waren Witze auf niedrigstem Niveau, die sich die Bürger gern in der Kneipe erzählten und dabei TIONS vergaßen, dass man die Dinge in der Kneipe beim richtigen Namen nannte. Über die Beamten und zuviel Freizeit, über den Humor dieser eingebildeten Büro-Deppen könnte man eine Monographie mit vielen monströsen Beispieln schreiben. Als ich an diesem Tag nach Hause kam und den Mantel an den Haken hängte, hing der Zeitungsausschnitt, auf dem „Quelle der Ansteckung“ stand, logischerweise an meinem Rücken. Diese Episode – die, so erklärte mir Bo`ena am nächsten Tag mitfühlend, zum Initiationsritual gehörte – befreite mich vom letzten Körnchen einfühlsamer Kollegialität, und von da an nahm ich statt einer Zeitung als wichtigsten Teil meines tägliches Gepäcks in die „Dioda“ die „Grundlagen des Vermögensrechts“ mit. Aus dem Kroatischen von Bla`ena Radas 14.4.2009, 20:30 str. 51 52 RELA April TIONS AIDA BAGI] wurde am 24. Juni 1965 in Zagreb geboren. Nach dem abgeschlossenen Studium der Sprachwissenschaft und Philosophie an der Philosophischen Fakultät Zagreb absolvierte sie einen Magister-Studiengang in Politikwissenschaft an der Universität Massachusetts in Amherst, USA. In den letzten acht Jahren lebt sie abwechselnd in Zagreb und Belgrad. Aida Bagi} arbeitet als selbstständige Forscherin und Beraterin für Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Zuvor versuchte sie sich als Journalistin und Tellerwäscherin, Verkäuferin und Übersetzerin für Englisch und Deutsch, als Model und Redakteurin. Sie trat hervor als Begründerin von feministischen sowie Friedensorganisationen, einer GmbH und eines Handwerksbetriebs. In Kursen lehrte sie kreatives Schreiben, Kommunikationsfähigkeiten und gewaltlose Konfliktbeilegung. Sie berichtete über Parlamentsausschüsse und autonome Fraueneinrichtungen, über soziale Unternehmensverantwortung und internationale Unterstützung der Frauenbewegung, über Volontariatseinsatz und sexuelle Minderheiten. Gedichte und Prosatexte von Aida Bagi} sind in zahlreichen Zeitschriften erschienen. Der Gedichtband Wenn ich Sylvia heiße („Ako se zovem Sylvia“) versammelt das bisherige, in verschiedenen Zeitabschnitten entstandene lyrische Schaffen der Autorin. Die gemeinsamen Merkmale der darin präsentierten vier Gedichtzyklen liegen in dem Bemühen, sich im eigenen Fühlen zu sammeln und die Zeitlichkeit zu hinterfragen. Zu den wichtigen Topoi dieser Lyrik gehört die Hinterfragung der Identität, zumal der nationalen und der sprachlichen, vornehmlich aber der geschlechtlichen und sexuellen Identität. Der Einfluss der russischen avantgardistischen Literatur ist ebenfalls sehr stark spürbar und reflektiert sich in einem spezifischen, Ton angebenden Rhythmus, aber auch in einer deutlichen Engagiertheit. relations 2009.pmd 52 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Aida Bagi} Wenn ich Sylvia heiße Aida Bagi} Proustische Zeiten Jeder Blick zur Seite, mit dem ich am Rande den Teil eines Gegenstands, einer Bewegung, eines Bildes erhasche, wirft mich zurück in die Erinnerung. Ich sammle die Fetzen der Vergangenheit, Reflexe meines einstigen Inneren, und manchmal kommt es mir vor, ich könnte irre werden, wenn all das plötzlich auf mich einstürmt. Als gäbe es keinen einzigen vollkommen neuen Augenblick, der nicht Fragmente früherer Augenblicke in sich trüge, wie Scherben, die aus dem Sand stieben (was für Stürme haben mich erfasst?), und ich weiß nicht, was ich mit ihnen machen soll. Wenn ich es aufschreibe, bringt es nichts. Wenn ich es nicht aufschreibe, bringt es nichts. Unruhig bin ich so oder so, und die Erinnerung lässt sich nicht bezwingen. Ich wünschte mir Jetztzeit, Stillwerden, nur in diesem Augenblick sein. Hier und jetzt, hier und jetzt, wiederholen die bunten Vögel auf der Insel, die wie von Huxley erschaffen scheint, wiederholen die Selbsthilfe-Ratgeber, wiederholt meine beste Freundin, hier und jetzt. Jetzt, das sich nicht trennen lässt von dem Einmal, Einst, Damals, Irgendwann, Hier, welches nach dem Dort, dem Woanders ruft, wo gibt es diese Gesammeltheit im Hier und Jetzt? Jeden Tag arbeite ich an meinem Buch. Schnell und mühelos. Alle vergessenen Sätze, die ich im Halbschlaf niedergeschrieben habe, die in blitzartiger Inspiration wie Funken sprühten, die ich laut (nur für mich) und leise (selten nur für andere) ausgesprochen habe und die aus reinem Klang bestanden, drängen in diesen Tagen (es ist Herbst) auf mich zu wie an ein Ufer. Ich bin Wasser. Habe kein Ufer. Zerfließe. Habe keine Grenze. relations 2009.pmd 53 14.4.2009, 20:30 53 54 RELA April Das Plakat war echt O.K. Keine Ahnung, warum man es zerrissen hat. In kleine kleine kleine Fetzen. Da war wohl jemand sehr sehr sehr wütend. Ich setzte mich auf den Asphalt (falsch, ich habe mich nie einfach so, aus heiterem Himmel auf den Asphalt gesetzt) und fügte die kleinen kleinen Fetzen zusammen, wie sie mir in die Hände fielen, suchte nach den kleinen Fetzen, die ihm durch eine andere Hand genommen worden waren. Und so fiel mir Aschenputtel ein. Der, weil sie ausreichend hartnäckig und tüchtig war, am Ende die Tauben halfen und die Mäuse, und auch der Prinz erschien. Aber Aschenputtel lebte im Märchen. Weiß ich denn, wo ich lebe? „Es ist in der Tradition der russischen Literatur, ständig nach dem Sinn des Lebens zu suchen.“ Wie ungewöhnlich! Noch in meinen ersten Jugendjahren wurde ich zu einem Teil der russischen Literatur, dabei hatte ich damals von russischer Literatur kaum eine Ahnung. Zwar schrieb ich in mein Tagebuch: „Ist denn nicht so manches lächerlich?“ und träumte, dass Fürst Myschkin über die hölzerne Balkonbrüstung bis unter mein Fenster kam und mich ansah, mich ansah ohne zu verstehen – als ob er eigentlich nicht mich ansah, sondern irgendwohin ein wenig an mir vorbei. Es blitzte die ganze Nacht. Und es donnerte, nur ich habe es nicht gehört. Die Bäume habe ich gesehen, im grellen Schein der Blitze, für einen Augenblick nur, wie sie sich bogen und brachen, ich habe gesehen, wie das Wasser aus den Regenrinnen und an den Fensterscheiben herabströmte, und es erinnerte mich, dieses ganze Herabströmen, an eine Zeit, als all das, was ich jetzt nur beobachtete, von Geräuschen begleitet war, vor denen ich mich fürchete, von denen mir die Angst in die Knochen kroch. relations 2009.pmd 54 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Aida Bagi} Ich habe nichts mehr in den Knochen, Angst am allerwenigsten, jetzt finde ich es lächerlich, die Bäume zu sehen und das Wasser und die Menschen und die Tiere, wie sie vor dem Unwetter davoneilen und sich biegen und brechen und strömend übereinanderstolpern. Jetzt bin ich taub. Wasser. Und doch habe ich einmal auf dem Asphalt gesessen, wirklich, Ehrenwort, aber nicht hier, wo – was weiß ich, wo ich lebe, sondern irgendwo ganz weit weg im Ausland. Wir waren mehr als hundert und saßen auf dem Asphalt, mitten auf der Straße, jawohl, auch ich war dort und habe alles Mögliche getrunken, und noch immer lähmt sich mir die Zunge vor Angst, wie damals, als ich die Bullen kommen sah in ihren wie sprießendes Gras grünen Uniformen. Das war im Sommer zweiundneunzig in Freiburg. Die Bullen waren anständig. Sie haben uns sitzen lassen. Nachher haben die jungen Europäer mit ihrem gewaltlosen Sit-in geprahlt, und meine Freundin Vanja und ich haben einander nur ratlos angeschaut. Vanja sagt, ich bin aus Osijek. Die Leute fragen, wo das ist. Das ist weit weg, weit weg, und ich habe all die Lieder schon vergessen, die immer noch auf Radio em em zwei gespielt werden. Vanja sagt, dass ihr Vater, der Zigeuner ist und gern musiziert, einmal eine Tanne ohne Wurzeln in die Erde gesetzt hat. Eine auf dem Markt zu Silvester gekaufte, ganz normale, überhaupt nicht umweltbewusste, natürlich gefällte, tote Tanne. Sie grünte immer weiter, die frisch gefällte Tanne vom Neujahrsmarkt. Erlebte den Frühling. Hat Wurzeln gelassen und wächst. Eine gewöhnliche Silvesterund/oder Weihnachtstanne, mit einem Beilhieb abgeholzte Tanne. Und was hat das jetzt damit zu tun, ob ich hier und/oder da bin. Wurzeln bilden sich in guter Erde, sagte Vanjas Vater, der Zigeuner ist. relations 2009.pmd 55 14.4.2009, 20:30 55 56 RELA April Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen in einen hohen Turm. In der Nachmittagsbesuchszeit stieg sie die schmalen Treppen zur Wiese hinunter, auf der alle zusammen saßen, Vater, Mutter und sie, und sich über alltägliche Dinge unterhielten, bis die Mutter sagte, sie sei sehr müde und müsse zurückkehren. Das war fast immer pünktlich um vier, wenn die Dienst habende Schwester ohnehin das Ende der Besuchszeit verkündete. Die Mutter stieg die schmalen Treppen wieder hinauf, und sie und der Vater verließen das Krankenhaus und sprachen dabei über alltägliche Dinge. Macht nichts, sagte ich. Weißt du, die Weltgesundheitsorganisation hat vor kurzem Diagnosen abgeschafft. (In uns allen spielen sich lediglich unterschiedliche Prozesse ab, Tag für Tag. Eine Diagnose ist immer falsch.) Im Spiegel sah ich Wasserwirbel, die Gesichter trugen – Gesichter von Frauen, die Jahrhunderte, bevor ich geboren wurde, in ebendiesen Wasser untertauchten, nach eigenem Willen oder auf Veranlassung jener, die ihre Herren waren. Jeder Wirbel ist eine Frau, die vor ihrer Zeit getötet wurde. Wird eine ausreichende Anzahl von Körpern auf den Grund eines Flusses hinabgezogen, besänftigen sich die Wirbel und verschmelzen mit dem schlammigen Grund. Viele Körper sind notwendig, um einen Wirbel zu besänftigen. In bestimmten für Wasserwirbel glücklichen Tagen kamen die Körper, halbtot, in riesigen Mengen. Die Flüsse blieben danach noch sehr lange besänftigt. Wie kommt es, dass Flüsse nicht weinen, fragte ich als Kind. Wozu, fragten sich die Flüsse gegenseitig. An Wasserwirbeln kommen wir nicht vorbei. relations 2009.pmd 56 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Aida Bagi} draußen ist es besser maja sagt verbring nicht so viel zeit in deinem kopf maja ist weise gehorsam gehe ich hinaus aber in der viereckigen kammer über meinem linken ohr wohnen meine eltern ich zanke mit ihnen wie ein kleines kind sie sind in meinem kopf ich bin draußen, doch mein kopf tut weh weh weh trotzdem es ist besser draußen an der frischen luft als im eigenen kopf meer angst und sturm ich stehe vor dem morgengrauen auf und schaue schaue schaue wie sie vorbeiziehen wolken menschen flaschenpost ich lebe auf einer insel menschen ziehen in meinem kopf vorbei, wolken am himmel nachrichten in verschlossenen flaschen treiben an felsen entlang an die ich nicht herankomme es steht mir in die hand geschrieben ich darf die linien in meiner hand nicht zerreißen flaschen treiben eine zeitlang dann trägt sie das meer davon angst und sturm ich stehe auf und schaue schaue schaue in die eigene hand relations 2009.pmd 57 14.4.2009, 20:30 57 58 RELA April TIONS vom backofen und von turteltauben der backofen ist ein magischer ort das feuer FIRE segnet das essen: wir essen gebratenes fleisch kartoffeln und weißbrot lass uns das weihnachtsbrot aus weißmehl brechen und das rote ei zum schutz des hauses bewahren lass uns weiß und rot sein wie schneewittchen nie habe ich den dinar bekommen, der im weihnachtsbrot versteckt ist trotzdem bereite ich mir eine himbeermilch: der entsafter ist unser liebespfand und das sofa unser nest und der blick auf den wald von zvezdara und der tisch aus eschenholz und die stühle mit den hohen lehnen der backofen ist ein ort des übergangs aus einer welt in eine andere (wenn ich sylvia heiße) wir bewundern gegenstände MICROWAVE und polieren sie wir sind hochglanz GLOW große flecken gibt es hier nicht (obwohl sich staub angesammelt hat, ist das nicht unvermeidlich?) die mädchen sind auch weiterhin schön, und wir lieben sie wenn sie sich um den backofen versammeln, diesen magischen ort diesen ort des übergangs aus einer welt in eine andere (wenn sie sylvia heißen) wir sind anständige mädchen, gutenmorgenherrnachbar wir sind anständige gealterte mädchen, gutenmorgenfraunachbarin, daskleineistabersüß wir sind anständige mädchen, gutenmorgenliebste, gutenmorgenmeineinundalles ich möchte FUCK den staub abschütteln auf dem bauch kriechen vorbei an den himbeeren und weiter das rote ei ist zerbrochen mist wer soll nun unser haus schützen ich habe dir doch gesagt du sollst es aufräumen ich gehe schreien und du mach was du willst mir ist egal wohin ich gehe auch in den backofen wenn es sein muss (aber ich bin nicht sylvia. DELETE DELETE. also noch einmal: schau die turteltauben auf dem balkon, hier und dort. sie begleiten uns überall, gerade diese zwei) relations 2009.pmd 58 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Aida Bagi} 59 nach dem regen, die conquista am nassen fenster laufen regentropfen um die wette. zwei oder drei, während die übrigen zusehen, bereitstehen. kaum ist ein wettlauf zu ende, beginnt auch schon der nächste in bewegung versetzt vom wind, den ich nicht höre, oder es fällt den tropfen von selber ein, die scheibe hinunterzugleiten an diesem fenster hier, und an vielen fenstern in die grüne linie, zu der die bäume im nassen fenster verschmelzen, sind viele regen eingetaucht ich liebe Barbaras regen, die monsunregen die nicht enden wollenden den regen, der uns während der ganzen fahrt von Amherst bis an die küste Oregons begleitet ich liebe es, wenn ein regenschauer niederprasselt, den nieselregen im herbst den geschmack des regenwassers aus großvaters brunnen einmal habe ich im regen getanzt in nassen und grünen kleidern tanzten hunderte frauen im regen, auf tischen auf weißen tischtüchern, in Guadalajara einmal war ich ein conquistador im jahr fünfzehnhundertfünfundsiebzig trieb ich mein unwesen in Guadalajara. ich war ein jüngling, liebhaber von jünglingen, das war die conquista. Conquista, das ist der geheime name meiner geliebten und frau, im jahr zweitausenddrei Conquista Conquista Conquista, deinen namen trommelt der regen ich liebe die verschwommenen regenbogen nach dem regen (über uns ist nicht ein, sondern sind hunderte regenbogen) es ist einfach zu sagen es regnet aber ich sage lieber regen fällt Barbara sagt, das stimmt nicht und dass der regen aufsteigt an unsichtbaren fäden steigen die regentropfen aus den wolken herab zu uns, die wir warten, dass uns das wasser nicht wegspült dass wir nicht zurücklaufen, wie die tropfen am nassen fenster (und dort, weit weg wehten regenbogen, über den straßen von San Francisco und New York, Berlin und Paris. in Zagreb und Belgrad fiel regen) relations 2009.pmd 59 14.4.2009, 20:30 60 RELA April und tagelang übte ich auf den zehen ich stehe auf einem felsen ich klettere hinauf auf den zehenspitzen über dem meer das ist nur eine fotografie auf dem felsen verbrachte ich nur wenige minuten und trotzdem bin ich das, bin Winnetou und auf den zehenspitzen klettere ich die felsen hinauf weiche zweigen aus, während ich durch den wald schleiche ich jage den großen braunbär ich jage büffel und waschbären und wilde hyänen, das ist nicht das meer, sondern ein fluss rauscht die hänge der Sierra Nevada herab, und dort fange ich lachse mit den händen keine ahnung, ob es da lachse gibt keine ahnung, ob es wildflüsse gibt an den hängen der Sierra Nevada, auch Karl May hatte keine ahnung und trotzdem las ich dass der edelmütige wilde schleichend auf allen vieren auf den zehenspitzen geht unhörbar für tiere und menschen und tagelang übte ich auf den zehen im wohnzimmer auf dem teppich mit mustern aus trockenen zweigen relations 2009.pmd 60 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Aida Bagi} häufigkeit des geschlechtsverkehrs häufig in letzter zeit seitdem ich wieder vögle mit kerlen verkehre ich vorher dauerhaft während ich eintauche in ihre grünen blauen schwarzen (zärtlichen, sehr zärtlichen) blicke und ihre kuppen berühre wie erste frühlingserdbeeren gläsern in einer blauen plastikschachtel vollkommen sind sie süßlich und herb dauerhaft nicht häufig im durchschnitt drei bis vier stunden manchmal den ganzen vormittag statt einkaufstüten mit gemüse halte ich in den händen ihre brüste und lache relations 2009.pmd 61 14.4.2009, 20:30 61 62 RELA April natürliche methoden bin ich sie oder bin ich er oder bin ich (nicht) das eine und das andere es ist unwichtig, wenn ich mit ihr unter der decke liege es ist wichtig, während wir angezogen durch die stadt gehen lesbensau verdammte, sagt ihr onkel und ich erschaure es ist wichtig, wenn ich formulare ausfülle auf dem arbeitslosenamt, beim arzt wie verhüten sie, fragt mich die schwester in weiß und blau ich verhüte nicht, antworte ich laut natürliche methoden, schreibt die schwester in meine karteikarte es ist in der tat natürlich, frauen überall zu küssen relations 2009.pmd 62 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Aida Bagi} die spinnräder drehen sich schnell (postrevolutionäres lied, zum singen auf dem markt) spinnräder sind heute voll automatisiert unter neonleuchten die spinnräder drehen sich schnell und immer schneller der fabriklärm ist laut und immer lauter während abertausende dornröschen flüstern lass mich schlafen lass mich schlafen einhundert jahr lass mich schlafen einhundert jahr, und dann soll mich jemand küssen soll mich jemand küssen an einem anderen morgen lass mich schlafen die zeiten sind anders, schnell und aus neon die dornröschen von heute machen turnschuhe, turnschuhe t-shirts frauen t-shirts billige t-shirts frauen schlüpfer t-shirts auf den märkten in kaleni} und dubrava1 die fabriksdornröschen reiten auf schimmeln hoch hinauf in den von weißen streifen durchpflügten himmel wie im himmel so sei es auch uns an den spinnrädern wir bitten dich die dornröschen haben keine schwefelhölzer bei sich, hier haben sie handys, dort fertigen sie mikrochips reinste science-fiction, auf einen erlösungskuss zu hoffen einzig noch salvation army mercy corps und world vision alles kreuzritter und mondsüchtige, reden von einer besseren zukunft die spur der revolution ist in den straßennamen die spur der revolution ist im denkmalerbe die zeiten sind rasant werden immer rasanter und mikroskopisch hier sind für sie rosen und nelken zum achten märz wie im himmel so sei es auch uns an den spinnrädern wir bitten dich 1 relations 2009.pmd Kaleni} pijaca und Dubravski plac sind große, ganzwöchige Märkte in Belgrad und Zagreb, auf denen sich weniger kaufkräftige Bevölkerungsschichten mit Gebrauchsartikeln aller Art versorgen (Anm. d. Übers.). 63 14.4.2009, 20:30 63 64 RELA April TIONS geometrie des raumes, den ich bewohne II ich gebar ein kind in einer parallelen realität: dort, wo die berliner mauer noch immer steht dort, wo man die kastanienbäume der alleen nicht gefällt hat dort, wo immer noch an dämmrigen herbstnachmittagen tschernobyl kiew beleuchtet während olena popik1 nach der arbeit mit freundinnen etwas trinken geht in dieser parallelen realität ist mein kind eine junge frau: mit der macht ihrer neunzehn jahre entscheidet sie über leben und tod irgendwelcher unbekannter wesen. sie verliebt sich, es ist nicht das erste mal. sie hasst mich, aber ich weiß, es wird nicht lange dauern mein sohn ist wunderschön (wie jeder sohn) in einer anderen parallelen realität: er versucht sich in seiner männlichkeit und ist verwirrt, als er begreift, dass die welt nicht seinen worten gehorcht, als er begreift, dass die welt sich widersetzt, ohne das geringste wohlwollen er hasst mich, aber ich weiß, es wird nicht lange dauern in allen parallelen realitäten ist vergänglichkeit immer gleich 1 relations 2009.pmd Ukrainische Prostituierte, die sich u.a. in Bosnien und Herzegowina aufhielt und im November 2004 mit 21 Jahren an Aids verstarb. 64 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Aida Bagi} gedächtnisschwund ist kein gebrechen I. gedächtnisschwund ist kein gebrechen es ist eine arznei plötzlich ist nicht mehr einundneunzig, auch nicht neunundachtzig einundsiebzig hat es so gut wie nie gegeben noch weniger achtundsechzig (wenn ich immer jetzt und hier bin, wie soll ich mich da an irgendetwas erinnern?) II. ich verschreibe das vergessen der vergangenheit, des redens und der offenen wunden, täglich einzunehmen gleich nach dem aufwachen damit die träume nicht hochkommen in den träumen die erinnerung in der erinnerung das klare bild des augenblicks als alles aus der bahn geriet wenn ich mich nicht erinnere, ist es nicht geschehen im traum ist es weiß und sicher, nichts tut weh III. mit tiefen wassern wässre ich das vergessen auf dem fensterbrett wachsen vergissmeindoch relations 2009.pmd 65 14.4.2009, 20:30 65 66 RELA April sie sprechen im chor: liebtmichdochliebtmichnicht liebemichichliebesienicht mein name leicht, ganz von licht meine hände vorm gesicht meine haare schwer und dicht verriegelt die tür vergessen soll herrschen es sei erde es sei wasser es sei nacht und es sei tag IV. wenn du vergisst ist die welt leicht und dein nur diese narbe an deinem arm ist schon immer da wächst mit dir dysthymie einzig noch die scham und angst in mir sind scham und angst, weil sie in mir nicht mehr sind mich bewegt die freude kurzer augenblicke ich glaube, das ist so dank zyklischen wechseln gibt es keine freude so ruhe ich immer länger ruhe ich relations 2009.pmd 66 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Aida Bagi} ich würde lieber wachsen ich bin nicht mehr bereit, auf ein ziel zuzuschreiten große ereignisse zu erwarten und zu hoffen auf eine revolutionäre zukunft, welche die welt verändert in ihren wurzeln heute würde ich lieber wachsen an einem fluss mit einem würzelchen über kieselsteine streichen ein baum am ufer sein ich würde wachsen im guten wie im bösen gebunden an den boden und frei zum himmel zur wolke und zum regen und zum regen und zur wolke Aus dem Kroatischen von Silvia Sladi} relations 2009.pmd 67 14.4.2009, 20:30 67 68 relations 2009.pmd RELA April 68 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 69 70 RELA Mai TIONS Das dritte Prosawerk von NEVEN U[UMOVI] (geboren in Zagreb, 1972, aufgewachsen in Subotica) zeigt, dass wir es hier mit einem Autor zu tun haben, der in der kroatischen Prosaszene einen besonderen Platz einnimmt. Als Übersetzer und großer Kenner der zeitgenössischen ungarischen Literatur hat U{umovi} in seiner bisherigen Prosa einen lebendigen und reifen Dialog mit einer Reihe großer ungarischer/europäischer Schriftsteller geführt, ein Gespräch, dessen Höhepunkt der Erzählband Der Mohnsamen („Makovo zrno“) ist – eine Art neue-Welt-schaffendes Übersetzen eines Werks eines anderen Schriftstellers aus Subotica, für viele des ersten modernen ungarischen Prosaisten, Géza Csátha (1887-1919). Doch hier handelt es sich weder darum, eine „Angleichung durch den Ort des Schaffens“ an die Heimat zu betreiben, noch um schriftstellerische „Klangangleichung“: Indem er neue Texte schreibt, die von den Zerstörungs-Motiven Csáthas inspiriert sind, versetzt sie U{umovi} in das Subotica der Kriegszeit und der Zeit unmittelbar danach, in die eigene Geschichte, Sprache und Literaturtradition und schafft so eine neue Dialogachse (Zagreb – Budapest – Belgrad und alles via Subotica) und Erzählwelten, in denen sich Csáthas Figuren wie zu Hause fühlen könnten, auch wenn zwischen ihrer Geburt hundert Jahre liegen. Originalität, Konzept, Ausführung ... U{umovi}s schriftstellerischer Zugang kann mit nichts verglichen werden, was die kroatische Literatur heute zu bieten hat. Kraftvoll und zerstörerisch flößt die Prosa im Mohnsamen Schrecken ein und bringt uns zum Lachen, durch ihre naturalistischen (und symbolischen und expressionistischen) Spiele simulieren sie den Lauf der Geschichte – das Wirken der Geschichte auf uns, so wie auf alle Zeichensysteme, das Wirken, das am Ende auf eine vernichtende und befreiende Ironie hinausläuft. NEVEN U[UMOVI], geboren 1972 in Zagreb, in Subotica aufgewachsen. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb studierte er Philosophie, vergleichende Literaturwissenschaften und Ugristik. Ab 1996 arbeitete er als Bibliothekar in Zapre{i} und seit 2002 ist er in Umag tätig. Er hat den Erzählband 7 junge Menschen („7 mladih“, Verlag MD, 1997) und den „kurzatmigen Roman“ Exkursion („Ekskurzija“, Verlag MD, 2001) veröffentlicht. Aus dem Ungarischen hat er Béla Hamvas, Ferenc Molnár, Péter Eserházy und Ádám Bodor übersetzt. Mit Stjepan Luka~ und Jolán Mann hat er die Anthologie zeitgenössischer ungarischer Kurzgeschichten Das Aufscheuchen der Vogelscheuche („Zastra{ivanje stra{ila“, Verlag MD, 2001) herausgegeben. relations 2009.pmd 70 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Neven U{umovi} 71 Der Mohnsamen Neven U{umovi} M it den Fingerkuppen versuchte ich erfolglos den Zinnsoldaten in seiner Hose steif zu bekommen. Ich kann noch nicht mal behaupten, dass er mich nicht beachtet hätte; Jo{ka beachtete mich, aus Anstand ließ er mich machen, rücksichtsvoll, damit ich ihm bloß nicht seine Arbeit verdarb. Die Zubereitung von Mohntee war eine sehr ernste Angelegenheit. Schließlich konzentrierte auch ich mich auf die Zubereitung und ließ den Soldaten in der Asche unserer Zärtlichkeit ruhen. Sah er, was ich sah oder sah er tatsächlich nur das: Mohnkapseln, Mäusekot, ein Stück Zitrone, Honig und eine Teekanne? Entfernte er einen Teil von mir, der an seinem eisigsauberen Herzen haftete, während er angeekelt Mäusekot wegmachte – den übrigens immer nur er fand? Der Tee würde den Weg zwischen uns nicht ebnen, die Unerreichbarkeit, die Abwesenheit von Berührungen, von jeder Leidenschaft. Meine Handflächen waren noch heiß, noch konnte ich sehen, wie er wuchs und pulsierte in meinen Händen, unter meinen Fingern. Jo{ka beendete seinen Teil der Arbeit. Ich legte die Kapseln nacheinander in den Topf, gab die Zitrone dazu und übergoss alles mit Wasser. Der Holzofen wärmte uns schon, unter dem Topf knisterten Wassertropfen, die vom Waschen übrig geblieben waren. Etwa zwanzig Minu- relations 2009.pmd 71 ten würden wir den Tee kochen, danach musste er ziehen und abkühlen. Das Großmütterchen, von der wir die Kapseln gekauft hatten, lebte in einem Haus, das schon am Stadtausgang von Subotica lag, beim Friedhof von Sen}ani, in der Nähe der Bahngleise. Jo{ka brachte das Opium oder im schlimmsten Fall die Kapseln aus Budapest, aber dieses Mal hatte er sich verrechnet, sein Drama wurde nicht angenommen, sie hatten ihn nicht nach Pest eingeladen und er musste sich auf die Quellen in Subotica verlassen. Er hatte große Hoffnungen in das Drama gesetzt, er sah ihn ihm ein Pfand seiner endgültigen Affirmation, einen großstädtischen Erfolg. Während der Erfolg jedoch nur ihm gehören würde, fiel der Misserfolg auf alle, die ihm nahe standen, auf uns alle, wir alle waren schuld. Die alte Dalmatinerin sah uns misstrauisch an, ihr Ungarisch war erbärmlich schlecht; es beschränkte sich auf einige Wörter: wie viel, habe ich – habe ich nicht. Wie ein Mantra murmelte sie etwas wie: dico, dico, dico. Sie ließ uns lange in ihrer Küche sitzen, die nach geräuchertem Fisch roch, Stockfisch hing in Stücken wie Fledermäuse an den Wänden. Es war innen übertrieben warm, Jo{ka wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, während wir durch zwei Fenster mit eingeschla- genen Scheiben das Schneetreiben beobachteten. Endlich tauchte sie auf, aber nicht mit den Kapseln, sondern mit Glasbehältern, in denen sich schon eine trübe Teeflüssigkeit befand. Jo{ka wurde wütend und begann zu fluchen, er wusste genau, was er ihr gesagt hatte, unmöglich, dass sie ihn nicht verstanden hatte, wer weiß, was sie da reingetan hatte, aus welcher Scheiße sie den Tee gebrüht hatte. Er ging mit ihr hinaus und ließ mich allein in der Küche zurück. Ich zog meine Finger lang, einen nach dem anderen, streckte mich, und fühlte das Wohlbehagen einer Katze in ihrer Biegsamkeit. Jo{ka zog mein Körper nur als schmerzendes Instrument seines Zornes an, kurze Augenblicke des Genusses fand er nur in diesen dumpfen Schlägen und vielleicht beim Betrachten meines verformten, angeschwollenen Gesichts. Seine Ausbrüche waren nicht vorhersehbar und ich fühlte, dass er mich in solchen Momenten am liebsten töten würde. In den Dramen, die er schrieb, war nie Platz für mich gewesen, in keiner Figur konnte ich mich wiedererkennen und ich fühlte sein Unbehagen, wenn ich als seine Begleiterin bei einer der Premieren in Pest auftauchte. Ich erkannte lediglich dieses Genießen beim Entstellen, das selbstgefällige, spöttische Lächeln, das immer wie eine Pose auf seinem Gesicht war und hinter allem stand, was er 14.4.2009, 20:30 72 RELA Mai schrieb und tat. Genau in dieser Verfassung erschien er jetzt in der Tür und sagte zu mir komm, wir gehen; er hatte eine kleine Jutetasche in der Hand. Wir hatten die Kapseln von der Alten bekommen, die uns wahrscheinlich verfluchte, während wir gingen. Der verdammte Tee wurde kalt, jetzt konnte man ihn trinken. Jo{ka goss ihn durch ein Sieb und stellte ihn auf den Tisch. Er hatte sich rittlings auf den Stuhl gesetzt, sein untrügliches Gespür für das Theatralische brachte ihn zu dem Punkt, der ihm die größtmögliche Entfernung zu mir garantierte. Irgendwo habe ich gelesen, dass genau diese Entfernung für geistige Gespräche am produktivsten ist, doch hier ging es sicher nicht darum. Der Tee hatte einen unbeschreiblich ekligen Geschmack. Ich hatte drei Esslöffel Honig hineingetan, eine halbe Zitrone ausgepresst und alles umgerührt. Jo{ka hatte bis dahin schon eine Tasse getrunken und nippte an der zweiten. Alles war vorhersehbar, sein kurzer Monolog über Opium war zu erwarten. Während ich dieses Gift schlürfte, sah er mich hingerissen an, als sähe er vor sich einen vollen Zuschauersaal. Verhundertfacht würde ich ihm vielleicht wieder gefallen. -Diese niederen menschlichen Wesen (über Menschen um sich herum sprach er immer als menschliche Wesen) wissen nicht, was Genuss ist. Sie befriedigen ihre Wünsche mit Vorsicht, denken dabei immer an ihren Arbeitsplatz, ihre Familie, ihr gesellschaftliches Ansehen. Pfui! (unbedingt zweimal) Pfui! Die große Liebe (ha, ist ihm rausgerutscht, er hasst dieses Wort) äußert sich nur in großem Genuss (hier dachte er sicher nicht an unsere „große Liebe“, zwölf vergebliche Jahre). Wegen dieser miesen Arschlöcher und ihrer langweiligen und widerwärtigen Vergnügungen ist diese Welt zu einem Ort ohne Risiko und echte Aufregung geworden. Unser an- relations 2009.pmd 72 geborener Hedonismus zur Feier des LEBENS (für manche immer in Großbuchstaben) ist zu ihren Gefängnissen verdammt, die in ihrer Sprachlosigkeit (alle sind sprachlos, ich ganz besonders) Theater und Konzerthallen genannt werden. Ich habe ihm nie applaudiert, eventuell fragte ich ihn, welcher seiner Helden dies sagte. Nach einer kurzen Pause antwortete er immer nur mit Namen: Géza oder Dide oder Otto oder László. Dieses Mal war ich konkreter: – Wirkt er bei dir? – Was? – fragte er, als ob ich nach seinem Monolog fragte und nicht dem Tee. – Der Tee. – Ja – antwortete er wie ein Echo. – Ich mag lieber reines Opium, das hier benebelt mich, bis jetzt ist mir nur schlecht davon. – Warte ab, bis es dich zudröhnt. Wir holten die Schlittschuhe aus der Tasche und gingen nach draußen. Ich fühlte mich nicht gut, ich war sicher, dass es schon dämmerte, doch die Dunkelheit und der Nebel saugten noch immer nur den Mondschein auf. Jo{ka ging ständig dicht hinter mir her und schubste mich grob, als ob er mich zur Erschießung führte. Wir kamen am Ufer eines zugefrorenen Sees an. Von einer Bank, auf der früher bestimmt vornehme Damen ihre Sommer verbrachten, unter ihren Hüten und bunten Sonnenschirmen dösten, wischten wir eine dicke Schneeschicht weg und setzten uns, um unsere Schlittschuhe anzuziehen. Auf Jo{kas Wunsch hin hatten wir sie vor langer Zeit gekauft, schwarze für ihn, weiße für mich. Der Tee hatte uns verstummen lassen. Ich lachte sinnlos über alles: das Ausziehen der Schuhe, endlos langes Zuschnüren, Fußsohlen, die mit Widerstand in ihre neuen grotesken Käfige gingen. Ich hörte TIONS auch Jo{kas gedämpftes Lachen, spöttisch und entschlossen. Ich eilte aufs Eis und war sofort im Nebel verschwunden. Eine Zeit lang war nichts zu hören, nur das leise Quietschen unter meinen Füßen und das Knirschen des Eises. Noch nicht einmal das obligatorische Bellen der Wachhunde war aus der Ferne zu hören. In einem Augenblick schien mir, ich hörte das schwere Flattern eines ganzen Schwarms Krähen über mir. Ich konzentrierte mich auf das Geräusch und erfand darin ein Gespräch unsichtbarer Vögel, das in meiner Übersetzung eine obszöne Unterredung war. Ich hörte sie Wetten darüber abschließen, dass meine Brustwarzen nicht annähernd so schön waren wie Walnüsse, an denen sie sich gestern satt gefressen hatten. Eine Abwechslung käme ihnen aber gelegen, meinten sie. Selbst wenn diese wenigen Happen viel Arbeit bedeuteten: Mantel, Bluse aufreißen, Herumgezerre, ekliges Blut. Ich stürzte über eine Wölbung auf dem Eis, genauer eine breite Eisnarbe, die durch das Zusammenprallen der Eisblöcke entstanden war. Es war ein schlechtes Zeichen: Die Narben bilden gewöhnlich ein ganzes Labyrinth, vereinen sich zu Eisbergkränzen, die man manchmal nur auf allen Vieren überqueren kann. Meinen Ängsten zum Trotz legte ich mich auf den Rücken und gab mich den Nebelschwaden hin, genauer Nebeldecken. Ich sah Eisfunken zwischen den Nebelschichten und dem Eis sprühen. Ich fühlte, als ob ich auf einem Schiff liegen und zum Mond schwimmen würde. Der blasse lichte Punkt, den ich als Ziel bestimmt hatte, rief mich zu sich. Die Nebelschwaden trieben vor meinem Eisschiff auseinander, Licht breitete sich aus, die Dunkelheit zog sich in weite Ecken zurück. Ich musste meine Augen mit den Händen bedecken und erst als ich entdeckte, dass mich dieses Licht wärmte, warf ich erneut 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Neven U{umovi} einen Blick hin. Die Sonne; nicht der Mond. Die ganze Zeit hatte ich in die Sonne geschaut. Der Schrecken ließ mich zusammenzucken, ich richtete mich auf. Unter einem Bein formte sich eine Blutspur. Die Wunde war nicht groß, doch alles dauerte nun schon zu lange. Am Horizont sah ich Jo{ka verschwinden, klein wie ein Mohnsamen. Schüsse waren zu hören, er hatte immer eine Pistole bei sich. Vielleicht schoss er auf Krähen? Vielleicht versuchte er mich zu treffen? Ich wünschte, er würde in einem der Angellöcher im Eis verschwinden, im tiefen Wasser, zwischen fetten Süßwasserfischen und schlammigem Gras. Und tatsächlich, ein Schrei und das Aufbrechen des Eises waren zu hören. Es wirkte relations 2009.pmd 73 noch immer. Es hatte mich zugedröhnt, wie meine einzige Liebe es ausgedrückt hatte. Wegen des Lichts konnte ich das Ufer nicht sehen, der Schmerz rührte und wirbelte ununterbrochen mein Gehirn. Der Schmerz wurde bald in durchdringenden Akkorden stärker, die spiegelglatten oberen Schichten der Eisblöcke begannen aufzureißen. Der Lärm wuchs langsam an, verwandelte sich in kläffende Maschinengewehre, die unbarmherzige Sonne zog an hundert Strängen dieser gigantischen Zither, die in Unendlichkeit zerfiel. Spiegelfilme barsten um mich herum, Milliarden Prismen brachen das Licht und schufen unerreichte abstrakte Mosaiken. 73 Endlich endlich bekam ich die Hauptrolle, endlich meinen Monolog, meine Verhundertfachung. Dankbar drehte ich mich in die Richtung, in die Jo{ka verschwunden war, doch ich konnte nichts erkennen. Die Bühnenscheinwerfer hatten mich geblendet. Ich lehnte mein Ohr ans Eis: Auch unter mir dröhnte es, man konnte hören, wie die Körper der fetten Süßwasserfische aufeinander prallten. Ihre Unruhe war verständlich, das Fressen war endlich da und es galt, sich zu seinem Teil durchzukämpfen. 14.4.2009, 20:30 Aus dem Kroatischen von Bla`ena Radas 74 RELA Mai TIONS Vere{ Nach einer bestimmten Zeit – oder wäre es besser zu sagen: einer unbestimmten!? – begann ich Stunden um Stunden mit Problemen folgenden Typs zu vergeuden: Budapester, Budaer oder Pestaner? Was wäre eigentlich die richtige Bezeichnung für diese Leute um mich herum – meine vorläufigen Mitbürger? Dieses Problem bekäme ungeahnte Dimensionen, wenn ich mich mit einem Metronom auf dem Deáko Platz (also in Pest) auf die andere Seite der Donau aufmachen würde, zum Bahnhof Déli. Denn: Auf welcher Seite kommen die Pestaner heraus und die Budaer herein – vor oder nach der Überfahrt über/unter der Donau!? Also, Soro{’ Geld ist noch nie sinnloser ausgegeben worden! Alle meine Studienaufgaben erledigte ich zwar eifrig, mein Englisch vertiefte ich bis zum Umfallen; aber wenn ich mich draußen befand, auf der Straße, tauchte ich atemlos in den trüben Tiefen des ungarischen Gemurmels, krümmte mich und verkleinerte mich bis zur Größe des Punktes beim Ausrufezeichen: Budaer oder Pestaner? Pest ist wunderschön – schrieb ich in Ansichtskarten, die ich nach Hause schickte – die Donau breit und der Gellerthegy hoch. Danach meldete ich mich zu Hause nicht mehr mit Ansichtskarten. Ich wurde ein Pestaner. Budaer! Zum Glück bestand meine existentielle Sorge lediglich in der Auswahl eines billigen aber guten Menüs (als relations 2009.pmd 74 ob nicht alles, was der großstädtischen Masse angeboten wurde, nicht von vorne herein billig und gut wäre!). Von allen nationalen Selbstbedienungsrestaurants entschied ich mich bald für chinesische und gewöhnte mich an sie. Nun hing es nur von der Kraft und der Zeit ab, die ich für den Spaziergang aufbringen wollte, ob ich ins Kinai fal, Kinai nátha, Shangai oder ins Aranysárkány ging. Das Essen hatte überall denselben Geschmack: Die milde Süße des Reises, Sojasoße, die eingerührten Eier und zerkochten Möhren passten bestens zu dem, vorsichtig ausgedrückt, unbestimmten Geschmack von Tofu oder Geflügelfleisch. Genau das war ich – diese unerträgliche eklige Süße – sagte ich zu mir selbst in Momenten der Verzweiflung. Mit der Zeit überwog dennoch das Aranysárkány (Goldener Drachen). Als ich dann eines Tages in der Reihe auf meine geliebte Portion Reis mit Eiern, Tofu und eingelegten Bambussprossen wartete, hörte ich ein bekanntes Fluchen, ein Fluchen in meiner Sprache. Ich drehte mich um, der junge Mann, von dem ich dachte, dass er zu 100% ein Ungar war, zählte heftig agitierend verschiedene kroatische Ausdrücke für Geschlechtsorgane auf, wobei er ohne zu zwinkern an die Decke starrte! Mir schien, er versuchte damit, einen für mich unsichtbaren aber konkreten Schmerz zu mildern. Was ist das Problem, Landsmann? – rief ich ihm zu. Als ob unser Kroatisch mitten in Pe{t die normalste Sache der Welt wäre, antwortete er mit einem Blick und zeigte weiter auf die Decke. Scheiße, ich habe heiße Sezuansuppe auf meine Schuhe gegossen, es wäre besser, wenn ich sie in den Backofen geschoben hätte! Die Tür im Hintergrund ging auf und ein junger Mann mit dem Namen – wie ich bald erfahren sollte – Vere{ verschwand in der Dunkelheit. 2. Ins Aranysárkány ging ich gewöhnlich zum Mittagessen, gegen zwei. Ich schob mich nicht sofort in die Schlange, die Tasche mit den Notizen und der Literatur stellte ich auf den erstbesten freien Tisch im kleinen Hinterraum; dort waren vier Tische mit vier Hockern aufgestellt. Am Tresen wechselten sich immer zwei Personen ab: außer den Chinesen arbeitete dort eine Inderin und unter ihnen eben auch unser Vere{. Es roch jeden Tag gleich, obwohl sich die Gerichte auf dem Menü änderten. Im ersten Moment schien etwas Pikantes und verlockend Süßes in der Luft zu sein, doch wenn man sich an den Tisch setzte, überwältigte einen das Gefühl der Leere, des Überdrusses, so als ob jedes Lebens- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Neven U{umovi} mittel auf seinem Weg von China nach Ungarn ein osteuropäisches Desinfektionslabor durchlaufen hätte. Eine andere Geschichte war die Hygiene, die im Restaurant herrschte; Sauberkeit ohne Glanz. Eine Sauberkeit, die unter die Haut ging, dampfte aus den Keramikfliesen wie in einem Bad und beschlug Stirne und Wände. Diese sehr schlichte Sauberkeit, rational und unbestechlich. Es gab keine Musik, die Gäste aßen in Ruhe. Es wurde noch nicht einmal geraucht, nur die Dampfwolken über den tiefen rechteckigen Essbehältern füllten den Raum. Es gab nirgends Fenster. Deshalb saßen manche nur auf den ungemütlichen hohen Stühlen – „im Schaufenster“. Ich hielt mich an meine Ecke, mir genügten die klangvollen chinesischen Stimmen, die mich vom beklemmenden Käfig der ungarischen Wörter befreiten, von diesen Jó napot... Tessék... Ez nagyon finom, ez is, hogyne... persze... Jó étvágyok. Vere{ warf ihnen ein Wort im Gehen zu. Seine Gehetztheit deutete nicht darauf hin, dass er mit Chinesen arbeitete. Er hatte nichts von ihrer gleichmütigen Freundlichkeit angenommen; im Gegenteil, er war wie jemand, der zwischen uns allen eine Maske suchte, die er unwiederbringlich verloren hatte. Nach der Reis-Tofu-Ei-Soja-Soße auf 2-3 Arten, saß ich allein da mit einer Tasse grünen Tee. Die raupendicken Teeblätter stiegen vom Boden der Kanne nach oben, als ich mir in die kleine weiße Tasse nachgoss und unterbrachen ständig den ohnehin dünnen Strahl. Mit jedem Schluck breitete sich in meinem Innern eine blumige Ruhe aus. Vere{ pflegte in solchen Momenten der Ruhe Unsinniges von sich zu geben: – Die Hunde bellen und du schläfst, Landsmann! – Pass auf, dass du nicht runerfällst! (ohne „t“!) relations 2009.pmd 75 – Hehe, klappere nicht mit den Holzpantoffeln! Und wenn er besonders gut gelaunt war, fing er an, mir ein ungarisches Kinderlied ins Ohr zu singen: Hull a hó és hózik-zik-zik, Micimackó fázik-zik-zik... über Winnie Pooh, der fror. Ich musste diesen Vere{ kennen lernen, eines Tages. Eines schönen Tages; lächelte ich vor mich hin und setzte die Tasche auf dem Rücken! Szia (Hallo, hi) Vere{! 3. Ich blieb an diesem Tag länger in der Szécsenyie Bibliothek – im Aranysárkány war ich erst um vier Uhr nachmittags. Ich dachte, jetzt bekomme ich sicher nur Reste von den Resten zu essen, doch es war alles wie gehabt, als wäre es erst Mittag: Schüsseln voll mit heißen chinesischen Spezialitäten, berauschend süßlich, pikanter Dampf in der Luft, freundliche, grobe, maskenhafte chinesische Gesichter... Nur Vere{ war nicht da. Seine Schicht war offensichtlich zu Ende. Als wüssten sie, dass ich – einer Logik nach – hungriger war als sonst, häufte die Bedienung gekochten Reis und Salat auf meinen Teller. Schnell setzte ich mich an meinen Tisch und machte mich an die Arbeit. Als mir von der scharfen Soße die ersten Schweißperlen heraustraten, erschien aus einem mir unbekannten – beziehungsweise von mir bisher nicht bemerkten – Raum, mein Vere{, wie er leibte und lebte. Er kam direkt auf mich zu; ohne jede Begrüßung oder Frage setzte er sich an den Tisch. – Wir haben Glück, dass es diese Chinesen gibt – sagte er laut, als ob die Chinesen sein Kroatisch verstünden. Dann schwieg er, wartete, dass ich aufaß, damit seine Kollegen uns Tee brachten. 75 Doch Vere{’ Geschichte begann lange bevor der Tee in unseren Schälchen abkühlte: – Abgehauen bin ich, wie jeder andere „Bürger Serbiens“, der etwas im Kopf hatte! Ja, stimmt, viel habe ich nicht in der Birne, und das Wenige werden mir die Ungarn noch austreiben. – Warte, das sind doch aber deine Landsmänner, Vere{ ist ein ungarischer Nachname, du bist irgendeine vojvodinische Mischung, oder du bist ein reiner ... – Ein reiner Kroate, man schreibt mich mit einem „{“ am Ende: nicht so, wie die Ungarn schreiben, ohne Häkchen. – Tja, sagte er dann zynisch – hier bin ich Ungar, für alle, außer für dich, ha! Die Ungarn aus Vojvodina hatten sich, wie sie konnten, vor der Reserve gerettet, unter den serbischen Kriegsreservisten konnten sie nur als Opferlämmer durchgehen. Einer der Rettungswege war die illegale (denn die serbische Polizei war wahrscheinlich informiert) Flucht über die Grenze. – Ich bin über Kelebija geflohen, mit ungarischen Freunden. Die hatten alle schon jemanden drüben, der ihnen die Vorgehensweise beschrieben hatte. Und das war auch kein echtes Fliehen, weil sich alles unter Kraus’ Regie abgespielt hatte, Mihajlo Kraus, des Zollbeamten. Er wartete an einer genau abgemachten Stelle und kassierte für die Überführung Geld. In dieser Nacht schlugen wir uns stundenlang auf den sandigen Waldwegen in Kelebija durch. Kraus fanden wir erst bei einem entlegenen Hochsitz. Dieser Kraus, das war eine knöchrige Vogelscheuche, mit einem Gesicht, das eine höllische Säure verbrannt hatte; er hatte eine riesige Nase, in dessen Wurzel gelbe Augen hocken. Die größte Erniedrigung war das Warten auf die Untersuchung und das in strenger Reihenfolge – sobald jemand aufmuckte, krächzte er los! Das wich- 14.4.2009, 20:30 76 RELA Mai tigste war natürlich das Geld, er nahm alles, mindestens tausend Mark pro Kopf. Eine größere Summe bedeutete bloß kürzere Untersuchung und höflichere Kommunikation. Er zog uns ganz aus, überprüfte jedes Dokument, das wir bei uns hatten, noch die kleinste Kleinigkeit, die wir dabei hatten und warf dann alles auf einen Haufen (Uhren, Halsketten und ähnliches endeten ohne Widerrede auf einem Sonderhaufen). Er ging ohne viel Kommentar vor, routiniert und präzise wie ein Metzger; wir waren seine Schlachttierhälften für den Schwarzhandel in Ungarn. Obwohl wir wussten, was folgen würde, konnten wir ein Aufschluchzen nicht unterdrücken, als er diesen Haufen mit den persönlichsten Sachen mit flinken Bewegungen, und mit Hilfe zweier junger Soldaten, mit Benzin übergoss und anzündete. Erleuchtet von diesem Scheiterhaufen verdammte uns unser Zerstörungsengel mit einem lauten: Und jetzt packt eure Kleidung und verschwindet! Wir rannten sofort los, als ob uns eine Armee Bluthunde verfolgte. Als wir auf einer Lichtung angelangt waren, krochen wir eine Zeit lang auf gefrorenen Weiden und Äckern. Wir mussten jetzt bis Pest unsichtbar bleiben! Zum Glück umhüllten uns in der Nähe von Tompa, dem ersten ungarischen Ort, das auf unserem Weg lag, Nebel- und Rauchschwaden. Es dämmerte und erst jetzt spürten wir die Kälte des Wintermorgens und Müdigkeit. Unser Schritt stockte. Der Geruch von Verbranntem schnürte uns die Luft ab und eine gespenstische Taubheit mit dem Echo erstickter Schreie legte sich über uns. Wir fühlten uns wie eine verbrecherische Bande, wie Tschetniks, die ein eben verbranntes Dorf beschnüffelten. Wir erwarteten Schüsse, Belagerung. Die ersten Lebenszeichen bemerkten wir im Hof eines luxuriösen, kürzlich angebauten Hauses. Die Bewoh- relations 2009.pmd 76 ner Tompas hatten sich nämlich unlängst vom Spaten verabschiedet und waren Händler geworden – dank des Embargos, mit dem der serbische Topf überstülpt worden war, hatte sich dieses Dorf in ein Händler-Mekka verwandelt. István und ich hatten uns bereit erklärt, für unsere Fluchtgemeinschaft Ausschau zu halten. Langsam näherten wir uns der Umzäunung und lauschten dem Zischen des – wie uns schnell klar wurde – Gasflammenwerfers. Einige Männer in schwarzen Gummistiefeln und Mützen auf dem Kopf, wateten in Lachen frischen Blutes. Sie spießten ein riesiges totes Schwein auf, während ein Mann in einem fleckigen weißen Mantel die Haare mit einer Flamme absengte. Der Geruch angebrannter Schweinshaut war es, das uns schwer auf dem Magen lag und Angst in die Knochen jagte, soviel wussten wir nun. Ko}am, ko}am – weinte das Mädchen hinter dem Rücken der Mutter – szegény ko}am, leöltek most tegéd, leölték... Bereits am Abend hatten wir uns in Ungarn verstreut – alle fanden sich schnell zurecht. Wir wollten nichts miteinander zu tun haben, als wären wir alle an einem blutigen Verbrechen beteiligt gewesen. In Tompa gaben sie uns zu essen und trinken: Sie sparten nicht an frisch gemachten Würsten und Blutwürsten. Sie schickten uns an bestimmte Adressen in Segedin, Kecskemét, Budapest und das war’s. Wir haben uns zerstreut. Am darauf folgenden Tag stellte ich mir im Zug mit Zittern Pe{t vor. Früher war ich nur zu Konzerten nach Fekete lyuk und Tilos az Á.... gegangen und jetzt war ich eine verfrorene blutleere Schlachttierhälfte. Doch für die Ungarn hatten wir alle Blut an den Händen, egal ob wir Ungarn aus der Vojvodina, Serben oder Kroaten waren. Und sie empfingen uns wie schmutziges Aas. TIONS 4. Vere{’ Kollegin, die lange Chinesin mit dem blassen Gesicht, brachte uns eine neue Runde grünen Tee; als gäbe es eine genaue Regel, einen Moment, in dem man das tat. Aus dem Augenwinkel richtete sie ein bedeutendes Lächeln an mich: Sie kannte Vere{ und seine lange Geschichte. – Budapest war die Erfüllung all meiner Träume, als ich überhaupt keine Wünsche hatte. Ich wollte in dieser Stadt einfach nur verschwinden und dabei NICHT STERBEN! Die ganze Zeit kreiste ich um das Oktagon, verzog mich in die immer dunkle Dohány Straße, ging endlos lange an der Donau spazieren, rauf und runter. Ich trieb mich tagelang in der Stadt herum, ohne jede Zuflucht. Am Anfang schlief ich im Atelier eines Malers aus Senta, Zoltán hieß er; man hatte ihm den Dachboden einer verlassenen Fabrik für Elektromotoren zur Verfügung gestellt. Innen war alles zerbrochen, der Durchzug machte mich verrückt, die Einsamkeit noch mehr, denn Zoltán tat im Grunde gar nichts, er war Konzeptualist – so hatte er es mir erklärt – und sein Konzept bestand in der Weigerung etwas zu schaffen, eine Spur von sich zu hinterlassen. Für mich war wichtig, dass er niemanden auf meine Spur brachte, so dass wir uns leicht einigten. Doch jedes Wort war ein Problem für ihn, alles war Schaffen, nicht wahr, ganz zu schweigen vom Gang zur Toilette! Ich musste schließlich dennoch einige Angaben zu mir machen; ich konzentrierte mich auf die ungarische Aussprache: – Vörö{? – Vörö{! – Magyar vagy Szerb? – Magyar! Budapest war mein Hafen. Der Geruch von Knoblauch und gemahlener roter Paprika, der unbeschreibliche Lärm der verkehrsreichen Stra- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Neven U{umovi} ßen mit ihren Menschen auf den Gehwegen. Ich trieb mich auf den Straßen herum, schnüffelte an den Höhlen, aus denen Alkohol dampfte und der Geruch von warmem Menschenfleisch. Trübe, gefärbte Scheiben versteckten öde Keller und vibrierten vom Geheul der ungarischen Zigeunerlieder und dem Gemurmel scheußlicher männlicher Bassstimmen. Der Wein war zu süß und rief Übelkeit hervor, genau wie die kranke Schminke von Narren und Huren. Nein, nein, das geht nicht, mein Liebling – reimte hundertmal betrunken mein viel zu jung verstorbener Freund Daca – du kannst nicht verschwinden zwischen ihren Beinen, auch nicht mit ganz viel RAMA, der feinen... Ich hatte dennoch Glück, eines Abends landete ich bei Anikó, dem Mädchen mit den roten Harren und der weißen Haut... Ich nannte sie Anikó nach dem Lieblingskäse meiner Kindheit, saftig aber knirschend beim Reinbeißen. Der Käse war weißer als weiß, genau wie meine Freundin, die biegsame Anikó. Sie war fleischgewordene männliche Phantasie: ein Porzellanengel, den jeder von uns relativ günstig liebkosen und an ihr herummachen konnte... Doch vor allem war sie wie Gummi, unverletzbar, unerreichbar; am Leben so sehr uninteressiert, dass ich ihr darin folgen musste. Ein Leben ohne echten körperlichen Genuss zog mich an, ein rein stummes Zusammensein tauber Existenzen. 5. An diesem Abend – als sie mir die Tür eines wirklich abgelegenen Zimmers in ihrer Wohnung öffnete, machte sie das Bett und entfernte alle Spinnweben, die sie mit der Hand erreichen konnte – erklärte sie mir sofort, dass wir uns in Zukunft nur noch in der Stadt treffen würden; die Wohnung, in die sie mich gebracht hatte, war das Reich – sie betonte das ironisch – ihrer jüngeren Brüder, Árpáds und Gézas, das heißt, vergiss diese relations 2009.pmd 77 Namen, ich erinnere mich, wie ihr Gesicht sich in diesem Moment verdüsterte und nenne sie nur: Hartmann und Conen. Außerdem haben sie dich schon abgecheckt und werden sich bald melden. So war es auch, am Morgen fand ich auf dem Boden ein Papier mit einem antiken Stempel: Hartmann és Conen Rt. Auf dem Papier stand in ziemlich schlechtem Ungarisch ziemlich viel Blödsinn, eine Art Hausordnung, unter anderem wurde wieder hervorgehoben, dass die zwei Brüder ausschließlich mit Hartmann und Conen angesprochen werden durften, keinesfalls anders und auf keinen Fall mit primitiven ungarischen Namen! Ich erinnerte mich, dass mir an diesem Tag mein Kopf brummte von den Verben, mit denen die Brüder „artig“ ihre kindischen Befehle aufsagten: méltóztassék, méltóztassék, méltóztassék... Ich ging ein wenig im Viertel spazieren. Ein, zwei Straßen und schon befand ich mich auf einer riesigen Baustelle: offensichtlich war dieses alte Mietshausviertel – bérházok – endgültig von der Baumafia okkupiert worden. Auch unser Gebäude wartete schon darauf, abgerissen zu werden. Ich stand wieder vor ihr und maß sie ab. Doch zuerst musste Blut von jemandem fließen, überlegte ich und sehnte mich Aufregung. Außerdem, was wusste ich schon über all das. An mir rauschten zwei schwarze Köpfe vorbei: Szia Vörö{, Zdravo Vere{, es blieb nur das Echo des Grußes hinter ihnen zurück. Zdravo Vere{!? – überraschte mich einer der Jungen, wo hatten sie diesen Gruß gelernt? Ich ging ihnen nach. Das Gebäude roch nach Katzenpisse; eine große Holztür war ausgehoben und lag neben der Treppe im Müll. Die Wände waren mit Kohle voll geschrieben. Wenn es eine Farbe für Nikotin gab, dann war sie überall. Alles erstickte in dieser aufgerauchten Farbe. Ich setzte meine Suche nach H&C fort, 77 in der Hoffnung, sie würden mich zu einem Ofen führen oder einer Kaffeekanne voll goldener schwarzer Flüssigkeit. Ein Königreich für einen Kaffee! – rief ich im Treppenhaus. Ein Königreich für einen Kaffee! Und tatsächlich tauchten zwei schwarze Köpfe über mir auf, einen Stock höher. Folge uns nur, Vere{, gyere ide – komm her, rief einer auf Ungarisch zu. Immer hinter uns her – rief mir der andere auf Kroatisch zu, als wollte er eine Bestätigung, dass ich antworte. Ich folgte ihnen auf den Schritt; sie hielten unterdessen bis zum Dachboden nicht an. Als ich oben angekommen war, in noch größerer Dunkelheit, waren alle Geräusche abgestorben. Hartman, Conen, rief ich und meine Stimme hallte in unförmigen Modulationen im Dachboden. Statt der Jungenstimmen hörte ich etwas wie ein verzögertes verwirrtes Flügelschlagen. Und dann fuhr mir ein schrecklicher Vogelschrei in die Knochen. Ich stand da wie versteinert. Dann schrie ich: Árpád, Géza, was macht ihr denn da oben!? Wo seid ihr zwei!? – ich war wirklich wütend. Ich schrie ihnen alles Mögliche zu, dass ich ihre Köpfe einschlagen würde. Ich hörte ein Lachen. Komm Vere{, komm her, wovor hast du Angst – sagte einer, wieder auf Kroatisch. Ich sah seine Silhouette im geizigen Licht, das sich durch die Dachkonstruktion gebahnt hatte. Du bist im richtigen Moment gekommen, Vere{ – war die Stimme des anderen zu hören – vielleicht weißt du etwas, das wir nicht wissen... Endlich war ich bei ihnen angelangt. Sie hatten sich nicht einmal umgedreht, sie waren viel zu sehr mit etwas anderem beschäftigt. Sie hockten um eine Kreatur herum, die zusammengerollt auf den Brettern lag und mir war sofort klar, dass nur dieses Wesen jenen schrecklichen Schrei hatte von sich geben können – Sie sind hier in der Luft – fuhr der 14.4.2009, 20:30 78 RELA Mai eine fort und lächelte, und trotzdem war es, als redete er mit sich selbst – hier in der Luft sind weiche und klebrige Frauen, schöner und besser als deine verdammte Anikó, Vere{, Vere{!!! – Ich habe nichts mit Anikó! Du..... ich wollte ihm schon eine runterhauen, als ich endlich den Vogel erblickte, den gekreuzigten blutigen Vogel. – Ich fragte sie, was das sei. Eine Eule, siehst du doch!? sagten sie gleichzeitig. Sie waren offensichtlich stolz darauf, ihn mir zeigen zu können. – Das ist eure Eule? fragte ich sie, und die kleinen Idioten grinsten nur. Unsere, unsere, aber sie wird verrecken, Vere{, tu was, wir haben kein Futter für sie! Ich sah die Eule etwas genauer an. Jemand hatte ihr die Augen herausgenommen. Nur frisches Fleisch – sagte ich ohne nachzudenken. Ich war so entsetzt, dass ich die Kontrolle über die Situation verlor. Dann schlug mir einer der beiden mit einem Stock auf den Kopf und ich wurde bewusstlos. 6. Wir gingen hinaus um eine zu rauchen. Im Aranysárkány durfte man nicht rauchen. Vere{ machte irgendwelche Witze auf seine Kosten, und ich hörte nur mit einem Ohr zu. Draußen war es laut und lebendig. Es war schon Abend, die Scheinwerfer der Autos durchwoben mit ihren Lichtbündeln die Straßen der Stadt. Frauenjacken verbreiteten Parfümwolken; ich sog sie zerstreut ein, zusammen mit dem Rauch von Vere{’ billigen Zigaretten. Drinnen erwartete uns schon eine neue Runde Tee. Ich wandte mich verliebt zu unserer Chinesin um, doch stattdessen blickte mich nur einer der untätigen Köche stumpf hinter dem Tresen an. – Ich wachte am nächsten Morgen auf, in einem anderen Zimmer, eng und dunkel, ans Bett gefesselt, mit unerträglichen Schmerzen in Kopf relations 2009.pmd 78 und den Beinen. Ein Bein lag in einer Blutlache; der Schmerz war nicht stark, aber es brannte. H&C kamen langsam und heiter herein, die Schulranzen warfen sie weit in die Ecke. – Sie will, die Eule will dein Fleisch! Du hast uns gerettet!!! Wahrscheinlich stieß ich daraufhin irgendwelche Flüche aus, ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können. Mann, sie haben einen Teil meiner Wade herausgeschnitten und es der Eule gegeben!!! Keine Sorge, Vere{, entspann dich, wir haben Chemie für dich da, es wird dir auch das nächste Mal nicht wehtun! Wir müssen dich frisch und gesund halten! Und so war es auch, sie schläferten mich mit einem Kissen ein, das in hässliche Chemie getränkt war – ich hatte ständig das Gefühl, sie würden mich ersticken. Ich war gefesselt und machtlos. Ich wachte mit furchtbaren Schmerzen auf, wenn man den dämmrigen Zustand, in dem mein Bewusstsein taumelte, überhaupt Aufwachen nennen konnte. Unaufhörlich kehrte ein Klavierstück wieder, in hundert Versuchen, als würde ein Kind Bartóks Mikrokosmen üben, oder einfach das Kinderlied Boci, boci tarka, se füle se farka... Diese Klänge prallten aufeinander, als stürzten sich in einem Moment hundert Katzen auf das Klavier, ich spürte wie sie rochen. Sie mussten um mich herumgekrochen sein, um meine Leiche, ihr Stück abwartend, den Augenblick der Gnade von Hartmann oder Conen, ihre Unachtsamkeit; ich torkelte wieder auf dem Sand von Kelebije, auf toten Weinbergen, in eisiger Dunkelheit, niemand konnte mir helfen, kein vergrabener Wein oder Schnaps zur Verlobung, und trotzdem grub ich, wütend und ohnmächtig grub ich in diesem Sand, aber alles, worauf ich stieß, waren eklige Käfer, Maulwurfsgrillen, doch sie waren der Köder für Welse und Störe – ihr esst sie bestimmt, auch gebraten und gekocht, ihr esst sie bestimmt, mit TIONS euren Stäbchen – rief ich aus dem Bett. Ich weiß selbst nicht, wie lange ich in diesem Zimmer gelegen habe, aber ich glaube, die Chinesen waren schon lange dort gewesen. Als sie zum ersten Mal herein kamen, bemerkten sie mich überhaupt nicht, wer weiß, was ihnen Hartmann und Conen erzählt hatten, die Decke, mit der sie mich zugedeckt hatten, stank sicherlich schon ziemlich, getränkt in Eiter aus meinen Wunden. Die Chinesen hatten sich offensichtlich schon an alles gewöhnt. Jemand hatte ihnen die Wohnung verkauft oder vermietet, denn soviel wusste ich immerhin, das war nicht Anikos Wohnung. Diese zwei dickköpfigen Monster versteckten mich hier, weil diese Wohnung bis dahin leer gestanden hatte, doch jetzt, mit den Chinesen, waren H&C verschwunden. Als ich begriff, dass ich den Chinesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, erreichte mein Schrecken seinen Höhepunkt. Ich hörte, wie sie ihre riesigen Koffer öffneten und glänzende Klingen herausholten. Ihre Schlangenaugen pulsierten wie Feuerfunken in der Dunkelheit. Ich wusste, dass sie ihren faden Reis mit Menschenfleisch würzten, ich wusste, dass sie ihre stämmigen gelben Hunde mit Menschenknochen fütterten und ich wusste, dass dann auch die Hunde unters Messer kamen... – Guten Abend, Jó estét kivánok Vörö{ úr – unterbrach uns ein wirklich sehr kleiner perfekt gekleideter Chinese mit freundlicher Geste und näherte sich unserem Tisch. Jó barátja? – er wandte sich zu mir um. – Ja, ein Freund aus Subotica – log Vere{, ich wusste nicht, warum. – Freut mich – der Chinese streckte die Hand aus. – Sprechen Sie Ungarisch? – Ein bisschen – sagte ich. – Ja, wir sprechen alle ein bisschen – sagte der Chinese ernst. Wir sollten uns mehr Mühe geben. Immerhin ist 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Neven U{umovi} das jetzt unsere Heimat. Aber Ihr Freund Vere{ ist einer der besten. Ich bin froh, dass wir ihn aus der Patsche geholt und ihm eine Arbeit gegeben haben. Wir Chinesen arbeiten für zwei Ungarn, aber wissen Sie – sagte der Chinese mit einem breiten Lächeln – Vere{ arbeitet für zwei Chinesen! Das Heißt: 2+2=4! Oder? relations 2009.pmd 79 – Stimmt! – bestätigten wir einstimmig. Der Chinese musterte uns noch einmal zufrieden und dann griff er an seinen Hutrand. – Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen! – sagte er, dabei hob er schnell den Teekannendeckel – Kein Tee mehr!? – totale Bestürzung. Es folgte eine Explosion unverständlicher Klän- 79 ge, die an die Bedienung gerichtet waren, dann wandte er sich noch einmal zu uns, beugte sich ein wenig vor und ging ohne ein Wort. Der Tee kam sofort. Wir tranken ihn schweigend; jetzt war ohnehin alles klar gewesen. 14.4.2009, 20:30 Aus dem Kroatischen von Bla`ena Radas 80 relations 2009.pmd RELA Mai 80 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 81 82 RELA Mai TIONS MA[A KOLANOVI] wurde am 19. November 1979 in Zagreb geboren. Sie erhielt ihren Diplomabschluss in Kroatistik und vergleichenden Literaturwissenschaften an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. An der gleichen Fakultät ist sie seit 2004 als wissenschaftliche Assistentin, Fachgebiet Kroatistik, angestellt. 2001 wurde im Rahmen eines Wettbewerbs des Studentenzentrums ihr Gedichtband Blutsauger für Einsame („Pijavice za usamljene“) veröffentlicht. relations 2009.pmd 82 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ma{a Kolanovi} 83 Die Traumhochzeit Ma{a Kolanovi} Obwohl es schon zehn Tage lang keinen Luftalarm gab, sogar die Schule hat wieder angefangen, gerade an diesem Tag hatte ich die unbeschreibliche Ahnung, dass die Sirene wieder heulen könnte. Aber die richtige Sirene, nicht die, die wir sehr erfolgreich nachmachen konnten und damit Passanten auf dem Parkplatz vor unserem Wohngebäude erschreckten. Eigentlich weiß ich nicht, ob das eine richtige Ahnung war oder nur der Wunsch, dass sie wirklich heulen sollte, damit ich nicht zum Solfeggio und zur Klavierstunde musste, weil ich mit der Ausrede all dieser Luftalarme überhaupt nicht geübt hatte. Diese Ahnung überkam mich beim Fernsehen, als ich auf meine Mutter wartete, bis sie von der Arbeit zurückkam und micht zur Musikschule brachte. In diesen Tagen war das Programm auf unseren Kanälen grottenschlecht. Nur Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten und Nachrichten im Rahmen des Programms Für die Freiheit. Und auf RTL war immer super Werbung mit der echten lila Milka-Kuh, dem Entstehungsprozess von Mars und Snickers aus Karamell, Milch, Schokolade und Erdnüssen, Arbeitern, die etwas auf einem Gerüst, das an irgenwelchen großen Zähnen aufgebaut war, demolieren, bis sie eine gigantische Zahnbürste mit Colgate Zahnpasta davonkehrt... Das war tagsüber, während spät in der Nacht irgendwelche relations 2009.pmd 83 deutschen Tanten, die Ruf Ann hießen, große Titten daherzeigten, mit einer Telefonnummer, die regelmäßig mit 666 anfing. Aber so spät und in Anwesenheit der Eltern war es verboten, zuerst einen eingeschalteten und später auch ziemlich anmachenden Fernseher zu haben. Wie dem auch sei, ich habe ein wenig Für die Freiheit geguckt, habe dann zu der Werbung auf RTL gezappt, ein bisschen zu Sky und gerade als sie ^avoglave von Marko Perkovi} Thomson spielten, kam meine Mama, brutzelte mir schnell mein Lieblingsmenü (Eier und Pommes), danach hätte man zur Musikschule fahren sollen, o nou. Meiner Ahnung gechorchend ging ich trotzdem in den Keller, um meine Barbies zu verstauen, für alle Fälle. Und im Keller bereiteten sich alle natürlich aufs Spielen vor. Glückspilze, deren Mamas und Papas sie nicht zwangen in die Musikschule, zum Volkstanz, Englisch und Rhytmik, Glückspilze, die (wenn man die Schule nicht mitrechnet) ihre Zeit wie auch immer und wo auch immer verbringen konnten, während die Meinen mich in all diese Musikschulen, zu Latein und Griechisch schleppten... Und jedes Mal, wenn ich mich dagegen zur Wehr setzte, wurde ich beschuldigt, eine Vagabundin zu sein. Um die Sache noch schlimmer zu machen, ausgerechnet an diesem Tag sollten im Keller der Ken von Ana M. und Deas Barbie heiraten, in ei- ner Kapelle, für die das Wrack eines alten Fernsehers dienen sollte, das einer der Nachbarn im Keller gelassen hat und dort steht er seit Adam und Eva, angelehnt an den großen Eimer mit Sauerkraut von Tante Munjekovi}. Und während ich in meinen kleinen Koffer für die Musikschule das Notenheft verstaute, 555 ausgewählte Themen für Solfeggio von Markovi}, Etüden und Sonaten, wurde im Keller eine BarbieHochzeit vorbereitet mit ein paar wirklichen und etwa dreihundert imaginären Gästen. Alles war bereit: Sowohl die Automobile – mit den verscheidensten Bändern geschmückte Schuhe, als auch der Reis für kleine Barbie-Hochzeitsmandeln und der große weiße Schuh von Anas Papa, Größe 45, der die Brautlimousine sein sollte und der Priester, den Sanjas Ken spielte und ein Blumensträußchen aus Klee aus dem kleinen Park hinter dem Haus, das Deas Barbie werfen sollte, damit es eine der Barbie-Glücklichen fangen sollte und die Brautjungfern und viel Verwandschaft und viele Freunde, die größtenteils nur ordentlich bechern und essen wollten auf diesem bislang größten Barbie-Fest. Und um die Sache noch spannender zu machen, sollte der Trauzeuge von Anas Ken niemand anderer als Dr. Kajfe{ sein, der unmittelbar vor der Hochzeit Deas Barbie mit allen Mitteln von der Hochzeit abzubringen 14.4.2009, 20:30 84 RELA Juni versuchte und sie aus den Fängen eines tristen Lebens, das sie mit diesem Idioten von Anas Ken erwartete, zu retten. Aber nein! Dieses geldgeile Luder ließ sich das nicht ausreden. Die kleinen türkisen Perlen, die Anas Ken ihr schenkte, waren wichtiger als alle ehrliche Liebe und Wiesenblumen, der ihr Dr. Kajfe{ so hartnäckig brachte und ihr unter dem Fenster Ständchen brachte wie, Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein manchmal auch Verdammt, ich lieb’ dich, wenn alles schon zum Teufel gegangen ist. In den sentimentaleren Augenblicken pflegte er ihr auch Gedichte zu schreiben, die er in Begleitung einer kleinen Plastikgitarre in der Agonie seiner Einsamkeit vertonte. Aber sie schmähte all diese ehrlichen Gefühle und stimmte berechnend einer Ehe aus materiellem Nutzen zu. Für Doktor Kajfe{ war dieser Tag nicht gerade der glücklichste, aber er musste Freude vortäuschen mit seinem gezwungenen Lächeln, das ihm nicht von der Visage wich, wie es auch nicht von der Visage jeder Barbie wich, wie ernsthaft, sogar tödlich, der Augenblick auch ist. Es gab sogar auch einige Versuche körperlicher Abrechnungen zwischen Dr. Kajfe{ und Anas Ken, aber die endeten hauptsächlich damit, dass Kajfe{ ein Glied seines ohnehin schon wackeligen Körpers abfiel. Bei der letzten Abrechnung wurde ihm unwiderbringlich sein schon zerbissener rechter Arm demoliert, so dass jede Bewegung eine mögliche Gefahr von Abfallen darstellte. Meine Barbie hat ihn nach jedem Unfall mit falschen Küssen getröstet, die in die Luft gedrückt waren, einen Zentimeter von seinen verbrannten Wangen entfernt, ähnlich dem, den ich meinem toten Opa Viko, als mich Tante Marija dazu zwang, weil es so Brauch auf Beerdigungen war, gab. Doch es ist kein Wunder, dass Deas Barbie sich vor Kajfe{ ekelte. Schließlich, was für ein relations 2009.pmd 84 Leben erwartete sie mit so einem Mann? Nur ein unglückliches Tal der Tränen und Qualen, diverse Behinderten- und Sozialhilfen, während sie mit Anas Ken ein wirkliches Leben bekommen konnte, wie sie es sich schon immer erträumt hatte: Einen haufen Plastikperlen und Kinkerlitzchen Made in Taiwan, China, Malaysia oder Philippinen, die unbestritten jede moderne Frau wie Barbie benötigt. Plus, nach der Hochzeit, hat ihr Anas Ken versprochen, dass sie ihre Hochzeitsreise auf den Bahamas verbringen. Natürlich auf den Bahamas im Sinne von türkisfarbenem Lorbeer und Schirmchen aus den Fruchtbechern in der Eisdiele Ledo. Dort wird Deas Barbie tausend grelle Outfits für jeden Tagesabschnitt wechseln, vor dem Hotelpool müßig Cocktails trinken und für wenig Geld zu Massagen bei den Eingeborenen gehen und Poolside Vacation Barbie spielen, bis dass der Tod sie scheidet. Wie dem auch sei, Dr. Kajfe{ und Anas Ken haben ihren Streit in einer Kneipe beigelegt, haben ordenlich einen gekippt und Brüderschaft getrunken, woraus auch diese Trauzeugengeschichte entsprungen ist. Obwohl er später mit vielen Barbies anbändelte, kam Dr. Kajfe{ nie wirklich über Deas Barbie hinweg. Und so sollte diese Hochzeit gerade an diesem Tag stattfinden, und ich und meine Barbie konnten wegen dieser blöden Musikschule nicht an dem feierlichen Ereignis teilnehmen. Ich verstaute meine Habseligkeiten wie eine Looserin im Schuppen, während alle anderen in Partystimmung waren. Kajfe{ hat sogar eine kleine kroatische Flagge besorgt, die auf einen Zahnstocher gesteckt war, mit der er vorhatte, aus dem Auto zu wehen und Dea schlug die Idee von einer unsichtbaren Tamburizza-Kapelle vor, die sich gerade auf den Weg machte, um die Braut abzuholen. Es gab auch kleine Geschenke TIONS für die Brautleute (eigentlich Legosteine, die in bunte Papierfetzen gewickelt und mit einem schmalen Band gebunden waren). Und all das sollte mit einer kleinen Videokamer Bornas Skipper aufnehmen, die keine Original-Barbie war, sondern Borna, der Glückliche, bekam sie in einer Kinderüberraschung. All das habe ich mit eigenen Augen gesehen und verließ den Keller Trübsal blasend zum blauen Renault 4, in dem meine Mama schon ziemlich nervös auf mich wartete und hupte, damit ich mich beeile, denn ich würde sonst zum Solfeggio zu spät kommen. Und während man aus dem Keller geschäftige Geräusche hörte und das Jauchzen der unsichtbaren BarbieTamburizzaspieler, ging ich in den blauen Renault 4, der mich direkt in die Musik-Grundschule Pavao Markovac am Platz-der-Opfer-des-Faschismus Nummer 9 brachte. Als ich im Auto wieder versuchte etwas in Bezug auf meine Interessen und Ambitionen zu sagen, die nicht im Einklang mit denen meiner Eltern waren, fing die Mama an, mich anzuschreien, ich solle sofort den Mund halten, denn sie könnte schon drei Doktorarbeiten schreiben, wenn man bedenkt, wie viel Zeit sie beim Warten auf mich vor der Musikschule vergeudet hat. Den Rest der Zeit verbrachten wir schweigend und fuhren Richtung Stadt. Ich stellte mir vor, wie es jetzt im Keller war. Die Hochzeitsgäste sind jetzt sicherlich schon auf dem Weg zum Fernseher, die Autos hupen, die Tamburizzas spielen, die Braut ist aufgeregt wegen ihrer Barbie-Traumhochzeit, die der glücklichste Tag in ihrem leben sein soll, während Dr. Kajfe{ singt, mit seiner Flagge wedelnd, doch insgeheim bricht und blutet ihm das Herz, denn heute heiratet die, die er liebt... Vielleicht wird er sogar versuchen im Affekt das Auge von Anas Ken mit dem kroatischen Zahnstocher auszustechen und so die Traum- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ma{a Kolanovi} hochzeit in eine Bluthochzeit verwandeln. Doch sicherlich hatten die kleinen Rauschmeißer Kajfe{ schon unter Kontrolle. So war ich in Gedanken unter der Erde und darüber hörte man auf einmal diesen eingängigen Ton. Sie heulte! Die Sirene heulte zur Luftgefahr, genau so, wie ich es vorgesehen habe! Natürlich, obwohl ich nicht abstreiten kann, dass ich eigentlich Angst hatte, weil es das erste Mal war, dass mich die Sirene außerhalb von Slobo{tina überraschte, in der Tiefe meines vermeintlich unglücklichen Wesens hat es mir doch irgendwie gefallen, dass Solfeggio und Klavier für heute sicherlich abgeschrieben sind, plus, das BarbieEigentum war an einem sicheren Ort. Mama übernahm in der Zwischenzeit vollständig die Rolle eines Stuntman: Mit der einen Hand drehte sie das Lenkrad um 360 Grad um den Kunstpavillion herum, während sie mich wegen der Gefahr von den Scharfschützen unter den Rücksitz schubste. Damals wimmelte es in Zagreb nur so vor Scharfschützen. Tante Munjekovi} erzählte, dass Tante Stanekovi} gesagt hat, dass Tante Pilko vor ein paar Tagen die Einkaufstüte aus der Straßenbahn gefallen ist und während sie sich bückte, um sie aufzuheben, erschossen gerade in diesem Augenblick Scharfschützen eine Frau hinter ihr. Onkel Horvat hörte, dass der Wohnblock Mamutica voll mit Tschetniks und Fünfter Kolonne ist, die hinter heruntergelassenen Rollläden absolut alles im Visier haben, einschließlich uns, die wir vor dem Eingang gespielt haben, wenn es uns im Keller langweilig wurde. Onkel Horvat sagte, dass alle diese Wohnblocks – Mamutica, Super Andrija, die Raketen – brechend voll mit bewaffneten Serben und Tschetniks sind. Ich lag also unter der Rückbank und schaute bei einer Fahrt, von der mir 1 relations 2009.pmd übel wurde, auf die gebrochenen Bilder der Stadt. Mama kämpfte sich durch den Stadtverkehr Richtung Novi Zagreb. Als wir endlich in Slobo{tina angekommen waren, flitzte ich geradewegs in den Keller und dort bekam ich aber was zu sehen. Die Hochzeit war schon im fortgeschrittenen Stadium. Die Hälfte der Barbies lag betrunken am Tisch. Deas Barbie packte einen Haufen Hochzeitsgeschenke aus, während Dr. Kajfe{ auf den Tisch kletterte, um Hand in Hand mit Anas Ken zu singen: Wir erwischen euch auch noch in Serbien ... Bornas Skipper Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht, donnert, hämmert, braust, das ist die Sprache meines Volkes! Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht, donnert, hämmert, braust, das ist die Sprache meines Volkes! Dann wieder Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht, donnert, hämmert, braust, das ist die Sprache meines Volkes! Es galt, an einem Nachmittag das ganze Gedicht auswendig zu büffeln und ich kam einfach nicht weiter als Es summt, schallt, hallt, klingt, rauscht, donnert, hämmert, braust. Nach dem vierten Wort weiß ich nicht mehr, ob es hallt, heult, hämmert heißt oder irgend eine andere Naturkatastrophe und es galt auch nocht mit vollständigen Sätzen die Fragen über den rassigen Dichter mit vulkanischer Kraft ins Heft zu beantworten, dessen Bild mein Bruder im Lesebuch mit Sonnenbrille und einem Metallica auf der Stirn geschmückt hat. Wer sollte sich auch auf die Hausaufgabe konzentrieren können, wenn er im Zimmer nebenan sowieso den ganzen Nachmittag nur Radio hörte. Und zwar das feindliche Radio, weswegen ich ihn fast an Mama und Papa verpetzt hätte. Zwar mit einigem Knistern, aber auf unserem kleinen Kassettenrekorder ließ sich doch ziemlich gut Radio Glina empfangen, wo nach der Nachricht vom Rückzug der Jugoslawischen Volksarmee aus den Kasernen in Kroatien das Musikprogramm für Soldaten von SAO Krajina1 lief. Alle drohen dir, mein Krajina, doch du stehst aufrecht da, sag der ganzen Welt, das du keine Angst haaast... Mann an Mann, wir Tschetniks, Held an Held, wir fürchten uns nicht vor Kampf oder Schlaaacht... Ohne Heimat lebte ich auf Korfu, aber ich rief stolz, es lebe Serbieeeen... Möge dir die Drina hundert Mudschaheddin bringen am Tag, an jedem Taaaag... begleitet vom ständigen Ausruf „Krajina bis Tokio!“. Und mir blieb noch genau eine halbe Stunde, um Es summt, schallt, hallt, klingt usw. zu memorieren, weil Punkt 18 Uhr Borna mich abholen sollte und dann sollten wir zur Chorprobe gehen. Borna und ich waren die einzigen im Haus, die im Chor waren, den Lehrer Kutnjak in Begleitung eines Tamburizza-Orchesters leitete. Wir bereiteten für den Tag der Schule eine Aufführung vor, bei der die Lage sein-odernicht-sein war, abhängig von den Luftalarmen. Plus, wenn du zum Chor gehst, hast du auch ein großes Plus beim Kutnjak und das heißt eine Note besser im Musikunterricht. Und bei diesem Chor war es ganz ok, viel besser als in der Musikschule, denn, außer dass man nichts zu Hause zu üben brauchte, nach der Probe gingen wir immer eine Runde hinter die Schule, wo abends die ganzen hübschesten Achtklässler (yes!) herumhingen, unter denen sich auch wie eine Sardine unter Haien ein Viertklässler-Knirps finden ließ. An diesem Tag habe ich vielleicht wegen der großen Hausaufgabe in Serbisches autonomes Gebiet Krajina in Kroatien. 85 85 14.4.2009, 20:30 86 RELA Juni Kroatisch auch einen berechtigten Grund, nicht zur Probe zu gehen, aber ich bin trotzdem gegangen, weil wir die neuen roten Westen für den Auftritt anprobieren sollten. Während ich mich also mit Es summt, schallt und so weiter herumplagte, klingelte wie der Glöckner von unserer lieben Rettung Borna an der Gegensprechanlage. Mein Bruder grinste immer, wenn Borna unten klingelte oder mich am Telefon verlangte. Doch für uns Mädels aus dem Haus war Borna der beste Freund und der einzige Junge aus Slobo{tina, von dem wir wussten, dass er mit Barbies spielt. Borna mochten nämlich einige der anderen Jungs im Viertel nicht. Und das meistens wegen seiner kreischenden Stimme und weil er mit uns mit Barbies spielte. Einmal, als wir auf den Gullideckeln vor dem Hauseingang spielten, rannten die Jungs aus Nummer 15, angeführt von Salih, zu unserem Hauseingang mit dem Ziel, Borna zu verdreschen. Aber wir Mädels retteten ihn, indem wir ihn schnell versteckten und ins Müllcontainerhäuschen einschlossen. So entging Borna um ein Haar dem Unglück. Salih schlug eine Weile wütend auf das Müllcontainerhäuschen ein, während sich Borna hinter den Containern versteckte. Und dann spuckte Salih in seiner Wut auf ein paar Ameisenhaufen, die wir als kleinen Tiergarten vor dem Hauseingang aufgezogen hatten und devastierte ein paar Barbie-Wohnungen auf den Gullideckeln, was ungeahnte Ausmaße erreicht hätte, wenn nicht Onkel Horvat gekommen wäre und sie alle verjagte. Mit ein paar zerstörten Wohnungen, die sich ganz schnell wieder aufbauen ließen, war der Schaden nicht groß. Nur die Barbie von Ana P. endete in dem bespuckten Ameisenhaufen, was in Ameisenaugen einer Tragödie gleichkam. Dieses Spielen auf Gullideckeln wurde nach diesem Inzident wirklich riskant, so dass relations 2009.pmd 86 sich die Entdeckung des Kellers im Krieg als viel sicherere Lösung erwies, was Borna und die Barbies anging. Aber, wenn ich sage, dass Borna der einzige Junge war, den ich kannte, dass er mit Barbies spielte, muss ich gleich erwähnen, dass Borna eigentlich nie eine Barbie hatte. Er war nämlich bekannt für seine OriginalBubble-Bath-Skipper, die tausend kleine kosmetische Präparate zum Duschen, Parfümieren, Shampoonieren, Fönen und Kämmen hatte sowie einen Froteebademantel mit eingraviertem Buchstaben S und einem Handtuch, das sie oft nach einem angeblichen Haarewaschen als Turban auf dem Kopf trug. Diese Skipper war wirklich super und wie geschaffen für Borna. Niemand hätte sich auch vorstellen können, dass Borna eine Barbie oder einen Ken hat, denn Skipper passte irgendwie perfekt zu seiner Gestalt und seiner Stimme (außer einer kreischenden Stimme trug Borna auch noch eine dicke Brille und hatte Probleme mit Akne). Und eines Tages schickte ihm seine Tante aus Italien eine Vespa für Skipper. Die Vespa war keine Original-Mattel, aber war nichtsdestotrotz perfekt. Klein und rot und batteriebetrieben mit Fernsteuerung. Später erfuhren wir aus einem Streit zwischen Borna und seinem Bruder Kre{o (der mit Bornas Papa lebte, weil ihre Eltern geschieden waren), dass die Vespa überhaupt nicht für Skipper war, sondern dass dazu eigentlich ursprünglich ein italienischer Polizist gehörte, aber Borna ihn herausgeschmissen und seine Skipper auf die Vespa gesetzt hat. Niemand weiß, wo eigentlich dieser italienische Polizist gelandet ist, aber er hatte angeblich einen unglaublich kleinen Kopf und konnte nur sitzen, so dass eigentlich keine von unseren Barbies übrhaupt diesem Gnom nachtrauerte. Hauptsache war, dass diesem italienischen Müll die Vespa abgenommen wurde, die perfekt zu Bornas Skipper passte. Und TIONS auf der Vespa mit Bornas Skipper zu fahren, war super. Obwohl die Fahrt manchmal außer Kontrolle geriet, so dass die Runde in einem kleinen Autounfall enden konnte, irgendwo dort in den Rattengiften am Ende des Kellers (von wo aus für die Nachrichten des Kroatischen Fernsehens Dr. Kajfe{ regelmäßig Bericht erstattete), fuhr Bornas Skipper meistens ausgezeichnet diese Vespa, allen Brettern, Spucke und Mäusedreck ausweichend wie ein richtiger kleiner Stuntman. Aber hinter der Fassade des kleinen Stuntman hütete Bornas Skipper ein Geheimnis. Das war nämlich das Geheimnis einer unglücklichen Liebe für Dr. Kajfe{. Das wurde bei einer Gelegenheit herausgefunden, als nur Borna und Svjetlana bei Svjetlana spielten, aber seit Svjetlana das Dea erzählt hat, um Kajfe{ in den Augen von Deas Barbie cooler erscheinen zu lassen, wussten wir alle bald davon, nur dass wir das vor Borna nicht zeigten. Die minderjährige Skipper und Dr. Kajfe{ spielten dann eine kleine Schulabschlussfahrt, die auf den schneebedeckten Gipfeln des Jahorina-Gebirges stattfand. Kajfe{ war Sportlehrer und Klassenleiter in einer imaginären Klasse, in der Bornas Skiper die beste Schülerin war. Und dann machte sich diese kleine Klasse zu den schneeigen Spitzen des zerkrümelten Styropors des imaginären Jahorina-Gebirges auf (auf denen Kajfe{, außer als Klassenleiter, so tat, als ob er auch Bendable Leg Ken in The Skiing Scene war) und Bornas Skipper und Lehrer Kajfe{ begannen sich schon im Zugrestaurant des kleinen Orient Expresses näher zu kommen. Lehrer Kajfe{ dies, Lehrer Kajfe{ das... sie kroch ihm in den Hintern für ein paar Pluspunkte mehr (drei Pluspunkte für einen Einser). Und Kajfe{ war auch sonst bekannt dafür, dass er die Blicke (eigentlich einen Blick, in Anbetracht seines einen ausgewa- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ma{a Kolanovi} schenen Auges) nicht von den kleinen blonden Nymphchen wenden konnte, aber er musste als Klassenleiter dabei sehr diskret sein und aufpassen, dass man ihn nicht dabei entdeckt, wie er heimlich ihre klienen Tittchen beobachtet, wie sie beim Spielen von Brennbal, Volleyball oder beim Rennen auf dem Sportplatz hin und her wippen. Die Weiber mittleren Alters aus dem Lehrerzimmer, all diese grauhaarigen Kroatisch-, Geschichts- und Mathematiklehrerinnen, die oft von unglücklich geschorenen und staubigen Barbies gespielt wurden, gefielen ihm einfach nicht. Wie sollten sie auch, wenn er all diese Stückchen Kükenfleisch vor sich hatte und ihre kleinen saftigen sexy Körper? Kajfe{ hatte damals als Klassenleiter auch eine imaginäre Familie, die eigentlich nur ein Paravent für seine Skipper-Neigungen war. Doch was Kajfe{ und die Skipperinnen angeht, den Skipperinen gefiel Kajfe{ ebenfalls. Immerhin war er ja ein mehr oder weniger guter Klassenleiter und Sportlehrer, konnte das Seil hinaufklettern und über den Bock springen und verteilte mehr oder weniger gute Noten. Die Skipperinnen hatten ja auch nicht weiß Gott was für eine Auswahl mit den halbmutierenden Jungs mit Akne aus ihrer Klasse, also mussten sie sich notgedrungen Kajfe{ als ihrem Idol zuwenden, der ja trotzdem ein mehr oder weniger guter halbrichtiger Mann war. So empfand Bornas Skipper heimlich kräftige Sypathien für Dr. Kajfe{ in seiner Rolle als Sportlehrer und Klassenleiter noch dazu. Das kann manchmal Streberinnen passieren, wie Bornas Skippr eine war. Und damit wir uns gleich klar verstehen – das waren keine Sympathien zwischen Borna und Svjetlana, sondern ausschließlich Sympathien zwischen Bornas Skipper und Dr. Kajfe{, genauer gesagt dem Sportleherer und Klassenleiter noch dazu. Außer im Abteil des kleinen Balkan Barbie Express, verbrachte Kajfe{ mit relations 2009.pmd 87 Bornas Skipper auch am StyroporSkigebiet intensiv Zeit, auf dem sie im Schnee herumtollten im Sinne von Last Christmas I gave you my heart!, wie auch in der Hotelmensa, die in Anbetracht des Klassenbudgets nicht gerade exklusiv war im Vergleich zu den luxuriös designten BarbieHotels aus den Prospekten, bis am dritten Tag der kleinen Abschlussfahrt Kajfe{ vorschlug, sie sollen sich vom Rest der Klasse absetzten (was auch nicht schwierig war, in Anbetracht der Tatsache, dass die gesamte Skipper-Klasse imaginär war) und für ein paar Tage in ein teureres Hotel gehen zur Sauna und Massage – auf Kajfe{s Rechnung! Er wusste, dass er sie mit diesem billigen kleinen Trick auf seine Seite gewinnen konnte, denn Bornas Skipper war immer bereit für eine Demonstration ihrer Bubble-Bath-Ausstattung. Und so verabredeten sie sich an der Rezeption, Punkt 20 Uhr 15. Als reiferer Mann und Klassenleiter musste Kajfe{ trotzdem die Nachrichten zu Ende schauen und sehen, was am morgigen Tag mit dem Schnee und dem Krieg sein wird. In der Zwischenzeit schminkte und parfürmierte sich Skipper mit Imitationen teurer Parfums und erschien etwas früher in der Lobby. Und als der Klassenleiter kam, gingen sie zu dieser Sauna und Massage. Aber, was eigentlich dort geschehen ist, blieb ein großes Geheimnis, das nicht einmal Dea erfuhr, so sehr sie sich auch bemühte. Angeblich kam Svjetlanas Mama von der Arbeit und Svjetlana musste ihre Hausaufgabe machen, aber alles in allem hat sich Bornas Skipper ernsthaft in Dr. Kajfe{ verknallt, doch er begriff angeblich etwas später, dass das Ganze wenig Sinn macht. Letztendlich konnte diese ganze Sache aufgedeckt werden, in die Medien gelangen und dann ist nichts mit Sportunterricht, geschweige denn mit der Klassenleitung, wofür er immerhin ein mehr oder weniger großes Plus 87 auf das Gehalt bekam. Und Bornas Skipper verfiel immer tiefer in den Schleim der Sehnsucht nach ihrem Klassenleiter und hoffte insgeheim, dass sich eines Tages, wenn sie ihren Qualli hat, Kajfe{ doch von seiner angeblichen Frau scheiden lassen und sie in seine Arme sinken würde, in denen sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende leben würde. Aber bis zum Qualli war es noch seeeehr lang in Barbie-Zeit, wenn man sie in Menschenstunden umrechnete... Alles in allem, so stehen die Dinge mit Bornas Skipper. Borna spielte oft mit uns, außerdem gingen er und ich auch noch zu diesem Chor bei Kutnjak, was uns irgendwie besonders näher brachte. Zur letzten Geburtstagsparty von Borna kam ich als erste und ging als letzte, weil Borna und ich uns noch bis spätabends eine Koreographie zu Er gehört zu mir von Marianne Rosenberg ausgedacht haben. Und bei der Probe an diesem Tag haben wir kleine rote Westen bekommen, die man bei der Aufführung über einem weißen Hemd tragen sollte und danach machten wir noch eine Runde um die Schule, die wegen der Situation im Lande doch schnell und kurz war. Borna machte wie ein richtiger Kumpel diese Runde nur mir zuliebe, weil ich Ivica Glavini} sehen wollte, in den ich mich verguckt habe und dem ich zum Geburtstag eine Gewehrkugel geschenkt habe, die ich meinem Bruder aus seiner Kollektion gesammlter Patronenhülsen und anderer Militärausrüstung geklaut hatte und die ich in ein kleines Herz packte. Der Abend verlief ruhig und es galt auch etwas früher nach Hause zu kommen, um noch einmal für morgen Es summt, schallt, hallt, klingt zu wiederholen. Aber, als ich nach Hause kam, passierte etwas Schreckliches. Die Mama meldete sich am Telefon, als niemand anderer als ein Offizier der Jugoslawischen Volksarmee anrief 14.4.2009, 20:30 88 RELA Juni und ihr sagte, dass ihr Sohn unerlaubt in die Räumlichkeiten der Marschall-Tito-Kaserne in Travno eingedrungen ist, doch sie muss sich keine Sorgen machen, denn er ist gesund und munter und sie kann ihn abholen, nachdem die kroatische Polizei ein Dossier für ihn anfertigt. – Ich dachte, die sind weggegangen und ich wollte nur ein paar Patronen sammeln...! War das Einzige, das mein Bruder sagen konnten, unmittelbar vor der Ohrfeige, als ihn die Eltern aus einer kleinen Baracke in der Nähe der Kaserne abholten. Mama und Papa waren im Schock, der Bruder in einem Turbo-Hausarest, während zu Hause noch lange die Sprache meines Volkes summte, scholl, hallte, brauste, klang, donnerte und walzte. Federnsammler An diesen dürsteren und wolkigen Tagen irgend so eines Waffenstillstandes, als sich endlich die JNA2 echt aus allen Kasernen der Republik Kroatien zurückgezogen hat, haben wir alle fleißig Federn gesammelt. Wie zerstreute Perlen einer Modekette krochen wir über die Wiesen von Slobo{tina und umliegende Felder mit dem klar gesetzten Ziel, das Federnsammler üblicherweise haben. Meist fanden wir die gewöhnlichen, grauen Taubenfedern, die auf Schritt und Tritt herumlagen. Wir sammelten sie auf Betonpflastern, die mit Kaugummiflecken verklebt waren, dem kleinen Park hinter dem Haus, der mit Hundehaufen vermint war, der kleinen Mauer mit vielen Zigarettenkippen hinter dem Debilarium (Rehabilitationszentrum Novi Zagreb), der kleinen Wiese hinter der Schule, die mit verschiedenstem Müll und manch einer Spritze durchzogen war. Oft fanden wir auch die 2 ganz schwarzen und großen von Krähen, die auf den Leitungen des Telegrafenmastes der öden Wiese zwischen Slobo{tina und der Straße nach Velika Gorica aufgereiht waren. Neben seltenen bunten Wellensittichfedern, die ich auf völlig gewaltsamem Wege in die Finger bekam, indem ich ihn so sehr erschreckte, dass er sich völlig außer sich von einem Ende des Käfigs zum anderen rammte, waren die allergrößte Trophäe mellierte Hühnerfedern und die ganz weißen Gänsefedern. Die sammelten wir nämlich während heimlicher Einfälle in den Hof eines Hauses mit Geflügelzucht, das sich etwas weiter weg von unserem Gebäude befand. Die fleißigen Perlen verwandelten sich in diesen Momenten in Kommandos, die in ein serbisches Haus einfallen. Obwohl ich in diesen Momenten ein ungutes Gefühl und Angst verspürte (was, wenn aus dem Haus der Onkel und die Tante herauskommen und auf uns den scharfen Hund hetzen, dessen Zeichen am Eingang stand), gehörten diese unerlaubten Einfälle zu den aufregenden Ereignissen, die ein Kribbeln im Bauch verursachen. Die Aktionen waren sorgfälig geplant und wurden während der nachmittäglichen Rast des Onkel und der Tante, die dann in tiefem Schlaf waren, wie Tote auf dem Bett hinter einem Fenster mit Blumengardine, ausgeführt. An diesen unerlaubtenn Einfällen in fremdes Territorium nahmen alle Teil außer Sanjica, die ein Hühnerstalltrauma hatte, seit sie ihre Cousine Tanja aus Zagorje dazu überredete, ein Huhn zu schlachten. Sanjica war damals nämlich gezwungen an dieser hinterhältigen Tat teilzunehmen, die so endete, dass die Mädels es schafften, mit einem großen gezahnten Brotmesser in allgemeinen Federnchaos dem Huhn zur Hälfte ein orangenes Bein abzuschneiden und den Rest musste die Tante erledigen. Doch dies war keine schmutzige Arbeit dieser Art. Das Geflügel blieb in diesem Fall völlkommen unberührt und das Sammeln erfolgte ohne ein einziges Tröpfchen Blut. Man musste nur so viel wie möglich ausgefallene Federn sammeln, die wir später dann zur Oma aus Nummer dreizehn in den zehnten Stock brachten. Sie belohnte uns dafür reich mit Münzgeld, Papiergeld bekamen wir, wenn sich auf dem Haufen grauer Federn auch eine bunte fand. Außer meinem Beitrag, kamen bunte Federn auch von Tea, die ihren Wellensittich nach der gleichen Methode seiner Federn beraubte. Und die Oma kaufte von uns Federn als Rohmaterial für ihre Kunst. Sie stellte einen großen Vogel zu Ehren von dr. Franjo Tu|man her und die Teilnahme an ihrem Projekt schien eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit, das ziemlich schwächliche Taschengeld in diesen grauen und geizigen Tagen aufzubessern. Doch unseren Eltern gefiel jeglicher Kontakt mit dieser ungewöhnliche Alten überhaupt nicht und nachdem sie uns das erste Mal vor den fatalen Folgen dieses Tauschhandels für unser mickriges, aber mehr oder weniger stabiles Budget ihrerseits, gewarnt haben, musste die Aktion für die zusätzliche Geldquelle in strengster Heimlichkeit vonstatten gehen. Was eigentlich gar nicht leicht war, in Anbetracht der Tatsache, dass wir mit sehr aktiven Außenmitarbeitern kontaktieren mussten. Obwohl wir nie dachten, dass das eines Tages geschehen würde, schlossen sich uns beim Federnsammeln unsere sonst schlimmsten Feinde Salih und Alija an, der eigentlich gar nicht Alija hieß, so nannten wir ihn und seine Geschwister, die aus Bosnien hergezogen waren. Alija konnte gut mit Geflügel umgeben, das schreckte nicht so sehr Jugoslavenska Narodna Armija – Jugoslawische Volksarmee. relations 2009.pmd 88 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Ma{a Kolanovi} vor ihm zurück wie vor uns übrigen beim Hineingehen in den Hof, sondern spazierte nur pickend in Richtung Goldfischli, die er ihnen geschickt zuwarf. Die Guppe aus unserem Eingang, in Zusammenarbeit mit Salih, versuchte in der Zwischenzeit so viele Federn aus dem schlammigen Hof aufzusammlen, der voll von Schmutz und altem Kram war. Während wir sammelten, hielt Alija einen gefährlichen Schwarm Gänse in Schach, der sich jeden Moment gegen uns wenden konnte. Doch dieser ganze Deal mit den Federn sollte nach den Warnungen, die wir von den höheren Instanzen bekommen haben, unbemerkt bleiben. Unseren Schwarzbetrieb tarnten wir gut, indem wir mit unseren Barbies auf den Gullideckeln vor dem Gebäudeeingang spielten, so dass unsere Eltern, die uns immer im Visier hatten, keinen Verdacht schöpften. Während des Spiels gingen wir in Schichten zur Gastarbeit mit Salih und Alija, danach machte man den Federfang bei der Alten zu Geld, deren winzige blaue Augen vor Zufriedenheit unter den faltigen Augenhöhlen ihres knochigen Gesichts sprühten. Und während die Gruppe von Spezialabgeordneten auf geheimer Mission war, fiel auf dem großen Kanalisationsdeckel Dr. Kajfe{ in seine gewöhliche Extase, diesmal zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, dass sowieso niemand dieses Quasispiel ernst nahm, das zur als Vorwand für viel wichtigere Dinge diente. Dr. Kajfe{ erkrankte nämlich plötzlich an einer Störung aller Persönlichkeiten in einer Person, und um die Sache noch schlimmer zu machen, keiner der Anwesenden konnte ihm fachmännisch helfen, da er der einzige Arzt mit Diplom war. In einem Moment war er Bruce Lee und rette3 4 relations 2009.pmd te Barbie mit seinen Karatebewegungen vor unsichtbaren Vergewaltigern, von denen er einer von vielen war, im anderen fesselte er sie als Rudolph Valentino in orientaler Kleidung mit Stacheldraht und kitzelte sie an den Füßen mit frisch gesammelten Federn, dann wieder war er Robin Hood und plünderte die Wohungen der Abgeordneten, die abwesend waren, danach zerschlug er in einem plötzlichen Umschwung mit seiner kleinen Plastikgitarre alles Gestohlene als Jimmy Hendrix, um schon in der nächsten Sekunde als Vojislav [e{elj in Barbies Bett zu schlüpfen und ihr Oh, Barbi-Helz und Gloßselbien ins Ohr zu säuseln. Es gab nichts, was es nicht gab. Meister Proper, der so sauber putzt, dass man sich drin spiegeln kann, Aca ist immer Aca (von vorne und von hinten), Batman, Spiderman, Danko Bananko Bananaman, Tu|man, Branko ratatatira Kockica3, der Barbie-Partys besucht und das kontrarevolutionäre Verhalten von Parteifunktionären bespitzelt und selbst in der Falle sitzt. Und das alles binnen einer halben Minute, um schon in der nächsten als Slobodan Milo{evi} einen rationalen Staat vorzuschlagen, wonach sich sofort eine Gruppe spontaner Demonstranten bildete, die Slobo, du Saddam! rief, mit einem maskierten Kajfe{ als Demonstrantenanführer. Slobo mutierte dann zu Supermen-Serbe Kajfe{ und bombardierte im zu engen Aerobicoutfit von Skipper mit Barbies Lieblingstischtuch auf dem Rücken die Demonstranten mit Bomben, die aus Steinchen aus dem Gullideckel gemacht waren. In dieser Zeit von Kajfe{s persönlicher Hölle, aus der die finstersten Seiten seiner Persönlichkeit herauskamen, maskiert in Prominente und Superhelden, machte sich eine Gruppe von Spezialabgeordneten zur Auslieferung der ge- rade gesammelten Federn auf. Diesmal war ich auch mit bei der Delegation, die mit dem Aufzug in den zehnten Stock hinauffuhr, wo uns die einen Spalt offene Tür einer kleinen Wohnung erwartete. In der Wohnung, aus der sich ein ziemlich unangenehmer Geruch ausbreitete, keineswegs den falschen bekannten Parfums aus der Konj{~inska-Straße4, die der totale Hit waren, ähnlich, wartete die faltige alte Frau auf uns. Sie war in das Modell eines großen Vogelskeletts versunken, auf das Federn geklebt waren. Die Wohnung dieser sonderbaren Dame war nicht nur voll von Gobelins mit verschiedensten Darstellungen, sondern auch mit präparierten Vögeln, die um einen Sessel mit dunkelgrünem Samtbezug aufgestellt waren. Sie erzählte uns, dass das Trophäen ihres Mannes seien, der vor langer Zeit mal ein bekannter Jäger war und dann endete er in Zeiten des Kommunismus in einer der zahlreichen Gruben mit unidentifizierten Opfern, die sich später in ausgegrabene Gebeine verwandelten. Während sie von ihrem verstorbenen Mann sprach, erfasste die alte Frau immer so eine melancholische Stimmung, in der ihre winzigen Augen wässrig alleine wurden. Und im ganzen Viertel und Umgebung gab es in Wirklichkeit keine einsamere Person als unsere Oma, die alle eine verrückte Hexe nannten, vor der man sich hüten sollte. Wir Kinder waren eigentlich ihre einzigen Freunde, obwohl uns der liebste Teil dieser Freundschaft der Augenblick war, wenn sie uns Kleingeld gab, wozu diesmal auch zwei Geldscheine gehörten, wegen ein paar mellierten Federn, und danach wuchsen uns Federn und wir gingen sofort in den Laden und kauften Lebensmittel für ein richtiges kleines Festmahl. 7 Gringos mit Johannisbeergeschmack, 10 Showmaster einer beliebten Kindersendung. Einkaufsstraße für Ramschware. 89 89 14.4.2009, 20:30 90 RELA Juni Bazookas, 5 Kinderüberraschungen und 5 Yupi-Säfte mit Strohhalm wollten wir sofort auf dem Schacht verdrücken. Hurra! Die zweite Runde von Sammlern brachte eine neue Ladung Federn und wir veranstalteten ein Picknick auf der Kanalisation. Alle außer Kajfe{, dem sich diesmal in seinem Ein-Mann-Drama auch Ken von Ana M. anschloss, womit dieses Ein-Mann-Drama ungeahnter Ausmaße zum Zwei-Mann-Drama wurde. Die zwei litten jetzt gemeinsam an der schweren psychischen Krankheit, deren Ursache oder Heilmittel nicht bekannt war, so dass sie in einem Moment Milli Vanilli waren und mit synchronen Tanzschritten Playback sangen, im anderen Miami Vice, wo Kajfe{ der schwarze Sittenhüter war, dann die Handwerker aus A je to5, die die schon sowieso 5 verwüsteten und geplünderten Wohnungen ruinierten, danach wiederum Mladi} und Karad`i} beim Massaker von Plastikzivilisten, dann Lolek und Bolek als Sportler bei den Olympischen Spielen in Tschechien... Und da es keinen Weg gab, diesem verdoppelten Wahnsinn auf dem großen Kanalisationsschacht Einhalt zu gebieten, wurde eine neue Delegation von Spezialabgeordneten geformt, zu dessen Reihen aus disziplinatorischen Zwecken unbedingt auch Svjetlana und Ana M. gehören mussten und ich musste mich ihnen anschließen als unbeteiligter Beobachter in reinem Ariel-Weiß. Kajfe{ und Anas Ken stürzten nach diesem Befehl in den Kanalisationsschacht und verstummten plötzlich. Als beide gefallen waren, machten wir drei uns auf zum Hühnerstall, obwohl der Himmel immer dunkler wurde und es war nur eine Frage von Sekunden, bis uns alle ein Sturm in unserer Aktion „Federn“ stören würde. Im allgemeinen Grau, wie Gänse im Nebel, bewegten wir uns zum kleinen Bauernhof, erblickten jedoch nach einem kleinen Stück Weg Salih und Alija aus entgegengesetzter Richtung, die unter dem Druck eines Gänseschwarms auf uns zurannten. Vor dem Hintergrund des Donners und des Grau, gejagt von einem rasenden weißen Schwarm, wie sonderbare Marathonläufer, stürmten wir zum Haus zurück, von dessen zehntem Stock das Federskelett eines Riesenvogels in die Tiefe stürzte. Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} Pat & Mat – tschechische Trickfilmserie. relations 2009.pmd 90 TIONS 14.4.2009, 20:30 str. 91 92 RELA Juni TIONS BEKIM SEJRANOVI], geboren 1972 in Br~ko. 1985 Umzug nach Rijeka, wo er die Nautische Schule besucht und Kroatistik studiert. Seit 1993 lebt er im norwegischen Oslo, wo er an der Historisch-philosophischen Fakultät ein Magisterstudium in südslawischen Sprachen abgeschlossen hat. Er übersetzte Werke von Ingvar Ambjornsen und Frode Grytten, sowie eine Anthologie norwegischer Kurzgeschichten unter dem Titel Die große, öde Landschaft („Velika, pusta zemlja“). Autor der Studie Modernismus im Roman Isu{ena kalju`a von Janko Poli} Kamov (Adami}, Rijeka, 2001) und des Erzählbands Fasung (Naklada MD, Zagreb, 2002). Er lebt zwischen Oslo und Hvar. * * * Bekim Sejranovi}s Roman kann gleichzeitig wie eine Geschichte des hiesigen 20. Jahrhunderts, aber auch wie ein Katalog seines Flüchtlingsdaseins gelesen werden. Ob sie nun aus einer Sprache in eine andere vertrieben wurden, aus Bosnien nach Kroatien, aus Rijeka nach Oslo, aus dem „Palach“ ins Gefängnis für illegale Einwanderer, aus dem Leben in Formulare, aus der Zivilisation in die Wildnis des hohen Nordens, aus der Kindheit in keineswegs gastfreundlichere Landschaften des Erwachsenseins – die Helden diese Buches kommen tatsächlich nirgendwo an und nirgendwo her, während die (keineswegs zufälligen) Verse der Rockband „Let 3“ aus Rijeka zu einem Titel werden, der ihre Reiseroute, ihre gegenwärtige Position, die Welt, in der sie leben, aber auch jene, aus der sie gekommen sind, auf präzise weise beschreibt. Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das, wo sie herkommen, nicht mehr existiert, während jenes, wo sie angekommen sind, zwar auf Landkarten zu finden ist, aber keinerlei Bedeutung hat. Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das Ziel kein Ort ist, wo man sich ausruhen könnte und man kann auch nicht sagen, sie seien nicht gereist. Bekim Sejranovi} lässt nicht zu, dass er unter der Last dieser Negationen zusammenbricht. In ihrer Mitte und vielleicht auch ihnen zum Trotz, bleibt sein Buch ein warmer, frischer, aussagekräftiger und lebendiger Roman, wie wir sie nicht oft zu lesen bekommen. relations 2009.pmd 92 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Bekim Sejranovi} 93 Nirgendwo, von nirgendwo her Bekim Sejranovi} IV 1. Dino und Nata{a Am Anfang unserer Straße, auf ihrer linken Seite, stand ein Haus mit einer grünen Fassade. Die Fassade funkelte, als habe man sie mit Edelsteinen bestreut. Dino, mein Freund, der in diesem Haus wohnte, sagte, es sei der Sand, der funkelt und dieser sei im Mörtel vorhanden, der für die Fassade verwendet wird. Ich glaubte ihm nicht und versuchte ihn zu überreden, die Edelsteine herauszupicken und damit reich zu werden. Er wollte nicht, denn es war immerhin sein Haus, außerdem hatte er Angst vor seinem Großvater. Seine Eltern waren ebenfalls „gerichtlich“ geschieden und sein Vater war von ihnen fortgezogen. Dino lebte mit seiner Mutter bei seinem Großvater und seiner Großmutter, die er, wie ich, Mutter nannte. Ich war eifersüchtig auf ihn, weil er besser Fußball spielen konnte und weil er aufgrund seiner kleineren Figur Bruce Lee ähnlicher sah als ich. Die größten Sorgen bereitete mir jedoch die Tatsache, dass Nata{a sich in ihn verliebt hatte. Als wir noch klein waren, zog eine Familie aus Srijem in Dinos Haus ein. Sie hatten eine Tochter namens Nata{a und einen Sohn, den sie Mali{a nannten. Ihr Vater war Fußballtorwart und spielte für den FC Jedinstvo in der Zweiten Liga West. Nata{a war blond und süß und sofort in Dino verliebt. Mir war nicht so viel an ihr gelegen, vielmehr ärgerte es mich, dass sie sich gerade in ihn verlieben musste. Denn Dino neckte sie die ganze Zeit, zupfte an ihren Haaren, sang unanständige Lieder, furzte, rülpste und vieles mehr, sie aber verschlang ihn geradezu mit ihren blauen, naiven Äuglein. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit mit Lügen auf mich zu ziehen. Ich erfand die unglaublichsten Geschichten und Erlebnisse, sie lachte mich aber jedes Mal aus. Dann aber kam Dino, rülpste aus der Tiefe seines Magens und sagte gleichzeitig „Knooooorr“, wie in der Werbung für Knorr-Suppenwürfel. Nata{a klatschte dabei nur in die Hände, spitzte ihre Lippen, sagte: „Pfui, bist du aber widerlich“ – und ging ihm nach. Einmal hatte ich Nata{a gefragt, wo ihre Mutter sei. Sie sagte, sie habe keine Mutter, sondern nur eine Großmutter in Sremska Mitrovica, aber diese sei bereits verstorben. Ich wusste nicht, was das bedeutet und beschimpfte einmal ihre verstorbene Großmutter. Sie begann zu weinen und wollte sich gar nicht mehr mit mir unterhalten. Ich fragte Suzana, was verstorben heiße, und sie sagte: „Das ist, wenn jemand tot ist, kapierst du?“ 2. Pele und Liso Dieser Pele, der auf der anderen Straßenseite wohnte, war blond und mürrisch. Immer musste man Acht geben, was man in seiner Anwesenheit sagt, denn er wurde leicht böse und, was noch schlimmer war, begann sofort, boshafte Bemerkungen zu machen. Tagelang konnte er einen quälen, nur weil er ein falsches Wort gesagt hatte, oder mit jemandem wegen der winzigsten Belanglosigkeit Streit anfangen. Er hatte einen zwei Jahre älteren Bruder, den man Liso nannte. Einmal sagte ich zu Dino, das sei deshalb, weil er wie ein Fuchs jederzeit bereit war, einen zu Dummheit zu überreden und ihn dann auszulachen, wenn er einsieht, das er zum Narren gemacht wurde. Alle anderen lachten mit ihm mit. Am liebsten trieb er seine Späße mit seinem Bruder Pele und dieser konnte es dann natürlich kaum erwarten, mit ihm eine Schlägerei anzufangen. Sie beschimpften einender aufs Gröbste und kannten dabei kein Pardon. Hätte jemand anders Pele beschimpft, hätte Liso selbst ihn verprügelt. Pele, wiederum, mochte es nicht, dass sein Bruder ihn verteidigt und prügelte sich dann sowohl mit 94 RELA Juli dem Bruder, als auch mit jenem, der ihn beschimpft hatte. 3. Fußball Dino und Pele waren Partizan-Fans, Liso und ich Zvezda-Anhänger, was der Grund war, das wir uns fortwährend zankten und stritten: welcher Klub ist der bessere, welcher hat mehr Meisterschaften gewonnen, wer spielt besser, Mom~ilo Vukoti} oder Vladimir Petrovi} Pi`on? Ich spielte am schlechtesten, Liso am besten. Immer spielten Liso und ich gegen Pele und Dino. Ich hatte damals bereits eingesehen, dass Fußball das schlimmste in uns an die Oberfläche treibt. Einer der Hauptgründe für unsere Konflikte, die sich nicht selten in kleine blutige Kriege ausarteten, war die Tatsache, dass wir keine richtigen Tore hatten. Wir machten sie aus Steinen, den Oberteilen unserer Trainingsanzüge, oder einfach aus Pflöcken, die wir in die Erde steckten. Alles andere wäre einfach gewesen, sollte der Ball tatsächlich mal durchs Tor rollen, was aber nur selten vorkam. Jedes Mal rollte er über die Flanke, beziehungsweise den Stein oder eines unserer Kleidungsstücke. Falls der Ball tatsächlich mitten im Tor landete, war gleich jemand da, der meinte, er sei zu hoch, d.h. übers Tor hinausgeflogen. Der Balken, den wir uns gemäß unserer stillschweigenden Vereinbarung vorstellten, befand sich ungefähr in Kniehöhe. Das Problem war nur, wessen Knie damit gemeint waren, denn wir waren alle verschieden groß. Daraufhin begannen die Streitereien: war es ein Tor oder nicht? Wir schworen bei unseren Müttern, Vätern, toten Großvätern und Großmüttern, aber das half alles nichts. Da niemand nachgeben wollte, endete schließlich alles mit einer Prügelei. Wer dabei den Kürzeren zog, musste zugeben, der andere habe gewonnen. Am wenigsten Gewicht hatte für mich, wenn ich bei meiner Mutter schwor, und diesen Schwur benutzte ich nur bei kleineren Streitereien. Danach kamen der tote Großvater oder die tote Großmutter, egal ob sie tatsächlich tot waren oder noch lebten. Wenn ich seriös wirken wollte, schwor ich „bei Tito“. 4. Soll Tito sterben Eines Sonntags spielten wir hinter der technischen Schule Fußball. Eigentlich war es auf dem Lehrerparkplatz, einer unregelmäßigen betonierten Fläche, die für Fußball „mit kleinen Toren“ mehr als geeignet war. Wir spielten wie jedes Mal, Liso und ich gegen Pele und Dino. Beziehungsweise, es war das Derby Zvezda gegen Partizan. Für dieses Sonntagsderby hatten wir sogar eigene Fußballtrikots. Liso und sein Bruder Pele hatte irgendwie echte Trikots beschafft, Liso jenes von Zvezda, Pele jenes von Partizan. Sie sahen wirklich wie echt aus, hatten sogar Nummern auf dem Rücken, Liso die Sieben, Pele die Neun. Peles Trikot hatte lange Ärmel, viel zu lang für ihn, so dass er sie ständig nach oben ziehen musste. Mein Trikot war etwas anders als Lisos, obwohl es auch ein ZvezdaTrikot war. Mein Vater hatte es mir geschenkt und es hatte keine Nummer auf dem Rücken. Meine Mutter hatte mir später eine weiße Fünf angenäht, die sah aber irgendwie schief und traurig aus. Eigentlich war es ein Trikot des FC Kozara aus Bosanska Gradi{ka. Ein rotes Leibchen mit zwei weißen Streifen auf der Vorderseite. Ich sagte zu meinem Vater, dieses Leibchen sähe nicht gerade aus, wie jene von Zvezda, denn die weißen Streifen waren zu schmal, während auf dem ZvezdaTrikot die weißen und roten Streifen von gleicher Breite und regelmäßiger Anordnung sind. Mein Vater blickte mürrisch drein und sagte, das habe nichts zu bedeuten. TIONS – Ist es rot-weiß? Ja. Na, dann? – er warf mir einen jener Blicke zu, nach denen ich auch selbst seinen Worten glauben musste. Nachdem es 3:2 für Partizan stand, kam der Ball irgendwie zu mir gerollt. Vor mir waren nur Dino und das Tor, vor dem er sich aufstellte, um meinen Ball abzuwehren. Ich war nie besonders geschickt, wenn es ums Dribbling ging, deshalb kickte ich los, komme, was wolle. Der Ball traf Dinos Bein, prallte schräg von ihm ab und landete hinter dem Tor. Liso und ich riefen sofort: – Tooooooor! – worauf die beiden von Partizan erwiderten: – Das hättet ihr wohl gern, der Ball ist von der Latte abgeprallt und ist im Abseits gelandet. Unsere Torlatten waren zwei Steine, der Ball flog über den linken hinweg. Ob von außen oder von innen, wer kann das schon sagen? Wir begannen zu streiten und schworen alle bei unseren Vorfahren, egal, ob sie lebten oder nicht. Liso und Pele hatten lebende Großväter, so dass Liso sagte: – Soll mein Großvater sterben, wenn das kein Tor war! Pele brüllte wiederum: – Sollen Großvater und Großmutter sterben, wenn es eins war! Die Entscheidung blieb Dino und mir überlassen. Es waren härtere Argumente notwendig, als Großväter und Großmütter. Dino sagte: – Wenn es ein Tor war, liebe ich Tito nicht! Da habt ihrs. – Aaaaa – schrie ich. – Du liebst Tito nicht! Dino liebt Tito nicht! – Wer liebt Tito nicht!? – erwiderte dieser verärgert. – Schwöre du doch, denn du darfst. Liso und Pele begannen zu brüllen: – Los, los! Liso schreit: – Schwöre! Es war ein Tor, so wahr mir Tito helfe, ich habe es gesehen. Pele schreit: – Was für ein Tor? Los, soll er bei Tito schwören, wenn er darf. RELA TIONS Und was blieb mir anderes übrig? Ich sagte: – Es war ein Tor, bei Tito, es war ein Tor! Dino sah mich schräg an und sagte boshaft: – Los, sag, wenn du dich traust: Soll Tito sterben, wenn es kein Tor war! Ich hielt einen Augenblick lang Inne. So sicher war ich mir wiederum nicht, dass es tatsächlich ein Tor gewesen ist, aber was sollte ich tun? Sie waren es auch nicht. – Soll Tito jetzt, in dieser Sekunde sterben, wenn es kein Tor war! Alle waren still. Das war es gewesen. Es gab keinen kräftigeren Schwur oder Zauber. Man musste nur den Mut aufbringen, es zu sagen. – Wie ihr wollt, drei zu drei, aber jetzt geht es euch an den Kragen – zischte Pele und sah seinen Bruder an, der boshaft kicherte. 5. Tito ist gestorben, wer hätte das gedacht Nicht einmal heute bin ich mir sicher, ob es damals ein Tor war oder nicht, aber Tito war nicht in der gleichen Sekunde gestorben, sondern erst sieben Tage danach. Dino und ich spielten auf der Straße „dodava“. Das heißt, wir Spielten einander den Ball zu, hatten aber keine Tore. Plötzlich sah ich Dinos Mutter auf uns zulaufen. Dino hatte sie nicht gesehen, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte. Ich sah sie ganz außer sich auf die Straße laufen. Sie hatte ein grünes Hauskleid aus Frottee an. Jetzt geht es Dino an den Kragen, dachte ich und einen Augenblick lang tat er mir leid. Nur einen Augenblick lang. Gerade als ich diesen Augenblick des Mitleids in Schadenfreude verwandelt hatte, rief sie: – Dino, sofort nach Hause! Tito ist gestorben! Als sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und marschierte ins Haus. Bekim Sejranovi} Der Ball, den ich Dino zugespielt hatte, war bei ihm angekommen, er setzte sich drauf und fiel auf die Knie. Er sah mich verschreckt an, als würde er von mir eine Antwort erwarten. Ich sagte: – Sie lügt doch, die Alte. Wie kann Tito denn sterben? Los, schieß. Einige Augeblicke lang starrten wir einander an. Ich spürte, das wir von einer jugendlichen Erregung gepackt werden, als stünde uns ein Abenteuer bevor, ein Streich oder Hiebe. 6. Tränen für Tito Wir liefen nach Hause. Bei mir zu Hause saßen mein Großvater und unser Nachbar Sakib, ein alter Mann von rund achtzig Jahren, aber immer noch rüstig. Sie sitzen, rauchen und blasen den Rauch in die Luft. Sakib wohnte im Haus neben unserem, mit seiner Frau, mit der er fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesprochen hat und deren richtigen Namen niemand wusste, weil alle sie bloß Sakibs Frau nannten. Nachbar Sakib sagte: – Genosse Alter ist gestorben. – Ja, mein Sakib, er ist gestorben – sagte mein Großvater mit aufrichtiger Traurigkeit. Als ich in die Küche kam und meine Mutter dort an den Töpfen herumhantieren sah, fragte ich sie, was geschehen sei. Sie sagte nur, ich soll still sein, und Tito sei gestorben. – Es ist am besten, jetzt still zu sein – wiederholte sie. Mein Großvater rief: – Hör doch auf mit diesem Krach. Warum musst du ausgerechnet jetzt die Töpfe reinigen? Dann setzten wir uns alle vor den Fernseher. Ich setzte mich auf den Boden, umarmte meine Knie und wartete, was passieren würde. Im Fernsehen spielte ernste Musik, auf dem schwarzen Bildschirm stand „Sondernachrichten“. Mich machte die Musik schläfrig, so dass ich zu gähnen begann, und wenn ich gäh- 95 ne, kommen mir die Tränen in die Augen. Oft habe ich in der Schule so getan, als täte mir der Bauch weh, oder der Kopf. Ein Paar mal gähnen und schon tränen die Augen. Dann wurde die Meldung durchgegeben, an diesem Tag, genau um 15.05 Uhr habe das große Herz unseres geliebten Genossen Tito aufgehört zu schlagen. Es klang fürchterlich, das muss man zugeben. In gewisser Hinsicht wird es wohl auch so gewesen sein, aber niemand wusste, in welcher. Zumindest damals noch nicht. 7. Das Messer Am folgenden Tag, als ich mich auf den Weg zur Schule machte, war auf einmal der Wagen meines Vaters da. Ich war überrascht, ihn zu sehen. Danach ging die Überraschung in ein leichtes Angstgefühl über. Immer tauchte er überraschend auf. Monatelang habe ich ihn nicht gesehen, und dann war er auf einmal da. Zuerst meckerte er an meiner Bekleidung und Beschuhung herum, fragte mich, warum ich mein T-Shirt nicht in die Hose stecke (ich hätte ihm am liebsten gesagt, das machen nur Arschlöcher, durfte es aber nicht), warum meine Fingernägel nicht sauber waren und der Hals dreckig, als hätte ich mich monatelang nicht gewaschen. Später gingen wir dann Tschewaptschitschi essen oder etwas trinken, oder einkaufen. Einmal führte er mich in ein Warenhaus und sagte: – Hier, Sohn, such dir mal eine Hose aus, die Vati dir kaufen soll. Ich lief schnurstracks auf ein Paar grüne Stoffhosen zu. Die gefielen mir besonders gut. Mein Vater schlug mir mit der Hand auf den Nacken und zischte: – Warum gerade die Grünen, du Bauernjunge? Dann kaufte er mir irgendeine Jeanshose mit weißer Naht. Mir gefielen sie nicht und mein Nacken tat mir 96 RELA Juli weh. Am schlimmsten aber war, dass er mich einen Bauernjungen genannt hatte. Und dass er mir versprochen hatte, ich könnte mir die Hose selbst auswählen, und dann hatte er nicht Wort gehalten. Ich wollte gerade diese grüne Hose haben, kann mich aber jetzt nicht mehr erinnern, warum. Dann erschien er nach Titos Tod, rief mich zu sich in den Wagen, einen sogenannten „polnischen Fiat“, auch „der Pole“ genannt. Ich saß eine Zeitlang im Wagen, wir unterhielten uns und mein Vater schenkte mir ein blaues Messer. Ich sah es mir auf dem Schulweg an. Die Farbe hatte mir gefallen. geht es dir erst recht an den Kragen. Dann fingen sie an, mich zu necken, und ich muss sagen, sie taten es nicht schlecht. Ich ließ mir das eine Zeitlang gefallen, schrie dann aber: – Schert euch doch zum Teufel, beide! – und lief nach Hause. Diesmal kamen mir wirklich die Tränen, aber nicht aus Angst, sie würden mich verpetzen, sondern aus Wut, weil ich zugelassen hatte, dass sie mich nerven. Ich wusste ja, dass Tito nicht meinetwegen gestorben war. Er wäre auch so gestorben. Und es war ein Tor. 9. Mich rufen sie Cigo 8. Es war ein Tor Als wir in der Schule angekommen waren, setzte uns die Lehrerin noch einmal über alles in Kenntnis und sagte, dass wir diesen Tag keinen Mathematik- und Naturkundeunterricht haben, sondern uns über Tito unterhalten werden. Sie sagte uns, es werde sieben Tage Trauer geben, was bedeutete: kein Singen, kein Pfeifen, kein Brüllen, kein Lachen, nichts. Ich sah aber viele, die auf der Straße pfiffen oder lachten, und ein Mann mit Schnurrbart, ich hatte es genau gesehen, fuhr auf seinem Fahrrad die Straße entlang und summte ein Liedchen. Warum summt er, wo doch Trauer ist? Ich sang und pfiff nicht. Diese Woche gab es auch keinen Zeichentrickfilme um 19.15 Uhr. Als Dino, Pele und ich an diesem Montag aus der Schule nach Hause gingen, begannen sie über das Tor von vergangener Woche zu reden. Pele fing als erster damit an: – Da siehst du, was man davon hat, wenn man schwört und dabei lügt. Dino hatte es kaum erwarten können, man sah, das alles gut vorbereitet war. – Wir sagen allen, was passiert ist. Jetzt 1 Schimpfname für Zigeuner. 1 Am Dienstag setzten wir unser Gespräch über Tito fort. Natürlich lobten wir ihn in höchsten Tönen. In der Halle vor dem Lehrerzimmer hatten sie einen Tisch aufgestellt, ein rotes Tischtuch darüber geworfen und ein Schwarzweißbild von Tito aus den Fünfzigern draufgetan. Über den oberen linken Winkel hatten sie ein schwarzes Band gezogen. Alle zehn Minuten lösten sich zwei Schüler am Tisch ab, die vorschriftlich angezogen sein mussten. Auf dem Kopf eine Tito-Mütze, um den Hals das rote Halstuch der Pioniere. Auch ich hatte die Ehre, zusammen mit Mustafa. Er war von geringer Statur, muskulös und dunkelhäutig. Noch dunkler als ich. Und mich riefen sie Cigo. Anfangs hatte mich das noch gestört, aber einmal, als ich weinend und mit gebrochener Nase nach Hause kam, weil ich mich mit einem gewissen Osman geprügelt hatte, der mich die ganze Zeit geneckt hat, ich sei ein Zigeuner, erklärte mir Onkel Alija: – Zigeuner sind Menschen wie du und ich, nur interessiert sie weder Fußball noch Politik. Und deshalb sollte man Fußball und Politik verbieten, kapierst du? – sagte er, schlug TIONS mir mit dem Finger auf den Kopf und spazierte aus dem Hof hinaus, wie ein Weiser aus dem Osten. Ich stand mit blutender Nase am Tor und rieb mir den Scheitel, der vom Schlag seines Mittelfingers schmerzte. Diesem Mustafa, von dem ich bereits zu erzählen begonnen habe, wuchsen die Haare beinahe aus der Stirn. Er war ein übler Bursche, aber auf eine dumme Art, so dass er weder jemandem Angst einflößte, noch konnte er jemanden zum Lachen bringen. Und eines davon muss man einfach können, obwohl das damals noch niemandem klar gewesen ist. Und während wir stramm standen, dieser Mu}e und ich, jeder auf seiner Seite, bemerkte ich, dass er mich anstarrt. Ich gab ihm mit den Augen zu verstehen: was willst du von mir?, und er flüsterte: Sag mal, war es wirklich ein Tor? Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört, verfluchte ihn aber in Gedanken. Pele und Dino ebenfalls. Mu}e fuhr fort, mir auf die Nerven zu gehen, und ich begann, im Mund Spucke zu sammeln. Als mein Munde voll war, ging ich auf ihn zu und spuckte ihm mitten ins Gesicht. Er wischte sich die Spucke ab und ging auf mich los. Da kamen aber die neuen Ehrenwachen herbei und brachten uns irgendwie auseinander. Als wir wieder im Klassenzimmer waren, sagte Mu}e sofort, ich habe ihn grundlos angespuckt. Ich bekam ein Paar Schläge mit dem Lineal auf den Hintern, Mu}e musste sich nur hinsetzen. Unsere Lehrerin war außer sich, aber mehr aus Angst, als aus Wut. Nachdem sie mich gezüchtigt hatte, meinte sie, nur Zigeuner würden andere anspucken. 10. Die unglückliche Lehrerin Unsere Lehrerin war mittleren Alters, blond und sehr hübsch. Ihr Mann RELA TIONS betrieb einen Spielsalon: Video-Spiele, Tischfußball, Flipper und ähnliches, wo Jugendliche ihr Geld loswerden konnten. Einmal hatte ich meinem Großvater eine ganze Serie Silbermünzen mit Titos Bild geklaut und sie für ein Spiel ausgegeben, das „Pacman“ hieß. Ich warf die Silbermünzen statt der üblichen fünf Dinar in den Schlitz und der Automat akzeptierte sie problemlos. Ich weiß nicht, ob die sich davon bereichert haben, aber schon bald bauten sie ein großes Haus und eröffneten eine private Firma. Ihren Mann haben sie in den ersten Kriegstagen umgebracht und sie flüchtete nach Deutschland. Auch als alte Frau war sie noch sehr schön. Unglücklich war sie sowohl als junge, als auch als alte Frau. In ihrer Jugend, weil sie des Geldes wegen geheiratet hatte, als sie alt war, weil sie in ihrer Jugend hübsch gewesen ist. 11. Titos Begräbnis Am Mittwoch war Titos Begräbnis. Die Schule war an diesem Tag früher zu Ende, damit wir uns die Übertragung im Fernsehen ansehen konnten. Bei uns waren Suzanas Mutter, Nachbar Sakib und Onkel Alija. Alle waren festlich und traurig, außer Alija. Er schaute finster drein und war unrasiert. Man würde leicht Angst vor ihm kriegen, ohne zu wissen warum. Im Fernsehen wurde das Begräbnis übertragen. Hunderttausende Menschen auf den Straßen Belgrads und alle weinten. Weinende Frauen und Kinder liebten die Kameras besonders. Ich gähnte, so viel ich nur konnte, war aber nicht zufrieden mit der Menge meiner Tränen, im Vergleich zu den Menschen auf dem Bildschirm. Mein Großvater schaute ernst drein. Auch meine Mutter hatte einen traurigen Gesichtsausdruck, dachte aber wohl eher darüber nach, was Bekim Sejranovi} sie am nächsten Tag kochen sollte. Nachbar Sakib rauchte und biss seine dritten Zähne zusammen. Als der Sarg in das marmorne Grab hinabgelassen wurde, stand Suzanas Mutter auf, verschränkte die Arme auf dem Bauch und ließ die Tränen ihre Wangen hinabkullern. Auch mir stiegen die Tränen in die Augen, nur war ich mir nicht sicher, ob mein Gähnen nicht endlich funktioniert hatte oder ob ich wirklich zu weinen anfing. Es war nicht leicht, bei diesem Anblick gleichgültig zu bleiben. Nur Alija blieb stillschweigend, mit starren Gesichtsausdruck sitzen und rauchte weiter seine Zigaretten, die er mit unglaublicher Geschwindigkeit zusammenrollte. Er hatte ein Feuerzeug, das nach Benzin roch. Es war eine Wonne, daran zu riechen. Niemand hatte etwas gesagt und ich wunderte mich, warum er nicht ebenfalls aufgestanden war. Ich dachte mir, das sei vielleicht wegen seiner Beinverletzung, die er sich im Bergwerk zugezogen hatte, traute mich aber nicht, laut danach zu fragen. Vor allem nicht ihn, mit seinen Augenbrauen. XVII 1. Hokahe Das Flugzeug der skandinavischen SAS hebt über Oslo ab und gewinnt in einem halbkreisförmigen Manöver leicht an Höhe, während es die immer dichter werdende Wolkendecke durchdringt. Ich werfe noch einen Blick auf die Stadt, in der ich jahrelang die Scherben meines Lebens abgenutzt habe. Es fährt mir durch den Kopf, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal sehe, was ich aber nicht weiter tragisch finde. Bevor das Flugzeug seine Nase in die dicke Wolkenschicht bohrte, hatte ich einen guten Ausblick auf den gesamten Oslofjord mit seinen vielen Inseln. Und dann, als es mit seinem 97 ganzen Körper ins milchige Weiß eintauchte, schloss ich die Augen, unter deren Lidern die Vergangenheit zu flimmern begann, zusammengefügt zu einem Mosaik aus Inseln, Schiffen und einem schmutzigweißen Papagei. Das war mein sorglosester Sommer in Oslo. Von Sara waren nur einige Andenken übriggeblieben, ich traue mich zu sagen, sie waren schön. Einige Monate, nachdem wir unsere längst gestorbene Liebe für immer beerdigt hatten, kehrte sie in ihr Dorf im Süden Norwegens zurück. Zu Beginn des Sommers, ein halbes Jahr nachdem sie gegangen war, errechte mich die Kunde, sie lebe wieder mit ihrem Mann zusammen und sei hochschwanger. Ein Bekannter von mir, ein Bosnier, der Kristiansand wohnte, hatte mir das behutsam am Telefon gesagt, als wolle er mich verschonen. Mir brachten seine Worte nur eine unklare und leicht trügerische Erleichterung, obwohl es mir anfangs, wenn ich ehrlich sein soll, weh tat, das zu hören. Ich fühlte mich irgendwie verraten, wusste aber weder warum, noch gab es dafür einen Grund, außer meiner männlichen Eitelkeit. Nach kurzer Zeit begann ich mich dann endlich frei und leicht zu fühlen. Ich fragte mich nicht mehr, ob ich mich nicht doch hätte mit Sara versöhnen und dadurch etwas in unseren öden Leben ändern sollen. Es war ein warmer Sommer, wie es sie in Norwegen gibt. Oslo war mit sonnengebräunten, üppigen Blondinen geschmückt, die, auffallend knapp angezogen, vor aller Welt ihre Rundungen zur Schau stellten, wie Pfauen und zu engen Käfigen. Ich spielte Gitarre und sang an der U-BahnHaltestelle beim Nationaltheater. Ich haschte nach den Blicken der Passanten und versuchte, sie zu hypnotisieren, damit sie mir ein Paar Kronen mehr in den Koffer werfen. Es war schön, wieder frei zu sein, ging es mir durch den Kopf. Schon bald 98 RELA Juli blieb von Sara nicht einmal ein Andenken übrig. Und das war gut so. Obwohl ich als Straßenmusiker relativ gut verdiente, genügte es nicht für einen vernünftigen Lebensunterhalt. Es langweilte mich auch, jeden Tag spielen zu müssen. Deshalb hielt ich nach einer vorübergehenden Beschäftigung Ausschau. Ich werde ein wenig arbeiten, ein wenig spielen, wenn mir danach ist, und das Leben ist eine Wonne, sagte ich mir gelassen in Gedanken. Bald begann ich, auf einem Schiff zu arbeiten, das die Leute kreuz und quer über den Oslofjord fährt. Das kleine Schiff legte in Oslo ab und transportierte die Menschen von Insel zu Insel, unsere Route umfasste drei: Hovedoya, Lindoya und Gressholmen. Auf diesen Inseln befanden sich Wochenendhäuser, Strände und hier und da ein kleines Restaurant. Meine Hauptaufgabe war, Fahrscheine zu verkaufen. Ich trug eine weiße Uniform, eine dunkle Brille und lächelte fortwährend den Mädchen in ihren Badenzügen zu. Manchmal auch ihren Müttern. Mit mir arbeitete Lars, ein kräftiger Schwede von geringem Wuchs, der an Bord für alles zuständig war. Manchmal verkaufte er mit mir Fahrscheine, manchmal putzte er das Deck, hantierte am Motor herum oder stand am Ruder; mit einem Wort, er machte einfach alles. Und darin war er sogar besser als unser Kapitän, ein fast immer mürrischer alter Mann. Aber um den kümmerten wir uns nicht, Lars und ich. Zuerst hatte ich angenommen, Lars sei nur einige Jahre älter als ich und war nicht wenig erstaunt, als er mir sagte, er sei vierzig. Alle Paar Tage rasierte er sich den Kopf kahl, aus seinem Bart war aber zu schließen, dass sein Haar leuchtend rot sein musste. Unter seinen Hemdärmeln schauten zahlreiche Tätowierungen hervor. Hauptsächlich Motive aus der Mythologie der Wikinger: Schwer- ter, übel aussehende Riesentypen mit Äxten und Helmen, wie sie etwa Hägar der Schreckliche oder Conan tragen. Später, als wir baden gingen, sah ich, dass er eigentlich am ganzen Körper tätowiert war, auf dem Rücken, auf der Brust, sogar auf den Schenkeln. Als wir am Ende des ersten Tages unsere Einnahmen abrechneten, zeigte sich, dass zu viel Geld in der Kasse war. Es war nicht viel, vielleicht genug für ein Paar Biere. als ich ihn fragte, was wir mit diesem Geld anstellen sollen, lachte er nur: – Was denkst denn du? Wir machen Halbe-Halbe. Wir arbeiteten nicht in derselben Schicht, außen in dieser ersten Woche, als Lars mir meine Arbeit beibrachte. Einer arbeitete am Vormittag, der andere am Nachmittag, wobei sich ein Paar Stunden überschnitten, so dass wir auch zusammen arbeiteten. Einmal bat er mich, kurz für ihn einzuspringen, da er seinen Papagei wegen eines Beinbruchs zum Tierarzt bringen musste, wie er mir behutsam erklärte. Es war nicht leicht, sich diesen tätowierten, kahlköpfigen Wikinger vorzustellen, wie er einen Papagei zur Beinbehandlung trägt. Ich begann zu lachen, dachte, er treibe mit mir seine Späße, aber er schien um seinen gefiederten Freund richtig besorgt zu sein. Und so hatten Lars und ich den ganzen Sommer über zu viel Geld in der Kasse und gingen jeden Abend zusammen Bier trinken. Wir saßen aber nicht nur am Abend bei geschmacklosem norwegischen Bier zusammen, wir machten auch Ausflüge, besuchten Konzerte oder gingen, wenn es regnete, ins Kino. Ich brachte ihm sogar Bücher mit, von denen ich ihn lange überzeugen musste, dass sie lesenswert waren. Einige hatten ihm gefallen, einige gab er mir mit einem verachtungsvollem Lächeln zurück. Auch er gab mir ab und zu das eine oder andere Buch, das er gerade las. Mir gefielen sie nicht, ich musste TIONS ihm das aber jedes Mal behutsam beibringen. Es handelte sich um billige historische Romane, wo Schwerter, Äxte und nackte Muskeln die Hauptrollen spielten. Am meisten las er Waffenmagazine, kannte jedes Gewehr, jedes Messer, von Kampfflugzeugen ganz zu schweigen. Einmal machten wir mit unseren Fahrrädern einen Ausflug zu einem waldbewachsenen Gebiet namens Nordmark, das sich über Hunderte Quadratmeter nördlich von Oslo erstreckte. Wir kamen bis zum See Brjornjoen, wo wir ein Kanu mieteten und bis zu einer kleinen Insel mit einem Föhrenwald ruderten. Dort schlugen wir unser Lager auf und übernachteten. Lars hatte an diesem Tag einen Sonnenbrand bekommen und ich neckte ihn, er sehe aus wie der letzte Mohikaner. Er hatte für meinen Humor nicht viel übrig, aber ich fand es komisch, dass sogar jener grimme Wikinger auf seinem Rücken rot geworden war. Ab und zu sagte ich ihm „Woah, Häuptling“, was er nicht verstand und ich ihm nicht zu erklären wusste. Ich sagte ihm, in den Comics in meinem Land hätten die Indianer in jedem Satz dieses Wort verwendet. Einmal sagte ich „hokahe“, was ich aber zu erklären wusste. In der Sprache der Sioux bedeutet das „ein schöner Tag zum Sterben“. Dieses Wort hatte ihm gefallen, sodass er später lauthals davon Gebrauch machte, egal, ob es passte oder nicht. Eines Abends gingen wir nach dem Abendessen zusammen in die Stadt, liefen von Pub zu Pub und ließen uns mit Bier vollaufen. Jedes Mal, wenn wir einander zuprosteten, riefen wir: „Hokahe!“ und lachten lange und betrunken. In einer Kneipe trafen wir ein ziemlich angetrunkenes Mädchen. Sie saß alleine am Nebentisch und trank, fing aber plötzlich ein Gespräch mit uns an. Ich hatte den Eindruck, etwas würde ihr Sorgen bereiten, kam aber nicht drauf, RELA TIONS was es sein könnte. Lars warf sich auf sie wie ein hungriger Tiger, ohne auch nur zu versuchen, seine wahren Absichten zu verbergen. Die junge Frau gehörte nicht zu jenen, nach denen man sich umdreht oder pfeift, aber ich weiß auch nicht, welche Frau uns beide so einfach angesprochen hätte, einen grimmen Fremden und abgenutzten Winterschuhen und einen tätowierten, kahlköpfigen Indianer. Zu dritt besuchten wir noch ein Paar Lokale, tranken, tanzten, schienen uns zu vergnügen. Lars wurde immer aggressiver, fing an, ihr an die Schenkel zu fassen, an den Po, sie zu umarmen und zu sich zu zerren. Mir gefiel das ganze nicht im geringsten, aber sie war zu besoffen, um sich zu wehren. Im letzten Lokal, als das Mädchen auf die Toilette gegangen war, schlug mir Lars vor, nach diesem Bier zu ihm zu gehen und sie dort flachzulegen. Kokain habe er auch zu Hause, das wird ein Spaß. Ich dachte an das magere Mädchen, ihren Körper zwischen Lars’ tätowierten Händen. Und meinen. Zuerst wollte ich weinen, wahrscheinlich war der Alkohol schuld, dann wollte ich ihm mit der Flasche eins überziehen, mit dem Mädchen verschwinden, ihr zu essen geben und sie in meinem Schoß einschlafen lassen, während ich ihr Haar streichle. Stattdessen sagte ich ihm, das sei dumm. Wenn das Mädchen wieder nüchtern ist und sieht, bei wem es gelandet ist, ruft sie bestimmt sofort die Polizei und sagt, wir hätten sie vergewaltigt, was von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt sein würde. Lars schüttelte den Kopf und sagte: – Was kümmert uns das? Wer zwingt sie denn, sich mit uns einzulassen? Er redete weiter auf mich ein, aber ich blieb hart. Dann wurde er wild, sagte, ich sei ein Arschloch, er aber wolle ficken und fertig. Als Lars aufs Klo gegangen war, blieb ich mit dem Mädchen allein. Unter Bekim Sejranovi} dem Tisch steckten ich ihr ein Banknote von hundert Kronen zu, sagte, das sei für das Taxi und sie solle jetzt verschwinden, das sie genug getrunken habe. Sie erwiderte, es gehe ihr gut und sie würde gerne noch bleiben. Erneut versuchte ich es ihr klarzumachen, aber sie war viel zu besoffen, um irgendetwas zu verstehen. Und da kam auch Lars zurück. Man konnte gleich sehen, dass er wusste, was ich ihr erzählt hatte. Er begann, mich anzubrüllen, drohte mir mit der Faust, legte mir seine knorrigen Arme um den Hals. Ich konnte die Venen gut erkennen, die auf seinem Schädel hervorgesprungen waren. Seine Augen hatten sich zu einem Strich zusammengefügt. Er sah tatsächlich aus wie ein Indianer. Einer von jenen, die rauben und morden, wenn Bleichgesichter ihnen Feuerwasser verkaufen. Auch ich hatte ihn angeschrien, jedoch blutlos und ängstlich. Ich kenne den Menschen ja gar nicht, dachte ich bei mir. Das Mädchen schaute uns an und lachte haltlos. Dann nahm sie Lars an der Hand und führte ihn aus dem Lokal. Einige Augenblicke später wollte ich ihnen nachgehen, sah aber nur, wie sie zusammen in ein Taxi stiegen und verschwanden. 2. Lars Einmal, als er mir die Bücher zurückgab, die ich ihm zum Lesen geliehen hatte, sagte Lars zu mir, er denke ebenfalls daran, ein Buch zu schreiben. Über sein Leben wolle er schreiben und sei der Meinung, es könnte ein gutes Buch dabei rauskommen. Überheblich, als würde ich mich mit einem Kind unterhalten, sagte ich zu ihm, es sei nicht wichtig, was jemand schreibt, sondern wie er schreibt. Lars lachte verächtlich. Diesen Sommer über erzählte mir Lars seine Lebensgeschichte, mit Unterbrechungen, während der Arbeits- 99 zeit, in den Pausen, in stickigen Lokalen, voll von klebrigen Ausdünstungen, auf einer der Inseln, wo wir Stockfische angelten... Lars war als Einzelkind aufgewachsen, ohne Mutter, in einem kleinen Ort mitten in Schweden, an einem der großen Seen, die das Land in zwei Hälften teilen. Seine Kindheit brachte er mit Fischfang zu, zusammen mit seinem Vater, der zuerst als Holzfäller arbeitete, aber nach einem Unfall, in dem sein linkes Schienbein zerschmettert wurde, in vorzeitige Rente ging. Sie fingen Süßwasserfische, hauptsächlich Barsche und Rotfedern, ihr größter Erfolg war, wenn sie es schafften, einen Hecht an Land zu ziehen. Nachdem seine Mutter sie verlassen hatte, begann sein Vater, sich noch eifriger mit illegalem destilliertem Alkohol zu betrinken, der in Skandinavien mit Kaffee gemischt und Krajsk genannt wird. Als Lars sechzehn war, kam die Nachricht, seine Mutter sei in Stockholm gestorben. Lars schaffte es nie, die Mittelschule abzuschließen, verrichtete eine Zeitlang alle möglichen arbeiten, konnte aber keinen richtigen Beruf für sich finden. Dann verliebte er sich in eine junge Frau aus seinem Ort und heiratete sie einige Monate später. Sein Vater verkaufte ihr Familienhaus, kaufte sich eine Wohnung und für die beiden ein Häuschen, in dem sie einige Jahre lang zusammen wohnten. Nach einigen idyllischen Monaten, sagte Lars, wobei er das Wort „idyllisch“ sarkastisch betonte, geriet er in eine Gruppe von Bikern. Er sagte, sie seien in Ordnung gewesen. Es gab viele Partys, Bier, Frauen, sie reisten viel herum, aber, wenn er ehrlich sein sollte, fügte er mürrisch hinzu, gab es dort auch Drogen und Konflikte mit dem Gesetz. Da er ständig unterwegs war, verlor er eine Arbeit nach der anderen. Da er viel trank und von draufgängerischer Natur war, verließ ihn seine Frau nach 100 RELA Juli drei Jahren Ehe und beschloss, alleine ihr Glück zu suchen. Nach ein Paar Monaten hatte er sie alle satt, die Seeleute und diese tätowierten Galgenvögel, auch die ständigen Konflikte mit dem Gesetz waren ihm lästig geworden und so verschleuderte er sein Haus unter dem Preis, geriet in Panik, weil er auch all jene Typen satt war, die einander in jener schwedischen Einöde den amerikanischen Traum vorspielten, er hatte genug von den Motorrädern und was das schlimmste war, seine einzige Alternative war, sich selbst dabei zuzusehen, wie er sich in seinen Alten verwandelt, wie er mit einer Motorsäge Tannen fällt, Krajsk trinkt und wartet, das der Hecht seines Lebens an seinem Angelhaken landet. Zuerst ging er nach Brasilien, reiste eine Zeitlang im Land umher, dann blieb er in Salvador de Bahia, einer Stadt im Norden des Landes, wo er sich in eine wunderschöne dunkelhäutige Frau verliebt hatte und mit ihr ein halbes Jahr lang zusammenblieb (dabei zuckte er mit den Augenbrauen). Die Zeit verbrachten sie mit Sex und Kokain. Die beste Frau, die er je hatte, stöhnte Lars Karlsson melancholisch wie ein gebrechlicher alter Mann, dessen letzte Erektion nur noch eine weit zurückliegende Erinnerung ist. Sie hatte ihn verlassen, hinterließ einen herzzerreißenden Abschiedsbrief, abgefasst in schlechtem Englisch, mit drei feuchten Flecken, die ihre Tränen hätten darstellen sollen. Danach ging er nach Thailand und versuchte dort, seine dunkelhäutige Liebe und das Kokain durch Prostituierte und Opium zu ersetzen. Das, fügte er enttäuscht hinzu, war aber nicht das Wahre. Darauf verbrachte er eine Zeitlang auf den Philippinen, reiste in Asien herum, kam bis nach Japan, wo aber für seine Genussgewohnheiten alles viel zu teuer war. Schließlich landete er in Amsterdam, verbrachte dort eine kurze Zeit und schiffte sich, nachdem ihm das Geld ausgegangen war, als Seemann auf einem Schiff, das unter panamesischer Flagge Bulkladung transportierte, ein. Dreizehn Jahre lang fuhr er zur See, wechselte zahlreiche Schiffe, fuhr ein Paar mal um den Erdball, besuchte jede Hafenkneipe von Indien bis Südamerika, schlief mit einer zweifelhaft hohen Zahl von Nutten und als er alles satt hatte, kehrte er mit etwas Geld nach Schweden zurück, in sein Dorf, mietete dort eine Wohnung und nahm erneut Kontakt zu seiner alten Clique auf. Schon bald landete er im Gefängnis, die Gründe dafür wollte er mir gegenüber nicht angeben, und nach ausgestandener Haft von über einem Jahr wusste er nicht mehr, wohin. Er hatte weder Geld, noch Arbeit, noch eine Bleibe. Eine Zeitlang lebte er bei seinem senilen, vom Alkohol zerfressenen und kranken Vater und ging dann abermals fort. Er reiste in Schweden herum, arbeitete wo er konnte und lebte bescheiden und zurückgezogen. Vor einigen Monaten war er nach Norwegen gekommen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er zu bleiben gedachte, kümmerte sich aber auch nicht darum. Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, war sein großer Papagei, der sich diesen Sommer das Bein gebrochen hatte, ohne dass er wusste, wie das passiert war. 3. Die künftige ehemalige Frau Einmal, es war Mitte Sommer, sagte Lars, er ginge nach Schweden, seinen Vater besuchen. Zwei Wochen hatte er dort verbracht und ich musste in dieser Zeit auf seinen Papageien aufpassen, dem sie den Gipsverband vom Bein entfernt hatten. Es war ein großer, weißer Papagei, sah aber irgendwie schäbig und abgenutzt aus. Das einzige, was er sagen konnte war „Hasta la vista... hasta la vista, baby“, und dabei krächzte er auch noch so, dass man ihn nur mit Mühe verstehen konnte. TIONS Ich brauche nicht erst zu betonen, dass der Papagei Terminator hieß. Ich hatte damals, als Lars weg war, meine künftige Frau Selma kennen gelernt. Meine künftige ehemalige Frau und die Mutter eines Kindes, das vielleicht nicht einmal von mir war. Wir wurden viel früher aufeinander aufmerksam, denn sie fuhr jeden Tag um 12.15 Uhr mit dem Schiff nach Gressholmen, das voller Kaninchen war. Keinen Schritt kann man dort machen, ohne auf Hasenscheiße zu treten. Ganze Kinderscharen kamen dort an, um die gemästeten Nager zu füttern. Ihre Eltern tranken derweil in der lokalen Kneipe, wo Selma als Kellnerin arbeitete, dicke, trübe Bierkrüge leer. Spät am Abend fuhr sie zurück, aber nicht jeden Tag. Manchmal schien mir, sie würde auf der Insel übernachten. Selma war groß, größer als ich, hatte ein eckiges, knöchriges Gesicht und eine knabenhafte Frisur. Eigentlich erinnerte sie mehr an einen frühreifen fünfzehnjährigen Bengel, mit viel zu langen Beinen und kleinen Wölbungen auf der Brust. Ihre Augen waren braun und völlig rund, mit ausgeprägten Arkaden. Wenn sie ernst dreinblickte, wirkte sie irgendwie ausgelaugt, manchmal sogar bedrohlich, aber wenn sie lachte, tat sie das mit dem ganzen Gesicht, ihren Augen und ihrem Körper. Ihr Lachen war eigentlich ein viel zu lautes, übertrieben aufdringliches Meckern und mit der Zeit begann dieses neurotische, explosive Kichern, das an einen hölzernen Harlekin erinnerte, mir Angst zu machen. Ganz am Anfang war ich von ihrem lächeln und diesem dicken, schmerzhaft in die Länge gezogenen Mund angezogen. Und natürlich von ihrem perfekten, kleinen, fragilen, fast nicht vorhandenen Hintern. Zuerst grüßten wir einander nur, sagten „hallo“ oder nickten mit dem Kopf. Ich lächelte ihr zu, sie erwiderte mein Lächeln oder ignorierte mich RELA TIONS einfach. Dann spitzte sie ihre Lippen, schlug die Beine übereinander und versuchte gleichermaßen kühl und sexy zu wirken. Ab und zu blickte sie grimmig drein, zog ihre knabenhaften Augenbrauen zusammen, während sich auf ihrer Stirn eine dunkelblaue Ader abzeichnete. Eines Tages, nachdem Lars nach Schweden gefahren war, begannen wir ein Gespräch. Wir sprachen von belanglosen Dingen, sie lachte laut und schlug mir dabei draufgängerisch mir der Hand aufs Knie, als seien wir alte Freunde. Ich fragte sie, ob sie mit mir ausgehen möchte. Sie schwieg. Ich sagte, wir könnten das auch an einem anderen Tag tun, wann immer es ihr passen würde. Plötzlich wurde sie ernst und gab mir mit ihrem Zeigefinger einen Schlag ins Gesicht, wie einem Kind, leicht, aber entschlossen. Sie sagte, ich solle sie nie mehr so etwas fragen. In den folgenden Tagen grüßten wir einander nicht. Dann kam sie eines Tages lächelnd auf mich zu, fröhlich und laut, wie ein entzücktes Kind oder eine hysterische Frau, es war nicht leicht, das zu bestimmen. Sie lud mich ein, nach der Arbeit in ihrer Kneipe etwas zu trinken. Ich war erst um zehn Uhr abends fertig, weil ich auch Lars’ Schicht abarbeiten musste, und stieg auf Grassholmen aus. Die Kaninchen vertreibend, die wie die Pest aus allen Büschen hervorquollen, kam ich bis zur Kneipe, in der sie arbeitete. Sobald sie mich sah, nahm sie ihre Schürze ab und wir setzten uns in einer Ecke an den Tisch. Dann ging sie zur Theke und brachte zwei Bier. Ab und zu erschien ihr Boss und bediente die Gäste. Er war etwa fünfzig-sechzig Jahre alt, groß, schlank und ziemlich jung aussehend. Er hatte einen brauen Bart, wie Sean Connery. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, dass wir zusammensitzen, so dass er in einem Moment auf sie zukam und sie mit väterlicher, autoritärer Stimme auf- Bekim Sejranovi} forderte, ihm behilflich zu sein, denn er müsse nun das Essen vorbereiten und jemand müsse ja die Gäste bedienen. – Verfick dich, alter, siehst du nicht, dass ich Besuch habe? – sagte sie ziemlich vertraulich zu ihm. Das war mir unangenehm und ich sagte, ich würde lieber gehen, wo doch in der Kneipe ein so reger Betrieb herrscht. – Und wohin gedenkst du zu gehen? Wie willst du bis zur Stadt kommen? Sigi fährt dich später mit seinem Motorboot hin, nicht wahr, Sigi? – sagte sie zu ihm und lachte meckernd und herausfordernd. Sigi schnaufte machtlos und ging in die Küche zurück. Mit der Stimme eines Vorgesetzten rief sie ihm zu, uns noch zwei Bier und etwas zu essen zu bringen. Später, kurz vor Sonnenuntergang, knapp vor Mitternacht, brachte uns der Besitzer der Kneipe, Sigi, wenn ich ihn so nennen darf, denn nur Selma nannte ihn Sigi, eigentlich heiß er Harald, mit seinem Motorboot in die Stadt. Selma und ich waren schon betrunken und hielten uns aneinander fest, als wir aus dem Boot stiegen. Ich bedankte mich bei Harald für die Überfahrt, worauf mich Selma am Arm packte und das Ufer entlang zerrte. Harald, beziehungsweise Sigi, verschwand Richtung Insel. Ich drehte mich um und sah die Sonne untergehen. Sie versank im Meer wie mein schlechtes Gewissen. Ich spürte, wie Selma ihre Schritte mit den meinigen in Einklang brachte und wusste, dass jetzt alles vorüber sei. Schnell tranken wir noch ein Paar Tequilas auf einer Terrasse an der Akyr Brigge. Ich sagte ihr, ich müsse meinen Papagei füttern gehen und lud sie ein, mitzukommen. Als wir in meinem Zimmer angelangt waren, bemerkte sie verächtlich, der Papagei hätte Nahrung und 101 Wasser für mindestens zwei Tage gehabt. Sie überredete mich, ihn aus dem Käfig zu lassen. Terminator flatterte mit den Flügeln und stürzte sich wie ein Kamikaze auf unsere Köpfe. Dabei krächzte er sein metallenes „Hasta la vista, baby, hasta la vista... hasta... hastaaaa...“ Durchs ganze Zimmer musste wir ihn jagen. Da ich nicht besonders geschickt bin, glaube ich, sein Bein zu stark gedrückt zu haben. Als er wieder im Käfig eingesperrt war, stand der Papagei auf einem Bein und hinkte sichtlich, wenn er sich aufs andere stellte. Wir brachten ihn zur tierärztlichen Notaufnahme, sahen aber nach einer Röntgenaufnahme, das er gesund ist. Der Tierarzt, ein Mann mit Schnurrbart in einem weißen Kittel, meinte mit ernsthafter Stimme, das Bein täte ihm wahrscheinlich noch weh, da er so lange einen Gipsverband tragen musste. Beinahe drohend fügte er hinzu, wir sollen in Zukunft besser Acht geben. Als wir die Tierklinik verließen, küsste mich Selma zum ersten Mal. Ich war in der Lage, dem Papagei beide Beine zu brechen. 4. Vergiss die Aktionen, Lars Lars kam aus Schweden direkt in die Nachmittagsschicht. Er sah müde und erschöpft aus. Seine Pupillen konnte man fast gar nicht erkennen. Ich wollte ihm von meiner neuen Liebe erzählen, die Geschichte mit dem Papagei hätte ich natürlich verschwiegen, aber er war nicht in der Lage, mir zuzuhören. In den nächsten Wochen wiederholte sich die Geschichte. Lars kam mit zusammengezogenen Pupillen zur Arbeit und saß unbeteiligt am Heck. Manchmal schloss er für einige Augenblicke die Augen, sein Kopf senkte sich unkontrolliert auf die Brust, dann wachte er auf, blickte um sich und schlummerte wieder ein. Von 102 RELA Juli Zeit zu Zeit rauchte er eine Zigarette, kam zu mir an den Bug und begann ein Gespräch, das weder Anfang noch Ende hatte und ebenso sinnlos war. Plötzlich begannen seine Knie zu zittern und er ging zurück ans Heck. Seine weiße Uniform wurde immer schmutziger. Aus der Kasse nahm er immer mehr Geld, ohne dabei Fahrkarten zu verkaufen. Das taten wir auch früher, hielten uns aber in Grenzen. Er rief mich nicht zu sich, so dass ich meine Freizeit hauptsächlich in Selmas Gesellschaft verbrachte. An einem verregneten Tag, nachdem ich meine Schicht beendet hatte und mit großen Schritten über den Anlegeplatz Vippetangen hastete, rief er nach mir und kam auf mich zu. Wir gingen die Mole entlang, unter einem Vordach, das für die Passagiere gedacht war, die auf unser Schiff warteten. Er legte seinen Arm auf meine Schulter und fragte mich mit gedämpfter, geheimnisvoller Stimme ins Ohr, ob ich Lust auf eine Aktion hätte. – Was für eine Aktion? – fragte ich dumm. – Eine Aktion, die uns Geld einbringen wird, verstehst du? So eine Aktion. Ich machte halt, schob seinen Arm von meiner Schulter und sagte: – Vergiss die Aktionen, Lars. Ich ging in den Sommerregen hinaus und ließ ihn zurück. 5. Das nächste Mal fliegst du Lars ließ nicht locker. Einige Male schlug er noch seine „Aktionen“ vor. Als ich ihm Mitte Herbst, es war ein kurzer, nordischer Herbst, sagte, Selma und ich würden beabsichtigen, nach unserer Hochzeit auf den Balkan zu fahren, hatte er für einen Augenblick eine neue Idee. Er fragte mich, ob es dort unten noch Waffen gäbe. Da begriff ich, dass er von allen guten Geistern verlassen war. Ich antwortete, ich hätte davon keine Ahnung. – Du bist wirklich ein Arschloch! – stieß er hervor. Ich redete auf ihn ein, wie auf ein Kind, versuchte ihm klar zu machen, ich sei daran nicht interessiert und dass auch er sich da raushalten sollte. Ich habe einfach keine Lust, wieder im Gefängnis zu landen, obwohl die Idee an sich nicht schlecht sei, sagte ich und tat so, als meinte ich es ernst. Sollte ich wieder eine Dummheit anstellen, werde ich des Landes verwiesen, sagte ich vertrauensvoll. Das war vor ein Paar Jahren passiert, als ich noch mit Sara zusammen war, obwohl ich eigentlich in einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim lebte. Ich arbeitete in einer kleinen Fabrik, wo ich CD-s mit Software einpackte. Ich hatte rund fünfzig CD-s mit multimedialen Programmen zum Lernen von Fremdsprachen geklaut. Die ganze Universität hatte ich mit Anzeigen überklebt, in denen ich die CD-s zu einem drei mal niedrigeren Preis anbot, und gab noch meinen Namen und meine Telefonnummer dazu. Es stellte sich heraus, dass die Autoren dieser Programme Professoren waren und sie hatten meine Anzeigen natürlich gelesen, denn es war schwer, sie nicht zu bemerken. Das kam ihnen verdächtig vor, denn die CD-s waren noch gar nicht im Verkauf angeboten. Sie riefen bei der Firma an, in der ich arbeitete, diese benachrichtigten die Polizei und die Polizei stellte mir eine Falle. Und dabei hatte ich erst drei CD-s verkaufen können. Darauf durchsuchten fünf Polizeibeamte, zwei in Zivilkleidung, die mir die Falle gestellt hatten, zusammen mit zwei Kollegen und einer Kollegin, mein 12 Quadratmeter großes Zimmer und fanden dabei die restlichen CD-s und etwas Haschisch. Die Polizistin war nicht besonders hübsch, sah in ihrer Uniform jedoch verlockend aus. Sie fand die Pornohefte, eine ganze Menge, und diese waren gar nicht mal so harmlos. Sie warf einen kurzen Blick TIONS darauf und gab sie zurück in die Schublade. Später, im Polizeiwagen, saß sie hinten neben mir. Sie sagte, die Idee mit den CD-s sei nicht von schlechten Eltern. – Du wärst ein guter Verkäufer – sagte sie lächelnd. – Und du ein Pornostar – dachte ich boshaft. Und zwar in deiner Sommeruniform. Ein rundlicher, grauhaariger Polizist, der mich registrierte, als ich auf die Polizeiwache überführt wurde, wunderte sich nicht schlecht, als ich ihm sagte, ich sei zum ersten Mal verhaftet worden. – Keine Angst – fügte er hinzu und verzog die Oberlippe, während er mit seinen beiden Zeigefingern auf die Tastatur einschlug – es war gewiss nicht das letzte Mal. Und nächstes Mal fliegst du... ha, ha... Als ich Lars davon erzählt hatte, lachte er herzlich. Er sagte, ich sei viel zu verwirrt für solche Dinge, und das sehe man mir an. Ich fragte mich, warum er mir dann die ganze Zeit seine „Aktionen“ vorschlägt, wollte ihm aber nichts sagen. Du bist auch nicht gerade der größte Lebenskünstler der Welt, dachte ich mitleidsvoll. Wenn ich versuchte, Lars dazu zu bringen, mir seine Gefängnisgeschichte zu erzählen, winkte er nur ab und meinte, das sei nicht der Rede wert. Er wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und tätlichem Angriff auf eine Dienstperson eingesperrt. Aber nichts davon sei wahr. Er hätte nichts getan, wofür man ihn hätte einsperren sollen. Ich lachte und redete auf ihn ein, er sollr mir nur eine Einzelheit davon erzählen, aber er hüllte sich in unerbittliches Schweigen. Ich bin unschuldig, völlig unschuldig – sagte er. Ich sah mir seine engen Pupillen an und glaubte ihm nicht. Ich stellte mir vor, Kara|oz aus „Prokleta avlija“ zu sein. Niemand ist unschuldig. RELA TIONS Die Gestalt von Onkel Alija ging mir durch den Sinn, der, wie meine Mutter mir erzählt hatte, „völlig unschuldig im Gefängnis saß“. 6. Der verfluchte Alija Einige Leute kamen am Abend von der Jagd und gingen im Dorf an Alijas Haus vorbei. Alija hatte einen Hund, der zu bellen begann. Vielleicht aus Übermut, vielleicht weil sie an diesem Tag nichts gefangen hatten, feuerten diese „Jäger“ ein Paar Schüsse ab und erschossen Alijas Hofhund. Als Alija aus dem Haus stürzte, hatte er was zu sehen. Aus ihren Gewehren kam Rauch und der Hund zuckte nur noch mit dem linken Hinterbein. Alija, der von aufbrausender Natur ist, ging auf sie los, aber sie stießen ihn weg und richteten ihre Gewehre auf ihn. Ohnmächtig begann Alija, sie zu verfluchen, während ihm vor Wut die Tränen aus den Augen quollen. Der Vater eines dieser „Jäger“ hieß Kita, eigentlich wurde er im Dorf nur so genannt, weil er mit Nachnamen Kiti} hieß. Alija verfluchte mehrmals seinen Vater Kita, worauf die „Jäger“ den Bach überquerten und kichernd und schreiend die Dorstraße entlang gingen. Als Alija zur Polizei gegangen war, um den Vorfall anzuzeigen, wurde er verhaftet, weil er angeblich Tito verflucht hatte. Kitas Sohn hatte ihn angezeigt. – Es nützt nichts – erzählte mir meine Mutter. – Alija versuchte, sie davon überzeugen, dass nicht Tito, sondern Kita es war, den er verflucht hatte, aber die Polizei zeigte kein Interesse daran. Denn, es ist schlimmer, Tito zu verfluchen, als wenn jemand deinen Hund totschießt. Alija sagte, er habe es nicht getan, sie sagten, er habe es wohl, dann schlugen sie auf ihn ein und nach einigem Bekim Sejranovi} Hin und Her sagte Alija: ja, ich habe es getan, Tito soll euch alle ficken! Und so saß er ein halbes Jahr im Gefängnis. Mit der Polizei ist nicht zu spaßen – beendete meine Mutter ihre Version der Geschichte. Mein Großvater, wiederum, meinte, das sei Unsinn und alles habe sich ganz anders zugetragen. – Was erzählst du da, er hätte Tito verflucht? – griff er meine Mutter an. – Es stimmt schon, dass sie seinen Köter erschossen haben, aber Alija war zu dieser Zeit gar nicht zu Hause. Als er aber erfahren hatte, dass sie seinen Hund totgeschossen hatten, verprügelte er sie einen nach dem anderen. Einen, den Sohn von diesem Kita, den man auch Kita nannte, verprügelte er im Wirtshaus „Kod Agana“, worauf dieser im Krankenhaus und Alija in Knast landete. – Sie haben seinen Köter totgeschossen – erzählte mein Großvater – weil er sie angegriffen hatte, sie bekamen Schiss und begannen vor Angst zu schießen. – Da ist die ganze Geschichte, was für ein Tito, das hättet ihr wohl alle gerne? 7. Hasta la vista, Lars Als Selma und ich vom Balkan zurückgekehrt waren, war Lars nicht mehr da. Mein mürrischer Chef warf mir einen verächtlichen Blick zu und sagte, Leute wie Lars haben auf dem Schiff nichts zu suchen. Ich stimmte ihm zu. Er sagte, Lars sei unausgeschlafen und verkatert zur Arbeit gekommen und habe beim Kartenverkauf Geld unterschlagen. Ihm wurde gekündigt und mit einer Anzeige gedroht. – Wer weiß – seufzte er boshaft. – Vielleicht hat er auch Drogen genommen. – Vielleicht – sagte ich. 103 Ich habe nie erfahren, was aus Lars geworden ist. Zuerst rief ich ihn am Handy an, dieses war aber ausgeschaltet. Am nächsten Tag fuhr ich mit der U-Bahn bis zum Vorort Lysaker, wo Lars im Erdgeschoss eines Hauses wohnte. Er wohnte bei einem ewig zugekifften Paar, Vidar und Heidi, von denen ich ab und zu Haschisch kaufte. Ich klingelte zuerst bei ihnen. Nachdem sie mir geöffnet hatten, traten wir ein und rauchten erst mal einen Joint. Erst dann begannen wir uns zu unterhalten. Sie sagten, sie hätten Lars mehrere Tage lang nicht mehr gesehen, wussten aber nicht wie viele. Letztes Mal kam er zu ihnen, um zu kotzen, sagte Heidi und reichte mir die Wasserpfeife. Nein, sie haben nicht an seine Tür geklopft, er hätte sich doch gemeldet, wenn er er da gewesen wäre. Wir gingen alle drei zu seiner Tür. Vidar hatte einen Schlüssel, aber die Tür war nicht zugesperrt. Drinnen war es dunkel, stickig und leer. Plötzlich ertönte eine krächzende Stimme: „Hasta la vista, baby, hasta la vista...“ Der Papagei stand auf einem Bein auf dem Schrank und warf uns eisige Blicke zu. Am Käfig hing etwas. Ich trat näher, um zu sehen, was es ist, es war ein Foto, aber im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, wer drauf war. Ich steckte es ein und ging zur Tür. Es war ein Foto, das ich geschossen habe, als Lars und ich mit dem Kanu nach Brjornsjoen gefahren sind und dort übernachtet hatten. Aber Lars war aus dem Foto herausgeschnitten. Ich drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand: „Hokahe“. Aus dem Kroatischen von Boris Peri} 104 relations 2009.pmd RELA Juli 104 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 105 106 RELA August TIONS DAMIR KARAKA[, Geboren am 21. November 1967 in Pla{}ica bei Brinj in Lika. Er studierte Agronomie, Jura, Journalismus, arbeitete als Journalist der „Schwarzen Chronik“ und war Berichterstatter von den Kriegsschauplätzen in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo. Ab 2001 lebt er in Bordeaux und von 2002 bis 2007 in Paris, wo er Akkordeon spielt, schriebt, zeichnet, Performances veranstaltet, konzeptuelle Werke ausstellt. Er erhielt mehrere nationale und internationale Karikatur-Preise. Veröffentlicht hat er den Reisebericht Bosnier sind gute Menschen („Bosanci su dobri ljudi“, 1999), den Roman Kombetari („Kombetari“, 2000), den Erzählband Das Kino Lika („Kino Lika“, 2001), den Dokumentarroman Wie ich nach Europa kam („Kako sam u{ao u Europu“, 2004), die Erzählsammlung Eskimos („Eskimi“, 2007). Sein Drama Wir schließen fast nie ab („Skoro nikad ne zaklju~avamo, 2008) brachte Regisseur Paolo Magell im Rahmen der Vorstellung Zagreber Pentagramm („Zagreba~ki pentagram“) auf die Bühne des ZKM (Zagreber Jugendtheater). Seine Erzählungen wurden ins Englische, Französische, Slowakische und Deutsche übersetzt, der Erzählband Eskimos wurde in Kairo für den Verleger Dar El Kaleme veröffentlicht. Er wurde in die Anthologie der Kurzgeschichten von ExYugoslawien 1990 – 2000 („Antologija kratkih pri~a ex Yugoslavije 1990. – 2000.“, Ljubljana) aufgenommen. Nach dem Buch Das Kino Lika drehte Regisseur Dalibor Matani} einen gleichnamigen Film, der in Kroatien und im Ausland preisgekrönt wurde. Zur Zeit lebt er in Zagreb. relations 2009.pmd 106 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ 107 Licht im Haus Damir Karaka{ Er steht auf dem Balkon, erleuch- tet von den Lichtern des Bürogebäudes gegenüber, als zu ihm das Geräusch des Windes dringt. Es wird immer kälter, deshalb knöpft er seinen Schlafanzug zu, nervös mit dem Schuh auf dem vereisten Beton klopfend. „Ferde“, sagt die Frau, als er ins Bett zurückgeht, „es ist spät... du musst dich ausschlafen.“ „Schlaf doch, wenn es spät ist“, sagt er mürrisch. Er streift sich eine alte Wollmütze über den Kopf. Er dreht sich vorsichtig auf die Seite. Er passt auf, dass er keine falsche Bewegung macht. „Morgen“, sagt sie, „wenn du zurückkommst... könnten wir auch ein wenig zu ihr... Jetzt sind es schon zwei Wochen, dass wir nicht waren“, sagt sie. „Was soll ich’n dort?...“, brummt er unter der Decke hervor. „Wann war sie denn?... Sie kommt nur, wenn sie was braucht.“ „Und wer hat dir Šnen Chiropraktiker gefunden?“ „Lass mal den Chiropraktiker gut sein... Und was hältst du mir das gleich unter die Nase, sie hat gefund’n, sie hat gefund’n?!“, er wird laut. „Als sie das letzte Mal da war, hat sie dir Šn Kilo Kaffee gekauft“ fügt er hinzu. „Komm, sei nicht so“, sagt die Frau ruhig. „Sie hat auch ihr Bündel zu trag’n... Denen soll man helfen, und relations 2009.pmd 107 nicht uns... Sie arbeitet... das Kind ist klein, es will jeden Morgen in den Kindergarten gebracht werden, man muss darauf aufpassen... Arbeiten, kochen, waschen, sie ist von morgens bis abends auf den Beinen“, sie faltete die Decke auf dem Bauch. Er winkt ab. „Ich schieß’ auf so Šne Philosophie“, sagt er. „Du denkst nur an den deinen Arsch“, sagt die Frau. „Heißt, ich soll lebendig ins Grab...“ „So ein Glück hab’ ich nicht.“ „Lass nur“, murmelt er in seinen Bart. „Wenn ich erstmal dieses Rückgrat in Ordnung gebracht habe und die Rente endlich hab’... Dann schaut’s, wie ihr zurechtkommt...“ „Jeden Tag denkst du nur an dieses alte Haus... Wirfst das bisschen Geld, das wir noch haben, hinein... Dann tut dir das Rückgrat nicht weh... wenn du an den Kasten denkst...“, sagt sie. Er presst hervor: „Ich weiß, wie ich’s anrichte.“ Die Frau macht die Lampe aus. „Jeden Tag wiederholst du ein- und dasselbe“, sagt sie. „Und wann hast du das letzte Mal deinem Enkel was gekauft?...“ „Der hat Vater und Mutter, die soll’n ihm was kaufen! Mir hat auch keiner was gekauft... Ich werd’ ihr kein Diener sein! Weder dir noch irgendjemandem...“ „...alles was du kannst, ist drohen... Das macht dir keiner nach.“ „Ich drohe niemandem“, er setzt sich die Mütze zurecht. „Ich sag’ nur.“ Er dreht sich langsam auf den Rücken, zieht sich die Mütze über die Augen und schläft ein. Als er am nächsten Morgen aufwacht, gewahrt er aus der Küche den stärkenden Duft von Kaffee. Er schleppt sich zur Bettkante, setzt die Füße auf den Boden, dann bleibt er einige Minuten lang bewegungslos auf dem Bett sitzen. Er versucht, sich langsam zu bücken und seine Strümpfe anzuziehen. Er presst die Zähne zusammen. „Ach, zum Teufel noch mal!“, presst er hervor. Er versucht es erneut. „Uch...“ Jedes Mal durchbohrt es ihn scharf im Rücken. Er sitzt kraftlos auf der Bettkante, wie ein Schiffbrüchiger. „Koviljka!“ Er sieht auf die Tür. Er schreit: „Hörst du, wo steckst du?“ „Was ist?“, meldet sie sich aus der Küche. Er hört ihre Schritte vor der Tür. Er wendet den Blick von der Tür. „Zieh mir doch diese Strümpfe über, ich werd’ zu spät kommen...“ Die Frau im Pullover, der ihr bis hin zu den Knien reicht, trottet zu ihm und fängt an, ihm wortlos die Strümpfe anzuziehen. Sie hilft ihm, aufzustehen und den grauen Anzug anzuziehen, danach die Schuhe. 14.4.2009, 20:30 108 RELA August Die ganze Zeit sprechen sie kein Wort. Er spaziert dann, mit unsicheren Schritten, zur Wand und zurück, nimmt aus dem Schrank seinen schweren Wintermantel, danach die riesige Brieftasche, stopft sie in die Innentasche des Mantels. Er geht in die Küche, nimmt vom Tisch eine Tasse Kaffee. „...Zieh dich wärmer an“, sagt die Frau. „Nimm den Schal und die Mütze mit! Sie haben ein Gewitter am Nachmittag vorhergesagt.“ „Es ist gut, so wie es ist“, er schlürft den Kaffee auf die Schnelle. „Ich geh’ jetzt...“ „Pass auf das Eis auf. Es ist glatt.“ Er winkt ab. Ruft den Lift. Als er noch keine Probleme mit dem Rückgrat hatte, lief er fast jeden Tag die Treppen rauf und hinunter. Er drückt auf den Knopf. Als sich der Lift glatt gleitend dem Erdgeschoss nähert, legt er beide Handflächen auf die kalte Metallseite, hebt sich leicht auf die Zehenspitzen: Der Lift hält langsam an, dann zuckt er und senkt sich begleitet von ohrenbetäubendem Quietschen, hinterhältig, mit metallenem Geknalle. Er kennt dieses verdammte Zucken von vorn bis hinten. Die ersten paar Male durchbohrte es ihn bei diesem Landen so durch den Rücken, dass es ihm schien, er würde wie eine Holzpuppe nach hinten brechen. Er senkt sich langsam von den Zehen, geht hinaus. Einen Moment lang schreckt er vor der Kälte zurück. Zum Glück ist der Chiropraktiker nicht weit, er wohnt in dem viereckigen Militärgebäude, zwei Straßen weiter. „Kommen Sie herein“, sagt der grauhaarige Mann mit Brille. Ferde geht hinein. Er steht kaum auf den Beinen. relations 2009.pmd 108 „Ihre Frau hat angerufen“, sagt der Mann, nimmt seine Brille ab, setzt sie wieder auf und richtet sie. „Sie macht sich wegen dem Eis sorgen.“ „Pah.“ „Melden Sie sich, wenn Sie wollen.“ Er winkte ab. „Pah“, sagte er. „Lassen Sie sie.“ Der Mann lächelt und zuckt mit den Schultern. Er führt ihn in ein geräumiges Zimmer, in dessen Mitte eine gelbe, dicke Decke auf dem Boden ausgebreitet liegt. „Machen Sie sich frei“, nickt er. „...Lassen Sie uns mal nachschauen.“ Er sagt ihm, er solle sich auf den Bauch legen. Ferde fängt an, sich zu entkleiden, bleibt nur in Unterhose und Strümpfen. Seine Kleidung hat er auf die Schnelle auf die Schranktür gestapelt. Er legt sich vorsichtig auf die Decke und sieht sich um. Der Mann verschwindet für einen Moment in den Flur, als er zurückkommt, drückt er in den Händen einen langen Holzstiel, auf dessen einem Ende ein hutförmiger Abflussauger aus Gummi gesteckt war. „Sagen Sie mal, haben Sie irgendwelche Unterlagen, irgendwas?“ „Nichts... Leider“, murmelt er. „Wann hat es angefangen und wo tut es am meisten weh, wie, auf welche Weise...“ „Die unteren Wirbel“, sagt er. „...Schon seit ein paar Monaten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es sticht, durchbohrt mich, ich kann nich’ laufen. Ich bin zum Doktor gegangen, der gab mir irgendwelche gelben Tabletten, die helfen ein bisschen und danach nichts...“ „Ach... Da richten Tabletten nichts aus... Doch, sagen Sie mir genau, wann hat das angefangen?...“ er dreht den Abflusssauger in den Händen. Ferde sammelt seine Gedanken. „Was weiß ich...“, sagt er. „Ich hab’ irgendwelche Balken getragen... Auf TIONS dem Dorf, vor sechs Monaten, verdrehte mir den Knöchel am Bein, humpelte ein wenig, dann ging es auf das Rückgrat über... Und als ob, als ob ich gebrochen wär’, ich hab’ hinten keine Kraft, weiß nicht... Wenn ich flotter laufe, ist mir, als ob ich zerfallen würd’...“, er verzerrt den Mund. „Sticht es Sie vielleicht in die Beine?“ „Nein.“ „Weder in das eine noch das andere.“ „Bis jetzt nicht.“ „Dann ist es gut“, sagte er, geht hinunter auf beide Knie, beginnt, mit dem Finger die paar untersten Wirbel abzutasten. In der anderen Hand drückt er den Sauger. „Legen Sie Ihre Arme leicht an den Körper, atmen Sie, so, tieeeeef....“, er steht auf und stellt sich mit fest gespreizten Beinen über ihn. „Ist es dort, wo ich Sie berührt habe?“, sagt er. „Genau da...“ Er steht über ihm, drückt langsam den Sauger auf den unteren Teil des Rückgrats, lässt Luft hinein, stemmt sich mit den Füßen gegen den Boden, dann zieht er den Sauger ruckartig zu sich hin. Das tut er wieder. Im Zimmer verbreitet sich ein gellendes gesprungenes Geräusch, dem Öffnen eines Champagners ähnlich. „Tut es weh?“ „Es kribbelt.“ „Jetzt wieder tief, tief atmen.“ Ferde atmet ein, atmet aus. Auf seiner Stirn sind Schweißperlen. „Noch tiefer.“ Ferde hat die Augen zu, atmet tief. Der Mann lehnt wieder den Sauger auf seinen Rücken. Er macht identische Bewegungen, hartnäckig, etwa zehn Minuten lang: Die Wirbel unter der Haut knacken knisternd. Dann geht er zum Regal in der Ecke, zieht ein flaches, ovales Kästchen hervor: Schraubt den Deckel auf. Nimmt mit dem Finger die Salbe, kniet sich hin und fängt an, sie ihm entlang des Rückgrats einzureiben. 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ Er schlägt ihn leicht auf den Rücken. „Fertig.“ „Fer, fertig!“ „Fertig.“ „Ist es fer, fertig?“ „Fertig.“ „Ganz... fertig?...“ Der Mann lacht auf. „Ganz“, sagt er. „Jetzt können Sie auch Polka tanzen.“ „Soll ich aufstehen?“ „Wenn Sie nicht wollen, müssen Sie nicht“, sagt er und macht das Kästchen zu. Ferde hilft sich mit den Händen, ist auf allen Vieren und schnappt tief Luft, dann streckt er sich langsam aus der knienden Stellung, danach macht er vorsichtig einen Schritt. Er richtet sich bange auf, auf das eine und dann auf das andere Bein. Er macht einen neuen Schritt, blickt verwirrt den Chiropraktiker an. Der fragt: „Wie ist es?“, er hat den Gesichtsausdruck einer Person, die die Antwort weiß. „Ich... kann nicht...“ er weitet die Augen, dreht sich langsam, noch immer mit verdutztem Gesichtsausdruck, um sich herum. „Ich... das ist nicht möglich... Ich, ich kann es nicht glauben...“ Der Mann lacht. „Ich... Das...“ bringt Ferde schluckend hervor. „Das“, flüstert er. „...das... das ist nicht möglich.“ „Es ist möglich“, nickt der Mann ohne sein Lächeln abzunehmen. „Möglich ist es, möglich.“ „...Das... das ist nicht...“ Er hält sich mit beiden Händen den Rücken, beugt den Körper zur Seite. Er beginnt immer heftiger im kleinen Zimmer hin und her zu laufen, von Wand zu Wand, zu stapfen, seine Beine auszuschütteln: Der Schmerz ist völlig verschwunden. Er hält mitten im Zimmer an, macht fest die Augen zu. Er presst hervor: „...Das... das ist das Wunder... aller Wunder...“ relations 2009.pmd 109 Er kann sich kaum zurückhalten, vor Freude nicht zu fluchen. „In etwa zehn Tagen“, sagt der Mann und fängt an, seinen Mantel aufzuknöpfen, „wird es Ihnen noch besser gehen...“ Ferde schließt die Augen, schüttelt ungläubig den Kopf. „So... Sie können sich langsam wieder anziehen“, sagt der Mann zu ihm. Nachdem er sich angezogen hat, fängt Ferde an, den rechten Schuh auf den linken Fuß überzustreifen. Dann begreift er, streift ihn über den rechten, bückt sich und bindet ihn ohne jegwelche Probleme zu. Er schüttelt auch weiterhin den Kopf. Er bindet auch den linken Schuh zu, richtet sich auf. „...Wenn ich das der Frau erzähl’“, sagt er. „Kein Mensch wird mir glaub’n.“ Er zuckt, greift nach seiner Tasche. „Hab’ ich fast vergessen... Sag’n Sie mir, wie viel schulde ich... Ihnen?“, er steckt die Hand tief hinein. „Nichts... Ihre und meine Tochter arbeiten zusammen. Das werden die regeln.“ Er gerät durcheinander. „Aha.“ Danach steckt er die Brieftasche ungeschickt zurück. „Ach ja, was ich noch sagen wollte...“, sagt der Mann. „Jetzt passen Sie ein paar Tage auf, dass Sie nicht schwer arbeiten... Gehen Sie jetzt nicht hin und helfen Ihrem Nachbarn beim Umzug. Tragen wieder Schränke... Damit sich die Sache ein wenig stabilisiert“, sagt er und geht zum Haken, um den Mantel aufzuhängen. „Damit sich das noch ein wenig besser setzt.“ „Ach was, von wegen Schränke...“, murmelt Ferde. „Ach, wissen Sie was“, sagt ihm Ferde hinterher. „Ich war mein Lebtag gesund, kerngesund, wie man so sagt. Wenn’s dieses Rückgrat nicht gäb’, ich war in meinem Leben nicht mehr als zweimal beim Doktor... Aber, nun...“ „Es wird alles in Ordnung sein“, sagt der Mann. 109 Er klopft ihm auf die Schulter. „Es wird alles in Ordnung sein.“ Er kommt aus dem Supermarkt. Er geht durch den Schneematsch. Er steht atemlos an der Tür und wischt sich die schlammigen Absätze ab. Als ihm die Frau die Tür geöffnet hat, geht er wortlos an ihr vorbei, zieht seinen Mantel aus und wirft ihn auf den Tisch. „Wie ist es?...“, sie sieht ihm in den Rücken und wartet mit Furcht die Antwort ab. Er schnippt mit den Fingern und dreht sich mit einem Ruck um, als ob er tanzen wollte. „Vorbei“, sagt er. Sie sieht ihn verblüfft an. „Ich sage, vorbei.“ Er macht ein paar schwungvolle Schritte zur Wand, dann um den Tisch herum, bleibt mit dem Fuß am Stuhl hängen und fängt ihn auf, damit er nicht umfällt. „Ich sage, vorbei“, er sieht sie an, legt nachdenklich seine Arme auf die Hüften und schüttelt den Kopf. „...Um ehrlich zu sein... ich kann selber noch nicht glauben, dass es vorbei ist... aber... tja...“ er breitet die Arme aus. „Vorbei!“, sagt er. „Da hast du’s“, lebt sie auf. „Das hat sie dir auch gesagt...“ „Als ob, als ob nie was gewesen wär’“, er legt den Zeigefinger an die Stirn. „Und ich, ich Blödmann... warte in Krankenhäusern herum...“ Er schüttelt den Kopf. „Und ich... Blödmann... Warte...“ Seine Hand gleitet in die Tasche. „Und ich... ich Blödmann... warte herum... in Krankenhäusern... und der Mann ist drei Meter von mir, und ich, ich Blödmann warte...“ Er schweigt und sieht durch das Fenster. Dann sagt er: „Gib das dem Kleinen.“ Die Frau hebt den Blick eine Fliese hoch. Aus der Tasche zieht er einen Schokohasen. 14.4.2009, 20:30 110 RELA August „Da“, sagt er und setzt ihn vor sie auf den Tisch. „Gib ihm den...“ Die Frau nähert sich dem Schokohasen mit Unglauben. Ein paar Minuten später sieht ihr Gesicht aus, als ob sie weinen wollte. Sie dreht sich um, nach dem Hasen. Sie kann sich kaum zurückhalten. Mit dem Küchentuch verstopft sie ihre Augen. Er wischt mit den Fingern das beschlagene Fenster. „Vorhin, als ich beim Chiropraktiker herauswar, stieß ich auf diesen Vetter von dir, diesen Mileusni}“, sagt er. „...Den wär’ auch die Muttergottes nich’ losgeword’n... Eine Schande is’ es, sagt er, dass du noch nie bei mir Zuhaus’ warst, und ich war bei euch zweimal, jetzt musst du auf Šnen Schnaps, also setzte er mich ins Auto und brachte mich... Hab’s ja gar nich’ gewusst... Der ist ja noch höher, nich’ im achten, wie du gesagt hast... sondern im zehnten Stock... Koviljka!“, er sieht sie an. „Wenn du nur geseh’n hätt’st... seinen Kummer... Was dieser Mann leidet... wenn du sehen würd’st...“ Er stemmt sich mit den Fäusten fest gegen den Tisch. „...Als ich das, Koviljka, heute geseh’n hab’...“, sagt er. „...Zwei Söhne!“, er hebt die Stimme. „Wie zwei Ochsen!... Er sagt ihnen, sie soll’n ein weinig raus geh’n, das kein Platz is’... Von wegen... mit Verlaub, die scheißen drauf, was der sagt... Sind über die Dreißig, haben keinen Abschluss, arbeiten nich, heiraten nicht, liegen auf deren ihren Sesseln herum, zwei faule Säcke... Nichts... liegen nur Šrum, wie zwei... machen sich breit... Später, als er mich nach Hause gefahr’n hat, heult er, schlägt sich auf den Kopf, sagt, du hast ja alles geseh’n... Sagt, du hast wenigstens ein Mädel, hast sie verheiratet, hast keine Sorgen mehr, stolperst nicht wie ich jeden Tag über sie in der Wohnung, sagt, und was soll ich machen, zum Donnerwetter noch einmal, ich darf ja gar nichts sag’n, die werden mich relations 2009.pmd 110 noch fortjagen, Šrausschmeißen werden die mich aus meiner eigenen Wohnung, genau so sagt er, Šraus werden die mich schmeißen, ich werd’ noch in der Gosse landen, sagt er... Ach ja, und wenn sie auf dem Land geblieben wären, wenn ich auf dem Land geblieben wär’, in der Landwirtschaft, sagt er, und den Grund nicht, mit Verlaub, genau so sagt er... wie einen Hurenarsch... durchgehackt... hinter mir gelassen hät’... nie wär’n sie so gerword’n, sondern... sondern... sie wären die zwei feschesten und stärksten Jungens in der Gegend geworden, und nicht so... heruntergekommen... verrottet...“ „Die waren schon immer Tölpel...“, sagt die Frau. Er wirft seinen Mantel vom Tisch auf die Stuhllehne, schaut finster nach draußen, durch das Doppelglasfenster. „Verflucht und doppelt verflucht noch mal!“, brummelt er. Sein Blick stoppt irgendwo in der Ferne, hinter der verblichenen Häuserspitzen. Nach einiger Zeit bringt er hervor: „O weh!“ „Was?...“, dreht sich die Frau erschrocken um. Er fasst sich mit gespreizten Fingern an den Kopf. „Nein, nein, ich kann’s nicht glauben...“, presst er hervor. Er packt seinen Mantel vom Stuhl, fängt an, ihn hastig überzuziehen. „Ferde... Was ist denn?...“ „Des Licht...“, raunt er. „Was’n, das Licht?!“ „...Koviljka...“, sagt er. „Hab ich doch vergess’n des Licht auszumachen...“ Sie steht wie versteinert da. Die Tränensäcke unter ihren Augen werden noch größer. „Ferde“, sagt sie, „... was ist nur heute mit dir los, Ferde?“ „Wie, was is’ mit mir los?!“, ruft er. „...Es brennt schon zwei Tage! Alles wird abbrennen!“ Er streift wie wahnsinnig mit dem Blick durch das Zimmer. „Ferde.“ TIONS Sie nähert sich ihm. Sie fängt seinen fassungslosen Blick auf. „Ferde, nicht...“, sagt sie. „Ja, gute Frau!“, ruft er, und kreist mit langen Schritten durch den Raum. „Hast du sie noch alle beisammen, wenn ich’s dir so mal sagen muss!... Du weißt doch selbst... die Leitungen sind morsch und marode, jetzt auch noch dieses Unwetter. Das Haus wird mir in Flammen aufgehen! Hey, das Haus wird mir IN FLAMMEN AUFGEHEN!“ Er blickt wild um sich. Er springt zur Anrichte. Sein Blick bleibt am Strommesser haften. „Und dann noch der Strom?!“, ruft er. „Und dann zum Donnerwetter noch der Strom, weißt du, wie viel heutzutage das Kilowatt Strom kostet, Koviljka?!“, er kramt in der Anrichte herum. „Zwei Tage brennt es schon...“, ruft er. „Alles wird in Flammen aufgehen.“ Er stellt sich auf die Zehenspitzen. „Ah, da steckst du“, ruft er aus, zieht aus der Anrichte ein Taschenmesser. „Ferde“, sagt die Frau sanft. „...Geh nächste Woche hin, bis sich dir das etwas beruhigt hat...“ „Was soll sich da noch groß beruhigen... Ich bin kerngesund“, kommt es aus ihm geschossen. Er streichelt ihre Schulter. „Mach dir doch nicht ständig unnütz Sorgen“, er bückt sich und zieht die Schnürsenkel an seinen Schuhen fest. „Du wirst seh’n... wenn du im Frühjahr hinkommst, wenn wir diese Wohnung verkauft haben, wir alle dorthin gehen“, sagt er. „Du hast die Schönheit dort schon vergess’n... Diese Schönheit, das Grün, diesen Frieden... All das...“, fügt er hinzu. Sie geht ans Fenster. „Ferde“, sagt sie, „...es ist spät jetzt... dafür... Es gibt im Leben jetzt... wichtigere Dinge.“ „Es is’ nie zu spät“, er zieht den Gürtel an seiner Hose ganz fest an und 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ lockert ihn dann ein wenig. „Merk dir das. Merk dir, in zwei Jahren wird Šne Handvoll Erde auf dem Land mehr wert sein, als hier Šne Handvoll gold. Das merk dir...“ Und in ein paar Jahren, überlegt er, werden sie und die Tochter und der Schwiegersohn und der Enkel sich wegen des Hauses vor ihm bis zum Boden verbeugen. Er geht immer schneller und schneller. Mittlerweile hat er schon die Schwierigkeiten mit seinem Rückgrat vergessen. Er erreicht den Busbahnhof. Etwa zehn Minuten hatt er noch Zeit. Im Stehen trinkt er ein Bier. Die Fahrkarte kauft er im halbleeren Bus. Er nimmt in der Mitte Platz. Der Bus fährt los. Er neigt ein wenig den Kopf, auf dem Glas gleiten Bilder vorbei: Beim Ausgang der Stadt sind neue Riesengebäude aus dem Boden geschossen. Rundherum schaufeln Leute, in dicke Mäntel gehüllt, Schnee. Auf einem der Gebäude hat jemand in großen Buchstaben geschrieben: „VINCENT VAN GOGH.“ Er weiß nicht, um wen es geht: Er denkt, sicher wieder mal so ein beschissener Fußballer. Später hält der Bus in einer Einöde, zwei Polizisten kommen hinein; sie stehen vor dem Fahrer, pusten in die Hände und verfluchen die Kälte und den Schnee. Sie unterhalten sich mit dem Fahrer darüber, wie ihnen das Auto eben liegengeblieben ist. Ferde hört ihnen nicht übermäßig zu, er starrt in den eisigen Staub, der von allen Seiten aufsteigt. Er beobachtet die schummrigen Lichter der vereinzelten Häuser. Eine Frau kommt aus dem Stall, sie trägt eine Petroleumlampe vor sich hin. Er denkt an Koviljka. Lächelt. Er musste Koviljka wegen der Sache mit dem Licht anlügen. Er überlegt, manchmal ist es besser zu lügen, als dass sie sich streiten und grundlos ihre Nerven strapazieren. Nachdem er aus dem Bus in den weichen Schnee gesprungen ist, biegt er hinter der baufälligen Kirche ab und streckt seinen Schritt auf dem kurvigen, schneeverwehten Weg den Bergen entgegen: Er stampft, kämpft sich durch; der Schnee reicht ihm bis zu den Knien. Schnell verwischt er seine Spuren. Rundherum aus dem tiefen Wald hört man das asthmatische Pfeifen des Sturms: Er schreitet und lauscht sorgfältig diesen Geräuschen. Er verschärft seinen Gang, ist ganz weiß geworden vom Schnee: Das Schneegestöber verstärkt sich. Ein wenig später hält er an, um sich auszuruhen, er dreht sich um, reibt sich die durchfrorene Nase und erblickt auf fünfzig Metern Entfernung einen Hund. Er hebt die Augenbrauen. Er ist froh darüber, ihn zu sehen. „Hey, Freund“, ruft er. „Was machst du denn hier, Freund?“ Der Hund beobachtet ihn aus der Ferne. „Komm“, sagt Ferde und schlägt sich aufs Knie. Der Hund bewegt sich nicht einmal. relations 2009.pmd 111 Er macht sich auf den Weg Richtung Dorf: Der Hund geht, wie an einer Leine gezogen, ihm gleichzeitig langsam nach. Ferde läuft und wendet sich von Zeit zu Zeit flüchtig um. Der Hund folgt ihm. Ihm pflegten in der Stadt oft verlassene Hunde zu folgen. Manchmal bis an den Eingang ins Gebäude. Einige sind ganz nah an ihn gekommen, sahen ihn mit traurigem Blick an, wie sie nur Hunde haben können. Dann war es ihm immer schwer ums Herz. 111 Er liebte Hunde, auf dem Land hatte er immer einen Hund, aber, überlegte er, ein Hochhaus ist nichts für einen Hund. Nein und nochmals nein. Er verlängert seinen Schritt energisch. Er geht. Sie gehen etwa eine halbe Stunde, einer nach dem anderen, immer auf gleicher Entfernung. Wenn Ferde stehen bleibt, um auszuruhen, bleibt der Hund, als ob sie es so abgemacht hätten, auch stehen. Es tut ihm Leid, dass er kein Stück Brot bei sich hat, um es ihm zuzuwerfen. Wem der wohl gehören mag, überlegt er, es gelingt ihm nicht zu sehen, ob er ein Halsband umhat. Sicherlich wieder ein Streuner, überlegt er... Jemand wollte ihn loswerden und hat ihn unten auf der Straße aus dem Auto geschmissen. Aber groß ist er, wie ein Wolf. Dieses Bild bringt ihn für einen Moment zurück in die Jugend. Als junger Mann, zur Zeit der Hetzen auf Wolfsrudel, die in den Bergen Schafsherden angriffen und in die Pferche einfielen, pflegte er sie zusammen mit den anderen Dorfbewohnern dutzendweise zu töten. Danach haben sie sie stolz auf Holzschlitten durch das Dorf gefahren; hinter ihnen blieb im Schnee eine lange, blutige Spur. In der Faschingszeit, als sie im Dorf Speck und Eier einsammelten, haben sie Wolfspelze voll mit bissigem Wolfsgeruch über den Kopf gezogen, die Wölfe nachgemacht und laut geheult. „Auuuuu, ha, ha, ha“, beginnt Ferde zu heulen. „Auuuuu, ha, ha, ha... Auuuu...“ Dann, zum ersten Mal seit dem Besuch beim Chiropraktiker, spürt er im Kreuz einen bohrenden Schmerz: Er bückt sich langsam zur Probe. Er hält mit krampfverzerrten Gesicht ein. Er ist außer sich. 14.4.2009, 20:30 112 RELA August Bei jedem weiteren Schritt verstärkt sich der Schmerz im Kreuz: Ein paar Mal durchsticht es ihn auch im rechten Bein, was ihm noch nie passiert ist. Er bemüht sich, den Schmerz zu ignorieren und weiterzugehen. Ein paar Mal fällt er in den Schnee auf die Knie. Er richtet sich nur mühsam auf. Er läuft weiter mit irgendwelchen unfertigen Schritten. Ferde beschließt vor Elend, zu singen. Er singt, was ihm als erstes in den Sinn kommt. „Oyyyy, den Esel trieb der Woooolf, trieb der Wooo, trieb der Wooolf, ooooooo so er sich zu Fleisch verhooooolf...“ Der Hund bleibt, als ob ihn diese Worte erschrecken, stehen und Ferde beginnt im Rhytmus: Wenn ihm jemand von der Seite zugehört und seine Bewegungen während des Singens beobachtet hätte, besonders mit der Mütze, die sein Schwiegersohn einmal bei ihnen vergessen hat, würde er denken, Ferde sei irgend so ein Rapper-Veteran, der sich verlaufen hat. „Los, du Langohr, gib nicht auf Schlag die Wölfe über’n Hauf Schlag du immer nur darauf Und dann lauf, fort fort lauf...“ Der Schmerz ist unerträglich, er singt und läuft. Von oben herab drückt die Dunkelheit auf den Schnee immer mehr. Er singt und flucht. Er läuft und denkt durch die Flüche hindurch über seine Tochter nach, sucht einen Weg, den schrecklichen Schmerz zu vergessen. Er flucht. Er verflucht das Rückgrat und den Chiropraktiker und die Tochter. Und die ganze Welt. Es gefällt ihm nicht, dass sie vor zwei Monaten angefangen hat, als Organisatorin von irgendwelchen Konzerten zu arbeiten, für diese Jugend- relations 2009.pmd 112 lichen, die sich die Haare färben und ganz durchlöchert sind, und all das für einen Hungerlohn. Dabei hat sie einen Juraabschluss. „Ihr Schmarotzer“, ruft er, „denkt ihr, ich werde euch durchs Leben finanzieren?!“ Vieles gefällt ihm in letzter Zeit bei ihr nicht. Einmal, als sie sich auch die Nase hatte stechen lassen und so nach Hause gekommen war, konnte er es nicht glauben. Für ihn sah es aus, als ob sie sich einen Nagel in die Nase geschlagen hätte. Wenn es nicht Koviljka gegeben hätte, hätte er ihr sowohl die Nase als auch diesen Ohrring herausgerissen. Später wurde sie von diesem Musiker schwanger. „Denkt ihr, ich werde euch im Leben durchfüttern?“, ruft er wütend und blickt hinter sich auf den Hund. „Und du, spielst deine Gitarre den ganzen lieben Tag lang!“, er presst die Zähne vor Schmerzen zusammen. „Du und deine beschissene Gitarre...“ Dann hört Ferde vor sich das Gebäll der Hunde aus dem Dorf. Dieses wild gewordene Bellen und an den Ketten Zerren scheint ihm wie die schönste Melodie. Er bekommt neue Kraft. Er denkt, noch ein bisschen. Nur noch ein bisschen. Noch einen Schritt..., denkt er. Aber je mehr er sich dem Haus nähert, desto stärker wird der Schmerz: Seine Augen pulsieren, als ob sie zerspringen würden. Er zieht einen langen, hohlen Messingschlüssel aus der Tasche. Er hält sich krampfartig mit den Fingern an der Hose, darauf achtend, dass ihm der Schlüssel nicht aus der Hand fällt, mit den Armen hebt er seine Beine vom Boden. Er stöhnt, zerrt die wehen Beine aus dem Schnee. TIONS Sein Haus ist hinter dem Hügel, gleich am Anfang des Dorfes, man kann es noch nicht sehen. Noch ein bisschen... Er beruhigt seinen Atmen. Dann taucht aus dem Weiß dieser Hund auf. Ferde hält mitten in der Bewegung inne... Er sieht besser hin. Erst dann begreift er... DAS IST KEIN HUND... SONDERN EIN WOLF. Er sieht ihn an. Er bricht in kalten Schweiß aus. Er steht vor dem Wolf, der ihm jetzt viel größer erscheint. Eigentlich, noch nie im Leben hat er einen größeren Wolf als diesen gesehen, noch eine so lange gefletschte Schnauze. Er ist sicher, dass er vorhat ihn anzugreifen. Er erkennt das an seinen aufgerichteten Ohren. Furcht überkommt ihn, er hat Angst, sich von der Stelle zu rühren. Er will ihm, er will ihm in seiner Verzweiflung sagen: „...La, laaass mich... Maa, Mann... Geh... Geh doch weg... Du siehst doch, das ich eigene Sorgen habe...“ So schlug sein Großvater einmal Holz im Wald und ein Bär stellte sich über ihm auf die Hinterbeine. Der Großvater legte ruhig seine Axt beiseite und sagte: „Kümmer’ dich, lieber Bär, um deine Sachen, was willst du mit mir, ich bin alt.“ Und der Bär ging weg. Aber Ferde überkommt Wut. Er, er, Ferde Vidakovi} soll vor einem Wolf Angst haben. Und das vor einem einzigen. Er, der es einmal geschafft hat, mit bloßen Händen sogar drei Wölfe zu verjagen, als sie ihm die Herde angegriffen hatten. Danach begreift er, dass er nicht mehr den Wolf ansieht, sondern seine gespreizten Finger. Er ist bereit, ihn zu erwürgen, wenn es sein muss. 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ Und es wird sein müssen, überlegt er durch seine zusammengepressten Zähne. Trotzdem, er hat immer noch Angst, sich von der Stelle zu rühren. Da fällt ihm etwas ein. „Na, na, na, jetzt bist du dran! Na, jetzt bist du dran, Gevatter!“ ruft er und beschießt den Wolf mit Blicken. „Ha, ha, ha... Na, jetzt kriegst du’s, Gevatter, aber reichlich dicke!“, er zeigt ihm triumphierend das kleine Messer. „HA, HA, HA...“ Mit diesem kleinen Messer und gesunden Armen hat er nun überhaupt keine Angst mehr vor ihm. Er geht los. „Ha, ha, ha...“ Bisweilen, um sich noch mehr Mut zu machen, holt er aus und streicht mit der Daumenkante über die kurze Schneide. „Komm!“, ruft er dem Wolf zu und das Tal wird vom Echo seiner Stimme erfüllt. „Komm! Komm, wenn’s dich traust! Komm, damit ich dir relations 2009.pmd 113 Maß nehmen kann! Ha, ha, ha, ha, ha, ha...“ Die letzten fünfzig Meter bis zum Haus fängt Ferde an, seitwärts zu laufen, dann rückwärts, die ganze Zeit jenes kleine Messer vor sich haltend. Er holt die letzten Atome seiner Kraft aus sich heraus. Der Wolf geht hinten, immer mit gleichem Schritt: Doch die Entfernung verkleinert sich so sehr, dass ihn Ferde fast mit seiner Spucke erreichen kann. „Was is’?! Du Lumpenhund! Komm! Dein beschissenes Gedärm werd’ ich dir rausreißen!“, ruft er mit größter Anstrengung, er hat gar keine Stimme mehr: Der Atem fließt ihm das Kinn hinunter. Er neigt ein wenig den Kopf... LICHT. Er ist verwirrt. IM HAUS BRENNT LICHT. Er lacht blöde. „Ha, ha, ha...“ 113 In diesem Augenblick – stürzt sich der Wolf auf ihn. Danach rollen beide den Schnee hinunter. Sobald er schmerzvoll nach hinten knickt, wird es Ferde schwarz vor Augen, aus den Händen fallen ihm sowohl das kleine Messer als auch der Schlüssel; im nächsten Ansturm durchstößt der Wolf seine Arme und beißt ihn in den Hals: Er begräbt ihn unter sich. Ferde beißt die Zähne zusammen, schüttelt den Kopf, versucht, ihn einige Male von sich zu lösen. Danach versucht er, einen Schrei von sich zu geben. Noch einige Zeit wehrt er sich verzweifelt. In Kürze beginnt der dichte Schnee ihn zu bedecken, wieder allem die Form verändernd. Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 14.4.2009, 20:30 114 RELA August TIONS Ich sag es dir, wenn wir da sind Marijana bleibt stehen, blickt sich um. Sie geht, im Mondlicht leuchten ihre kräftigen Waden weiß. Sie läuft die treppenartige Straße hinunter, beugt sich unter den Laken hindurch, die ausgebreitet sind, um den Hintereingang ins Gebäude zu verdecken, betritt die Wohnung. Sie machte die gelbe, trübe Glühbirne an: Das Licht zerfließt langsam. „Eeevchen!“ Aus dem Zimmer kommt ein schlankes Mädchen. Es reibt sich das Auge mit dem Finger. Marijana zieht mühsam ihre Schuhe. „Evchen...“, sagt sie. Das Mädchen sah sie an. „Was haben wir denn ausgemacht?“ „...Dass... ich nicht dorthin gehe...“ „Und...“ Das Mädchen hält dem Blick der Frau nicht stand. „Wo ist denn dein Bett?“, fragt sie. „Evchen?“ „Da“, presst das Mädchen heraus. „Also...“ Marijana schüttelt ihr Kniegelenk: Sie streift den Strumpf vom Bein. „Und du hast wieder...“ „Mutti, ich werd’s nicht wieder tun“, murmelt es. Marijana riecht am Strumpf. „Wie oft hast du das bis jetzt schon gesagt?“, sie wirft den Strumpf auf die Schuhe. „Mutti. Ich versprech’s.“ „Nein, wirst du nicht“, murmelt sie. relations 2009.pmd 114 Sie geht zum Herd. Sie starrt lange in den Topf. Sie dreht sich um. „Versprochen.“ „Versprochen!“ „Also gut“, sie hebt den Zeigefinger. „Aber, pass auf, das ist das letzte Mal.“ Das Mädchen springt fröhlich auf. „Hat dir das aus der Schüssel heute gut geschmeckt?“, fragt Marijana. Es nickt. „Ja.“ „Willst du jetzt was?“ „Nein.“ „Dann geh jetzt in dein Bett, los“, flüstert sie. „Los, Liebes. So wirst du dich erkälten.“ Das Mädchen kriecht unter die Decke, beginnt am Daumen zu saugen. Marijana bückt sich, kratzt sich an der Fußsohle und schaut auf den Zylinderschlüssel im Schloss: Sie streckt den Arm aus und prüft, ob abgeschlossen ist. „Hat heute vielleicht jemand geklopft?“ „Nein...“ „Du sollst auf keinen Fall jemandem aufmachen.“ „Ich weiß“, sagt es mit dem Daumen im Mund. „So ist es Recht“, sie küsst das Mädchen auf die Stirn. „Der Mama muss man gehorchen.“ Das Mädchen zieht den feuchten Daumen aus dem Mund. „Mutti?“, sagt es mit klingender Stimme. „Sag...“ Das Mädchen beginnt, mit dem Finger an die Wand zu malen. „Wann wirst du den Fernseher reparieren?“ Marijana denkt einen Moment nach. „Bald“, sagt sie. Dann sieht sie auf den Bildschirm: Darüber hängt das Foto eines Mannes in Kriegsuniform: Wenn der Trauerflor nur ein paar Zentimeter tiefer gewesen wäre, würde es aussehen, als ob der Mann eine Augenbinde trägt. „Mutti“, meldet sich wieder das Mädchen. Marijana schiebt mit dem Fuß die Schuhe zurecht. Sie nimmt einen und schaut auf die abgelaufene Sohle. „Sag...“ „Kann ich dich was fragen?“ „Frag?“ „Mutti“, sagt es, „...leben Schwarze unter der Erde?“ Marijana lächelt. „Natürlich nicht.“ „Warum sind sie dann so schwarz?“ „...Weil sie eben schwarz sind...“, sagt sie. „Schlaf jetzt, los. Alle Kinder schlafen schon.“ Sie macht das Licht aus und geht zum Badezimmer. Sie lässt den stärksten Wasserstrahl laufen. Lange reibt sie sich die Haare, das Gesicht, die birnenförmigen Brüste... Danach reibt sie sich fest mit dem Handtuch ab. Sie küsst das Mädchen und geht auf Zehenspitzen in den anderen Raum. 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ Sie verkriecht sich unter die flauschige Decke, dreht sich auf die Seite zum Fenster, versucht einzuschlafen. Er kommt herein: Der Schatten eines langen Bartes wird auf der Wand lang. Er entkleidet sich, zieht die Ärmel aus dem Mantel. Er hängt ihn an einen über der Tür eingeschlagenen Nagel, streckt sich geschmeidig, berührt mit den Handflächen die Zimmerdecke. „Schläfst du?...“, sagt er, ohne sich umzudrehen. „Nein.“ Er setzt sich neben sie. Er kratzt sich am unordentlichen Bart. „Und was?...“ „Ich kann nicht...“ Er zieht eine Packung Zigaretten heraus. Er steckt sich eine Zigarette in den Mund. „Wo ist die Kohle“, sagt er. „In der Schublade.“ Er nickt und nimmt die Zigarette zwischen die Finger. Langsam steht er auf. Unter der niedrigen Decke scheint er noch größer. Er lehnt sich gegen die Wand, zieht die Hose hoch und sieht durch das Fenster. „Für morgen, da ist so ein Alter“, sagt er. Sie nickt. Mit den Zähnen verschiebt er die Zigarette im Mund. Er geht zum Fenster, späht hinaus. „Der gestern... das Arschloch...“, sagt er, „ich hab’ die Scheiße aus ihm rausgeprügelt.“ Er wischt sich mit dem Ärmel die Nase ab. „Da schaust’... wie er’s hergibt...“ sagt er. „Wie schnell man’s hat.“ Sie flüstert: „Dugi...“ Er gibt mit dem Kopf ein Zeichen, dass er zuhöre. Sie schwieg. „Dugi... Ich habe Angst...“ Er sieht sie über die Schulter an. „Wovor?“ „Vor allem...“ Sie wechseln noch einmal die Blicke. relations 2009.pmd 115 Er sagt: „Das ist gefälligst das letzte Mal, dass du das sagst.“ Er steckt sich die Zigarette in den Mund, zündet sie mit dem Feuerzeug an. „Ist das klar?!“ Sie sagt: „Dugi...“ Er nähert die Zigarette seinen Augen und schaut in die Glut. „Du weißt ganz genau“, sagt er. „ Wenn du mit mir bist... dass du vor nichts Angst zu haben brauchst.“ „Weißt du das?“, fragt er sie. „Ich weiß.“ „Dann erzähl keinen Stuss“, sagt er. Er schweigt und raucht. Er kommt zu ihr, streicht ihr über das Haar, drückt die Hälfte seiner Zigarette in einem Flaschenverschluss aus. Er zieht ein gebogenes Jagdmesser aus dem Gürtel, verschiebt den Nachttisch auf seiner Seite des Bettes. Er kniet sich hin. Er löst mit der Klinge etwa ein Dutzend Parkettbretter: Dahinter erscheint ein größeres Loch. Zuerst zieht er eine Pappschachtel für Schuhe heraus, danach einen Plastikbeutel mit zwei kleineren in breites Klebeband gewickelten Päckchen. Er stopft ein Päckchen in seine Jackentasche, legt den Beutel auf den Boden des Lochs zurück, stellt die Schachtel darauf. Dann ordnet er die Parkettbretter sorgfältig darüber. „Du wirst schon sehen, was das ist...“ sagt er. „Der Himmel auf Erden... und nicht das hier. Dies ist eine Senkgrube und kein Staat.“ „Dugi“, flüstert sie. Sie umarmt ihn. Sie nimmt seine Hand und küsst sie. „Dugi“, sagt sie. Er nickt ihr zu, gierig einen neuen Zug machend. „...Dugi...“, sagt sie, „ich möchte, dass wir glücklich sind.“ Er steht langsam auf, watschelt zum Fenster. Er sieht durchs Fenster. Er winkt jemandem zu. „Wir verlassen doch nicht diese Scheiße,“, presst er heraus, „um unglücklich zu sein.“ 115 Kurz darauf hinterlässt er ihr auf dem Nachttisch ein Stückchen gefaltetes Papier. Er zieht das Handy heraus, stopft es zurück in die Tasche. „Wir seh’n uns“, sagt er. „Wann kommst du?“, sagt sie. „Weiß ich nicht. Wir sehen uns.“ Er nimmt seinen Mantel und geht. Sie steht auf, schaut durchs Fenster und sieht ihn, wie er sich mit noch jemandem zusammen die Straße entlang entfernt. Dugi und ihr verstorbener Mann waren die besten Freunde. Sie lernte sie kennen, als sie im Gasthaus neben der Kaserne als Kellnerin arbeitete. Als @or` gefallen war, war Evchen nur einen Monat alt. Dann hört sie das Öffnen einer Tür hinter sich. „Mutti.“ Sie wendet sich um. Sie rückt das Kissen zurecht und legt sich hin. „Sag?“ „Ich möchte ein bisschen zu dir...“ „Evchen...“, sagt sie, „du suchst wirklich eine Tracht Prügel.“ Es hüpft ungeduldig auf. „Mutti!“ „Los, komm herein“, sagt sie. „Aber, dass mir das das letzte Mal ist.“ Das Mädchen verkriecht sich im Laufschritt neben sie: Es lutscht am Daumen, sein Näschen bewegt sich. Marijana späht unter die Decke. „Ein großes Mädchen“, sie schüttelt den Kopf, „und du lutschst immer noch am Daumen.“ Sie macht die kleine Lampe aus, verkreicht sich tiefer unter die Decke, umfasst seine mageren Beinchen und zieht sie zwischen ihre warmen Schenkel. „Mutti“, lugt das Mädchen hervor. „Mutti...“ „Was ist jetzt?“ „Kann ich dich was fragen.“ „Sag.“ Es nimmt seinen Daumen heraus. 14.4.2009, 20:30 116 RELA August „Haben Raupen einen Mund?“ „Nein.“ „Wie essen sie denn dann?“ „Sie essen“, sagt sie, „...sie müssen etwas futtern.“ Sie hat geduscht. Draußen fließt der Regen die Blechrinne hinab: Sie starrt aus dem Bett in das trübe Fensterglas. Sie steht auf und sucht mit den Füßen ihre Pantoffeln. „Evchen, doch nicht barfuß“, sie dreht sich um. „Bleib, bis Mama ein wenig in der Küche Ordnung gemacht hat!“ Das Mädchen kehrt unter die Decke zurück. Sie geht wieder unter die Dusche. Als sie fertig ist, zieht sie den Bademantel an und geht in die Küche. Sie zieht aus der Anrichte einige Kartoffeln. Sie schält sie. Danach legt sie sie in einen Topf mit Wasser, macht den Herd an und kehrt ins Bett zurück. Das Mädchen schläft in Fötusstellung. Sie geht später in die Küche, beginnt das Geschirr abzuspülen. Sie scheuert es von allen möglichen Seiten. Sie setzt sich auf die Couch, wischt sich mit dem Handrücken die verschwitzte Stirn ab. Sie sitzt und lauscht, wie der Guss irgendwelche Büchsen die Straße hinabrollt. Dann steht sie auf, zieht aus der Anrichte zwei Sardinendosen, mischt sie unter die gekochten Kartoffeln, dann zerdrückt sie das alles gründlich mit einem Löffel. Die Masse verteilt sie in zwei flache Teller. Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch, gießt einen Krug Wasser voll, geht zur Zimmertür und macht sie leicht mit dem Daumen einen Spalt auf. „Komm essen!“, ruft sie. Das Mädchen ist unter der Decke: Es rührt sich nicht einmal. Marijana schüttelt den Kopf. „Wenn ich dir gesagt hätte, du sollst schlafen“, sagt sie, „dann wärst du relations 2009.pmd 116 schon am Tisch und würdest dein Mittagessen verlangen, ha? Nicht wahr?“, sagt sie lauter. „Ja“, hört man unter der Decke. Dann steht es plötzlich auf, zieht seine Pantoffeln an und läuft Marijana hinterher. Das Mädchen setzt sich an den Tisch, lehnt auf seinen Ellbogen und reibt sich die Augen mit den Fingern: Es beginnt hastig zu essen. „Langsaaam!“, sagt Marijana. „Es nimmt dir ja keiner weg.“ Doch es beginnt noch schneller zu essen: Es isst und wirft ständig einen Blick auf die riesige Wanduhr mit verblichenen römischen Ziffern, aus der ein kleiner Vogel herauslugt und kuckuck ruft. Ein paar Sekunden bevor der kleine Vogel herausfliegt, steht das Mädchen mit vollem Mund plötztlich auf, nähert sich der Uhr und hebt seinen Blick zur Öffnung – „eins, zwei, drei...“ – zählt es aufmerksam. Als sich der kleine Vogel ins Loch zurückzieht und als sich hinter ihm die kleine zweiteilige Tür glatt schließt, springt das Mädchen plötzlich auf, bricht in Gelächter aus. Es sieht auf die Uhr, wiegt sich, lacht. „...Evchen“, Marijana wirft ihr einen warmen Blick zu, „komm... das Essen wird kalt.“ Es kommt zurück, isst. Marijana wischt sich mit der Hand den Mund ab. „Was wirst du jetzt tun?“, sie kratzt sich an der Augenbraue. „Und wohin gehst du?“ „Arbeiten“, sagt sie. „Ich komm’ bald zurück... Dann können wir neue Buchstaben lernen.“ Das Mädchen nickt. Marijana steht auf, geht in den anderen Raum, zieht sich an. Dann spaziert sie ins Badezimmer, schminkt sich. Sie hat einen roten, engen Rock an, einen Pullover, darüber einen grauen Trenchcoat. Sie nimmt aus der Badewanne den Regenschirm, wirft die Handtasche über die Schulter. TIONS „Sei brav. Und mach niemandem die Tür auf. Mama kommt bald zurück... Leg das Heft und den Bleistift zurecht.“ „Wo sind die denn?“ „Wer hat als letzter geschrieben? Du oder die Mama?“ „Ich.“ „Dann hast du sie auch zu finden.“ Sie geht hinaus, beugt sich unter den Laken. Es beginnt zu nieseln. Die Blätter kleben an ihren Schuhen. Nach einer halben Stunde erreicht sie ein grellgelbes Gebäude umgeben von Zypressen. Mit den Fingern entfernt sie die Blätter von den Schuhen. Sie sieht sich um, geht in den Hof, wirft einen Blick zur Spitze des Gebäudes und klingelt. Während sie wartet, schaut sie heimlich unter dem Rand des Regenschirms in die riesigen Balkone, darauf wartend, dass oben jemand erscheint. In der Tür erklingt eine metallener Klang. Sie geht hinein. Sie macht den Regenschirm zu. Sie steigt die Wendeltreppe herauf. Sie kommt schnell nach oben, lehnt den Regenschirm daneben und klingelt. Sie wartet, schaut auf ihre Schuhe. Jemand sieht durch das Guckloch. Sie zieht sich aus, mit nackten Brüsten. Unter einem starken Lichtstrahl. Sie zieht mit den Daumen ihr Höschen aus. Sie gleitet langsam auf dem Parkett, lehnt sich mit dem Rücken gegen den Schrank: Sie schließt ihre Beine in den Knien, dann, wie der Alte es verlangt hat, spreizt sie sie und stützt sich stärker mit ihren Handflächen ab; er lehnt mit dem Arm am Klavier, beobachtet sie. Er zieht den Atem tief ein: Er gibt ein knarrendes Geräusch von sich. Unter dem anderen Arm hat er eine metallene, mit Gravuren verzierte Schachtel. Danach spitzt er nachdenklich den Mund, beginnt sich ihr wortlos zu nähern. 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Damir Karaka{ Als er nur noch zwei Schritte von ihr entfernt ist, bleibt er stehen, atmet ein, geht langsam wieder zwei Schritte zurück. Dann misst er noch einmal sorgfältig mit dem Blick die Entfernung zwischen den Spitzen seiner Schuhe und ihrer gleichgültigen Möse. Auf den Boden stellt er, begleitet von einem Geräusch, das im Gluckern des heißen Wassers in den Heizungsleitungen verloren ging, langsam die Schachtel. Er zieht ein Hosenbein nach oben und stützt sich vorsichtig auf dem Knie dieses Beines ab. Aus der Schachtel nimmt er eine Murmel: Mit dem Daumen schickt er sie gemessen zwischen Marijanas gespreizte Beine. Sie ist nicht überrascht, die Leute haben schon die verschiedensten Dienste verlangt. Der Alte beugt sich zur Seite, verfolgt die Bahn der Murmel. Die Murmel rollt langsam: Sie spult das Licht auf. Als das Glas endlich die Scham berührt, nickt der Alte und reibt sich die Hände: Er nimmt eine neue Murmel. Sie erreicht das Gebäude. Sie geht hinunter in den Hof, blickt sich um und rückt die Laken auf dem Strick hinter sich zurecht. Das Mädchen schläft mit dem Finger im Mund, neben dem Bett sind Heft und Bleistift. Sie geht ins Badezimmer, wirft die Kleidung ab, stellt sich unter die warme Dusche. Sie trocknet sich ab. Sie rubbelt mit dem Handtuch ihr Haar trocken. Dann nimmt sie die Murmel. Sie scheuert sie mit der Handbürste. In einem Augenblick reißt die Bürste ab, fällt hinter die Waschmaschine. „Scheiße“, sagt sie. Sie versucht sie zu erreichen, schafft es nicht. Sie nimmt eine alte Zahnbürste. Damit scheuert sie die Murmel. Die Bürste wirft sie hinter die Waschmaschine. Sie kriecht ins Bett, schiebt ihre Arme unter den Kopf, schläft in Kürze ein und träumt von Sonne, Meer, Sonnenschirmen... Sie hat Durst. Sie steht auf, um Wasser zu trinken. Sie lauscht. Sie nimmt den Regenschirm und geht hinunter auf die leere Straße. Es ist noch nicht ganz dunkel geworden, obwohl es ihr in dem Zimmer mit den heruntergelassenen Rollläden schien, dass draußen die tiefstmögliche Finsternis ist. Mit den Fingern überprüft sie das Geld des Alten in ihrer Handtasche. Sie geht am Park vorbei. Die Straßenleuchten werfen eine trügerische Wärme um sich. Die meisten sind zerschlagen, voll mit versengten Mücken. Dann steckt sie ihre Hand in die Tasche, bleibt stehen und hebt die polierte Murmel unter der Leuchte auf das Licht. Sie dreht sie. Auf alle Seiten. Sie läuft schneller zur Wohnung. Sie geht, in der Tasche drückt sie die Murmel. Sie hört Schritte, macht die Nachttischlampe an. Er kommt auf Zehenspitzen hinein. Er setzt sich neben sie und steckt sich eine Zigarette an. Er spricht kein Wort. Dann sagt er: „Mach die Augen zu!“, er sieht sie an. „Wie bitte?...“ Sie ist durcheinander. „Mach die Augen zu!“, lacht er. „Dann wirst du’s wissen.“ „Dugi... was ist passiert?...“, sie setzt sich auf. Er umarmt sie. „Morgen“, sagt er, „...GEHEN WIR FORT.“ Im ersten Moment reagiert sie überhaupt nicht. Dann kommen ihr die Worte, die er ausgesprochen hat, langsam ins Bewusstsein. relations 2009.pmd 117 117 Sie stemmt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie starrt ihn an: Ihre fleischigen Lippen zittern. Er lässt den Rauch durch die Nase, blickt dem Rauch hinterher. „Die Bullen sind mir auf der Spur“, sagt er. Er macht einen tiefen Zug. „Aber... die können... mich mal...“ Er zwinkert ihr zu. „Für den Anfang“, sagt er, „haben wir sowieso genug.“ Er beugt den Kopf zu ihr. „Was ist jetzt los?“, lacht er. Sie umarmt ihn kräftig und beginnt leise zu schluchzen. Sie verkriecht ihren Kopf in seine hagere, behaarte Brust. Er streicht ihr über die Haare, zerdrückt in einem Flaschenverschluss eine halbe Zigarette. Er kratzt sich die Brust mit den Fingernägeln. „Dugi“, schluchzt sie. Sie umarmt ihn noch stärker. „Dugi“, sagt sie, „ich bin, ich bin so glücklich.“ Nach einigen Minuten entzieht er sich langsam ihrer Umarmung. Dann zieht er sich aus, geht ins Bett und macht die Lampe über sie hinweg aus. Einige Zeit schweigen sie, berühren sich zärtlich mit den Händen. Zwischen seinen Fingern quellen ihre Brustwarzen. Sie streckt sich ihm immer mehr entgegen. Dann nimmt sie sein steifes Glied und steckt es zärtlich in sich hinein. Sie nistet sich ein, umfängt ihn fest um die Taille und schläft in Kürze so ein. Als sie am Morgen ihre Augen öffnet, kramt er im Loch im Parkett herum. Er trägt neue Kleidung, ist glatt rasiert. Sie hat ihn schon lange nicht mehr ohne Bart gesehen. Er nickt ihr zu und fährt fort ruhig herumzukramen. 14.4.2009, 20:30 118 RELA August Die Blechschachtel mit dem Geld stellt er auf den Nachttisch, danach packt er alles aus dem Loch in eine Tasche: Am Ende legt er die Parkettbretter sorgfältig auf das Loch. Er schiebt den Nachttisch darüber. „Schlaf weiter“, sagt er und legt die Schachtel mit dem Geld oben in die Tasche hinein. „...Ich geh jetzt all das zusammenpacken, tauschen, noch einige Sachen erledigen, ich bin am Abend hier, um neun herum, höchstens Viertel nach neun“, sagt er. „Seid bereit... Und pack nur das Notwendigste... Okay?“, er zwinkert. „Dugi...“, sagt sie. Sie umarmt ihn. „Pass gut auf diese Pässe auf“, sagt er zu ihr. „Pass auf, dass du nicht was vergisst.“ Sie flüstert: „Mach dir keine Sorgen.“ Er beugt sich zu ihr, küsst sie auf den Mund. Sie umarmt ihn und erwidert seinen Kuss, kann sich kaum von ihm trennen. „Dugi...“, sagt sie. „Ich liebe dich.“ Er wirft die Tasche auf den Rücken. „Lass das jetzt“, sagt er. „Dafür wird’s noch Zeit geben.“ Sie schläft ein. Sie schläft bäuchlings. Das Knarren der Tür weckt sie. „Schläfst du, Mutti?“ Sie dreht sich auf die Seite und stützt sich mit dem Ellenbogen auf. Sie starrt auf das Mädchen. „Kann ich... zu dir ins Bett?“, sagt es. „Komm.“ Sie wartet, bis das Mädchen neben ihr liegt, dann dreht sie sich auf den Rücken. Sie umarmt das Mädchen kräftiger. Sie sagen nichts, liegen sich so in den Armen. Auf einmal kommt ihr ein Gedanke, sie streckt plötzlich den Arm zur Schublade aus. Sie ballt ihre Faust, schiebt sie dem Mädchen unter die Nase. „Schau, was ich hab’“, sagt sie. Sie lacht. Das Mädchen nimmt den Finger aus dem Mund, starrt auf die Faust. relations 2009.pmd 118 „Mutti, was ist das?“ „Rate mal.“ „Ein Bombon.“ „Nein.“ „Doch. Ich hab’s gesehen.“ „Nein.“ Es versucht, ihre Faust zu öffnen. „Gib mir das Bombon“, sagt es. „Es ist kein Bombon...“, sagt sie. „Etwas viel, viel Schöneres“, sie neigt den Kopf. „Mutti, gib schon endlich“, sagt es. „Ich halt’s nicht mehr aus.“ Marijana beobachtet ihre Tochter: Sie öffnet die Faust. Das Mädchen weitet die Augen. „Oooh...“, lässt es bewundernd verlauten und nimmt die bunte Glasperle. Sie steht in ihre Schuhspitzen versunken da. Sie zieht zwei Koffer unter dem Bett hervor, packt Sachen hinein. Sie streckt sich über den Fernseher, nimmt jenes Foto von der Wand, wischt es ab und steckt es vorsichtig in einen der Koffer. Dann macht sie die Nachttischschublade auf, nimmt den blauen Umschlag mit den Ausweisen, zieht sie heraus und steckt sie in ihre Handtasche. Nach einer halben Stunde lugt sie ins Zimmer. „Evchen, zieh dich an!“, sagt sie laut. „Beeil dich!“ „Mutti“, sagt das Mädchen, „wohin gehen wir?“ „Auf eine Reise.“ „Wohin?“ „Ich sag es dir, wenn wir dort sind.“ Kurze Zeit darauf sitzen sie am Tisch und warten. Das Mädchen ist schläfrig. Es öffnet und schließt müde seine schweren Lider. „Willst du noch was essen?“ Das Mädchen schüttelt schlaftrunken den Kopf. „Werd’ mir nur nicht hungrig, wenn wir beim Aufbrechen sind“, sagt sie. Das Mädchen gähnt. „Werd’ ich nicht...“ TIONS Marijana sieht auf die Uhr. Sie wartet weiter. Sie sitzt und lauscht. Sie steht auf, spaziert nervös im Raum umher, blickt immer wieder auf die Uhr. Es ist längst neun vorbei. Draußen wird der Wind immer stärker, peitscht die feuchten Laken. Zehn. Elf... Ein wenig später zieht sie ihre Schuhe aus, hebt ihre Füße auf den Stuhl, umfasst mit den Armen ihre Beine und senkt ihr Kinn langsam auf die Knie. Dann hört sie den immer lauter werdenden Klang eines Autos, springt auf... Er kommt hastig hinein; er blickt sich im Raum um. Er wirft einen Blick ins Zimmer, zum Nachttisch über dem Loch. Er sieht das Mädchen an: Es schläft mit dem Gesicht auf dem Tisch, mit der Hand hat sie fest die Murmel zugedeckt. „Weck sie auf!“, sagt er. „Worauf wartest du?...“ Sie ruft: „Evchen...“ Er nimmt die Koffer; er wiegt sie ein paar Mal ab und stellt sie hin. Er betastet seine Taschen. Er nimmt die Autoschlüssel, greift sich die Koffer. „Wir gehen, ist alles fertig?“ „Evchen“, sie packt das Mädchen am Arm, als ob sie es immer noch nicht glauben würde. Er geht hinaus, bückt sich unter den Laken hindurch, sie ihm nach. Er packt die Sachen in den Kofferraum: Er blickt sich um, klappt ihn plötzlich zu. „Gehen wir!“, sagt er. Er drückt aufs Gaspedal, der Kies knirscht unter den Reifen. Als sie auf die Hauptstraße gekommen sind, macht Dugi die Scheinwerfer an. Sie dreht sich um, zieht ihre Jacke aus und deckt hinten das Mädchen zu. Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 14.4.2009, 20:30 str. 119 120 RELA September TIONS ES WÄRE EINFACHER, WENN ALLES STILL STÄNDE Die Richtung der Bewegung und der Entdeckung, des Lesens und Schreibens in VESNA BIGAS Gedichten ist gekennzeichnet durch behutsames Abweichen von der bisherigen (eigenen) Erfahrung des Erforschens der riesigen Ausstrahlung des Wortes. Des Wortes als zentralen Themas, des „Wortes“, dem die Eigenschaft dessen zugeteilt wird, von dem es spricht, des Wortes, das nicht nur Träger der Bedeutung, ein Körper für das Ereignis, sondern Hauptdarsteller geworden ist. Empfindlich, geschmeidig, mehrdeutig, gesprochen und sprechend, ausgesprochen und lebendig, müde und gefährlich. Die dichterische Strategie von Vesna Biga bestätigt ihre doppeldeutige und esoterische Position, die im Sprechen über das Wort und sein Schicksal spricht, indem sie das Thema der doppelten Bedeutung, des Verdeckten und Sichtbaren, des Zeichens und Bezeichneten verflicht. Das Resultat ist: Sicherheit im Werten des dichterischen Universums, das nicht selten allein und, auf eine bestimmte Art, selbstzufrieden bleibt. Sich selbst genug. Der Standpunkt des Anderen, das Suchen des Lesers, in dessen Erfahrung sich erschließt, was der Natur der Dinge nach verschlossen ist, stellt eine verständliche und willkommene Intervention im Text dar, ist einleuchtend. Dem Leben der Worte Bedeutung verleihen, seiner Vergegenständlichung und Subjektivierung – ist ein Schritt hin zum äußeren Raum, zur Welt. Es wird an einem übersichtlicheren Textplan gearbeitet, an einem Gedicht, das zum anderen spricht, das den Leser sucht und sein Beteiligtsein. Die Gedichte Vesna Bigas entwickeln diesen Bund mit der Welt, eine Vereinbarung darüber, was uns umgibt, was Thema ist – was der Dichtung Vesna Bigas zugleich mehr Luft, mehr Raum gibt... Paradoxerweise hat sich die dichterische Stimme durch das Zurückweichen vom eigenen Schwerpunkt leichter mit dem unmittelbar Umgebenden verbündet, was wahrnehmbar ist, was in seiner Fülle Signale und Licht aussendet. Die Position des Dichters als Hörenden und Sehenden des Abseitigen bedeutet, das Wort sich selbst zu überlassen und dem, was von selbst geschieht, der Ereignishaftigkeit, die expressiv und dehnbar genug ist, fragmentarisch und rhythmisch. Der Raum schreibt mit seinen Figuren sich selbst aus, füllt und leert sich mit eigenen Zeichen: „ Mädchen zünden erste Morgenzigaretten an/ kaum haben sie den Gehsteig betreten,/ Jungen schnüren ihre Schuhe,/ und spielen mit dem Rauch zwischen den Zähnen./ Mutig marschieren diese Mädchen-Jungen.“ Aber in der Dichtung von Vesna Biga können wir nicht einfach diese Richtung gehen, denn die Rolle dessen/derer, der/die dem Leser das Erlebnis beschafft, der/die es konstruiert und kommentiert, bleibt bestehen, von ihr lebt ihre einzigartige dichterische Stimme. Sie (die Stimme) lebt vom Dazwischen, sie schmuggelt den eigenen Zustand, ihr ist am expliziten Ausdruck von Empfindsamkeit und Empfindlichkeit gelegen. Der Leser gelangt schnell in die metonymische Beziehung von Dichter und Ding, Zeit und Raum, die trotz allem unabdingbar sind, um festzustellen oder zu diagnostizieren: Was ist mit mir, wo bin ich? Es stimmt, eine gewisse Bescheidenheit, ein verdeckter Ehrgeiz gegenüber der bestehenden Ordnung schützt diese Dichtung davor, auch in unserem Namen zu sprechen. Sie beugt sich dem Diminutiv gegenüber der Größe des Unbekannten, sie will im Uranfang auch den eigenen Anfang sehen. Der Dichter ist das, was für die uns umgebenden dinge andere sind – Urmeister des eigenen Textes. Eines Textes, der die Erfahrung mit Texten in solche teilt, die ihn umgeben und die es vor ihm gab. Es ist nicht immer klar, ob es sich um einen Monolog oder Dialog handelt! Der Prozess der Stimmenangleichung oder die Bemühung, zu meiden, was uns in seiner Unerwartetheit entmutigt, ist vielseitig und aufregend, es geht hier um Texte, die von der Fülle und Länge der Verse leben, mit Fragen, Antworten, Zweifeln, Erinnerungen... Die Kindheit und das Vergessen (wie ein Bild konstruiert wird und wie die Erinnerung einen neuen Text formt) sind für sie immer ein willkommener Ort für das Sprechen davon, was jetzt ist. Auf dieses Jetzt hat sich kaum Staub gelegt, er gelangt auch nicht so schnell in die polierte und klare Welt. Eine Welt, die sich schnell füllt und leert: „Fort, bloß fort von den Sachen, die ich nicht gesehen habe, denen ich blind entkommen konnte, doch noch immer wollen sie mich fassen, die Stadt bleibt hinter mir zurück und wird immer kleiner, und noch immer wollen sie mich aufhalten.“ Vielleicht werden wir denken, dass jemand eine klarere Richtung gesucht hat, eine Sicherheit für die eigene Stimme? Vielleicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Abschiedsworte werden ausgesprochen, Worte, die sich in uns bohren in ihrer Schlichtheit und Gewöhnlichkeit. Doch auch jene, die wie ein fernes exotisches Land klingen, wie ihr Rhythmus, wie ihr Firmament, wie ein Gruß an einem gewöhnlichen Tag. Die Dichtung Vesna Bigas ruft ihren Leser unabsichtlich dazu auf, zu seinem Körper mit ähnlichen Worten oder wenigstens mit dem Wörterbuch der eigenen Kindheit und Erinnerung zu sprechen. Wer liest, wird das Rätsel vielleicht lösen, wird sprechen lernen. Miroslav Mi}anovi} relations 2009.pmd 120 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Vesna Biga Poesie Vesna Biga Morgenkinder Mädchen zünden ihre ersten Morgenzigaretten an kaum haben sie den Gehsteig betreten, Jungen schnüren ihre Schuhe, und spielen mit dem Rauch zwischen ihren Zähnen. Mutig marschieren diese Mädchen-Jungen, Schönheit liegt vor und hinter ihnen, und Schönheit ist in ihnen, so viel Kichern, doch ich werde kein Wort aussprechen, ich werde alles von außen hören und sehen. Kraftvoll sollen die kleinen Frauen heraustreten, sie sollen kichern so viel sie wollen, die Jungen sollen die Wolke steinigen und die Hundeschnauze, wohin starren bloß die Pupillen von Straßenkötern, nie ist etwas in ihnen, jemand soll mir sagen was hat das Hundeauge, das Vogelauge bisher ausgesonnen? Einem Taubenschwarm grinst der menschenähnliche Hunger entgegen, streckt scheu die Hand entgegen, pickt sanft die Brotkrumen auf. Zu klein ist der tägliche Hass, eine wahre Frühgeburt, nie wird er erwachsen, die Freude aber ist ein nachlässiger und zu schneller Kuss. Unter der Glasdecke harren die Rosen umsonst jemandes, der kniet, der wenigstens ein Teilchen Duft abwartet, aber nein, niemand! Jeder hütet die Minute, achtet auf Ellbogen und Knie, kauft Blumen von hoch oben, als gäbe es sie immer, in dieser Stadt der Hunde und Tauben, in der die Morgenkinder stürmen. Fachmännisch werfen sie die Lippen auf und lassen überschwänglich Rauchringe die Straße hinabrollen. Wohin eilen diese Mädchen-Jungen, warum sind ihre Köpfe nicht schon in den Wolken? relations 2009.pmd 121 14.4.2009, 20:30 121 122 RELA September Dort, wo die himmlischen Geister fliegen, bietet das Schaufenster am meisten, doch niemand reicht an ihn heran, so ein großer Raum und gehasst von unten! Gott, einmal muss man sich aufschwingen und sich zeitig verwenden, doch niemand steht bereit für diese Heldentat sondern wieder nur Engel, wer, wenn nicht sie, vielleicht die Straßenköter und Tauben? Und wer sagt, dass gerecht geteilt werden muss, dem Bettler etwas Zorn, der Rose eine Minute, jedem Mädchen-Jungen ein Flügel, ein Rauchkränzchen, soll es doch das Nadelöhr erreichen, wer Glück hat, bevor er zu kichern beginnt, fädelt einen Stein zwischen die Wolken. In einem Zug Genau um acht Uhr und zwei Minuten, von all der Zeit davor und danach, wurde mir, durchs Fenster, ein Wolkenzipfel zuteil, von den Wäldern, Urwäldern, dem Sand und der See ganz zu schweigen, all dies will mich nur mit halbem Herzen haben ein Schritt hin und einer zurück, auf die Maße einer Spaßschachtel geeicht im Zimmer ein Spielzeugbett, und das Schlüsselloch ein Nadelöhr, einen Fingerhut Lächeln darf ich einfädeln, einen Augenblick Morgen verschlucken mit dem, was in den Schluck eines Glases und mein geeichtes Auge passt, darf ich nach Maß des Mützchens auf dem Kopf in einem Zug loskichern! Zehn verrostete Nägelchen Mein Blick fiel auf zehn verrostete Nägelchen, ich zählte sie zweimal, ja, es waren zehn Nägelchen, sagte ich zu mir, auch sie müssen hier und da mal angeschaut werden, wie jedes andere Ding, das kann man ohnehin nicht vermeiden, wenn sie schon da sind, wer weiß schon, wann sie das letzte Mal angeschaut wurden, ich weiß nur, dass es jemand getan haben muss, aber kein anderer Experte oder jemand, der nur hier vorbeigegangen ist, hat die Nägelchen gesichtet und diesen Blick irgendwohin verlegt, so wie man eben an einer Stuhllehne vorbeigeht, relations 2009.pmd 122 14.4.2009, 20:30 TIONS RELA TIONS Vesna Biga man sieht sie beiläufig an, gerade so um sie nicht zu streifen, so schreitest du auch vor der Bank im Park, der ein Brett fehlt, auch hier nützt es nicht die Augen zu verschließen, sie für eine andere große Sache aufzuheben, ein kräftiges Tier, einer unbezwingbaren Welle gleich oder einem ähnlichen Ungetüm, das du kaum erfassen kannst mit deinem winzigen Auge, das Widerspenstige dieser Kraft kümmert sich nicht um Nägelchen, Stuhllehnen und Bänke, denen ein Brett fehlt, sie hat die Macht, gegen die du nicht ankommst, die nichts um sich herum sieht, doch dafür wird sie von allen gesehen und gefürchtet, oder vielleicht, die Macht, die selbst unsichtbar ist, doch alles um sich herum sieht, sogar die Nägelchen, die Stuhllehne und die Bank, deren Brett fehlt, und darüber hinaus ist mein besorgter Blick auf all das gerichtet! Mein erster Satan Wie fertig werden mit diesem ersten Satan, er kam voller Staub aus einer Schachtel in einer Kindernacht, und wohin mit dem Zug, er war jeden Tag vom Balkon zu sehen, es war ein großes Spielzeug, doch wie jetzt die Wagons auseinander nehmen, wie sie in die Schublade stecken für später, und was mit den Fähnchen, den Gesichtern der Eisenbahner und so vielen Gleisen, die zum Vorschein kommen, ganz zu schweigen von dem Landstreicher, den man endlich von sich weisen müsste, er liegt immer noch im Stadtpark, in eine rosa Decke gewickelt, mit dem Kopf auf einem Stein im kalten Gras, als wären draußen plus 18, in diesem Fall helfen kein kleines und großes Spielzeug, Schubladen und Eisenbahner, auch all die Fähnchen helfen nicht, wie weiter, wenn sogar die Leere der kleinen Schachtel sich weigert, auch sie lässt sich nicht beruhigen, sie will nicht in eigene Splitter zerfallen, als wollte sie alles für immer und doch nicht, und als wollte nichts zu Staub, und wollte und will, nur abwarten muss man, noch immer hält sich der Kastanienkuchen gut, er ist klebrig wie in der Kindheit, und auch die Farbe des Himbeersaftes, auch sie kann man wieder erkennen, wie die Frucht selbst, sie ist noch immer weich und sucht eine sanfte Hand, vorsichtige Verpackung, Sauberkeit, das allerdings weniger als früher, früher fiel der Staub gern auf alles, und jetzt gibt es immer weniger davon, wird es ihn auch dann geben, wenn der Stein endlich zur Ruhe kommt und bis zum letzten aufgeschrieben wird und das Gras, vom Gebrauch schon verschlissen, in neuem Glanz scheint, grüner und fester von jedem Schritt, wohin dann so staubig, mein erster und jeder andere Satan? relations 2009.pmd 123 14.4.2009, 20:30 123 124 RELA September TIONS Engel der Schnelle Fort, bloß fort von den Sachen, die ich nicht gesehen habe, denen ich blind entkommen konnte, doch noch immer wollen sie mich fassen, die Stadt bleibt hinter mir zurück und wird immer kleiner, und noch immer wollen sie mich aufhalten, in meiner Erinnerung sehend werden, entrada, salida, ungesehene Sachen werfe ich in die Furchen der Autobahn, ich verlasse mich auf dich, Engel der Schnelle, dass du Balsam sein wirst, du bist der, der die Augen tröstet, neue Angebote unterbreitet, und ich erkläre mich bereit zu sehen, warum nicht sehen, zwischen roten Hügeln, großzügiger Engel, schüttelt ein Mann die Äste eines Baumes, die Fischer Oliven im Netz, uralt das Bild, zu schnell der Weg, zu viele Oliven, wir aßen sie im Gasthaus Vera Cruz und sahen die Stierkämpfer an der Wand des Wohnzimmers, sie schienen Flamenco tanzen zu wollen und nicht zustoßen!, entrada, salida, mächtiger Engel, kehre heute in Granada ein, vor der Kirche ist das Fest Ofrenda floral, während Plaza de Los Campos in derselben Stadt seine Nacht lebt, verzeih mir, Engel, dort ist Blechmusik, ein rein mediterranes Angebot, eine Gruppe Soldaten spielt für fünf nächtliche Spaziergänger und ein paar Touristen. Warum erinnere ich mich gerade hier daran, wie mir einmal ein Junge, ein Zigeuner, weissagte? Du weißt nicht, wie sehr du geliebt wirst, sagte er. Ich weiß es nicht, ich rede zu viel mit Menschen, die es um mich nicht gibt, das ist ein Fehler auf dem Weg, Ohnmacht im Raum. Ich sah einen Menschen, der den Mond nicht sah Ich verbrachte eine schlaflose Nacht in einem Höllenhaus, mit einem Netz umgürtet. Es gehörte dem Dämon des Lärms, der sich mit allerlei Kunstfertigkeit Gehör verschaffte, fortwährend angelte er Dutzende leere Flaschen, knisternde Tüten, Coladosen und spielte mit einem abgetrennten Wecker, mit dem Kichern von Mädchen hinter der dünnen Wand und dem wütenden Donnern im Morgengrauen, der die Wolken durchbrach und den Mond mitten in den Himmel pflanzte. relations 2009.pmd 124 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Vesna Biga 125 Ich stand auf einem Balkon aus geschmiedetem Eisen, aus was auch sonst, in dieser Stadt, als der Mann kam, der diesen Mond nicht bemerkte. Er schritt lautlos auf der Straße, als hätte ihn das Laster der Stille ergriffen und jetzt will er unsichtbar zwischen den Dingen hindurchschleichen. Man konnte das an der Art bemerken, auf die er einen gesenkten Kopf hatte, nur dem eigenen Schritt gewidmet, als lohne es sich nicht, den Kopf zu heben, nicht einmal wie viel man zu einem Balkon brauchte, auf dem eine Seherin steht und den Augen Luna gönnt, oder wenigstens bis zum Netz in dem der klangvolle nächtliche Fang schaukelt. Es gab keine Fänge im Himmel, auch keinen Fang im Netz für diesen Menschen. So ging er die Straße entlang, als ob es dort oben nichts gäbe, was es wert war, angeschaut zu werden, auch ich spürte Angst in dieser Nacht, dass ich mich versündigen würde, wenn ich seinen Schritt verhexte, es fiel mir nicht leicht, einen solchen Menschen zu durchdringen, mir, die regelmäßig den Kopf hebt und den Mond bekennt, mir, die der himmlische Wegbegleiter so oft verführte, so oft als Frau hatte, dieser selbe Mond, den dieser Mensch nie am Himmel bemerkte. Bonsai ZOO In ein Schneckenhaus presst sich zwischen die Ohren das Wiehern eines Flusspferdes, auf einem vorgeschriebenen Punkt zwischen den Augen schreibt sich ein Nashorn ein, ein Wildschwein springt in einer Sekunde wütend auf, versteinert dann im Vergessen und starrt in die vergitterte Sonne, oder in Äste eines Baumes, geschmückt mit Farben tropischer Vögel, die Augen dieser Vögel malen mit unbegreiflicher Geschwindigkeit im Puppenhaus, und so scheint es, dass sie eigentlich unbeweglich sind, für immer jung und alt, während sie ihre zugeteilte Rolle beschreiben, doch wissen sie, dass ihr Blick nicht die Beharrlichkeit des menschlichen Gesichts abbrennen kann, das kindlich ist, zurückweicht, wenn der Phosphor im Auge des Wolfes blitzt, oder vor dem Aufblitzen eines Schlangenzahns außer sich gerät, es sieht lieber zu, wie der Waschbär ein Ei unter dem Strauch vergräbt, für später, und kümmert sich nicht um die Faunenfeder im Gras, einst schmückte es sich gern mit dieser Feder, und jetzt konnte man auf der verrußten Bühne dieses Bonsai-Waldes nicht so leicht einen Liebesruf abnötigen, hier wütet kein echter Tod mehr, noch ertönt ein kräftiger Schrei, hier wird erst der verschollene Text des Tages auswendig gelernt. relations 2009.pmd 125 14.4.2009, 20:30 126 RELA September TIONS Neujahrsbaum in der Pension Dr. Gaber Jedes Mal, wenn ich die Asche abschüttle, weiß ich wo ich bin, Wien, Pension Dr. Gaber. Breitenfelder Gasse 2. So steht es auf dem Aschenbecher und auf dem Prospekt daneben – Top-Qualität zum Discount-Preis. Ich bin in einem kleinen Zimmer, das man mit einem Sprung abmessen kann, doch nicht mit einem Blick. Wenn ich meinen Kopf langsam drehe, nehme ich so viele Buchstaben auf, als wäre ich in einem großen Zimmer. Ich kann sie flüstern, wenn ich Lust habe, oder ich kann sie laut buchstabieren Dress Star, Max Dry Steam, Philips, Saba und Krupps. All das kann ich in diesem Zimmer, wobei ich schon heute früh bemerkt habe, dass in meinem Hals eine Brennnessel sprießt vom erstickten Flüstern, und dass auf meiner Zunge finsteres Gras wächst. Ich habe einige Halme und raue Blätter in den Ausguss gespuckt, auf dem Vitruvit steht, und ich habe im Spiegel Marke Palladio, gesehen, wie mich Dr. Gaber aus meinen Augen ansieht und in der Iris keimen zwei Samen der Angst um diejenigen, die jetzt nicht hier, die weit weg sind, doch ihr Körper fädelt sich mit Leichtigkeit und ohne einen einzigen Buchstaben in meine Augen ein, er sehnt Berührung herbei, dieser Körper in der Ferne, der pausenlos das Ein und Ausatmen erledigt, er lässt Nägel und Haare wachsen und die Poren langsam tauen, als sei es neben mir! Es wäre einfacher, wenn alles still stände, und wenn wenigstens für einen Augenblick nirgendwo etwas geschähe, und was ich im Spiegel sehe, sich in einen unbekannten Blick verwandelte, der nebenbei und dreist nach allem auf einmal hungert! Solchen Augen, ich will es nicht beschwören, durfte ich nicht in den eigenen Bauchnabel sehen! Dann soll mir wenigstens aus dem Bauchnabel auch dieses Neujahr ein zahmes Bäumchen wachsen. relations 2009.pmd 126 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Vesna Biga Kindheitsübung Mutter Brennnessel, Vater Zauberpilz, drum herum erzwungenes Kraut, man merkt es an winzigen Zeichen, die Duft verbreiten und im Teller schwimmen, sie riechen nach Wald, in dem jemandes unerzählte Kindheit lauert, als ob es eine erzählte Kindheit gäbe, oder eine andere, in dem Vater, Mutter und Pan gemeinsam flüsterten, genau so erfährst du, dass du geschickt pfeifen musst, sehr geschickt, so wie es diejenigen tun, die geübt haben, dass der uralte Geist gerufen wird, der Zwerg herausspringt, der Narr loskichert, die Waldkönigin erglänzt, man kann nicht so einfach Kind sein, sobald du geboren wirst, braucht es dazu Zeit und es braucht ein Stückchen Brot zur Hand, damit die Ameise stehen bleibt, es braucht einen Würfel Zucker, damit man das wütende Surren aufhält, man muss haben und wissen ob du all das in diesem Wald erzählt hast oder nicht, ob du deiner Kindheit gewachsen bist oder es nie sein wirst. Umfassend Ich stehe auf und werfe mich mit leichter Gymnastik in den Panzer eines durchtrainierten Körpers, wie ein Ritter, ein tüchtiger Yuppie, mit vorschriftsmäßigem Aufstehen beschäftigt, der Gott weiß was geträumt haben will, Gott weiß was schon gearbeitet haben will, während er das erste Wässerchen gluckert im Spiegel und dann kraftvoll in das Treffen springt mit dem Begleiter, demjenigen, der schon am Tisch wartet in der Küche, auf die Losung, oder der sie selbst sagt, manchmal sagen wir sie auch gleichzeitig, verwundert, obwohl wir nicht eins sind, aber ganz gleich, man weiß, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit ist, und man weiß, dass es sich hier um zwei eigene Körper handelt, beide können wir auch diesen Morgen bestätigen dass jenes andere Gesicht am Tisch gegenüber sitzt, und all dies geschieht im Grunde blitzartig, in geweiteten Pupillen, da hinein passt bequem ein Stück Zeitung, die unter dem Tisch hervor blitzt, und Teile von Schlagzeilen anbietet – Umfassend... Mit Pflanzen gegen... Maßband in die Hand... relations 2009.pmd 127 14.4.2009, 20:30 127 128 RELA September TIONS Dinge in Palermo Jedes Ding ist gleichzeitig ein Sklave der Dinge, das sehe ich im Vorübergehen, das erste Ding dient dem zweiten, das zweite dem dritten, wie ein aufgehängter Stuhl, der an einem Ast aufgehängt ist, für manch einen sind diese Stühle wertvoll, wenn sie schon unter Verschluss sind und an den Baum gebunden, er bewacht sie mit Ketten und Draht, damit sie kein Dieb stiehlt, so leisten die Dinge Sklavendienste und eins dient dem anderen, so sehe ich das, die Kette hat sich in den Ästen selbst gefunden, die Stühle sind ihm untertan, die Stühle aber bedienten sich der Kette, dass sie sie nachts bewache, so hat jedes Ding seinen Diener, und am Morgen wird der Besitzer all das aufbinden, er wird am besten wissen, wozu der Baum, wozu die Kette, und wozu die Stühle, er wird auch wissen, wozu der Draht, in dieser Stadt weiß man das, mit solchen Drähten sind auch die Skelette der Vornehmen in den Kellern des Kapuzinerklosters gebunden, das ist alles ein und dieselbe Stadt, dieselben Drähte, hier Stühle, dort Skelette, Schädel und Gebisse, das und das andere hängt so wie Puppen hängen, festgebunden um nicht zu fallen, dass sie beim Fallen nicht auseinander fallen oder dass jemand sie stiehlt der sich mit Kreide verkauft, so wie ich mich, im Vorübergehen dem Wunsch hingebe, zu sehen, wer diese Stühle stiehlt, wer so viele Leichen losbindet und sie eines Morgens von der Kette lässt? Er, ich Der Tag ist verregnet und das Geschäft riecht nach versalzenem Wind. Hier ist Ende der Saison und das Gesicht des Verkäufers ist schon zur See gerichtet, doch er spielt seine Rolle weiter, hält an ihr fest, obwohl sein Blick abweisend ist und die Bewegungen schlaftrunken, das sieht man, man kann es in der Luft riechen. Und man sieht, dass er mir verzeihen wird, dass ich nicht kaufen werde, und lange wende ich die Bademützen und Strohhüte hin und her, befingere die Ware und spiele den Käufer, während er von der Seite herüber schielt und leise den Preis murmelt. Ja, er bietet feil und ich glotze in das Angebotene und nicke, verlange von ihm sogar, den Preis zu wiederholen! Warum tu ich das? Warum tu ich so, als kaufte ich und und warum tut er so, als überblicke er alles und warte meine Wahl ab, wenn wir uns stattdessen einfach gegenüber stehen können, in der Stille, und uns in die Augen sehen? relations 2009.pmd 128 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Vesna Biga 129 Waldmensch Im Traum, den ich ein einziges Mal träumte, war dieser Mann, roher, als es Menschen normalerweise sind und streckte mir nicht die Hand entgegen, als ich ihn darum bat, dabei hätte das jeder getan, wenn er nicht gerade hier gewesen wäre, in meinem Traum, oder wenn wir uns beide in einem dritten, fremden Traum vorgefunden hätten, so, dieser Mann murmelte nur ich werde mich sterben und verlor sich dann zwischen den Bäumen, und ich stand da und sah ihm nach, im ersten Moment an einen Witz glaubend, eine Art plötzliches Verlassen, das beim ersten Treffen passiert und das schnell vorbeigeht, wie wenn sich ein Erwachsener hinter einem Baum versteckt vor einem Kind und plötzlich vorspringt und einen Schrei von sich gibt, bloß dass es diesen Mann nicht gab und ich stand umsonst auf der Stelle und betete zu meinem Traum, ihn mir zurückzubringen, ich wartete bis zum letzten Moment, dem vor dem Erwachen, dass er vor mir aufspringt und mich mit sich nimmt, doch dieser Fremde zeigte sich nicht mehr, von sich aus, mit der Laune eines Waldmenschen vertrieb er uns beide aus meinem Traum, trennte uns für immer. Den Punkt schlagen Gehe ich zum Fenster – dann ist unten Vollmond und seine Vorhöfe. Da flackern seidene Negative in gespenstischen Kammern von Innenhöfen. Und oben – der Mond, in den die Augen des Mörders glotzen. Der Mond gehört allen, das weiß ich, oben ein Mond, unten so viel Armee. Und der Mond, der Hurensohn, schon dreißig Jahre derselbe Hase, entweder Hase oder das Gesicht eines dummen Dicken, mit den Wangen eines Windgeistes. Aus einer solchen Wange kein Tropfen, nie! Und wer soll ihm dann das Gesicht waschen und den Punkt schlagen, wer, wenn nicht ich? Ich bin diejenige, die dem verhurten Wegbegleiter ein neues Gesicht schreibt! So viel kann ich einem Mond von oben antun. Und einem Mörder, bis er nicht weiß und nicht sieht, dass Luna auch dieses andere Gesicht anbietet. relations 2009.pmd 129 14.4.2009, 20:30 130 RELA September TIONS Aber er weiß und sieht nicht. So isoliert und einsam sieht er immer dasselbe. Er sieht mit denselben Augen, während sie, ein alter Stamm, von gleichem Blut, vieläugig sind. Sie sehen und wissen, wohin das alles geht. Sie können die Augen eines jeden Mörders von der Oberfläche des Mondes entfernen. Sie machen Feuer, sprechen einen Fluch aus, ködern ihn mit Hasengesang, Rasierklingen-Hochzeit. Sie fangen ihn im scharfen Röcheln. Sie freuen sich gleichmütig. Verabschieden ihn mit Applaus. So kannte ein Mörder niemanden. Die Karte Kalabriens Der Wolkenhaufen im Rückspiegel ähnelt einem grauen verworrenen Tauwerk, oder einem Lakenzopf, der in vier Händen ausgewrungen wird, bestreut mit azurfarbenen Körnchen des künftigen Bleichmittels, dieser Haufen verwirrt und entwirrt sich unter dem himmlischen Röntgen, er ist dort und hier, doch ich will nicht teilen, was dem Blick geboten wird in das, was ich durchs vordere Fenster sehe und durchs Fenster seitlich in das, was ich im Rückspiegel verfolge und in das, was im Spiegel über den Sitzen erscheint, ich will es nicht zerteilen in Himmelsscherben und in Zypressen auf Hängen und danach Stückchen einsammeln, dort oben schneidende Scherben des Lichts zählen, oder Bäume zählen, die vor mir wachsen und dann hinter mir tauen, der Himmel ist groß, das Auge klein, mal ist es im Spiegel, mal ist es hier, über der Karte Kalabriens, die auf meinen Knien zittert, selbst in Unleserliches zerbröselt, grüne und gelbe Brocken sind auf Ameisenstraßen gestreut, diese Karte müsste man zu einem Knoten binden, sie gut zwischen zwei Bergen festziehen, damit sie nicht auseinander fällt, müsste man sie mit der Erde verknüpfen, mit dem Himmel und den Bäumen und sie dann fest an die Landschaft kleben, damit das, was eingezeichnet ist, nicht davonläuft und damit draußen wenigstens hier und da ein Berggipfel aufersteht, den sie versprochen hat, oder etwas Fluss-ähnliches, das auf dieser Karte und im Rückspiegel gleichzeitig sein wird, so müsste man mit dieser Karte vorgehen, und nicht dass auf dem Weg so viel verloren geht und dem Blick widerstrebt oder wie die Spiegel zu Hause sich krümmt, so wie sich die Fenster des Reisens im Auge aneinanderreihen und in den Halsadern, während im Ohr das Blechkanisterrauschen mit Benzin rasiert, aber wer weiß, vielleicht wird alles, was ich jetzt sehe, eines Tages nach Zimt duften. Aus dem Kroatischen von Bla`ena Radas relations 2009.pmd 130 14.4.2009, 20:30 str. 131 132 RELA Oktober TIONS ZVONKO TODOROVSKI (geb. 1960 in Prizren, Kosovo) besuchte in Vara`din und Koprivnica die Schule und studierte Philosophie in Zagreb. Seit frühesten Jugendtagen beschäftigt er sich mit dem Zeichnen von Comics und der Anfertigung von Buchillustrationen und Grafiken. Seine Comics erschienen in diversen Tages- und Wochenblättern und waren auf gut einem Dutzend eigenständiger Ausstellungen zu sehen. Von 1991 bis 1997 leitete er die Galerie „Forum mladih“ in Vara`din, die den Werken junger bildender Künstler vorbehalten ist. Seit 1999 lebt Zvonko Todorovski in Zagreb als freiberuflicher Schriftsteller. Außer Jugendromanen schreibt er Drehbücher für Zeichentrickfilme sowie Comics in Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Magda Dul~i}. Einen Teil des Jahres verbringt er regelmäßig in Stari Grad auf der Insel Hvar, wo er sich zu seinen Romanen inspirieren lässt. Des Weiteren verfasst er Hörspiele für Erwachsene und Kinder. 2002 erschien sein erster Jugendroman Das Meereswunder („Mirakul od mora“). Für den 2003 veröffentlichten Roman Das Fenster mit dem grünen Schimmer („Prozor zelenog bljeska“) wurde er mit den Literaturpreisen „Grigor Vitez“ und „Sfera“ für den besten Science-Fiction-Jugendroman ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde das Buch für den internationalen Literaturpreis „Mali princ“ (Tuzla, Bosnien und Herzegowina) nominiert. Sein dritter Roman Der Fleck („Mrlja“) erhielt als bester Jugendroman des Jahres 2004 den Mato-Lovrak-Preis. Im folgenden Jahr wurde der Roman Der kleine Hafen („Mandra~“) veröffentlicht, der dem Leben des kroatischen Renaissancedichters Petar Hektorovi} in Stari Grad auf der Insel Hvar gewidmet ist. Im Jahr 2007 erschienen gleich zwei Romane von Zvonko Todorovi}: Der blaue Bläser („Plavi truba~“) und Die Winde Lampedusas („Vjetrovi Lampeduze“). Letzterer gehört zum Genre der Seeabenteuerromane und erzählt aus der Vergangenheit der Inselstadt Stari Grad, den Tagen der klassischen Segelschifffahrt im Mittelmeerraum und bringt viele anschauliche Details zu Schiffbau, Schiffstypen, Segelrouten, Wetterverhältnissen und dem Leben der Seeleute. Der letzte Roman Zvonko Todorovskis Das Meer des einen Kapitäns („More pravog kapetana“, 2008) erzählt die Liebesgeschichte zweier Menschen im Seniorenheim. relations 2009.pmd 132 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski 133 Die Winde Lampedusas ¹ Abenteuerroman über das Leben der Seefahrerº Zvonko Todorovski Auf der Welt gibt es drei Arten von Menschen: die Lebenden, die Toten und die Seefahrer. Anacharsis, skythischer Weiser, 6. Jh. v.Chr. ¹...º Stari Grad, Montag, den 1.1.2007 Gestern erzählte ich Frano, was ich gerade las und wie das Schiff im Roman hieß. In diesem Augenblick betrat sein Vater das Zimmer, um nach uns zu sehen, und wunderte sich, dass ich von der „Divina Provvidenza“ wusste. Als ich ihm sagte, dass ich aus einem Buch, das ich auf unserem Dachboden gefunden hatte, über sie erfahren hatte, war seine Verwunderung noch größer, denn er hatte geglaubt, dass nur sie ein Exemplar besäßen, und dieses wurde sorgfältig aufbewahrt und niemandem ausgeliehen. Dann erklärte er uns, wer den Roman geschrieben hatte. Geschrieben hatte ihn der Sohn ebenjenes Steuermanns Frano aus dem Roman, und zwar aufgrund seiner Erinnerungen an die Erzählungen des Vaters und unter Verwendung von Schiffszeichnungen, die sein Vater aufbewahrt hatte! Frano wurde so neugierig auf die Geschichte, dass er seinen Vater um das Familienexemplar von „Lampedusa“ bat, um es ebenfalls zu lesen. Ich kann es kaum erwarten, bis er mit relations 2009.pmd 133 den ersten drei Kapiteln durch ist, damit wir darüber reden können. Muttis Kuchen waren übrigens Klasse, und im Großen und Ganzen hatte ich eine schöne Zeit bei den Maroevi}s, obwohl ich um eins ins Bett musste. Opa Marin und Vater Marin beschlossen gestern, sich wieder zu versöhnen, und versprachen, nicht mehr wegen meiner Schule zu zanken. Das war, wie wenn Mutti jedesmal an Silvester beschloss, das Rauchen aufzugeben, und am Dreikönigstag wieder damit anfing. Mit unseren beiden Marins währte es noch weniger. Gestern versöhnten sie sich offiziell, heute haben sie schon wieder gestritten. Während ich das hier schreibe, sitzt der Großvater mit seinen Seefahrerfreunden beim Briscola und redet mit niemand. Absichtlich bleibt er auch weiterhin bis spät in der Taverne, nur um zu zeigen, wie wütend er ist. Vater hat heute den ganzen Tag mit dem Aufräumen des Dachbodens zugebracht, nur um nicht mit Mutti sprechen zu müssen. Er tut so, als ob er etwas arbeitet, obwohl er den Dachfenstergriff bestimmt bis zum Sommer nicht erneuern wird. Dabei ließ es sich ganz gut an. Zunächst informierte mich Großvater nach dem Mittagessen, er könne es einrichten, dass ich im nächsten Sommer meinen Bootsschein mache und so die Erlaubnis zur Führung eines Außenbordmotorboots bekomme. Das war schon immer mein Wunsch, zumal ich jetzt schon ein Boot führen kann. Mit dem Motor kenne ich mich aus, aber ein Bootsschein wäre schon eine feine Sache! Vater unterbrach Großvaters Rede und sagte, das sei ja alles schön und gut, doch die Zukunft liege nicht bei den Ruderbooten, sondern bei den Computern. Ich pflichtete ihm bei und sagte, dass ich einen neuen Computer gebrauchen könnte, denn meiner hat eine geringere Speicherkapazität als sein Handy. Er versprach, mir einen neuen Computer mit Drucker zu kaufen, sobald wir nach Zagreb kämen! Großvater Marin entgegnete, ich könnte im nächsten Sommer doch die Segelschule besuchen, er wolle mir das gerne bezahlen, Motorboote könne man nämlich vergessen, ein richtiger Seebär müsse rudern und segeln können. Ohne das könne man das Meer nicht wirklich erleben. So sprach also der Großvater. Da verlor Vater die Nerven und sagte, Großvater würde mich ins falsche Lager ziehen. Segeln und Rudern seien Sportarten – Vater Marin betonte „Sch-portarten“ – gegen die nichts einzuwenden sei, aber das sei kein Beruf für mich, denn das sei tiefstes Mittelalter! Auf Vaters „Sch-portarten“ gab Großvater ungehalten zurück, dass jemand, der als „stellvertretender Assistent des Obersekretärs des Leiters des Büros für Öffentlichkeitsarbeit im Ministerium für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft“ 14.4.2009, 20:30 134 RELA Oktober angestellt sei, sich nicht anmaßen könne, über das Meer zu sprechen. Er fügte hinzu, dass die Fahrt mit der Fähre nach Hvar auf der anderen Seite der Insel ohnehin wohl die längste Seereise sei, die er je in seinem Leben unternommen habe. Mich erstaunte, dass Großvater Marin imstande war, Vaters lange Dienstrangbezeichnung fehlerfrei wiederzugeben. Daher bat ich Mutti am Nachmittag, sie noch einmal für mich auszusprechen, was sie gerne tat und mir Vaters Visitenkärtchen zusteckte, auf der dieser unglaubliche Titel geschrieben stand. Sie fügte hinzu, ich könne sie ja in mein Tagebuch einkleben! Mir stockte der Atem... Als ich sie aber so kaltblütig wie möglich fragte, wie sie nur auf den albernen Gedanken kommen konnte, ich würde Tagebuch schreiben, lachte sie nur und sagte, dass sie in meinem Alter auch Tagebuch geführt habe und dass das völlig normal sei. Es gehöre zur Entwicklung des Menschen, darüber nachzudenken, was einem im Kopf herumgehe und wie man sich verhalte! Ich atmete auf, denn ich begriff, dass Mutti trotz allem nicht sicher sein konnte, ob ich denn nun Tagebuch führe oder nicht. Sie hat also bloß Vermutungen, doch ich werde es ab jetzt verstecken. Zum Glück gibt es in Großvaters Haus so viele Verstecke, dass es leicht passieren könnte, dass selbst ich mein Tagebuch letztlich nicht mehr finden kann! Ich habe nicht geahnt, dass Tagebuchführen mit so vielen Gefahren verbunden ist! Heute ist der Neujahrstag des Jahres 2007. Alles, was ich vorher mit „ach, im nächsten Jahr“ abzutun pflegte, werde ich nun mit „oh, dieses Jahr“ abtun, und darin liegt der ganze Unterschied. Das macht mir alles ein bisschen Angst, obwohl ich glaube, dass mir für die Schule noch genügend Zeit bleibt. Letztlich liegt die Entscheidung doch bei mir. Aber genau das macht mir ja auch am meisten Angst... Das Beste wird also sein, ich lese noch ein paar relations 2009.pmd 134 Kapitel des Romans. Mich interessiert, wie der kleine Marin den Befehl des Kapitäns ausführte und das Schiff rettete. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit zwölf Jahren all das ausgehalten hätte, was der kleine Marin durchmachen musste. Vielleicht hätte ich es aber doch gekonnt, wenn ich ein Waisenkind wäre wie er? Ich weiß es nicht. ¹...º Stari Grad, Donnerstag, den 4.1.2007 Gestern ist mir wieder etwas Merkwürdiges passiert. Zuerst wachte ich auf mit dem Gefühl, dass da jemand war, der mir etwas sagen wollte. Das war bescheuert, denn im Zimmer war niemand. Ich kann nicht erklären, woher mir solche Gedanken kommen, aber dazu dienen ja meine abendlichen Tagebucheinträge – um sie festzuhalten. Wenn ich mir aber doch zu viele Gedanken mache? Wer weiß, wie lange ich so herumgerätselt hätte, wäre Frano nicht erschienen. Er ist mein bester Freund in Stari Grad. Wir sind sogar im selben Jahr geboren, am selben Tag, dem 23. Mai! Er ist gekommen, um mir seine neue Militärjacke und die dazu passende Hose zu zeigen, die ihm seine Tante geschickt hat. Diese Tante, die er da in Split hat, ist echt cool. Er möchte auf die Hotelfachschule in Jelsa gehen, weil er eines Tages sein eigenes Restaurant betreiben will. Wenn ich doch auch so leicht eine Entscheidung treffen könnte! Wenn ich nach Bakar gehe, wie werde ich dort mit meiner Großmutter und meiner Tante auskommen? Wenn ich in Zagreb bleibe und dort aufs Gymnasium gehe, werde ich wenigstens Mädchen in der Klasse haben, auch Frano hat das als wichtige Sache bei der Wahl einer Schule hervorgehoben. Wir gingen hinaus. Das Wetter war sonnig und ungewöhnlich ruhig, ohne einen Windhauch. Wir gingen den Uferkai entlang, und Frano erzählte pau- TIONS senlos von Jelsa und wie toll doch die Hotelfachschule sei. Es sei hervorragend, sich dort einzuschreiben, auch deshalb, weil er nie gehört habe, dass dort je jemand sitzen geblieben wäre. Bist du in dieser Schule erst einmal aufgenommen worden, hast du sie auch schon abgeschlossen! Da kam auf einmal Wind auf, und ich konnte Frano nicht mehr hören! Es war, als ob ich plötzlich taub geworden wäre, sodass ich einen Riesenschreck bekam. Doch bald fühlte ich Erleichterung, denn mir schien, ich konnte das Wispern des Windes an meinem Ohr vernehmen. Es war so merkwürdig – Frano öffnete und schloss seinen Mund unaufhörlich, wie wenn man den Fernseher ganz leise gedreht hat, und ich versuchte zu verstehen, was mir der Wind da zuflüsterte... Das Ganze dauerte kaum mehr als zwanzig Sekunden, dann konnte ich Franos Stimme wieder vernehmen. Er dachte, mir sei schlecht geworden, und ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte... Wirklich merkwürdig, doch das erinnerte mich an das Auftreten der Wasserhose im Roman, jedesmal wenn jemand den kleinen Marin hauen will. Doch obwohl Großvater behauptet, dass alles im Roman wahr sei, so kann es doch nicht stimmen. Diese Geschichte entspringt der Fantasie des Schriftstellers. Der Piratenangriff allerdings und wie sie in die Flucht geschlagen wurden, das hätte wirklich so passieren können, und es ist auch super beschrieben. Wer weiß, ob es auf den Meeren heute noch Piraten gibt? Wahrscheinlich nicht mehr, denn die heutigen Schiffe sind schneller und haben außerdem Funkverbindung. Und zum Schluss eine gute Nachricht, liebes Tagebuch – ich glaube, ich habe endlich beschlossen, auf welche Schule ich künftig gehen werde! Aber ich möchte bis morgen warten, dann werde ich Marin Eins und Marin Zwei meinen Entschluss bekannt geben, und dann Sehen wir weiter. 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski ¹...º 6. DER ORKAN In Marathonisi blieben sie zwei langweilige Tage, die so feucht und warm waren, als würde die Luft von Schweiß triefen statt von Wasser. Das Wetter wurde am dritten Tag durch einen gemäßigten Levante1 aufgebessert, mit dem sie im Morgengrauen des 30. Juni 1865 endlich in See stachen. Zuvor in Marathonisi hatten sie sich die Zeit mit dem Verstärken des Vordersegels verkürzt, indem sie neue Flicken anbrachten, da die alten ausgedünnt waren. Ansonsten liefe man Gefahr, dass beim ersten stärkeren Windstoß das Tuch riss, doch galt es, bis nach Malta durchzuhalten. Der sparsame Alte hatte nämlich beschlossen, erst nach Ankunft in Valletta die alten Segel durch neue zu ersetzen. Auf der Rückreise gelang es ihnen nicht, das unselige Ionische Meer auf demselben Kurs zu befahren, auf dem sie nach Spetses gekommen waren, nämlich längs der Küste des Argolischen Golfes. Die Winde schrieben hier ihre eigenen Regeln. In zehn Tagen umsegelten sie den Peloponnes, indem sie teils gegen den Nordwind kreuzten, teils vor dem Südostwind segelten, der ihnen zupass kam. Doch um sich die volle Kraft des Levante zunutze zu machen, mussten sie direkten Kurs auf Norden nehmen, bis sie das Eiland Stamfani passiert hatten und die grauen Felsmassen des Vrachionas erblickten, den 830 Meter hohen Inselgipfel von Zakynthos oder Zante, wie er von unseren Seefahrern noch im venezianischen Dialekt genannt wurde. Hinter Zante, etwas weiter nördlich liegend, zeichnete sich unheilvoll das vom Wind gepeitschte Korfu ab, an das nach den erfolgreichen Handelsgeschäften in Piräus nie1 relations 2009.pmd mand mehr einen Gedanken verschwendete. Die Divina Provvidenza rollte schwer beladen mit ihrer üblichen Geschwindigkeit von sechs Knoten, während die Mannschaft ihrer gewohnten Arbeit nachging. Einzig der alte Kapitän Maroevi} hob sich vom Gesamtbild ab, auf dem Heck stehend und eine Pfeife rauchend, ganz in Gedanken versunken, als ob auf dem Schiff nichts los wäre. Die Farbe des offenen Meeres zur linken Schiffsseite war in ihrer Eintönigkeit nahezu mit der des Himmels verschmolzen, sodass es Marin vorkam, als hätte sich der umgebende Raum ringsumher zu einem Ganzen geschlossen. Es gab weder Meer noch Himmel mehr, alles war zu einer Sphäre verschmolzen, in der sie sich hin und her schaukelnd fortbewegten. Der Junge liebte solche Momente am meisten. Von irgendwoher kamen ihm da Bilder, die ihm sogar Angst machten, so kühn und ausgefallen waren sie. Es mochte etwa ein warmer Wind aufkommen, und schon flog er davon! Er flog über das Meer dahin, von allem befreit, es gab kein Wecken mehr und kein Waschen, kein trockenes Brot, kein Schlafen im Sitzen. Nichts von alledem gab es mehr, nur noch einen Jungen, der wie eine Möwe durch die Lüfte flog. Da sie tagsüber keine Zeit hatten, pflegten der Alte und Frano vor dem Schlafengehen in der Kabine unter dem Achterdeck die jüngsten Ereignisse zu besprechen. Die beiden Geschichten, die sie beschäftigten, waren gleichermaßen unergründlich und rätselhaft, und trotzdem versuchte Frano eine logische Erklärung zu finden. Allerdings war es schwer, gegen die Skepsis des Kapitäns anzufechten. „Aber wenn ich es dir doch sage!“ wiederholte Frano dem Vater nun schon zum zehnten Mal. „Fabris wollte ihm eins überziehen, und ihm selben Augenblick ließ der Wind das Schiff im Wind schaukeln! Und wenn du die Wahrheit wissen willst, ich glaube nicht, dass es das erste Mal war!“ „Jetzt hör mir mal zu, ich habe dich nicht zur Schule geschickt, um mir von dir Seemannsgarn vorspinnen zu lassen!“ wehrte sich der Alte, obwohl er wusste, dass auf Franos Einschätzung Verlass war. Niemand vermochte, die Eigenheiten des Meeres vollständig zu erklären, und so war auch er wie die meisten Seeleute ein bisschen abergläubisch, auch wenn er das vor den anderen nie und nimmer eingestanden hätte. „Denk, was du willst, aber es ist die Wahrheit“, hielt der junge Steuermann an seiner Behauptung fest. „Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber... Warum kannst du dir nicht vorstellen, dass es noch etwas anderes gibt als das, was wir kennen? Überleg doch mal! Hinterher habe ich mich mit ihm unterhalten und ihn – na, du weißt schon, ganz vorsichtig ausgehorcht. Er hat zugegeben, dass ihm schon bei der ersten Sturmböe Belluomo eins übergezogen hat. Doch bei wem hätte er sich schon beschweren sollen? Wir sind ja schließlich kein Wohltätigkeitsverein!“ „Was glaubst du, ob er wohl weiß, was er da macht?“ fragte ihn der Alte und senkte ganz tief die Stimme. „Vorausgesetzt, es stimmt alles, was du sagst, was sollen wir mit dem Schiffsjungen machen? Unsere Matrosen sind keine schlechten Jungs, aber sie sind nun mal so, wie sie sind, ich kann keine barmherzigen Klosterbrüder aus ihnen machen. Mir ist ihre Grobheit zwar oft sehr zuwider, aber wenn ich mich einmische, wird es für den Schiffsjungen nur noch schlimmer. Kein Matrose verrichtet die Aufgaben eines Schiffsjungen. Das ist nun mal Matrosenbrauch. Bestimmte Dinge im Leben muss man eben durchhalten, und wenn er Levante: Wind aus östlicher Richtung. 135 135 14.4.2009, 20:30 136 RELA Oktober durchhält, wird einmal ein guter Matrose aus ihm werden. Glaubst du, ich wurde als Schiffsjunge etwa nicht geschlagen?“ „Ich glaube, ihm ist noch nicht alles voll bewusst. Aber ich werde ab jetzt ein Auge auf ihn haben, um Schlimmeres zu verhindern“, schlug Frano vor, nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Vater ihm nun endlich Glauben schenkte. „Aber sag mal, was machen wir mit Franetovi}?“ „Wie meinst du das?“ fragte der Vater zurück, obwohl er sehr wohl wusste, was Frano damit meinte. „Du hast ihn gesehen, ich habe ihn gesehen, das heißt: Franetovi} ist kein Geist“, schloss Frano sachlich. „Ich weiß es nicht“, sagte der Alte kleinlaut und zutiefst verwirrt über die Vorfälle. Nur selten bemerkte Frano die Müdigkeit seines alternden Vaters. „Auf Lampedusa dachte ich, es sei mir nur so vorgekommen, deshalb habe ich nichts gesagt. Wir hatten Wichtgeres zu tun...“ „In Ordnung. Aus demselben Grund habe auch ich es dir nicht gleich gesagt, als ich ihn in Piräus gesehen habe... Weißt du, mir macht das sogar noch mehr Sorgen als die Geschichte mit dem Schiffsjungen“, entgegnete Frano. „Es hat immer schon ungewöhnliche Menschen gegeben, die über Fähigkeiten verfügten, die andere nicht hatten. Erinnerst du dich an die [empre{ola, Gott hab’ sie selig? Sie heilte Ljubi}s Sohn, als selbst alle Ärzte Wiens nichts mehr für ihn tun konnten. Dank ihrer Kräuter ist der Mann heute noch wohlauf und munter. Sie verfügte über Heilkräfte und wusste dabei selber nicht, woher sie das hatte. So ist es auch mit dem Schiffsjungen. Er vermag, den Wind herbeizurufen, na und? Wir wissen nicht, wie er das macht, und ich bezweifle, dass er selbst es weiß. Wenn er es aber nun ein paar Mal gemacht hat, dann ist das ein Umstand, mit dem du rechnen musst, so wie du mit der Wir- relations 2009.pmd 136 kung der Meeresströmung rechnest. Aber Franetovi} war krank, und jetzt ist er es offenbar nicht mehr... Das gefällt mir nicht.“ „Ich weiß es nicht“, seufzte der Alte wehmütig. „Ich weiß nur, dass wir nicht noch einmal ein solches Jahr haben werden. So viel Fisch, und wir... Hätte ich doch nur eine große Brigg... ah! Die Sardinen kosten hier nur halb so viel wie in Stari Grad! Wenn das Wetter gut bleibt, können wir es noch zweimal bis nach Lampedusa schaffen, du hast selber gesehen, wie schnell in Piräus alles weggekommen ist! Wir haben gut verdient, und wenn ich die Auslagen abziehe, bleibt uns eine schöne Summe übrig!!“ „Du kannst ruhig sagen, dass ich fantasiere, aber pass mal auf!“ Frano konnte nicht zurückhalten mit dem, was ihm auf der Seele lag. „Seitdem er den Anker gelichtet hat, ist Bui} auf Lampedusa nicht mehr gesichtet worden, dabei ist er ganz bestimmt dorthin aufgebrochen, denn wohin sonst hätte er gehen können? Die Tonino ist verschwunden, und der kranke Franetovi}, der angeblich am Vransko-See ist, tritt mal hier, mal dort in Erscheinung! Sag doch, ist das nicht sonderbar?“ „Beruhige dich, wir werden klüger sein, wenn wir Malta erreichen“, beschwichtigte ihn der Alte, obwohl er selbst beruhigende Worte hätte gebrauchen können. „Wir brauchen neue Segel, diese sind schon ganz abgewetzt.“ Es dauerte noch fünf Tage, bis sie von der Insel Zante aus das Ionische Meer durchquert und Kalabrien erreicht hatten. Als sie Kap Colonna sichteten, drehten sie nach Südwesten und segelten volle zwei Tage bis nach Malta. In diesen Gewässern weht meistens ein Nordostwind, sodass sie zügig vorankamen. Am 17. Juli schließlich, nach siebzehntägiger Reise und von einem leichten Heckwind aus Osten vorangeschoben, lie- TIONS fen sie in Marsamxett Harbour ein, dem äußeren Hafen Vallettas, den man noch Samusat nannte. Während der Seereise ereigneten sich große Veränderungen. Nicht nur, dass dem Schiffsjungen niemand mehr etwas anhaben wollte, vielmehr bemerkte dieser, dass der Steuermann Frano ganz besonders gesprächig wurde. Zwar hatte Frano sich auch vorher mitunter gutwillig der zahlreichen Fragen des Jungen angenommen, aber nie war er so umgänglich gewesen. Für Fabris, den Koch und den Rudergänger Belluomo schien Marin gar nicht mehr zu existieren. Wann immer sie konnten, gingen sie dem Jungen aus dem Weg, was allerdings nicht hieß, dass die ihm zugedachten Schimpfwörter weniger zahlreich geworden wären. Besonders unheimlich waren ihre Flüche, die sie in der Vergangenheit aussprachen, als handelte es sich um jemanden, der nicht mehr an Bord war. Marin bemühte sich daher, so viel und so gut wie möglich zu arbeiten; er steigerte seinen Arbeitseifer, um den Wutausbrüchen der Matrosen, so gut es ging, vorzubeugen. Der Zwölfjährige tat sich schwer, es der gesamten Mannschaft und dem Kapitän recht zu machen. Vor Erschöpfung hielt er sich kaum noch auf den Beinen. Als sie den Hafen von Valletta anliefen, erklomm Marin die Wanten auf der Leeseite, deren abgeschirmte Höhe er stets für eine kleine Verschnaufpause nutzte. Da hörte er Gobo, der zu Tadija sprach: „Auch wenn meine Großmutter Antica immer gesagt hat, dass man Kinder nicht loben soll, so einen wie unseren Schiffsjungen findet man kein zweites Mal! Sobald ich auch nur meine Augen irgendwohin wende, ist er schon zur Stelle!“ „Da hast du allerdings Recht“, sagte Tadija lachend. „Pass also auf, dass du dir die Augen nicht verrenkst!“ Wie immer war das Leben der Seeleute im Hafen in vielerlei Hinsicht 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski anders als auf offener See. Schnell erhielten sie vom Hafenamt Befehl zum Löschen der Ladung, und die ganze Mannschaft wandte sich dieser Aufgabe zu. Die Baumwolle und den Käse luden sie ohne Flaschenzug oder andere Hebevorrichtungen aus, nur mit Hilfe ihrer eigenen Muskelkraft, und so verwunderte es nicht, dass sie nach getaner Arbeit erleichtert aufatmeten. Der Alte war in der Zwischenzeit irgendwo untergetaucht. In dieser Zeit konnte Marin vom Schiff aus Grand Harbour betrachten, den Haupthafen von Valletta, in dem sie nach Löschen der Ladung das Schiff vertäuten. Malta ist nur 47 Seemeilen von Sizilien entfernt und 167 Seemeilen von der Küste Tunesiens, sodass sich dank der besonderen Lage Valletta, der größte Hafel der Insel, zu einem wichtigen Warenumschlagplatz und die Malteser zu trefflichen Kaufleuten entwickelt haben. Auf Malta gibt es weder Flüsse noch Bäche, und die Insel ist wegen ihrer Trockenheit und der wenigen bewirtschafteten Gärten größtenteils unbesiedelt und hierin Lampedusa sehr ähnlich. Doch wenn es keine Süßwasserquellen gäbe, würden die Malteser das vom winterlichen Südostwind herangetriebene Regenwasser trinken wie die Bewohner Lampedusas. Daher sind die Menschen hier seit jeher mit Handel als dem einzigen Broterwerb beschäftigt. Valletta ist eine große Hafenstadt mit Hafenanlagen auf beiden Seiten der Landzunge, auf der es entstanden ist. Es verdankt seinen Namen Jean Parisot de la Vallette, der 1565 die Insel vor den Osmanen verteidigte, und liegt im unteren Teil der Nordostküste, auf der lang gezogenen, schmalen Halbinsel Monte Sciberras. An ihrer Spitze thront das majestätische St.Elms-Fort aus dem 16. Jahrhundert, das von den Rittern des berühmten Johanniterordens errichtet wurde. Neben dem Englischen als Amtssprache waren hier stets Sprachen aus dem gesamten Mittelmeerraum zu hören, von denen jeder Malteser ein paar Worte beherrschte, so dass es keinerlei Verständigungsprobleme gab! Bezaubert von der eigentümlichen Musik, die ihm das vielfältige Gemisch ihm meist unbekannter Sprachen zutrug, versuchte Marin, die Klänge des Maltesischen herauszuhören. Bestehend aus arabischem und romanischem Sprachgut, reflektiert das Maltesische die Geschichte der hiesigen Bevölkerung, deren Zusammensetzung auf phönizische, griechische, römische, arabische, normannische, spanische, italienische und britische Zuwanderer zurückgeht! Der Junge hätte stundenlang verzückt diesem Babel der Sprachen und Menschen lauschen und mit neugierigen Blicken das Gewimmel im Hafen beobachten mögen, hätte ihn die Ankunft des Alten nicht unterbrochen. Er kam in Begleitung zweier maltesischer Segelmacher. Die Takelung musste endlich erneuert werden! Die Handwerksmeister begutachteten zuerst den Fockmast und nickten einvernehmend, als läge alles klar auf der Hand. Dann kam der Besanmast an die Reihe. Nachdem sie auch das Heck in Augenschein genommen hatten, wandte sich der ältere der beiden würdevoll und in fließendem Italienisch an den Alten. „Signor capitano, in due giorni Le consegneremo le vele di tela migliore!“2 „Guardate di fare il taglio delle vele quanto prima, perché dobbiamo salpare“,3 bat der Alte und verabschiedete sich. Nachdem er ihnen nochmals die Hand gereicht hatte, gingen die Segelmacher schwatzend und nickend 2 Ital.: Herr Kapitän, in zwei Tagen werden wir Ihnen Segel aus bestem Segeltuch liefern! 3 Ital.: Sehen Sie zu, dass Sie die Segel schnellstmöglich zuschneiden, denn wir müssen in See stechen. relations 2009.pmd 137 137 davon, als hätten sie alle Weisheit der Welt gepachtet. Wenn auch das soeben geführte Gespräch den Anschein erwecken mochte, dass er es eilig habe, so sagte es dem Alten durchaus zu, einige weitere Tage in Valletta zu bleiben. Obwohl es, abgesehen von Fischen, mit Lampedusa kaum eine Handelsverbindung gab, erhoffte sich der Kapitän der Divina Provvidenza irgendeine Fracht, nur um nicht leer zu segeln. „Frano!“ rief er seinen Sohn zu sich aufs Heck. „Gib dem Schiffsjungen einen Florin, er soll seiner Mutter etwas kaufen. Macht einen Spaziergang im Hafen und haltet die Ohren offen. Solltest du von einer Fracht hören, die wir aufnehmen können, sprich sofort alles in meinem Namen ab.“ „In Ordnung“, entgegnete Frano schnell und freute sich schon auf den Landgang. „Marin, komm!“ rief er dem Schiffsjungen zu. „Zur Stelle, mein Herr!“ entgegnete dieser förmlich, in heller Aufregung darüber, dass ihn zum ersten Mal jemand mit seinem Namen angesprochen hatte. „Zieh Schuhe und ein frisches Hemd an, wir machen einen Hafenspaziergang!“ Der Junge hatte sich in wenigen Minuten zurechtgemacht, doch die meiste Zeit verwandte er darauf, die Schuhe für den Landgang zu präparieren. Er stopfte jeweils ein paar weiche Lappen hinein, um zu verhindern, dass er Blasen an den Füßen bekam. Als ihm Frano auf der Mole das Geld zusteckte, war er fassungslos. Er verließ das Schiff zum ersten Mal, und obwohl er den gesamten Lohn bereits der Mutter gegeben hatte, erhielt er erneut einen ganzen Florin! Er war so aufgeregt, dass er gar nicht auf den Weg achtete. Er nahm lediglich in der Ferne eine mächtige Kirchenkuppel wahr und dahinter, auf 14.4.2009, 20:30 138 RELA Oktober der äußersten Spitze der Landzunge, das Fort St. Elmo, dessen Mauern die Stadt schützend überragten. Sie hatten kaum die Landungsstege hinter sich gelassen, da betraten sie auch schon den mit kleinen Geschäften gefüllten Hafenteil, in denen man alles Mögliche kaufen konnte. Hier erstand der Junge sogleich einige schöne, aber preiswerte Kopftücher für die Mutter, drei Kämme und einen Spiegel. Er wusste, die Mutter würde sich umso mehr über die Geschenke freuen, als sie gar nicht damit rechnete. Während Marin einkaufte, hörte sich Frano unter den Händlern nach einer Fracht um, doch niemand hatte etwas, das für Lampedusa bestimmt war. Einer der Händler entgegnete ihm sogar barsch: „Ha, dort wird Wasser gebraucht, aber ich verkaufe keins!“ Sie schlenderten noch eine Weile durch den Handelsbereich des Hafens, indem sie sich durch unübersichtliche Menschenmassen hindurchkämpften, und Frano bereute, dass er sein Zeichenheft nicht mitgenommen hatte – so viele ungewöhnliche Motive gab es, deren Aufzeichnung gelohnt hätte! Ein betrunkener Matrose schlief sitzend an eine Mauer gelehnt, gleich neben ihm tanzte ein Hund auf seinen Hinterbeinen zu den Klängen einer Daf, die von einem alten Bettler gespielt wurde, etwas weiter gaben Jongleure für ein paar Münzen ihre akrobatischen Künste zum Besten. In den engen, vom Ufer in die Stadt führenden Gassen wimmelte es von Kneipen, in denen sich die Besucher drängten – Matrosen auf der Durchreise und solche, die darauf warteten, wieder in See zu ste- chen. Der Menge der konsumierten Getränke nach zu urteilen, gab es zwischen diesen beiden Gruppen keinen nennenswerten Unterschied. Frano bog in eine Gasse ein, die Marin an die Gassen von Stari Grad erinnerte. An der Fassade eines hohen Hauses, deren Ecksteine von schwarzen, massiven Eisenklammern zusammengehalten wurden, hing über dem Eingang eine runde Holztafel, auf der die etwas längere Aufschrift prangte: Zum schwarzen Löwen auf dem goldenen Schild. „Hier kannst du alles erfahren, was dich interessiert!“ unterwies ihn Frano, wie um sich zu rechtfertigen, dass er das Kind in eine Kneipe mitnahm. Der Junge konnte nicht glauben, dass man in solch einer schweren, von Qualm geschwängerten Luft atmen konnte, doch nach einigen Minuten begann er sich an diesen merkwürdigen Ort zu gewöhnen. Die Tische bestanden aus schweren Eichenplanken, auch die Bänke waren nicht viel leichter. Im Hinblick auf die hier einkehrende Kundschaft musste das Mobiliar in der Tat kräftig gebaut sein. Sie fanden an einem großen Ecktisch Platz, an dem bereits ein bärtiger Seemann saß. Seine Unterarme waren kunstvoll mit den Darstellungen verschiedener Meeresungeheuer tätowiert, und Marin starrte wie gebannt auf die Schrecken erregenden Bilder, die sich auf den spielenden Muskeln des Mannes hin und her bewegten. Kaum hatten sie sich hingesetzt, erschien auch schon, trotz der großen Gästezahl, der Wirt, ein wahrer Hüne, dem Belluomo seine mächtigen Fäuste geneidet hätte. Mit einem schmutzigen Lappen wischte er den vor dem Steuermann liegenden Teil der Tischplatte ab, ohne den Schiffsjungen zu beachten. „Wein und kaltes Wasser“, bestellte der Steuermann, mischte in einem Glas eine Bevanda, ein mit Wasser verdünntes Gemisch, für den Jungen, und goss sich selber ein randvoll gefülltes Glas Wein ein. Marin nippte vorsichtig und ihm schien, als sei er somit ein richtiger Seemann geworden! Warum auch nicht? Ringsumher saßen lauter echte Seebären, wie man sie sich im Binnenland nicht einmal vorzustellen vermochte. Die Pfeifen qualmten, neben ihnen kaute jemand Tabak und spie kräftig auf den mit Sägespänen bestreuten Boden, und überall war, in sämtlichen Sprachen des Mittelmeerraums übertragen, die Atmosphäre des Meeres und der Seefahrt spürbar; eine Atmosphäre, in der sich Seemannsgarn mit echter Seemannscourage zu einem Ganzen verband. „Veo que sois muchachos honestos. A dónde vais?“4 fragte sie der tätowierte Matrose, der offensichtlich gewartet hatte, bis sie sich erfrischt hatten. „Scusa, parlo solo italiano“5, entgegnete Frano. „Maledetta piovra, dove vi siete diretti?“6 wiederholte der Matrose, ohne eine Pause zu machen. „Veniamo da Pireo“,7 entgegnete Frano listig und aus der tief verwurzelten Angewohnheit, das nächste Reiseziel zu verschweigen. „Eh, tanto non importa dove state andando! Ora è più importante dove ritornerete!“8 stieß der Matrose zähneknirschend hervor und leerte mit einem langen Schluck allen Wein aus seinem Krug. Nachdem er sich mit dem Unterarm den Mund abgewischt hatte, lächelte er breit, und seine Augen funkelten. 4 Span.: Ich sehe, ihr seid wackere Burschen. Wohin führt euch die Reise? 5 Ital.: Entschuldige, ich spreche nur Italienisch. 6 Ital.: Beim Meereskraken, wohin seid ihr unterwegs? 7 Ital.: Wir sind aus Piräus gekommen. 8 Ital.: Ha, es ist ohnehin belanglos, wohin ihr geht! Jetzt ist es wichtiger, wohin ihr zurückkehren werdet! relations 2009.pmd 138 TIONS 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski „Amico, bevi ancora un boccale sul mio conto e dimmi quel che non so. Perché dovrei tornare indietro?“9 „Perché? Maledetta piovra, per questo ti chiedevo dove stavate andando! Cosa pensi perché io sono qui?“10 raunte der tätowierte Seemann vertraulich und rückte näher an Frano heran. „Stai aspettando la nave“,11 entgegnete Frano. „Macché!“ stieß der Matrose flüsternd hervor. „Aspetto che il mio capitano si decida per il lazzaretto più vicino! È scoppiato il colera!“12 „Qui a Malta?“13 fragte Frano bestürzt. „Si. Ho sentito che è stato portato qui da un legno turco. Senza lazzaretto...“14 Fran hörte ihm nicht mehr zu. Die Nachricht war zu schrecklich! Gerade als es mit den Geschäften bergauf ging, brach die Cholera aus. In jenen Tagen war dies eine unheilbare Krankheit, gefährlich zumal für Inselstaaten, die sich außer mit strengen Quarantänevorschriften im Grunde nicht anders gegen diese schreckliche Ansteckungsgefahr zu Wehr setzen konnten. Franos Angst war nicht unbegründet. Der Vater hatte ihm von einer schrecklichen Cholera-Epidemie erzählt, von der Europa und die Insel Hvar 1855 erfasst wurden. In den ersten 36 Tagen, vom 11. Juli bis zum 16. August, erkrankten in Stari Grad 499 Menschen und 204 starben! Andere Ortschaften Hvars setzten sich durch die Einführung eines so genannten Seuchensperrgürtels zur Wehr. Das Sperrgebiet von Jelsa umfasste den Bereich westlich von Pitve, Vrisnik, Svir~e, Vrbanj und Vrboska. Doch nicht allen dalmatinischen Inseln gelang es mit dem gleichen Erfolg, die Ansteckungsgefahr abzu9 wehren. Einige Ortschaften im Inneren Kor~ulas wurden von der Epidemie fast ausgelöscht. Ganz besonders schwer betroffen war Blato, aber auch das kleine Pupnat, in dem ein Drittel der Einwohner dahingerafft wurde! Während Frano den Wein bezahlte, leerte Marin seine Bevanda, und alsbald kehrten sie mit eiligen Schritten zu den Schiffsanlegern zurück. Die Nachricht war so schrecklich, dass Frano sie schnellstmöglich seinem Vater überbringen wollte. Keinen Augenblick lang zweifelte er an ihrer Richtigkeit. Seeleute hüteten sich nämlich davor, unwahre Gerüchte über Ansteckungskrankheiten in Umlauf zu bringen, denn allen grauste es vor der Langeweile der Quarantäne im Lazarett. Keiner wünschte dem anderen ein solches Übel an den Hals. Obwohl er kein einziges Wort des mitgehörten Gesprächs verstanden hatte, ahnte der Junge, dass der Steuermann etwas sehr Wichtiges erfahren hatte, und so stolperte er schweigend hinter ihm her. Als sie verschwitzt und atemlos das Deck der Divina Provvidenza betraten, erblickte Frano seinen Vater, der an den Schonermast gelehnt seine Pfeife schmauchte. Der Rest der Besatzung war im Hafen ausgeschwärmt, um verschiedene Aufträge zu erledigen. „Ich habe mich schon gefragt, wie lange du brauchen würdest, um es zu erfahren!“ sagte der Alte lächelnd, ohne das geringste Anzeichen von Besorgnis. „Wie hast du davon erfahren?“ wollte Frano wissen und vermied absichtlich das schreckliche Wort Cholera. „Die Segelmacher waren hier. Im Hafen kursiert die Nachricht, dass die Cholera ausgebrochen ist, und so haben sie mich davon benachrichtigt, damit wir so schnell wie möglich ein Lazarett aufsuchen.“ „Und was machen wir jetzt?“ fragte Frano besorgt. „Wir fahren nach Lampedusa. Wir warten nicht, bis wir eine Fracht gefunden haben, denn dazu bleibt uns keine Zeit. Wir übernehmen morgen die neue Takelung, nehmen Ballast auf und stechen in See.“ „Aber wir haben kein gültiges Gesundheitszeugnis. Niemand wird es uns hier ausstellen!“ Frano wusste ebenso wie der Alte, dass auf der Fede di sanità oder dem Patente di sanità stets die Gesundheitslage des Auslaufhafens angezeigt wurde. „Wir werden dort sein, noch bevor das Gerücht über die Cholera eintrifft, und sollten wir es nicht schaffen, so vergiss nicht, dass ich halb Lampedusa kenne“, sagte der Alte und stieß mit unerschütterlicher Ruhe dicke Rauchwolken aus. „Dort befindet sich auch Martoran; wenn niemand anders uns glauben sollte – er wird uns glauben, dass wir ansteckungsfrei sind. Und das sind wir ja auch!“ Als Erste kehrten der Schiffskoch und Belluomo mit zwei Säcken voller Nahrungsmittel zurück, wenig später auch Tadija und Gobo. Sie hatten ebenfalls die schreckliche Nachricht gehört, und niemand brauchte eine besondere Erklärung, um zu wissen, welch Unglück sich über ihnen zusammenbraute. „Ab jetzt hat keiner mehr Ausgang in den Hafen ohne meine Erlaubnis“, sagte der Alte, sobald alle versammelt waren. „Die Segelmacher ha- Ital.: Mein Freund, trink noch einen Krug auf meine Rechnung und erzähl mir, was ich nicht weiß. Warum sollte ich zurückkehren? 10 Ital.: Warum? Beim Meereskraken, deshalb habe ich dich ja auch gefragt, wohin ihr geht! Was glaubst du, warum ich hier bin? 11 Ital.: Du wartest auf ein Schiff? 12 Ital.: Ach was! Ich warte, dass mein Kapitän sich für das nächstliegende Lazarett entscheidet. Die Cholera ist ausgebrochen! 13 Ital.: Hier auf Malta? 14 Ital.: Ja. Ich habe gehört, dass ein türkisches Schiff sie eingeschleppt hat. Ohne Lazarett... relations 2009.pmd 139 139 14.4.2009, 20:30 140 RELA Oktober ben versprochen, sich zu beeilen, sodass wir nicht zwei Tage auf die Segel zu warten brauchen. Sie werden sie morgen liefern, und dann kommen die Steine für den Ballast. Die Seuche ist soeben erst ausgebrochen, und wenn wir sofort in See stechen, treffen wir vor den Gerüchten ein... Der Fisch kann warten! Nehmt auch frisches Wasser an Bord.“ Obwohl Marin nichts über die tückische Krankheit wusste, war er ebenso wie die anderen sichtbar verängstigt. Aber nach der Rede des Alten fühlten sie sich alle irgendwie ermutigt durch den Glauben, dass sie der Ansteckung bisher entgangen waren. Das Leben im Hafen und auf den Anlegern verlief, als wäre nichts geschehen. Den ganzen nächsten Vormittag verbrachten Tadija und Gobo damit, das mächtige Focksegel von der Gaffel des Vormasts abzunehmen. Dann kam das Großsegel an die Reihe, dessen Unterliek vom Baum gelöst wurde, während Belluomo und Fabris sich auf dieselbe Weise am Toppsegel zu schaffen machten. Als gegen Mittag die Segelmacher mit ihrem Wagen, der mit schweren Segeltuchballen beladen war, eintrafen, konnten sie sofort mit der Arbeit beginnen. Sie gingen sehr geschickt vor und wurden von Tadija unterstützt. Als sie die Gaffeln hochzogen, um die Länge der Segel zu überprüfen, musste Marin blinzeln die Augend zusammenkneifen, so sehr blendete ihn das makellose Weiß der Segelplanen. „Sie müssen noch ein bisschen gekürzt werden, denn im Wind werden sich die Planen noch dehnen“, beteuerte der ältere Segelmacher dem Kapitän, und da Tadija derselben Meinung war, nahmen sie erneut ihre Arbeit auf. Als sie fertig waren, zahlte der Alte ihnen den gesamten Betrag auf einmal aus. „Jetzt können wir nach San Francesco, um Steine als Ballast zu laden“, relations 2009.pmd 140 sagte er zufrieden, denn die Segelmacher hatten gute Arbeit geleistet. Ein Schiff ohne Ladung musste Ballast aufnehmen, sonst hatte es unzureichenden Tiefgang und in den wechselnden Windverhältnissen auf See nicht die nötige Stabilität. Und konnte kein nützliches Frachtgut gefunden werden, lud man also Steine aufs Schiff. Diese wurden über die gesamte Länge des Laderaums verteilt und an den Seiten mit Sand überschüttet, damit sie bei starkem Seegang nicht die Bordwand des Schiffes beschädigten. Das Einladen von Steinen und Sand war eine ungeheuer anstrengende Arbeit, und nach der Ankunft in Lampedusa musste aus dem Stauraum alles wieder gelöscht werden, damit die Fässer mit dem Fisch eingeladen werden konnten. Das war reinste Zeitverschwendung, und Marin wurde klar, warum der Kapitän so fieberhaft nach irgendeiner nützlichen Fracht gesucht hatte. „So viel Arbeit für nichts und wieder nichts!“ klagte Gobo schweißüberströmt. „Wir hätten den Koch in den Laderaum einschließen sollen, dann hätten wir keine Steine zu schleppen brauchen. Sein Kopf wiegt ohnehin schwerer als Blei!“ Gewöhnlich gelang es Gobo, wenn er den Koch auch nur erwähnte, wenigstens Tadija zum Lachen zu bringen, doch diesmal hatte niemand Sinn für Späße. Wenn Schiffe unter Ballast in Valletta einliefen, luden sie in San Francesco die Steine ab, die später von anderen Schiffen erneut als Ballast aufgenommen wurden, so auch von ihnen. Marin befand sich im Laderaum und schüttete aus einem Eimer, den ihm der Koch hinunterließ, Sand in die Hohlräume zwischen den aufgetürmten Steinen, und obwohl die Hitze im Innern des Schiffes geradezu unerträglich war, so war es doch ein kleines bisschen leichter als in der Sonne auf Deck. TIONS Erst drei Tage nach ihrer Ankunft auf Malta gelang es ihnen, ungefähr zwei Tonnen Steine und Sand einzuladen, eine ausreichende Menge, um der Divina Provvidenza die nötige Stabilität auch bei stärkstem Wind zu verleihen. „Morgen nach der Frühmesse in der Nikolauskirche laufen wir aus“, verkündete der Kapitän nach dem Abendessen. Als sie am Freitagmorgen, dem 21. Juli, dem vierten Tag ihres Aufenthalts in Valletta die Anker lichteten, atmeten alle erleichtert auf. Kaum hatten sie die Bucht von Marsaxlokk und Kap Benghisa, den Südzipfel Maltas, hinter sich gelassen, begann ein Unwetter aufzuziehen. Der angenehme aus Südwest fächelnde Libeccio schlug überraschend in einen scharf aus West wehenden Poniente um, der allmählich an Stärke gewann. Vor Einfall der Dunkelheit wurde der Wind noch heftiger und blies nun aus Norden. Langsam und unaufhaltbar braute sich ein Sturm zusammen. „Wie viele Knoten hast du gezählt?“ wollte Tadija, der das Handlog über seinen Kopf hielt, von Marin wissen. „Acht, mein Herr!“ antwortete dieser stolz, denn es war das erste Mal, dass er unmittelbar an der Messung der Schiffsgeschwindigkeit teilnahm. Bisher hatte er nur die Logleine wieder aufwickeln dürfen. „Gut gemacht, und nun wickle die Leine sorgfältig wieder auf“, sagte Frano, der mit Hilfe einer Uhr die Ablaufzeit der Logleine gemessen hatte. „Wenn der Wind andauert, sind wir in drei Tagen auf Lampedusa!“ „Bis der Sturm so richtig in Fahrt kommt, sind wir mit ein bisschen Glück schon bei unserem Lagerhaus“, fügte der Alte hinzu und blickte zum Himmel auf. Und so begann ihr Wettlauf mit dem Sturm. Der Alte war ein guter Kenner der sommerlichen Wetterverhältnisse im 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski westlichen Mittelmeerraum. Leichtere Unwetter pflegten unversehens aufzutreten, waren ebenso schnell aber wieder vorbei und daher nicht weiter schlimm. Anders jedoch verhielt es sich mit orkanartigen Stürmen. Sie dauerten mehrere Tage und entfachten sich zu Orkanen mit Stärken von mitunter über 60 Knoten. Die Männer erahnten, dass jetzt genau so etwas auf sie zukam. Tagelang würden sich unheilvolle Wolken am Himmel auftürmen, und wenn der Sturm erst einmal losbrach, konnten nur Gott und ein erfahrener Kapitän dem Schiff beistehen. Der Alte war sich all dessen wohl bewusst, dennoch entschloss er sich zur Weiterreise. Die nur Ballast führende Divina Provvidenza segelte mit der ansonsten unerreichbaren Geschwindigkeit von acht Knoten, und so rechnete er damit, noch vor dem Sturm in Lampedusa einzutreffen. Selbst wenn kein Sturm gedroht hätte, hätten sie sich beeilen müssen, um den mit unvorstellbarer Geschwindigkeit um sich greifenden Gerüchten über die Cholera zuvorzukommen. Der Alte konnte nicht wissen, wie viele Schiffe vor ihnen Malta verlassen hatten; er hoffte nur, dass mit ein bisschen Glück sein Plan aufgehen würde. Sollte man sie nicht als Choleraüberträger verdächtigen, würden sie noch 300 Fässer eingesalzener Fische für jene Hafenstädte im Peloponnes übernehmen können, in denen keine mehrwöchige Quarantäne drohte. Danach könnten sie wiederkommen, ein weiteres Mal Fracht aufnehmen und das Geschäftsjahr mit einem Gewinn abschließen, von dem sie nicht einmal träumen konnten, als sie zu ihrer Reise aufbrachen! Doch wie immer galt es, hier auch ein Aber zu bedenken. Sollte ihnen die Nachricht vom Ausbruch der Cholera nach Lampedusa vorauseilen, würde aus den Plänen des Kapitäns nichts werden. Auf Lampedusa relations 2009.pmd 141 gab es kein Lazarett beziehungsweise keine Quarantäne, und so würden sie in einen der Häfen an der Westoder Südküste Siziliens zurückkehren müssen, wo es sie gab, um erneut ein gültiges Gesundheitszeugnis zu erwerben. Für den alten Maroevi} eine grausige Vorstellung, an die er nicht einmal zu denken wagte! In der Quarantäne, die 14 bis 46 Tage dauern konnte, würden sie wertvolle Zeit verlieren, die sie nie und nimmer würden wettmachen können. Die Fischfangsaison wäre längst vorbei, und die Einbuße von zwei Schiffsladungen eingesalzener Fische bedeutete einen ziemlich hohen Gewinnverlust. Dies war also der Grund, warum sich der Alte auf ein so risikoreiches Unternehmen einließ. Sie verbrachten eine ruhelose Nacht, denn außer dem Jungen war sich jedermann bewusst, in welche Gefahr man sich begab. Der Wind blies die ganze Nacht abwechselnd aus West und Nord, sodass die Provvidenza nervös in der rauen See schlingerte. Ein bewölkter Morgen brach an, und das Meer verdunkelte sich zu einem unheilvollen Schwarz. Bis zum Nachmittag lichtete sich die Wolkendecke ein wenig, doch der starke Westwind ließ nicht nach. In den Wantenseilen begann es gespenstisch zu pfeifen, und ringsumher blühten weiße Schaumkronen auf den rollenden Wogen. Zwischen Meer und Himmel war der verschmolz nicht zu erkennen. Alles verband sich zu einem einheitlichen Grau. Die Gespräche verstummten, alle standen gespannt und warteten auf die Befehle des Alten. Es kam vor, dass der Wind für einige Stunden nachließ und mäßiger stark wehte, sodass die Segel aufgerollt werden konnten, bei starkem und stürmischem Wind jedoch rollte man sie um zwei oder drei Handbreit wieder ein und reffte das Toppsegel. Und so verging der zweite Tag der Überfahrt und ein Teil der Nacht, indem sich 141 die Mannschaft ständig den Windverhältnissen anpasste. Dennoch gab es in all dem Ungemach auch einen schwachen Trost. Vom starken Wind angetrieben und beladen mit ideal bemessenem Ballast, gab die Divina Provvidenza ihr Bestes. Mit acht bis acht einhalb Knoten flog sie über das Meer, eine Geschwindigkeit, die ansonsten für sie unerreichbar war. Auch diesmal zeigte sich, dass das Glück den Kühnen dient. Die Vorboten des Sturms sollten sie bis vor Lampedusa befördern, noch bevor das Unwetter losbrach. Am dritten Tag der Überfahrt lag ein unheilvoller Dunst in der Luft, der das Grau des Horizonts violett verfärbte. Dieser ungesunde Ton machte den Seeleuten am meisten Angst. „So ein Wetter habe ich noch nie gesehen“, sagte Gobo, der sich nicht länger zurückhalten konnte. „Als würde es darauf warten, bis wir in einen Hafen einlaufen.“ „Wenigstens ist es keine Wasserhose“, lachte Belluomo grimmig. „Ich habe wieder so richtig Lust auf einen Sturm!“ Frano hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf den Schiffsjungen, denn auch der kleinste Funke Gewalt würde angesichts des düsteren Himmels und der Steinladung an Bord eine wahre Katastrophe bedeuten. Dank der Empfindsamkeit, die ihm in der Seele schlummerte, konnte ihn die erstaunliche Verbundenheit zwischen dem Jungen und dem Wind nicht mehr aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, je länger er darüber nachdachte, desto größer war seine Überzeugung, dass es diese Verbundenheit tatsächlich gab. Man hatte soeben erst begonnen, die Geheimnisse der Natur aufzudecken, doch wie viel war dem Menschen noch verborgen? Frano hatte über Schamanen in Afrika gelesen, die angeblich den Regen herbeirufen konnten. Warum sollte es dann nicht 14.4.2009, 20:30 142 RELA Oktober Menschen geben, die den Wind herbeiriefen? Die Höhen des Himmels waren nicht weniger geheimnisvoll als die Tiefen des Meeres. Dass in diesem Fall ein Junge den Wind herbeizurufen vermochte, war nur ein Beweis mehr für die Wahrhaftigkeit dieser Annahme. Frano war fest davon überzeugt, dass er würde beweisen können, was er seinem Vater erzählt hatte. Es blieb ihm jedoch nicht allzu viel Zeit, sich Gedanken über den Schiffsjungen zu machen, und noch weniger, sich süßen Träumereien über Marija hinzugeben, da sich am vierten Tag ihre Überfahrt zu einem offenen Wettlauf mit dem Sturm verwandelte. Gegen drei Uhr am Nachmittag des 25. Juli hätten sie die Küste Lampedusas erblicken sollen, doch der Nebelschleier lichtete sich erst zwei Stunden später. Als er endlich an der Landspitze zur ihrer Linken die wohlbekannten Steilfelsen von Capo Grecale erblickte, atmete er Alte sichtbar erleichtert auf. Sie schwenkten von ihrem Südkurs nach Westen ab, passierten das lang gestreckte Kap Sottile und erreichten die windgeschützte Seite der Inselgewässer. Die Divina Provvidenza fuhr jetzt bedeutend langsamer. An Bord machte sich, wie immer vor dem Anlaufen eines Hafens, Erregung breit, jedoch nur in den Gedanken der Seeleute. Bis endlich der Anker ausgeworfen werden konnte, hatte jeder seine genau vorgegebenen Aufgaben zu erledigen, sodass für nichts anderes Zeit blieb. Hinter der Landzunge O’Spada lag die dreiarmige Bucht von Lampedusa, ihre Zuflucht vor dem nahenden Sturm. Der Alte setzte seine Kapitänsmütze auf, zog aber seine Uniform nicht an, weil es dazu zu heiß war. Er trug ein sauberes Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine blaue Hose und Schuhe. Die übrigen Seeleute achteten nicht so sehr auf ihre relations 2009.pmd 142 Kleidung, außer vielleicht Frano, der als Steuermann eben kein gewöhnlicher Matrose war. Marins Kleidung unterschied sich in keiner Weise von der Kluft der anderen Seeleute: Die Sonne hatte sie ausgebleicht, den Rest hatten das Meerwasser, der Schweiß und das Einsalzen der Fische besorgt, so dass ihre ursprüngliche Form und Farbe nicht mehr zu erkennen waren. Das einzig Neue waren seine Schuhe, die er für besondere Anlässe in einem Korb verwahrte. Am Hafeneingang erwartete sie eine große Barke, in der viele Fischer saßen. Zwei der Männer hielten Gewehre, und der Alte begriff sofort, dass die Lage ernst war. „Antonio!“ rief er, als er einen von ihnen erkannte. „Was ist denn los?“ „Es tut mir Leid, mein Herr, aber ohne Gesundheitszeugnis dürfen Sie nicht in den Hafen“, antwortete der Mann. „Als wir das erste Mal hierher kamen, hast du nicht nach dem Gesundheitszeugnis gefragt, Antonio!“ entfuhr es dem Alten bissig. „Auf Malta ist die Cholera ausgebrochen, Herr Kapitän!“ entgegnete Antonio, und dieser Umstand erklärte alles. Dann fügte er leiser hinzu: „Es tut mir Leid, Signore.“ „Siehst du denn nicht, dass sich ein Sturm zusammenbraut?“ entgegnete der alte Maroevi} nervös. „Wirst du es wirklich zulassen, dass wir die Nacht hier draußen verbringen?“ „Es tut mir Leid. Sie dürfen nicht einlaufen, bevor Sie bewiesen haben, dass Sie frei von der Ansteckung sind“, antwortete Antonio stur und nicht gewillt, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Der Alte blickte ihn finster an und konnte seinen Augen nicht trauen. Die Hälfte der Fischer in der Barke arbeitete für ihn, und er kannte sie alle gut. Es waren anständige, aber verängstigte Männer, entschlossen, die Einschleppung der Cholera auf TIONS ihrer Insel zu verhindern. Der Alte begriff, dass er die Angst der Inselbewohner vor der Seuche unterschätzt hatte. „Erlaubt uns, diese Nacht im Hafen zu verbringen!“ bat er verzweifelt, denn der Himmel wurde immer bedrohlicher. Es schien, als könnte sich der Sturm nicht mehr länger zurückhalten. „Ohne ein gültiges Gesundheitszeugnis darf niemand in den Hafen“, entgegnete Antonio barsch. „Ihr kommt von Malta. Dort ist die Cholera ausgebrochen!“ „Aber wir haben uns nicht angesteckt!“ rief der Alte, doch er sah ein, dass jeder weitere Versuch zwecklos war. Die Küstenwache der Fischer war unerbittlich. Obwohl viele mit dem Verkauf ihres Fangguts an Jure Maroevi} sehr gut verdient hatten, zeigte keiner auch nur das geringste Mitleid mit den möglichen Überträgern der Cholera. Warum sollten sie auch? In jenen Tagen konnte es geschehen, dass auf kleineren Inseln sämtliche Bewohner von einer Epidemie dahingerafft wurden. Während der Alte verhandelte, horchten die Seeleute wie versteinert auf das verhaltene Grollen, das mit dumpfen Schlägen langsam näher kam. Es schien, als würde eine gewaltige Himmelstrommel immer stärker von unsichtbarer Hand gerührt. Nach dem Donner trat gespenstische Stille ein, noch unheimlicher als das Dröhnen des Himmels. Marin konnte zwischen zwei Schlägen deutlich das Schnurren des neben ihm stehenden Katers Coto vernehmen. Auf einmal krachte es in den tief über ihren Köpfen hängenden Wolken, und es gab weder auf der Provvidenza noch unten in der Barke der Küstenwache einen Menschen, der nicht zusammenzuckte. Den unerbittlichen, düsteren und entschlossenen Blicken nach zu urteilen, die ihnen aus der Barke zugeworfen wurden, hätten die Seeleute, 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski selbst wenn sie kein einziges Wort Italienisch verstanden hätten, sofort begriffen, dass aus der Übernachtung im Hafen nichts werden würde. Sämtliche Pläne des Alten fielen ins Wasser, doch er wollte die Tatsachen noch immer nicht wahrhaben. Stumm schauten sich die Männer auf beiden Seiten an, wortlos Blicke tauschend, während der Wind sein Lied pfiff und die vom offenen Meer kommende, immer steilere See die Ruder der Küstenwache höher und höher tanzen ließ. Letztendlich, infolge des immer heftigeren Schaukelns, begriff der Alte. Wütend befahl er Belluomo, der am Steuerrad stand: „Jere, Ree! Wir fahren hinaus!“ „Ist klar!“ bestätigte der Rudergänger mit leiser Stimme. Es war sehr schwierig, das Wendemanöver auszuführen, da es sich jeglichem Seemannsbrauch widersetzte: Bei drohendem Unwetter wurde einem Schiff niemals die Zuflucht in einem Hafen verweigert. Merkwürdig, aber von allen Crewmitgliedern der Divina Provvidenza zeigte nur der Schiffsjunge einen friedlichen Gesichtsausdruck, ohne das geringste Anzeichen von Besorgtheit oder Angst. Die anderen Seeleute hatten verzerrte Gesichter, ballten ihre Fäuste oder erhoben angstvoll ihre Blicke zum Himmel. Unter der festen Führung Belluomos, dessen Hand auf dem Ruder lag, und dem Zutun der Männer, die sich an den Leinen und Segeln zu schaffen machten, führte der Zweimaster die Kehrtwendung aus und, angeschoben von dem achterlich blasenden Nordwind, entfernte er sich augenblicklich von der Buchteinfahrt, als würde er von einer unsichtbaren Kraft angetrieben. Die Barke der Küstenwache verweilte noch ein paar Minuten schaukelnd auf der Stelle, dann hoben die Fischer mit langsamen und müden Bewegungen die Ruder und wendeten das Boot in Richtung der kleinen Bucht Spiaggia Guitgia, relations 2009.pmd 143 einem Seitenarm der großen Hafenbucht, in dem sie Wache hielten. „Segel um zwei Handbreit kürzen!“ befahl der Alte, so laut er konnte, da der Wind immer mehr zunahm und mit ihm das gespenstische Pfeifen des Takelwerks, das den Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Obwohl sich auf dem Schiff eine fast verzweifelte Stimmung breitmachte, stürzten sich die Matrosen sofort auf die Arbeit, was bei dem starken Wind überhaupt nicht einfach war. „Bringt den Ofen in die Back!“ lautete der zweite Befehl des Alten, den Fabris prompt ausführte. Den kleinen Ofen hätten die Wogen in wenigen Sekunden von Deck gespült, und ohne Ofen war ein Leben an Bord unmöglich. Obwohl ihnen allesamt das Gulasch schon zum Halse heraushing, war es doch ein nahrhaftes Gericht für die schwer arbeitenden Matrosen. „Fock bergen!“ rief der Alte, kaum dass Tadija und Gobo zusammen mit dem Koch aus dem Stauraum gestiegen kamen. „Fock klar zum Bergen!“ gaben die Matrosen ganz außer Atem zurück und stürzten sich auf die Arbeit. Im selben Augenblick blitzte und donnerte es. Der Donner wollte nicht mehr aufhören und reichte von einem Ende des Himmels zum anderen, als würden zu beiden Seiten Kanonen abgefeuert. Es folgte Donnerknall auf Donnerknall, ohne Unterlass, während die grell flammenden Blitze am schwarzen Himmel aussahen, als wollten sie ihn in Brand setzen. Da entdeckte Marin schmale weiße Wolkenfetzen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit unter dem schwarzdüsteren Gewölk entlangflogen, ein atmosphärisches Vorzeichen, das stets heftigste Seestürme ankündigt. Schnell begannen sie zu zerfleddern und sich aufzulösen. „Gott steh’ uns bei!“ rief Fabris aus, blass vor Entsetzen über das Erschei- 143 nen der Wolkenfetzen, denn er wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte. Auf einmal wurde die Luft von einem Rascheln erfüllt. Dieses Geräusch war noch schrecklicher als das Grollen des Donners. „Die See kocht!“ rief Frano. „Ruder nach steuerbord!“ schrie der Alte. „Ist klar!“ erwiderte Belluomo prompt und drehte das Ruder, weil das Schiff sonst einen Windstoß von achtern bekommen hätte. Im Nu trat unwirkliche Stille ein. Es verstummten Donner und Blitz; zu hören war lediglich das gespenstische Plätschern der Wellen an der Außenbordwand des Schiffes. Doch nicht für lange. Gleich darauf war meilenweit im ganzen Umkreis wieder jenes gespenstische Rascheln zu vernehmen. Ohne jegliches Vorzeichen folgte nun Windstoß auf Windstoß, immer stärker werdend, als würde aus den tiefen, schwarzen Wolken alle unwirkliche Kraft des Luftraums freigesetzt. Der Himmel wurde ganz schwarz, der Tag wandelte sich zur Nacht. Die Wogen begannen auf die Divina Provvidenza einzustürmen, überstürzten sich, ringsumher nichts als Gischt, nichts als das unruhige Schäumen der kochenden Fluten, unter denen sich das Meer verbarg. Der Horizont wurde so eng zusammengepresst, dass man glaubte, ihn mit den Händen greifen zu können. Beim ersten mächtigen Windstoß neigte sich das Schiff mit einem grauenvollen Ächzen zur Seite. Obwohl sie es schon unzählige Male zuvor gehört hatten, erfüllte dieses ächzende Geräusch gebündelter Schiffsbalken die Mannschaft mit tiefstem Entsetzen. Dann neigte sich der Bug so tief ins Wasser, als wollte er nie mehr wieder aus dem steilen Wellental auftauchen. Das Schiff hielt für einen Augenblick inne, richtete sich dann auf und drehte ab, bis es auf Halbwindkurs lag. 14.4.2009, 20:30 144 RELA Oktober Die immer höher sich türmenden Wogen erschwerten eine aufrechte Körperhaltung an Bord, sodass sich die Matrosen taumelnd vorwärtsbewegten, indem sie sich an den Spieren und Tauen festhielten. Der Sturm entfesselte sich nun so heftig, als hätte er alle Geduld verloren, mit der er sie bisher verschont hatte. Obwohl es der Uhrzeit nach immer noch Tag war, senkte sich eine Dunkelheit herab, in der die vom Wind getriebenen, breiten Gischtstreifen in der Ferne noch deutlicher zu erkennen waren. Marin blickte jetzt besorgt auf die Veränderung des Meeres. Das leuchtende Azur, an dem er so gerne vor sich hinträumte, hatte sich zu einem tiefdunklen Indigoblau gewandelt, und die Gischt auf den sich überschlagenden Wogen bewegte nun auch die beherztesten Männer zu Gebeten und Gelöbnissen. Zum ersten Mal erkannte er, zu seiner großen Überraschung, die grenzenlose Macht und Weite des Meeres. „Wir werden vor der Südküste kreuzen!“ rief der Alte und streifte seine wasserdichte Regenjacke aus gewachstem Leinen über. Alle Männer trugen Kopfbedeckungen aus demselben wasserdichten Stoff mit hinten weit überhängenden, breiten Krempen. Obwohl der Alte rief, so laut er konnte, verstand ihn Frano nur mit Mühe. „Dort liegen wir in Lee, und Lampedusa selbst wird uns vor dem Wind schützen.“ Auch in den südlichen, windgeschützten Gewässern war die See aufgewühlt, und der Wind übertönte brausend die Rufe der Männer. Angesichts der gewaltigen Macht des Sturmes konnte Marin erahnen, wie stark der Wind auf der dem offenen Meer zugekehrten Nordseite Lampedusas sein musste, wo es keinen Schutz vor dem Orkan gab. Im nächsten Augenblick ergoss sich seitlich hereinstürzendes Meerwasser übers Deck, der Bug tauchte unter, das Vorsegel blähte sich und zit- relations 2009.pmd 144 terte, die Balken ächzten, die Masten erbebten, und ohrenbetäubendes Heulen und Pfeifen, von dem den Männern das Blut in den Adern stockte, fuhr durch die Taue. „Tadija, schließ den Schiffsjungen in die Back!“ rief der Alte, denn die Fluten sprangen nun schon über die Reling. Obwohl dank der Deckskrümmung das Wasser schnell wieder abfloss, konnte der Alte nicht riskieren, dass dem Jungen etwas zustieß, zumal er dessen Mutter hoch und heilig versprochen hatte, er würde ein wachsames Auge auf ihn haben. Tadija überhörte zunächst die Worte des Kapitäns, doch als ihm dieser ins Ohr brüllte, nickte er nur kurz. Sich am Manntau festhaltend, das zur Sicherung der Seeleute längs der gesamten Bordwand gespannt war, tastete er sich geschickt zu dem Jungen vor, der sich triefend vor Nässe mit beiden Händen an den Wanten festhielt und wie verzaubert auf die ihn umspülenden Fluten starrte. Wortlos packte er ihn an der Hand und führte ihn zur Ladeluke auf dem Vorschiff. Der Junge folgte ihm wie betäubt, als wäre er sich nicht bewusst, was um ihn herum geschah. Noch war kein Wasser in die Back eingedrungen, doch das war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb hievte Tadija alle Seemannstruhen schnell auf die Klappbetten, wo sie vor dem Wasser, das den Mannschaftsraum sicher bald überfluten würde, besser geschützt waren. „Was schaust du so?“ fragte Tadija ihn müde und mit den Nerven am Ende. „Hol schnell deinen Korb und stell ihn auf mein Klappbett, und bleib mir ja hier drinnen... Und bete zu Gott, bete inständig darum, dass wir diese Nacht überstehen. Wenn wir es schaffen, kaufe ich dir im ersten Hafen Feigen, wie du noch nie welche gegessen hast!“ Er strich dem Jungen zweimal kurz über den nassen Schopf und stieg dann umständlich, da das Ölzeug TIONS ihn behinderte, die Stiegen hoch aufs Deck, wo sogleich der Orkan an ihm zu zerren begann. Es sah ganz so aus, als ob die Divina Provvidenza diesmal nur durch die in ihrem Namen angerufene Vorsehung vor dem immer stärker werdenden Orkan gerettet werden konnte. Der Alte gab Order, auf Westkurs zu gehen, zur La Tabbaccara-Bucht. Die Provvidenza kämpfte sich durch die immer höher sich türmenden Wogen, mit steil aufsteigendem Bug, der in immer tiefere Wellentäler absackte... Erst nach vier Stunden erreichten sie die La Tabbaccara-Bucht, um jedoch sofort wieder zu wenden, denn der Küstenbereich, der sie vor dem Ungestüm des Orkans schützen sollte, war hier flacher und die Gewässer ebenso aufgewühlt wie auf hoher See. Die Luft war erfüllt von Gischt, und es schien, als sei ringsumher überall nur Wasser. Infolge des Seestaubs nahm das Meer in der Ferne eine weißliche Färbung an, die Sichtweite verringerte sich noch mehr, und die Felsküste Lampedusas war zeitweilig kaum auszumachen. Die Stunden schleppten sich mühsam und in quälendem Schneckentempo dahin, und allen kam es vor, als würde sich der Sturm, statt abzuschwächen, nur noch mehr entfesseln, als wollte er nie mehr enden. Wegen der Fluten, die sich über die Bordwand ergossen, konnten auch die Überzieher aus imprägniertem Leinen nicht verhindern, dass die Seeleute völlig durchnässt waren. Kaum war eine Woge abgeflossen, ergoss sich schon die nächste geräuschvoll über das Mittelschiff, und das durch den pfeifenden Wind hindurch hörbare Ächzen der Planken erweckte den Eindruck, als wollte die Divina Provvidenza jeden Augenblick in tausend Stücke zerbersten. Die Matrosen, die sich am Manntau festhielten, ertrugen geduldig, jeder an seinem Platz, das ungestüme Gebaren der Natur, denn außer ihren 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski Gebeten konnte ihnen jetzt nichts mehr helfen. Es war völlig gleichgültig, ob sie sich auf oder unter Deck befanden, denn das Wasser drang nun überall ein. Kein einziger Teil des Ladeund des Mannschaftsraums blieb verschont, und niemandem war klar, wie sich das Schiff über Wasser hielt. Der Alte hatte keine andere Wahl, als seinen Kurs fortzusetzen und vor der Südküste der Insel zu kreuzen, indem er sie als eine Art Schutzschild gegen das gröbste Unwetter benutzte. Hätten sie Kurs auf die offene See genommen, wären sie schon längst gekentert. Gobo und der Koch lösten Frano und Tadija beim Dienst an der mittschiffs gelegenen großen Ladeluke ab, deren Schutzplane wegen der sich darüber ergießenden Wogen immer wieder strammgezogen werden musste. Das Tau, mit dem das Wachstuch an der Öffnung festgebunden war, hatte sich gelockert, sodass das Tuch durch die Wucht des Wassers auf einer Seite eingerissen war. Wenn die Provvidenza auch keine Fracht geladen hatte, die durch die Nässe hätte Schaden nehmen können, wäre es sehr gefährlich, wenn Wasser in den Laderaum eindränge. Frano, der sich am Großmast festhielt, erblickte zwischen zwei Wasserschüben den Kopf des Schiffsjungen, der vorsichtig aus der Vorpiek lugte. Selbst wenn er Zeit gehabt hätte, ihm zuzurufen, dass er an seinem Platz bleiben sollte, hätte ihn der Junge wegen des Lärms, den der Wind und die aufgewühlte See verursachten, nicht gehört. So geschah es aber, dass in dem Moment, als Marin mit seinen Händen das Deck berührte, das Heulen des Windes verstummte! Frano, obzwar schon überzeugt von der wundersamen Verbundenheit zwischen Marin und dem Wind, sträubten sich die Haare! Sogleich suchte er taumelnd den Alten auf, der sich an den Wanten des Großmasts festklammerte. relations 2009.pmd 145 „Schau mal zur Vorpiek!“ brüllte er dem Vater ins Ohr. Ohne eine Antwort abzuwarten, umfasste er das Manntau und begann, sich langsam zum Vorschiff vorzukämpfen. Er musste durch einen wahren Reißfluss knöcheltiefen Wassers waten, da Welle auf Welle folgte und die Fluten keine Zeit hatten abzufließen. Während er sich langsam am Tau nach vorne arbeitete, erblickte ihn der Junge und zog sich wieder in die Piek zurück. Kaum hatte sich der Schiffsjunge zurückgezogen, brauste der Sturm erneut los. Frano hatte es nur seiner Voraussicht zu verdanken, dass er nicht von Bord gespült wurde, denn er begriff sofort, dass der Wind, der sich legte, sobald der Junge auf Deck erschien, bestimmt wieder anfangen würde zu toben, wenn er wieder unter Deck ging. Deshalb umklammerte er fest die Wanten des Fockmasts und hielt kurz inne, während ihm das Wasser vom Gesicht strömte. Links des Schiffes entlud sich knisternd Elektrizität, und im nächsten Augenblick zerteilte der größte Blitz, den er je gesehen hatte, mit grellem Licht den Himmel. Man tat besser daran, nicht zu sehen, was in diesem Augenblick hell erleuchtet wurde. Dem jungen Mann kam es vor, als ob die Abertausend Tonnen Wasser, die mächtigen Brecher, die sich schäumend von allen Seiten ergossen, nicht nur einen grauenhaften Anblick der entfesselten Naturkräfte darboten, sondern auch der offenkundige Beweis dafür waren, dass das Meer und der Himmel einander mit weit geöffneten Rachen gegenüberstanden. Nach dem Blitz versank erneut alles in schwarzes Dunkel, einzig der weiße Meeresschaum, der zischend vom Deck abfloss, bezeugte, dass sie auch weiterhin die festen, schwarz geteerten Planken der Divina Provvidenza unter ihren Füßen hatten. 145 „Marin, komm!“ rief Frano und winkte den Jungen zugleich zu sich heran, da er im Rauschen des Wasser kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. „Schnell!“ Der Junge stand zu Tode erschrocken auf der Treppe. Er konnte es nicht mehr aushalten, in der Back eingesperrt zu sein, sondern musste trotz des Befehls herauskommen. Der Anblick, der ihn auf Deck erwartete, übertraf alle seine Erwartungen, sodass er sich umgehend wieder zurückzog. Als er jedoch Frano erblickte und ihn nach sich rufen hörte, erfüllte ihn neues Selbstvertrauen. Er sprang aufs Deck, wo ihn sofort die Hand des Steuermanns packte. Kaum hatte der Junge seine Füße auf die überfluteten Decksplanken aufgesetzt, flaute der Wind ab und alles wurde still! Frano erzitterte und fühlte sich noch merkwürdiger als vorhin, als der Riesenblitz den Himmel zweigeteilt hatte. In der Stille muteten die Wogen, die nicht sofort zum Stillstand kommen konnten, noch gespenstischer an. Es war eine tote See... Der Seegang war weiterhin rollend, und die mit den Wogen schaukelnde und wieder absackende Divina Provvidenza stöhnte und ächzte mühevoll, mit stoßweisem Jammern, als wollte sie im nächsten Augenblick auseinanderfallen. Doch jenes Grauen erregende, durch die Takelung streichende Pfeifen verstummte, sodass sich der Kapitän über die jetzt geradezu angenehmen Geräusche nicht die geringsten Sorgen mehr machte. Ohne den Seestaub, den der Wind zuvor durch die Luft getragen hatte, konnte man endlich wieder frei durchatmen. „Bring den Schiffsjungen zurück in die Back!“ brüllte der Alte, daran gewöhnt, das Heulen des Windes übertönen zu müssen, sodass seine Stimme nun unangenehm übers Meer hallte. „Möchtest du, dass er über Bord gespült wird?“ 14.4.2009, 20:30 146 RELA Oktober „Hast du gesehen?“ fragte Frano. „Der Wind hat sich gelegt! Wo bleibt die Wasserhose?“ „Lass es mich nicht noch einmal sagen“, sagte der Alte und senkte die Stimme. „Bring den Jungen in die Back!“ „Steig hinunter, bis ich dich wieder rufe, und bleib um Gottes Willen drinnen!“ hieß Frano den Jungen aufgeregt an, der noch nichts verstand. Unwillig, gerade wegen dieser merkwürdigen Erregung in Franos Stimme, stieg Marin langsam wieder in die stickige Back hinab, in der das Wasser bis zu den Knöcheln stand. Im Rhythmus des schlingernden Schiffsrumpfs rollte es plätschernd von der einen auf die andere Seite. „Was ist los mit dir? Bist du verrückt geworden?“ herrschte der Alte Frano an und packte ihn am Arm. „Was soll ich Signora Lucijana sagen, wenn dem Kleinen etwas...“ Kapitän Maroevi} beendete seinen Satz nicht, da ihn ein immer lauter werdendes Brausen unterbrach, das an ein wutschnaubendes Ungeheuer erinnerte. Mit einem schauderhaften Heulen, das keiner von ihnen jemals zuvor vernommen hatte, wanderte der Wind jetzt nach achtern. Tadija wurde grün im Gesicht, Gobo begann mit stummen Lippen, den Geist seiner Großmutter Antica zu beschwören, sogar der am Steuer stehende Belluomo begann, zum heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Seefahrer, zu beten. Fabris tat nichts dergleichen. Mit offenem Mund und weit aufgesperrten Augen stand er da und erwartete den Untergang. „In den Wind schießen!“ brüllte der Alte, denn würde der Wind achterlich einfallen, könnten sie diesen Ansturm nicht lebend überstehen. Sie mussten das Schiff wenden, damit der Wind von vorne kam. „ Ist klar, Käpten!“ kam das Echo des Rudergängers, und die Divina Provvidenza begann mit dem Wendemanöver. Von allen Segeln des Zwei- relations 2009.pmd 146 masters war einzig noch das Vorsegel gesetzt. Jegliche Segelmanöver bei starkem Wind von achtern waren wegen der sich überstürzenden und das Schiff mit hoher Geschwindigkeit einholenden Wogen äußerst riskant. Die Wassermassen eines aufs Deck sich ergießenden Brechers waren eine große Gefahr und konnten den ganzen Decksaufbau eines Schiffes mitsamt der Takelung und allem, was dazu gehörte, mit sich fortreißen. Außerdem konnte durch eine hohe Welle das Heck so weit aus dem Wasser gehoben werden, dass das Ruder außer Kraft gesetzt wurde und das Schiff ohne Steuerung auf dem Wasser trieb, um sich auf dem Wellenkamm seitwärts zu neigen und zu kentern. Dies war das Schicksal vieler kleinerer Schiffe. Um dieser Gefahr zu entgehen, musste der Alte mit dem Bug im Wind zu stehen kommen und die Fahrt aus dem Schiff nehmen. Verlor das Schiff auf diese Weise an Geschwindigkeit und wurde es ausschließlich von Wind und Seegang angetrieben, beruhigte sich in Luv, d.h. auf der dem Wind zugewandten Seite des Schiffes die Lage, und es entstanden keine Brecher mehr. Wenn auch die See weiterhin stark bewegt war und das Schiff nicht aufhörte zu rollen, war den Wogen doch ihre zerstörerische Kraft genommen. Man sagt, dass in solch einem Fall das Schiff treibt, da sich sein Rumpf weder nach vorne noch nach hinten, sondern querab bewegt, wobei sich in Luv die Seen beruhigen. Der Alte befahl dieses Manöver im allerletzten Augenblick! Beim nächsten heftigen Windstoß riss die Reffleine des Großsegels, sodass Fabris, der sich am Großbaum festhielt, mit einem Ruck des nun frei schwenkenden Segelbaums davongeschleudert wurde. Wie ein Sack flog der Schiffskoch auf die andere Seite des Schiffes und krachte gegen TIONS die Bordwand. Er schlug hart mit dem Kopf auf und wurde im nächsten Augenblick von einer Woge überspült. Frano stolperte zu ihm und zerrte ihn auf dem rutschigen Deck zur Ladeluke. Hier drehte er ihn auf den Bauch, für den Fall, dass er ohne Bewusstsein war. Der Koch reckte sich stöhnend, und Frano atmete erleichtert auf. Außer einem Riss im Ölzeug war ihm nichts Schlimmeres passiert. „Ree!“ rief der Alte Belluomo zu, was hieß, dass sie erneut das Ende der La Tabbaccara-Bucht erreicht hatten und an das andere Ende der Insel zurückkehren mussten. Die ganze Zeit über fiel der Wind entweder seitlich ein, oder sie segelten hoch am Wind. „Der Sturm zerreißt uns die Takelung!“ brüllte Frano, der sich auf dem Vorschiff an den Wanten festhielt, seinem Vater ins Ohr. „Du hast es doch selber gesehen! Der Wind gehorcht dem Kleinen, er flaut ab, wenn er auf Deck ist!“ „Wer hat denn je so etwas gesehen?!“ rief der Alte mit noch lauterer Stimme durch das Brausen des Orkans. Seine tiefe Stimme wurde im Sturm zur Piepsstimme eines Kindes. „Du hast es doch selber gesehen“, wiederholte Frano mühsam. „Du hast doch Augen im Kopf.“ „Wie willst du das Kind in den Sturm hinauslassen?“ knurrte der Alte, durch Franos Zureden unsicher gemacht. „Er wird es keine halbe Stunde aushalten, es wird ihn von Bord spülen! Bist du verrückt? Was soll ich seiner Mutter sagen?“ „Er muss raus...“ In diesem Augenblick wurden beide von einer Woge übergossen und das Gespräch kurzweilig unterbrochen. Frano fuhr sich mit der Hand über die Augen, spuckte Meerwasser aus und schaute seinem Vater unbeirrt ins Gesicht. „Verstehst du denn nicht? Er muss raus aus der Back, das ist unsere einzige Rettung. Warum könnten wir ihn 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski nicht am Fockmast festbinden? Der Wind wird sich legen, und er wird nicht über Bord gespült werden!“ Der Alte blickte in den Sturm, der mit der gleichen Macht tobte wie am Anfang. Das Ölzeug der Seeleute war völlig durchnässt, und die Kleider, die sie darunter trugen, konnten sie nicht vor dem eisigen Wind schützen. Die Überzieher, die sie beim Bedienen der Takelung behinderte, vermittelte ihnen jetzt eher das eingebildete Gefühl, vor der Nässe geschützt zu sein. Mitternacht war schon vorbei, doch der Morgen noch unvorstellbar weit. Was konnte er verlieren? Sein Sohn neigte normalerweise nicht zu absonderlichen Ideen; er war ein sehr vernünftiger Junge, der sämtliche Prüfungen auf der Seefahrtschule in Bakar mit Auszeichnung bestanden hatte... Doch wenn dieser Unsinn half, dann mochte ihnen auch der heilige Nikolaus beistehen! Es hätte ohnehin kein anderer mehr helfen können! „Gut. Bring den Jungen. Binde ihn am Mast fest und pass auf ihn auf!“ „Sofort, mein Herr!“ erwiderte Frano und verfiel vor Erleichterung in eine förmliche Redeweise. Von einer hölzernen Wantklampe entnahm Frano ein zusammengelegtes Tau, das immer zur Hand sein musste, wenn etwa Fässer an der Bordwand befestigt wurden. In zwei Sprüngen war er an der Einstiegsluke, hob den Deckel und brüllte, so laut er konnte, in die Back hinunter: „Marin! Komm heraus!“ Einige Augenblicke lang geschah nichts, doch dann erblickte Frano in der Dunkelheit unter sich vier helle kleine Punkte und er bekam eine Gänsehaut. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was er da sah. Zwei Augenpaare waren es, die ihm da entgegenblickten! Zwei weitere Sekunden verstrichen, ehe Frano begriff, dass das untere Funkenpaar die Augen des Katers Coto waren, den relations 2009.pmd 147 der Schiffsjunge auf dem Arm hielt! „Lass den Kater, ihm wird nichts geschehen! Du musst den Sturm zur Ruhe bringen“, sagte Frano. „Ich komme, mein Herr, aber ich kann Coto nicht hier unten lassen!“ verteidigte der Schiffsjunge entschlossen das einzige Crewmitglied, das ihm dem Rang nach unterlegen war und für das er sich verantwortlich fühlte. „Er fürchtet sich...“ Obwohl in jeder anderen Situation eine solche Antwort undenkbar war, wurden die Maßstäbe des Steuermanns, mit denen er gegen Ungehorsam vorging, durch die Bedrohlichkeit der Lage gemildert, und der Wortwechsel endete damit, dass Frano mit einer nervösen Bewegung seinen Arm hinunterstreckte, um dem Schiffsjungen beim Aussteigen zu helfen. Sobald sich der Junge auf Deck befand, trat ein, worauf Frano schon gefasst war. Wie beim ersten Mal schwächte der Sturm in wenigen Sekunden zu einer Brise ab, dann zu einem Windhauch, um sich schließlich ganz zu legen. Das Ganze hinterließ einen noch verstörenderen Eindruck wegen des offenkundigen Bezugs zwischen dem Schiffsjungen und dem Wunder, das auf Deck geschah. Marin, der den Sturm zur Ruhe gebracht hatte, konnte jedoch nicht auch den Wellen der toten See Einhalt gebieten, sodass das Schiff auch weiterhin rollte. Doch ohne das Ungestüm des Windes war der Seegang viel leichter zu ertragen, auch hätten Maste und Taue dem Toben des Orkans nicht mehr viel länger standgehalten. Plötzlich sprang Coto von Marins Arm und huschte zurück in die Back. Der Schiffsjunge blickte bittend zu Frano. „Ich kann ihn nicht allein lassen, mein Herr! Ich bin gleich wieder da!“ Frano kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, geschweige denn, den Jungen aufzuhalten, so schnell stürz- 147 te Marin die Stufen hinab. Kaum war der Junge in die Luke gesprungen, fuhr der Wind mit einer Wucht in die Taue, die durch die vollkommene Stille unmittelbar zuvor noch unheimlicher wirkte. Die erschöpften Seeleute hielten sich mit letzter Kraft an den Tauen fest. Die Luft erbebte in einem Donnern, dass es für einen Augenblick aussah, als würden die Wolken auseinanderbrechen, und im nächsten, als wollte der ganze Himmel in unzählige Stücke zerbersten. „Hier sind wir, mein Herr!“ sagte Marin, der stolz den Kater am Genick hielt. In Rudine packten so die Katzen ihre Jungen mit den Zähnen. Als befänden sie sich allesamt in einer vollkommen wahnwitzigen Geschichte, begann der Sturm wieder abzuschwächen, um in wenigen Sekunden von der Gewalt eines Orkans auf das Fächeln einer Brise abzuflauen, dann zu einem Windhauch, bis schließlich Stille eintrat. „Ich werde dich am Mast festbinden, damit du nicht von Bord gespült wirst“, sagte Frano, als der Blick des Schiffsjungen auf das Tau in der rechten Hand des Steuermanns fiel. „Mir ist egal, wie du das fertigbringst, wichtig ist nur, dass es wirkt“, schloss er lächelnd seinen Erklärungsversuch ab. „Wenn du noch einmal hinuntergehst, holt uns der Teufel!“ Sämtliche Besatzungsmitglieder außer Belluomo, der zu weit hinten am Ruder stand und nichts von alledem sehen konnte, starrten wie versteinert auf die Szene, für die sie in ihrer Vorstellungskraft schwerlich Raum gefunden hätten, die jedoch wirklicher kaum hätte sein können. Marin stellte sich an den Mast und hielt sich mit einer Hand am Eisenbeschlag der Großbaumklau fest, woraufhin ihn der Steuermann fest mit dem Tau umwickelte und es zum Schluss noch einmal aufmerksam überprüfte. Es durfte den Jungen nicht zu fest einschnüren, musste 14.4.2009, 20:30 148 RELA Oktober aber der Wucht der Wellen standhalten. Tadija und Gobo sprachen kein Wort. Fabris schnappte nach Luft, als wäre er noch einmal mit dem Kopf gegen die Bordwand geschlagen, und der Alte blickte auf die tote See und wunderte sich, dass der Wind verschwunden war. Etwas Geheimnisvolles war geschehen, einer dieser aus Seemannsgarn gesponnenen Vorfälle, an die niemand glaubt, von denen aber jeder gerne erzählen hört. Sie betrachteten den Schiffsjungen, der den Kater Coto auf dem Arm hielt und ruhig, mit dem Tau in Brusthöhe, am Großmast angebunden stand. Der Anblick erinnerte nur allzu sehr an die alten griechischen Sagen, die Doktor Nizeteo aus Stari Grad in seltenen Mußestunden dem Alten gerne erzählte. Der festgebundene Schiffsjunge sah aus, als sollte er dem Meeresgott Poseidon geopfert werden! Doch als hätte es in dieser Orkannacht nicht schon genug Wunder gegeben! An den Spitzen beider Masten sah man plötzlich kleine Flammen züngeln, die in der düsteren Nacht noch heller leuchteten, als sie eigentlich waren. Es war, als ob jemand die Mastspitzen in Brand gesetzt hätte! „Nikolausfeuer!“ stammelte Fabris, der sich als Erster wieder gesammelt hatte. Gleich darauf rief er laut und mit der Hand nach oben weisend: „Männer, Nikolausfeuer!“ Tatsächlich wurde diese Erscheinung von kroatischen Seeleuten als das Feuer des Seefahrerpatrons Nikolaus bezeichnet, ist in anderen Gebieten aber auch als Elmsfeuer bekannt, so benannt nach dem Schutzheiligen des Feuers St. Elmo. Diese Flämmchen sind durch schwache elektrische Entladungen hervorgerufene Lichterscheinungen an hohen, spitzen Gegenständen, so etwa den Mastspitzen von Schiffen. Den Seeleuten waren Elmsfeuer stets willkommen, da sie das Abflauen eines Sturms ankündigten. relations 2009.pmd 148 Obwohl er am Mast festgebunden war, an dessen Spitze Flammen züngelten, fühlte Marin in tiefster Seele eine große Befriedigung. Deshalb hatte er auch auf Deck sein wollen, denn mit den Bildern, die ihm der Orkan zutrug, konnte er es nicht lange in der Back aushalten. Er streichelte den verängstigten Kater, der wenig Verständnis für den Donner und den Orkan hatte, und begriff endlich: Der Freund des Mandelbaums, der Wind, hatte ihn gefunden! Der Beweis war in seinem Kopf: Dieselben Bilder der aufgewühlten See, die ihm der Wind in den Ästen des Mandelbaums zugetragen hatte, diese Traumbilder sah er jetzt in Wirklichkeit! Erlöst vom Peitschen des Sturmwinds, blickten die Seeleute mit neuer Zuversicht dem Morgen entgegen, der sich mühsam und lange hinter den dicken Gewitterwolken ankündigte, mit denen der Horizont regelrecht verhängt war. Das vom Schiffsjungen bewirkte Wunder war keine Gewähr dafür, dass das Unwetter nicht erneut losbrechen und mit noch größerer Macht wüten könnte. Die Matrosen, vor allem aber der Kapitän, waren trotz der wundersamen Rettung auch weiterhin misstrauisch. Obwohl sie mit ihren Kräften am Ende waren, mussten sie auf ihren Plätzen bleiben. „Wie können wir sicher sein, dass sich der Wind wirklich gelegt hat?“ fragte Gobo und sprach aus, was offenbar alle beschäftigte. „Wir schicken den Schiffsjungen in die Back, und wenn es dann noch ruhig bleibt, na dann wissen wir es genau“, meinte Frano achselzuckend, als verstünde es sich von selbst, dass die Windlage davon abhing, ob der Schiffsjunge an Deck war oder nicht. Marin stieg also wieder in die Back hinunter, doch nichts störte mehr die Ruhe, die eingekehrt war. Es fächelte lediglich eine leichte Brise. Alle lauschten gespannt, aber außer TIONS dem Plätschern der Wellen an der Außenbordwand war kein anderes Geräusch zu hören. Nach einigen Minuten ließ die Spannung nach. Der Sturm hatte sich endgültig gelegt. Unter Deck erwartete den Schiffsjungen ein schreckliches Durcheinander. Die Back stand unter Wasser, und sein Korb und seine Strohmatte schwammen schaukelnd neben dem Kanonenofen. Alles, was er besaß, war zerstört. Zum Glück war das Bild seiner Mutter eine Blechfotografie, der das Meerwasser nichts anhaben konnte. Er atmete auf und machte sich an die Arbeit. Er packte den Eimer, der neben der Leitertreppe schwamm, um das Wasser aus der Back zu schöpfen. Als er an Deck stieg, war der Himmel schon lichter. Die Wolkendecke begann zu reißen. Im fahlen Morgengrauen erblickten sie die tief ins Land hineinragende Cala Croce-Bucht, die sie auf ihrem Kreuzkurs im Laufe der letzten Nacht mindestens zehnmal passiert hatten. Er schüttete das Wasser über die Reling und stieg müde hinab, um den Eimer erneut zu füllen. Er wusste, dass diese Arbeit andauern würde. Während der Schiffsjunge mit dem Lenzen der Back beschäftigt war, näherte sich die Divina Provvidenza dem Hafen von Lampedusa, denn trotz der Sturmnacht hoffte Kapitän Maroevi} immer noch, eine frische Ladung eingesalzener Fische aufnehmen zu können. Als guter Schiffsführer hätte er auf der Stelle Kurs auf Catania oder Syrakus nehmen müssen, um dort die vom Hafenamt vorgeschriebene Quarantäne zu verbringen. Mit einem gültigen Gesundheitszeugnis könnte er später eine Ladung Obst oder Schwefel aufnehmen, denn das waren die Hauptwaren, die in diesen sizilianischen Häfen umgeschlagen wurden. Doch wegen der ertragreichen Fischereisaison, die es in diesem Umfang auf Lampedusa noch nie gegeben hatte, 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Zvonko Todorovski verhielt sich der Alte immer weniger als Seefahrer, sondern immer mehr als Händler, der in einer Stadt billig Waren erstand, um sie anderswo teuer zu verkaufen. Daher war er wie besessen von dem Wunsch, eine neue Fracht eingesalzener Fische aufzunehmen, die ihm hier zum Greifen nah war. Kap Guitgia kam in Sicht. Dahinter lag Spiaggia Guitgia, eine von drei Inselbuchten, in der die Küstenwache die Hafeneinfahrt kontrollierte. Kaum hatte die Divina Provvidenza den Eingang zur Bucht erreicht, tauchten auch schon zwei große Fischkutter auf. Auf jedem standen sechs mit Gewehren und Pistolen bewaffnete Männer. Der Alte erblasste. Aus der frischen Ladung würde wohl nichts werden. „Indietro, o affondiamo la nave!“15 rief Martoran, der sich im ersten Kutter befand. Sofort wurde klar, dass dieser angesehene Fischer die Küstenwache befehligte. Von zwölf Gewehrläufen bedroht, wandte sich der Alte mit einem wortlosen Kopfnicken Tadija zu, der neben ihm auf dem Achterdeck stand. Dieser hatte Belluomo abgelöst, nachdem die Sturmnacht überstanden war. Der Rudergänger leitete sofort das Wendemanöver ein, da es sehr leichtsinng gewesen wäre, die Entschlossenheit der lampedusanischen Fischer angesichts der Choleragefahr auf die Probe zu stellen. „Ree!“ befahl der Alte, obwohl er es immer noch nicht fassen konnte, dass diese Männer, mit denen er so manches Glas Wein geleert hatte, ihnen jetzt so grob und ohne Erbarmen begegneten. „Klar zum Wenden, mein Herr!“ bestätigte der Rudergänger das Kommando. „L’intera isola è sotto il controllo delle guardie!“16 rief ihnen Martoran zur 15 Ital.: Zurück, oder wir versenken das Schiff! 16 Ital.: Die gesamte Insel wird bewacht! relations 2009.pmd 149 Warnung mit tiefer Stimme hinterher, damit sie ja nicht auf den Gedanken kamen, an einer anderen Stelle anzulegen. Angetrieben von einem leichten Westwind wendete die Divina Provvidenza scharf nach Osten und hielt sich längs der Küste. In der Höhe von Kap Sottile schwenkte sie nordwärts ab und nahm Kurs auf die Südküste Siziliens. Nach der anstrengenden Orkannacht waren alle Mann an Bord so erschöpft, dass die Aussichten, vor die das ungünstige Schicksal sie jetzt stellte, niemanden mehr abschrecken konnten. Andererseits war im Bewusstsein der Männer tief die Überzeugung verwurzelt, dass die Entscheidungen des Kapitäns unanfechtbar waren, und so kam niemand auf den Gedanken, den Alten anzuzweifeln oder zu kritisieren. Seine Befehle bestimmten ihren Lebensalltag, im Guten wie im Bösen. Endlich blies der Wind wieder ein bisschen kräftiger, was die Überfahrt an die Ostküste Siziliens begünstigte. „Wir gehen nicht auf diese Seite“, sagte der Alte zu Frano, als hätte er gewusst, womit sich sein Sohn in Gedanken beschäftigte. „Gehen wir nicht an die Ostküste?“ fragte er und meinte Syrakus oder Catania. „Der Wind dreht immer mehr auf Südwest!“ „Nein. Wir gehen nach Trapani“, entgegnete der Alte zu Franos Überraschung. Trapani war eine Hafenstadt im äußersten Südwesten Siziliens und lag in der dem Wind genau entgegengesetzten Richtung. Bereits zwei Tage, nachdem sie die Gewässer Lampedusas verlassen hatten, gelangten sie durch geschicktes Kreuzen auf die Höhe der Hafenstadt Agrigent, die fast genau in der Mitte der sizilianischen Südküste lag. Die ohnehin miserable Stimmung 149 an Bord konnte auch durch die Begegnung mit einem österreichischen Dampfschiff, dessen hoher Schornstein dicken, schwarzen, meilenweit im Umkreis stinkenden Qualm ausstieß, nicht gebessert werden. Die großen Schaufelräder zu beiden Seiten des Rumpfes trieben das Schiff langsam voran, das trotz seines Dampfantriebs wie ein Segler aufgetakelt war. Die Divina Provvidenza hisste zum Gruß die Flagge, woraufhin ihnen der diensthabende Offizier vom Achterdeck etwas durch die Flüstertüte zurief. Wegen des Windes verstand es zum Glück aber keiner, und alle waren erleichtert, als der schwarze Qualm endlich außer Sichtweite war. „Der Teufel soll sie holen mitsamt diesem Gestank“, schimpfte Gobo ungehalten. „Das soll ein Schiff sein: Als hätte man einen Ofen zu Wasser gelassen!“ „Tja, so ist das, mein lieber Gobo“, entgegnete Tadija, den jedes Mal, wenn er einen Dampfer erblickte, Traurigkeit überkam. „Bald gibt es keine Seeleute mehr. Schau sie dir an: Heizer sind das und keine Seeleute!“ Nachdem sie wegen der wechselnden Winde mehrere Tage auf Kreuzkurs gesegelt war, brachte die Divina Provvidenza am 31. Juli um drei Uhr nachmittags vor dem Lazarett den Anker aus. Alle waren erleichtert, dass der Alte endlich seinen Trotz aufgab. Doch so furchtbar der Orkan auch gewesen war, hatte keiner der Seeleute große Lust darauf, in Quarantäne zu gehen. Das bedeutete einen langweiligen Schiffsaufenthalt im Hafen, verbunden mit allen möglichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die strengstens überwacht wurden. Die Sonne spendete angenehme Wärme, und trotz der immer stärker lastenden Müdigkeit nach den Strapa- 14.4.2009, 20:30 150 RELA Oktober zen der Orkannacht wirkte die Vielzahl der Schiffe im Hafen auf alle ein wenig belebend. Neben ihnen ging eine ungewöhnlich große, dreimastige Brazzera vor Anker. Mit ihren zwei an langen, schrägen Spieren ausgebrachten Lateinersegeln an Fock- und Großmast und einem kleinen Schratsegel am Besanmast stellte sie nach dem österreichischen Rußdampfer ein willkommene Abwechslung dar. „Solche werden in Rovinj gebaut“, murmelte sich der Alte in den Bart, denn es war wirklich nicht wichtig, woher die Brazzera war. Ein Ungemach lässt sich irgendwie leichter ertragen, wenn man sieht, dass man nicht alleine dasteht... Stari Grad, Freitag, den 5.1.2007 Letzte Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Niemals zuvor habe ich etwas Ähnliches geträumt. Dass es ein Traum war, begriff ich erst beim Aufwachen – so realistisch war alles! Normalerweise erinnere ich mich nur selten an meine Träume, da ich meistens alles vergesse, sobald ich die Augen aufmache. Doch an diesen Traum erinnere ich mich, als ob er sich wirklich ereignet hätte. Also, es war so: Ich bin auf dem Weg nach Vele Rudine und singe vor mich hin, weil es ein schöner, sonniger Tag ist. Obwohl der Weg steil ansteigt, komme ich mühelos voran, als ob meine Füße die Erde gar nicht berühren. Nach der kleinen Wegkapelle ist die Steigung sachter, relations 2009.pmd 150 doch ich gehe, als ob ich schwebe. Ich komme nach Rudine vor die kleine Kirche. Kein Mensch weit und breit, das macht mir Angst. Ich suche nach Menschen, blicke in die Häuser, alle Türen stehen offen, doch kein Mensch, nirgends. Alle sind irgendwohin gegangen, das ganze Dorf ist verlassen. Ich bin das einzige Lebewesen in Vele Rudine. Ich rufe und rufe, aber niemand meldet sich. Zu hören ist nur der Wind in den Wipfeln der Granatapfelbäume. Plötzlich kommt mir ein Gedanke! Vielleicht sind die Menschen in Male Rudine? Ich muss sie finden! Ich gehe zurück bis zum Denkmal am Dorfeingang und biege dann in den Weg nach Male Rudine ein. Ich gehe eine Weile und ungefähr auf der Hälfte des Weges erblicke ich einen großen Baum. Überall im Umkreis sind Felder, und der Baum steht auf einer kleinen Lichtung, auf der außer ihm nichts anderes wächst. Obwohl ich eigentlich nach Male Rudine aufgebrochen bin, beschließe ich, auf den Baum zu klettern. Ohne Schwierigkeit klettere ich bis hoch in seine Krone. Der Himmel ist blau, und der Wind säuselt in den Blättern. Da schließe ich die Augen und sehe vor mir das Bild eines Segelschiffes mit eingezogenen Segeln. Wie auf einem riesigen Bildschirm sehe ich das Bild eines schrecklichen Orkans und das Schiff, das auf den hohen Wellenbergen mächtig schaukelt. Auf einmal befinde ich mich nicht mehr im Geäst des Baumes, sondern auf dem Schiff! Um mich herum tobt ein schrecklicher Orkan, und im Nu bin ich nass bis auf die TIONS Haut! Auf dem Schiff gibt es niemanden außer mir. Das Schiff ist verlassen wie Vele Rudine, aber ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst, denn irgendwie lebt das Schiff, so wie ich auch lebe, nur eben anders. Und es spricht zu mir in verständlichster Weise, in Bildern, und ich verstehe alles, was es mir erzählt. Eigentlich kommt es mir vor, als ob der Wind durch das Schiff spricht, das er auf den turmhohen Wellen schaukeln lässt. Aber ich habe keine Angst, denn die Wellen sind ein Teil dieses Spiels. Er hat alles in seiner Gewalt und spielt dabei nur, doch für mich besteht keine Gefahr, da wir uns irgendwie verstehen, als ob wir Freunde wären... Merkwürdig! Ich wachte auf, so dass ich gar nicht mehr nach Male Rudine kam, aber jetzt denke ich, dass das auch gar nicht wichtig war. Ich stieg aus dem Bett und bemerkte, dass das Fenster ein wenig offen stand. Mutti hat es bestimmt nicht geöffnet, weil es draußen kalt ist, vor allem nachts. Ich aber auch nicht. Wirklich merkwürdig. Ich bin müde, und es ist spät, aber ich wüsste gern mehr über den kleinen Marin aus „Lampedusa“... Ich werde also trotzdem noch ein bisschen lesen. Was aber, wenn ich heute nacht wieder von einem Orkan träume? So einem, wie Marin ihn erlebt hat?... Aus dem Kroatischen von Silvia Sladi} 14.4.2009, 20:30 str. 151 152 RELA November TIONS IGOR RAJKI (1965, Zagreb) schriebt Prosa, Dramen und Essays, sowie Kinderbücher. Er studierte Jura an der Juristischen Fakultät und erhielt einen Abschluss für Linguistik an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Ende der 1980er Jahre begann er, Kurzgeschichten im Dritten Progamm von Radio Zagreb sowie in Periodika zu veröffentlichen. Seit 1993 ist er ständiger Mitarbeiter der Schülerzeitschrift „Modra lasta“, in der er Kindergeschichten und Reportagen veröffentlicht und gemeinsam mit K. Zimoni} am Comicteil des Blattes arbeitet. Im Zeitraum von 1996 bis 2000 war er Redakteur bei mehreren Internet-Kulturportalen. Er ist Mitglied des Kroatischen Verbandes freischaffender Künstler seit 2003 und seitdem hat er sich ausschließlich dem Schreiben gewidmet. Ab 1990 veröffentlicht er regelmäßig Texte in diversen Kulturzeitungen und Literaturzeitschriften sowie in weiterer Periodika. Er hat mehrere Dramastücke geschrieben und drei seiner Hörspiele wurden in Produktion des Dramaprogrammes des Kroatischen Rundfunks aufgeführt. Seit 2008 schreibt er auch für das Theater. Sein erster Roman Katalog über Gottes Lieferanten („Katalog o bo`jim dostavlja~ima“, Zagreb, 2000), in dem das zentrale Motiv das Schreiben eines Romans selbst ist, offenbart alle Merkmale seines einzigartigen Ausdrucks: Er experimentiert mit Form, Genre und Thema, spielt virtuos mit der Sprache, von unerwarteten Wortspielen bis zu sprachlichen Zweideutigkeiten, schafft eigene Wortgebilde, bewegt sich hin und her zwischen Fantastik und Realität, stürzt Mythen und bricht Tabus, und das immer geistreich. In seinen Erzählsammlungen (Regelwerk über das Schaffen von Vorstellungen, „Pravilnik o stvaranju predod`bi“; Umoresken, „Umoreske“; Die Wissenschaft des Schimpfens, „Znanost pogrde“) haben oftmals graphische und konzeptuelle Spielereien mit dem Text und Variationen des Inhalts eine Schlüsselrolle. Die Sammlung Himmlische Semantik („Nebeska semantika“, 2007), enthält Geschichten, die in der Zeit von 1985 bis 1995 entstanden sind und die wegen ihrer politischen Provokativität nicht früher veröffentlicht werden konnten (z. B. wenn eines Morgens ein Kroate als Serbe aufwacht). In seinen Jugendbüchern (Erzählband Geisterköder, „Mamac za duhove“ und Roman Schreckana, „U`asana“) verbindet er auf unterhaltsame Weise und durch eine zersauste Fabel kindlichen Fantasiereichtum, märchenhafte Elemente und Details aus der Wirklichkeit zu einem Lesestoff, der keinen Konventionen sklavisch folgt. Im Roman Du siehst gut aus („Dobro izgleda{“) erscheint aus den Skizzen der Routine eines Liebespaares im Chaos des Stadtlebens eine groteske Darstellung der kroatischen Gesellschaft. 2008 veröffentlichte er die Kurzprosa TreppenHausen („Stubi{tarenje“). Er ist in mehreren Anthologien vertreten, unter ihnen auch in Beste kroatische Erzählungen 2007 („Najbolje hrvatske pri~e 2007“, Zagreb, 2007). relations 2009.pmd 152 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Igor Rajki 153 Ein konsequenter Gottloser Igor Rajki Seine erste Marienerscheinung hat- te der neunundfünfzigjährige Vinko Perin, ein zurückhaltender Heilkräuterkundiger von einer kleinen und armen Insel, auf der ein Seufzer nach dem Schimpfwort länger dauert als das Schimpfwort selbst, gleich nach Sonnenaufgang, während er in einem uralten und abgenutzten Boot auf Fischfang war. Das ruhige Meer, blauer als der Himmel, wurde noch blauer, als Vinko ein starkes Zucken seiner Angel spürte. Er fing an, schnell zu ziehen, und vor dem Herausziehen verschwand plötzlich das Gewicht des Fangs. Hinter der leeren Angel schwebelte die bläuliche Gestalt der Muttergottes, die völlig trocken auftauchte, um das Boot herum über die Oberfläche und streckte büßerisch ihre Handflächen dem armen Vinko entgegen, damit er sie annahm. Vinko, der dörfliche Wunderling und Eigenbrötler seit jeher, verächtlich gegenüber müßigen Predigern, ließ sich vom barmherzigen Lächeln der Muttergottes nicht weich klopfen. Sofort griff er nach dem Ruder, durchriss mit seinem Pfeifen die Luft und briet ihr eins über den Kopf. Die Muttergottes stürzte lautlos ins Meer, wobei sich das Wasser nur unwesentlich, wie unter einem Hauch, runzelte. Er sah ihr nach, wie ihr blaues Gewand dunkler wurde und zum Grund verschwand und, gran- relations 2009.pmd 153 tig wegen des schlechten Fanges von zwei kleineren Rotbrassen und einer winzigen Spitzbrasse, ruderte zur einsamen Küste an der Südseite der Insel, an der er hauste, weit entfernt vom Dorf, in einer kleinen und ämlichen Fischerhütte. Die nächste Erscheinung passierte ihm kurz vor Mittag im Dorf, während er Franes Boot auf der Mole vor Franes Haus anmalte. Eigentlich war Frane, der dickliche Besitzer des dörflichen Gasthauses, der einzige, der mit Vinko redet, ihn zwar für einen verrückten und einsamen Wunderling hält und ihn nie ernst nimmt, aber aus einer riesigen Dankbarkeit für eine Streichsalbe gegen blutige Schwielen, die Vinko für ihn aus seltenen Kräutern zubereitet hatte und die über Nacht verschwanden, erlaubte er sich ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Sonderling. Und da er ihn dabei als fleißigen Mann schätzte, teilte er ihm oft für seine Leistungen eine Mahlzeit und Wein zu. Obwohl Vinko in der Hocke saß und den Bootskörper weiter weg vom Farbeimer streichte, kippte der von selbst um und die helle Farbe, die zerfloss, nahm das bittende Aussehen der Muttergottes an, die ihn unterwürfig lockt. Die Falten ihres Kleides, die auf einmal die Strahlen des Sonnenscheins einsogen, trockneten sofort und leuchteten in einem diamantenen Glanz. Missstimmig wegen der zusätzlichen Arbeit, trotz Maestral, verbrachte er mühsehlig den ganzen Nachmittag, die Mole mit einer Bootsbürste säubernd und reibend. Kurz vor Abenddämmerung, als er über felsiges Gelände aus dem Dorf nach Hause ging, hie und da Steinmauern übersprang und in umzäunte Grundstücke hineinging, um nur ihm bekannte Pflanzenarten zu pflücken, erschien sie ihm aus den Kronen alter Olivenbäume am Bergpfad. Unter dem geduldigen und milden Lächeln, das sie ihm in der gedeckten Dämmerung zuwarf, leuchtete ihr Gewand gülden. Mit dem Gefühl einer lästigen Verfolgung, traf er sie beim zweiten Versuch mit einem Stein mitten auf die Stirn. Die Muttergottes stürzte, lautund spurlos, in die Macchia, beugte nur schwach die Spitzen der Buschzweige, einer Brise gleich. Am Abend, als Vinko die gesammelten Kräuter ordentlich an der Wand neben den aufgetürmten Kisten hinlegte, sie so ausbreitete, dass sie auf dem irdenen Boden trockneten und ein Feuer für den Fischrost anzündete, stieg nach kurzer Zeit die Muttergottes mit platinartigem Glanz über dem entfachten Feuer auf und formte eine sanft offene Umarmung, als ob sie damit Zuflucht böte. Vinko wedelte mit einem Kartondeckel den Rauch weg, bis es schmerz- 14.4.2009, 20:30 154 RELA November te. Als ihm das nicht gelang, urinierte er in seiner Wut auf das Feuer und die Fische und erst dann verdampfte die Muttergottes. Mit der Einkehr der nächtlichen zirpgeschwängerten Stille, um seinen Hunger zu entschädigen, versuchte er im Rauchen von altem Tabak, eingedreht in Zeitungspapier, Genuss zu finden. Die Schärfe in den Lungen verdünnte er mit einem Glas Rotwein von Frane, um danach seine alte Jeans auszuziehen und umsichtig, ohne auf die Haufen von Thymian zu treten, legte er sich auf seine holprige Schlafstätte, eigentlich eine Decke aus Kotzen. Die Gestalt der Muttergottes kreiste im Raum umher. Mitgenommen von der Lästigkeit ihres Erscheinens, ohne darin irgendeine Inspiration zu finden, sondern nur eine schiere Störung seines Schlafes, bewarf sie Vinko mit Kisten, aber die Muttergottes wich aus, erneut wiederkehrend, sich anbietend und ihm jede Wutsalve verzeihend. Ganz wach stand er verärgert auf und während ihm die Muttergottes levitierend folgte, mit den Spitzen ihres silbrigen Kleides zitternd, die umsäumt waren von Mondlicht und die fledermausartig um seinen Kopf schwebten, ging er vor das Haus. Gereizt wegen des geraubten Schlafes packte er den alten rostigen Dreizack, der angelehnt und achtlos an der Wand stehen gelassen wurde, längst dem zerfressenden Salz und der Feuchtigkeit überlassen. Von seinen Zacken entfernte er zunächst mit der Hand das dichte Knäul der aufgespulten Spinnweben, die mit getrockneten Seegrashalmen versetzt waren und wartete, dass sich die Muttergottes ihm näherte, dann, mit beiden Händen den Griff des Dreizacks packend, rammte er die Spitzen mit einem kraftvollen Schwung über die Schulter der Muttergottes direkt ins Herz. relations 2009.pmd 154 Durchbohrt blieb sie an der Rinde der alten Tanne hängen; die Arme glitten ihr am Körper herab, bis sie letztendlich die Augen schloss, aber ohne das Lächeln vom Gesicht zu nehmen. Erst als ihr Kopf gegen die Schulter fiel, erahnte Vinko in der dunklen Nuance ihres Kleides mit der Farbe einer heiteren Nacht einen Augenblick lang ihre weiße Haut und schlanke Figur, wobei im Nu all ihre Gestalt in der undurchdringlichen Dunkelheit verschwand. Er riss den Dreizack heraus, legte ihn an der Wand ab und wischte sich den Schweiß über den Lippen mit dem Handrücken ab, der usichtbare Körper jedoch knallte vor seine Füße mit dem dumpfen Zittern eines kurzen Erdbebens. Zunächst wusch er im Regenfass das Blut vom Dreizack ab, das in der Dunkelheit der Dichte von Erdöl ähnelte und dann wickelte er sie, die Rundungen der Muttergottes ertastend, in ein altes Netz. Ihr Körper erhielt erst dann die wiedererkennbare, obwohl dem Auge schwer unsichtbare, Fülle zurück. Er schleppte die Leiche auf den Berg hinter dem Haus, wo er sie mit Mühe in den harten Boden eingrub. Er wartete, bis er wieder zu Atem kam, warf ziemlich große Steinbrocken über das Grab und verwischte somit jede Spur. Nach seiner Rückkehr, müde von den übertriebenen Aktivitäten, legte er sich rücklings auf den Kotzen und schlief mit dem Gefühl einer erledigten Arbeit sofort ein. Dass er zum ersten Mal die Dämmerung verschlief und am frühen Vormittag aufwachte, schon bei ziemlich starkem Südwind, brachte ihn auf. Beim Ausfahren zum Fischfang gestört fühlte er sich leer und stand wie nie zuvor regungslos und müßig vor dem Haus, wobei er eine Zeit lang gar nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Er bewegte sich erst, als er sah, dass an den Spitzen des Dreizacks die Blutstropfen nach oben fließen. TIONS Vinko kehrte gefasst in seine Hütte zurück, sprach dem Wunder keine Wichtigkeit zu und machte sich an die Zubereitung einer mysteriösen Pflanzenmischung, die in der Lage wäre, für immer das Blut der Muttergottes zu entfernen. Du bist dir am klarsten, erst wenn du dich etwas Praktischem zuwendest – dachte er und fing zu pfeifen an. Den ganzen Morgen, mit einwandfreier Gründlichkeit, verbrachte er mit dem Alchemieren der Masse. In einem nur ihm bekannten Verhältnis vermischte er zerstoßene Mandeln, Olivenöl, zu Staub getrockneten Rochenschwanz, Haifett, ein Extrakt aus der Schale unreifer Zitronen, eine Tinkur aus Mandarinenund Minzblättern, ein Salbeidestilat sowie die Prise einer Wurzel eines seltenen Unkrauts mit herbem Geruch. Stolz wegen der wirkungsvollen Wirkung, im Gegenteil, die Spitzen an dem Dreizack glänzten, als ob sie erst hergestellt wurden, rieb er sich die Hände und als ein Schiff auftauchte, das sich auf dem Meer wälzte, machte er sich auf ins Dorf, um Frane beim Ausladen zu helfen. Bei Schirokko, am heißen Nachmittag, verbreitete eine Gruppe italienischer Touristen mittleren Alters, die ihre Jacht an der Südseite der Insel ankerte, als sie zum Mittagessen ins dörfliche Gasthaus kamen, die Kunde, dass ihnen die Muttergottes am Berggipfel erschienen sei. Sie waren insbesondere von ihrer weiblichen Schönheit eingenommen, so dass sie sich bemühten, bis in die letzte Kleinigkeit und Verschwitztheit, ihr sonderbares netzartiges Kleid zu beschreiben, das in greller khaki Farbe leuchtete, und das grünliche Muster, das Flicken ähnelte, war so glizernd und schuppig, dass alle übereingekommen sind und für einen Moment dachten, dass es sich um eine gestrandete Meerjungfrau handelte. Doch erst ihr klagendes und nur ihrer wür- 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Igor Rajki diges ehrliches Lächeln des Empfangens und Gebens von Treue, das ihr nicht vom Gesicht wich, überzeugte sie, dass doch von der Muttergottes die Rede ist. Vinko sagte nur leichthin zu Frane, während sie ein Fass in den Keller schoben, dass das „nicht wahr ist, niemand kann sich aus einem verwirrten und festgeschnürten Netz aufrichten, geschweige denn fliegen“. Frane ließ ihn quasseln, denn Vinkos Münchausengeschichten pflegten ihm, nicht nur einmal, die Zeit zu verkürzen. Ebenso wie mehrmals im Winter, als Vinko während eines ganzen traurigen regnerischen Nachmittags, ermuntert durch Kräuterschnaps, wieder erzählt hat, dass einmal der Teufel, „rot wie ein Krebs“, mit einem Dreizack im Huf vor seinem Boot auftauchte; gerade als er eine Zahnbrasse von zehn Kilo herausgeholt hat und versucht hat, sie ihm wegzunehmen und in dem Hin und Her packte der Teufel dennoch den Fisch, „aber dafür habe ich ihm den Dreizack weggenommen“. Frane gluckste unentwegt und konnte kaum das Fass halten, denn die Tatsache, dass Vinko erzählte ohne aufdringlich zu sein, so dass seine Worte resigniert waren, brachte ihn umso mehr zum Lachen. Und es gibt nichts Lustigeres als die geistig abwesenden Äußerungen von Einfaltspinseln. Nach Unterhaltung dürstend provozierte ihn Frane, nachdem die Touristen gegangen waren und er ihm relations 2009.pmd 155 Fischsuppe und Fladen angeboten hat, mit der Zehn-Kilo-Zahnbrasse. „Ach, die hatte noch mehr“, wiederholte Vinko ruhig und schluckte die Suppe ohne den Blick vom Löffel zu wenden und auf diese Weise brachte er Frane zum Quietschen und in so gute Laune, dass er ihm selbst Wein ins Glas einschenkte. Danach vergoss Frane den Wein über Vinko, geschüttelt vor Lachen, da ihm dieser fast flüsternd sagte, dass ihm „auch die Muttergottes einen mindestens zwanzig Kilo schweren Fang weggenommen hat“. Immer noch mitten in einem Lachanfall konnte Frane keine Luft holen, als ihm Vinko, ihn nicht einmal ansehend, seelenruhig sagte, dass er sich nicht zu entschuldigen brauche, weil „er einen Aufstrich für das Entfernen jeglicher Flecken hat“. Und es ist besser, alles beim Fisch zu belassen und zu verschweigen, dass die Muttergottes die Gewohnheit hatte, ständig ihre Kleider zu wechseln, denn sie verfolgt die Mode der Wechsel von Himmelslicht und Wind. Kaum einer hätte das verstehen können, aber alle hätten zweifeln können – dachte Vinko und fing an zu singen. Frane prostete ihm zu und fiel ein, ohne das er zu Ende schluckte. Durch die Meeresstille der Nacht, ohne Windhauch, erscholl die Melodie. 155 dem Nachauseweg, bei dieser feuchten und schwülen Morgendämmerung, angetrunken und getrieben von Zweifeln zum Grab der Muttergottes gegangen ist und um sich von der eigenen Gründlichkeit gegenüber den Gerüchten zu überzeugen, begann er die Steine umzuwälzen, bis er zum Leichnahm gedrungen war. Über den Aberglauben der müßigen Touristen lächelnd ertastete er die Löcher im Netz, die kalten, aber angenehm runden, etwas größeren weiblichen Brüste. In diesem Augenblick, durchdrungen von einer erhabenen Wonne, ließ er seine Hose plötzlich herunter, kniete sich hin und, es beidhändig haltend, rammte sein aufgequollenes Glied tief in die nasse Luft. Es herrschte eine solche Schwüle, dass er sich schwer bewegte. Glücklicherweise hatte er den zubereiteten Aufstrich mitgenommen, dessen wohltuende Mischung ihm eine schmerzlose Beweglichkeit ermöglichte, also spürte er durch den eintönigen Widerhall des Knirschens von Steinen unter sich und die langen leidenschaftlichen Seufzer in der völligen Dunkelheit des Grabes, wie das starke Beben in seinem Körper, das jede Religiösität überwindet, sich jedoch gleichzeitig darin auch einrahmt, den unerreichbaren Wunsch heraufbeschwört, er möge auch der Vater von Gottes Sohn werden. *** Vinko Perin ließ durch nichts und niemanden vermuten, dass er auf 14.4.2009, 20:30 Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 156 RELA November TIONS Memoiren über den Keim der Unsicherheit ¹oder der Komplex kleiner Völkerº Ich habe schon so viel Zeit vor dem Spiegel im Flur verbracht, dass ich mir nicht mehr fremd war. Ich wollte mich nur noch davon überzeugen, dass mit die Militärfarben des Pullovers und der Mütze aber auch wirklich gut stehen. Zwar störte mich ein wenig der rachsüchtige Gesichtsausdruck, aber es war nicht möglich, ihn zu ändern oder zu mildern. Wie dem auch sei, alles lief nach dem vorgesehenen Plan und ich war vorbeireitet für die Aktion. Das Einzige, das mich eigentlich bedrückte, war ein winziges, aber unangenehmes Gefühl: Wie sich mein Kot durch das Gedärm bewegt und ich besitze nicht die Fähigkeit, mit der ich seiner Herr werden könnte; er kitzelte mich zwischen den Pobacken; er berührte meine Unterhose mit seinem spitzigen Ende. „Nimm die Pistole!“, sagte Nenad zu mir und in diesem Moment betrat er mein Abbild im Spiegel und entfernte meinen Kleinmut. Der Kratzer von der Schnittwunde auf seiner Wange verwandelte sich schon in Schorf. „Ich habe dir doch gesagt, dass es schnell heilen wird...“, während ich sprach, sah ich, wie ich eine Pistole aus seiner Hand empfange, sie in relations 2009.pmd 156 den Gürtel stecke und mit dem Pullover bedecke. „Ich weiß, aber es gab sehr viel Blut und die Wunde war tief!“, sagte Nenad, während er mit einem kleinen Lappen die kurze Maschinenpistole um die Schließe herum putzte und auf ihren Schaft hauchte. Mit dieser fabelhaften Maschinenpistole mit kurzem Lauf, die er in Italien besorgt hat, weckte er meinen Neid. Ich brannte vor Wunsch, sie auch zu besitzen und nicht mit dieser blöden Pistole mit nur sechs Kugeln, die in Österreich gekauft wurde, herumzulaufen. Ich durfte mich nicht diesem missgünstigen Gefühl überlassen, deshalb fuhr ich fort, uns anzusehen. Wir sahen wirklich gut aus, so bestimmt. „Wir werden uns bei Darko für deine Wunde rächen!“, sagte ich und zog durch den Atem am Spiegel die schwarze Lederjacke an, wobei ich den Kragen hochklappte, um zu sehen, wie mir ein überhebliches Aussehen steht. „Bereit!!!“, sagte Nenad, auf seine Narbe starrend, und näherte sich ihr im Spiegel, so zu Verstehen gebend, dass seine Entscheidung voll ehrlichen Hasses ist, mit dem er seine wunderschöne Maschinenpistole noch fester packte. Der Tag gehörte zum Wochenende und war wie bei einem Bombenalarm: still und leer. Aus dem Gebäude gingen wir schweigend und sehr vorsichtig, damit man uns nicht zufällig entdeckt. Entlang der Wand, bis zur Ecke zum Park, bemühte ich mich, so lautlos wie möglich zu gehen, fast auf Turnschuhspitzen, obwohl mir das eigentlich ziemlich unangenehm war, denn die Scheiße war zur Hälfte raus, aber ich wollte nicht alles wegen so einer Sache kaputtmachen. Hinter der Ecke, um die wir in Kürze spähten, waren unter einer Birkenkrone Darko und seine Rina. Darko lag entspannt, mit dem Arm unter dem Kopf, mit geschlossenen Augen auf dem Gras, während ihm Rina, mit gebeugten Beinen neben ihm sitztend, gepflückte Gänseblümchen zu kleinen Kränzen formte und sie ihm auf den Bauch legte. „Er erwartet uns nicht“, flüsterte ich und holte die Pistole heraus. Nenads Gesicht grinste nur boshaft. Ich sah noch einmal heimlich hin. Es war ein naiv idyllischer Anblick von Darko und Rina, in der sie überhaupt nicht ahnen, was ihnen geschehen wird. Eine wahre Groteske. Wir konnten uns kaum zurückhalten nicht zu lachen. „Los“, schubste mich Nenad, „schieß...“ 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Igor Rajki Die Scheiße befand sich, spürte ich, zu drei Vierteln in meiner Unterhose und ich strengte mich umsonst an beim Versuch sie in mich zurückzubefördern. Ich erinnerte mich für einen Augenblick an mich vor dem Spiegel: Jener Ohnmacht, den Gesichtsausdruck zu meistern, in der ich keinen Anteil habe sowie des Defätismus, der mit Erscheinungen bedrückt, die unbegreifbar und unabhängig von meinem Willen sind. Unsichterheit keimte auf, das Unvertrauen in mich selbst. Meine Kacke kam imanent und in Eigeninitiative heraus. Wie kommt es, dass es etwas gibt, dessen ich nicht Herr werden kann? Ich blieb stehen, presste meine Beine zusammen, hielt die Pistole ganz fest und sah Nenad hilflos an. „Schieß doch! Du hast dir doch nicht vor Angst in die Hose gemacht?“, stieß mich Nenad erneut, aber nun grober, wie ein Schlägertyp. Es wäre wahrlich blöd gewesen, ihm zu sagen: „Ja, ich habe in die Hose gemacht!“. Erstens: Nenad, ganz leidenschaftlich vor Rache und deswegen verständlicherweise intolerant, würde das nicht so begreifen, wie ich es erlebe. Und zweitens: Ich könnte das auch nicht vor ihm aussprechen, denn damit würde ich nur in Zukunft mein Ansehen in Frage bringen. In diesem Moment begannen sich in mir jene noch unvollständig verstandenen Nuancen des ausliterarisierten Bewusstseins zu häufen, die sich so sehr in den Gedanken verflechten und durchziehen, dass sie mein Bedürfnis nach einer Klarheit der Wünsche abbinden, wobei genau diese Wünsche gleichzeitg nicht erlauben, dass sich das Bedürfniss selbst so begreift, wie ich es darstellen möchte. Also kompliziere ich dann, wie die übrigen, denn ich bin gehemmt und beschäftigt mit dem Rückzug in die eigene Unzufriedenheit. Und die Scheiße hat sich auch ziemlich lang gezogen. relations 2009.pmd 157 Aufgrund der gespannten Unterhose spürte ich, dass sich bloß noch ein Fünftel in meinem Hintern hielt und das auch nur symbolisch. Lediglich durch die schwächliche Kraft meines immer machtloseren Willens. Ein Bein nach dem anderen ziehen, langsam wegen der scheuen Unsicherheit, fing ich an, mich zum Eingang zurückzuziehen, darauf achtend, dass ich keinen zu hastigen Schritt tue und den Fall der Scheiße beschleunige, da ich immer noch glaubte, dass noch nicht alles verloren war; dass ich es immer noch zum Klo schaffen und sie herauslassen kann an einem für diese Gelegenheiten vorgesehenen Ort. „Was ist los mit dir, du Hirni?“, schäumte Nenad, seine Stimme kaum beherrschend; er war sogar deswegen wütend, dass er leise sprechen muss und fuhr fort: „Du minderbemittelter Feigling...“. Er sagte die Wahrheit, aber es beeindruckte mich überhaupt nicht, dass er mich demütigt, noch was mit Darko geschehen wird, oder wie Rina das ganze auffassen wird (obwohl ich auf Darko wegen ihr eifersüchtig war). Es war mir auch egal, wie alle anderen reagieren werden und auch nicht, dass ich die Tür beim Hineingehen ins Haus geräuschvoll öffnete, sie bis zur Wand schlug, meine Position preisgab. Nichts ging mich etwas an. Wichtig war mir nur, dass die Sch... Sie fiel trotzdem heraus und glitt an meiner Hose das Bein entlang. Zum ersten Mal im Leben fühlte ich gleichzeitig Ekel und Wonne, die sich in eine Wärme am Schenkel verwandelten und sie entlockte nahezu Zärtlichkeit und Ergebenheit. Aber da ich mich noch nicht genug kannte, in der Kunst der Entspannung, begann ich, wie ein Verrücker die Klingel neben der Tür zu drücken und mich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit ich sie mir ständig erreichbar war. 157 Die Tür öffnet sich. „Mama, ich habe Aa gemacht...“, sage ich beschämt, der Unartigkeit bewusst, aber noch nicht ihre wahre Tiefe erahnend. „Na und?“, fragt mich die Mutter mit der gewöhnlichen Gleichgültigkeit gegenüber Dingen, über die man nicht nachdenkt. „Aber in die Hose...“, antworte ich reuig und begreife den Fehler der Störung des Eingebürgerten. „Bengel!!!“, unter dem Stoß des Instinkts schreit die Mutter herrisch, packt mich geschwind am Arm und zieht mich ins Badezimmer. Von draußen, hinter dem Badezimmerfenster, gewirbelt von der Ferne und gedämpft von der Wand, prallen mit rhytmischen Stichen in der Luft ab: Das Rattern der Plastikkugeln aus der wunderbaren Maschinenpistole aus Italien (die jetzt schon auch bei uns ohne größere Probleme zu besorgen ist); danach Rinas Schreie naiver Extase vermischt in Nenads katharsischen Geheul und Darkos beleidigten Ausruf: „Du Schurke! Du greifst von hinten an!!!“ Ich fühle gleichzeitig das Gewicht der eigenen Verzweiflung, dass ich nicht dort bin, im freien und freiheitlichen Gelände, unter ihnen; stattdessen hocke ich hier in der engen Wanne unter dem auf mich gerichteten Wasserstrahl aus Mamas Hand und ihrem Gesicht, das vor Tadel überfließt. Aber ich empfinde auch Leichtigkeit, die niemals jemandem sinnvoll genug zu berichten ist, dass die Scheiße endlich aus mir heraus ist. 14.4.2009, 20:30 Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 158 relations 2009.pmd RELA November 158 14.4.2009, 20:30 TIONS str. 159 160 RELA Dezember TIONS BORIS PERI], geboren am 25. Mai 1966 in Vara`din, Kroatien. Grund- und Mittelschule in Vara`din. Studierte Germanistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Tätigkeit als Schriftsteller, literarischer Übersetzer und Journalist bei verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Literarische Veröffentlichungen und Übersetzungen in verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitschriften, sowie diversen Anthologien. Mitglied der Kroatischen Schriftstellergesellschaft und des Kroatischen Schriftstellerverbands. Lebt und arbeitet in Zagreb. Veröffentlichte Bücher: Politi~ki vodi~ – Njema~ka ¹ Politischer Reiseführer – Deutschland (politische Publizistik), Zagreb, 1992; Austrijaº Österreich, (politische Publizistik), Zagreb, 1993; Sezona stakla ¹ Glassaisonº (Prosa), Zagreb, 1993; Heartland (Prosa), Studio grafi~kih ideja, Zagreb, 1995; Putovanje na granici ¹ Die Reise an der Gernzeº, Auswahl aus der zeitgenössischen österreichischen Prosa, Zagreb, 1995; Quattro Stagioni (Prosa, mit Z. Feri}, M. Ki{ und R. Mlinarec), Zagreb 1998; Groblje bezimenih ¹ Friedhof der Namenlosenº (Prosa), Zagreb, 2003; Pri~e iz be~ke kuhinje ¹ Geschichten aus der Wiener Kücheº (Essays), Zagreb, 2004; Vampir ¹ Der Vampirº (Roman), Zagreb, 2006; Heartland i druge pripovijetke ¹ Heartland und andere Erzählungenº (Prosa), Zagreb 2006; D’Annunziev kod ¹ Der D’Annunzio Codeº (Roman), Zagreb, 2007; Vampir ¹ Der Vampirº (Roman), Ljubljana, 2008; Fantasti~na bi}a Istre i Kvarnera ¹ Phantastische Wesen aus Istrien und Quarnerº (Essays, zusammen mit T. Pletenac), Zagreb, 2008. Wichtigere Übersetzungen: Markus Jaroschka: Grammatik der neuen Gefühle (Lyrik), Zagreb, 1993; Gabriel Loidolt: Der Leuchtturm (Roman), Zagreb, 1994; Johanna Spyri: Heidi (Roman), Zagreb, 1995, 2003; Joseph Roth: Hiob (Roman), Zagreb, 1996; Thomas Bernhard: Der Stimmenimitator (Prosa), Zagreb, 1998, 2003; Doris Dörrie: Bin ich schön? (Prosa), Zagreb, 2000; Romano Guardini: Ende der Neuzeit (Essays), Split, 2002; Hermann Hesse: Morgenlandfahrt (Erzählung), Koprivnica, 2002; Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks (Prosa), Zagreb, 2003; Leopold Sacher Masoch: Matrena (Kurzgeschichten), Zagreb, 2003; Arthur Schnitzler: Die Traumnovelle (Erzählung), Zagreb, 2004; Thomas Bernhard: Der Untergeher (Roman), Zagreb, 2005; Norbert Gstrein: Die englischen Jahre (Roman), Zagreb, 2005; Karl Jaspers: Die Schuldfrage (Essay), Zagreb, 2006; Ingo Schulze: Simple Storys, Zagreb (Roman), 2006; Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel (Roman), Zagreb, 2006; Thomas Brussig: Helden wie wir, Zagreb (Roman), 2007; Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies, Zagreb, 2007; Thomas Bernhard: Die Ursache (Roman), Zagreb, 2007; Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Erzählung), Zagreb, 2007; Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit, Zagreb, 2007; Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens, Zagreb 2007; Hermann Hesse: Spuk- und Hexengeschichten aus dem Rheinischen Antiquarius, Zagreb, 2007; Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst), Zagreb, 2008; Heinz Heger: Die Männer mit dem Rosa Winkel, Zagreb, 2008; Martin Heidegger: Was heißt denken, Zagreb, 2008; Dieter M. Gräf: Buch Vier, Zagreb, 2009. relations 2009.pmd 160 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Boris Peri} 161 Der D’Annunzio Code ¹ Romanauszugº Boris Peri} S – ie haben völlig Recht, Herr Rorschach scheint tatsächlich ein etwas sonderbarer Mensch zu sein – sagte Doberti zu mir, als ich ihn einmal nach unserem Wiener Kollegen gefragt hatte. – Ich weiß nicht, woran Sie gedacht haben, ich empfinde ihn jedenfalls als etwas konfus. Aber das dürfte nur der äußere Eindruck sein. Seien Sie versichert, er ist sehr gewissenhaft und – warum sollte ich Ihnen das vorenthalten? – er schätzt Ihre Arbeit sehr. Ich konnte ihn natürlich nicht nach jenem unangenehmen, süßlichen Geruch fragen, noch weniger hätte ich erwarten können, dass Doberti sich mit mir überhaupt über derartige Dinge unterhalten möchte. Wir spazierten über den Korso, wo sein Großvater vor vielen Jahren den Dichter Marinetti gesehen hatte, bevor dieser von D’Annunzio der Stadt verwiesen wurde. Nichts anderes hatte er über seinen Großvater erwähnt, obwohl ich bezweifle, dass er über diesen Teil der Vergangenheit von Rijeka nicht unterrichtet war. Egal, dachte ich, warum hätte ihn gerade das jemals interessieren sollen? Aber was für Interessen hatte er überhaupt? Die Arbeit am Institut? Diese schien niemanden zu interessieren. Ich muss gestehen, Iva hatte sich da besser zurechtgefunden, aber sie hatte ja an- relations 2009.pmd 161 dere Motive. Und ich? Was hatte ich für Motive? Ich hatte eine Arbeit aufgegeben, die ich für sinnlos hielt, um mich einer anderen, nicht unbedingt sinnvolleren zu widmen, hatte einer Stadt den Rücken gekehrt, die ich, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr als die meinige empfand, um in eine andere zu ziehen, in der ich von Personen gejagt werde, die fremden Besessenheiten und fremden Vergangenheiten entstammen. Warum sollte irgendjemand, sei es auch dieser stinkende Rorschach, meine Arbeit loben wollen, wo es am Institut doch praktisch keinerlei Spuren meiner Arbeit gibt, wie sie, willkürlich oder nicht, auch die anderen nicht hinterlassen haben, fragte ich mich, schon etwas wütend. Brauchen sie mich für irgendetwas? Bin ich nur ein Paravent für deren Perversionen? Werden sie, wenn sie alles Geld, das Europa für ihre undefinierte Tätigkeit zu zahlen gewillt ist, zum Fenster hinausgeworfen haben, alle Verantwortung mir zuschieben, damit ich die exklusive Schuld für das Scheitern eines ohnehin bereits gescheiterten Projekts trage? Meine Mitarbeiter geben sich dem Müßiggang hin, und ich bin selbst nicht besser, da ich zwischen ihnen und irgendeiner anderen Instanz keinerlei Lücke fül- le, sei sie auch noch so unbedeutend. Im Kompliment des kahlköpfigen Fettwanstes, ja sogar in Dobertis bereitwilligem Bejahen dieser überaus leeren Worte, klang etwas Heuchlerisches mit, aber mir war keineswegs klar, warum sich die beiden mir gegenüber überhaupt so verhalten müssten. Die gesamte Menschenverachtung, mit der ich an meinen früheren Arbeitsplätzen in Berührung kam, war hier noch offensichtlicher, obgleich es sich auch nicht leugnen ließ, dass sie hier in weit verlockenderes, blau-goldenes Papier einer weitaus edleren Form eingewickelt war. Wir befassen uns mit der Anpassung unseres Wertsystems an europäische Normen, lösen rechtliche, ethische, ja sogar ästhetische Fragen, all diesen Scheiß hatte ich mir schon in Wien von Rorschach anhören müssen, und doch konnte ich nach wie vor nicht begreifen, was für eine hirnverbrannte Ästhetik dies hätte sein sollen, um einer derartigen Anpassung unterzogen werden zu können. Außerdem arbeitete ich die ganze Zeit über an einer vergeblichen wirtschaftlichen Analyse der Region von Rijeka, die nie jemand lesen, geschweige denn sich im Fällen geschäftlicher Beschlüsse nach ihr richten würde. Wo ist da, bitte schön, die Anpassung und wer hat eine solche Anpassung überhaupt nötig? 14.4.2009, 20:30 162 RELA Dezember Nie zuvor war ich in Dobertis Gesellschaft dermaßen abwesend. Ich traue mich sogar zu sagen, abwesend und schlecht gelaunt. Er erzählte mir etwas, ich hörte nicht einmal richtig hin, und als er mir, als wolle er mir damit noch näher kommen, um nicht zu sagen, sich auf mein Niveau herablassen, vorschlug, wir sollten ein unweit gelegenes Wirtshaus aufsuchen, das, wie er sagte, nicht gerade vornehm, aber doch ganz hübsch sei, und uns dort bei einer hausgemachten Jota und einem Liter @lahtina oder Malvazija über alles unterhalten, was mich interessiert, verspürte ich den unerträglichen Wunsch, allein zu sein. Ich entschuldigte mich, ich hätte eine unaufschiebbare Verpflichtung, obwohl ich sicher war, er wisse genau, dass ich eine solche nicht haben könne, und machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Ich ging am Hauseingang vorbei und spürte, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllten. Es war kein Kummer, eher eine unerträgliche Beklommenheit, deren Ursache ich nicht auszumachen vermochte. Trotzdem weinte ich. Ich muss gestehen, ich weine selten, aber wenn mir das dennoch passiert, verspüre ich nachher meistens den Wunsch spazieren zu gehen. Ich wusste nicht, wohin ich mich begeben sollte. Vielleicht nach Kozala, zum Friedhof, dort herrscht wenigstens Ruhe, oder nach Trsat, um mich alleine dem grimmen Blick des Basilisken gegenüberzustellen? Ich ging nirgendwohin. Ich spazierte lediglich die De`manova auf und ab, was in Anbetracht der geringen Straßenlänge keinen nennenswerten Spaziergang darstellt. Ich weiß nicht, ob es an der Beklommenheit lag, die mich befallen hatte, aber ich hatte keine Lust, in meine Wohnung zu gehen. In der Supilova setzte ich mich in ein Café und bestellte etwas zu trinken. Die Kellnerein brachte mein Getränk und stellte es vor mich auf den Tisch. Dabei machte sie eine Reihe sonderbarer relations 2009.pmd 162 Gesten, zumindest hatte ich sie zu diesem Zeitpunkt so empfunden, als wolle sie mir Zeichen geben. Genießen sie es, sagte sie, drehte sich um und ging. Ich kann nicht behaupten, dass sich meine Laune davon unbedingt gebessert hätte. Warum möchte sie, dass ich Genuss verspüre? Oder hätte ich ihrer Meinung nach Genuss verspüren sollen, weil ich es sonst nicht in genügendem Maße tue? Und was hätte ich überhaupt genießen sollen? Mein Getränk? Etwas anderes? Wollte sie vielleicht in irgendeiner Weise diesem Genuss beitragen? Und was sollten eigentlich diese Zeichen, die ich nicht zu deuten vermochte? Waren es überhaupt Zeichen? Was ist ein Zeichen? Ganz Rijeka war voll von Zeichen, die auf mich sonderbar wirkten. An einer Fassade in der Innenstadt hatte ich ein Relief gesehen, das eine Fledermaus darstellte. Hätte das eine Warnung sein sollen? Oder eine Aufforderung, das dunkle Gässchen gleich neben dem Relief zu betreten? Ich wusste nicht, wofür ich mich entschließen sollte. In der Mauer der Veitskirche sah ich eine Kanonenkugel. Die Engländer hatten sie abgefeuert, vom Meer aus, als sie die Franzosen aus der Stadt gejagt haben. Stand diese in irgendeiner Verbindung zu Laval Nugent? Zum Basilisken vor seinem märchenhaften Mausoleum? Hätte mich die Kugel dort hinführen sollen? Auf gleiche Weise hatten die Italiener 1920 D’Annunzio aus der Stadt gejagt, davon hatte ich schließlich geträumt. War das ein Zeichen? Eine Verbindung, die auf ersten Blick vielleicht nicht sichtbar ist? Warum gibt Rijeka mir Zeichen, fragte ich mich, der Kellnerin nachblickend, die an der Theke mit dem Ausspülen von Gläsern beschäftigt war. Will Rijeka etwa, dass ich Genuss verspüre? Aber wie? Es war mir nie an einem besonderen Genuss gelegen. Ehrlich gesagt, ich glaubte nicht einmal, dass so etwas wie Genuss überhaupt existiert, zumindest nicht TIONS so, wie es andere meinen, wenn sie von diesem Wort Gebrauch machen. Im Buch jenes Anarchisten, der in seinem D’Annunzio gewidmeten Kapitel dessen „nekromantische Zeremonie“ erwähnt hatte, war ich in einer Fußnote auf den Ausdruck „Genussdiktatur“ gestoßen. Gemeint waren wahrscheinlich die zahlreichen Theaterspektakel, Konzerte und Ansprachen des Dichters, denen sämtliche Einwohner von Rijeka beiwohnten, obwohl dies manchmal auch nicht ganz freiwillig zustande kam. Was gibt es denn daran auszusetzen, fragte die Stimme des Autokraten in mir. Manchmal wird es wohl auch nötig sein, die Menschen zu zwingen, ihre Sinne für die Kunst zu öffnen. Der Widerhall meiner Gedanken hatte mich zutiefst verwirrt. Woher diese Stimme, die so anders ist, als jene, die mir sonst zuflüstern, was ich zu tun oder zu lassen habe? War es ein Dämon? Habe ich ihn auf irgendeine Weise geweckt? Übt meine Umgebung, die mich sonst mit Tausenden als Gewohnheiten getarnten Geboten bedrängt, plötzlich eine Genussdiktatur über mich aus? War es das, was die Kellnerin vorhin sagen wollte? Sind das Zeichen und was für Zeichen hatte nur D’Annunzio den Menschen gegeben? Ich trank aus und ging wieder auf die Straße hinaus. Draußen herrschte das übliche Gedränge. Da ich mich nicht besonders wohl fühlte, bemühte ich mich, die Menschen um mich herum nicht als Ganzes, sondern nur ihre Schritte auf dem Gehsteig zu betrachten. Aus Schritten lässt sich in Gedanken ein Mensch formen, umgekehrt geht es nicht. Ein kleines Mädchen platzte zufällig mit dem Gesicht in meine niedrige Perspektive. Es sah lieblich aus, lächelte fröhlich, so dass ich mir alle Mühe gab, nur seine Lieblichkeit und seine Fröhlichkeit zu betrachten, nicht aber sein Gesicht. Hatte ich dabei Erfolg? Ich erinnere mich nicht mehr, ich würde sagen, ich hatte keinen. Ein Wagen 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Boris Peri} war so geparkt, dass eines seiner vier Räder auf dem Gehsteig stand, was mich kurz zum Lachen brachte. Ich blickte auf sein Landeskennzeichen, es war das dänische. Einen Augenblick lang empfand ich es als völlig verständlich, nicht in Rijeka zu sein, sondern, sagen wir, in Paris. „Haben Sie einen Dichter?“, glaubte ich jemanden im Vorübergehen fragen zu hören. Ich hatte keinen, vielleicht auch doch, ich weiß es nicht. Ich wusste nicht, ob es überhaupt angebracht sei, diese Frage zu beantworten. Ich überquerte die Straße. Der dänische Wagen treib mich nicht mehr zum Lachen. Die Zeichen um mich herum vermehrten sich nach wie vor und belasteten mein Gehirn mit ihren unmöglichen Anforderungen. Trotzdem waren sie anders, als jene, die ich früher zu empfangen gewohnt war, obwohl ich nicht glaube, dass es mir bis heute gelungen ist, die Welt jener niederträchtigen Verstellung zu verlassen, deren Atem ich an schlechteren Tagen deutlich am Hals spürte. Bei diesen Zeichen, das muss ich ihnen noch sagen, ist vor allem interessant, dass sie nicht jedes Mal an denselben Orten vorhanden waren. Dort, wo ich sie wahrzunehmen pflegte, hatte sich nichts verändert, nur sie waren nicht mehr da. Aber an diesem Tag gab es sie im Übermaß und deshalb meine ich, dass der Glaube an dämonische Kräfte nicht völlig grundlos ist, denn es muss einfach einen unbegreiflichen und meist unsichtbareren Jemand geben, der den Dingen und Erscheinungen Bedeutungen zuweist und sie dieser wieder entledigt. Ich blickte bergauf, der Gouverneurspalast war nicht zu sehen, ich wusste jedoch, er befindet sich dort. Mehr noch, ich hatte Angst, ich könnte, würde ich bis zu ihm hinaufgehen, in meinem eigenen Traum landen, der in einer dunklen Ecke meines Unterbewusstseins bestimmt nach einer Fortsetzung verlangte. Ich betrat daher abermals die De`manova und ging sie einige Male auf relations 2009.pmd 163 und ab. Schließlich machte ich vor dem Haus gegenüber des meinigen Halt. Auf den ersten Blick wirkte es nicht anders als die übrigen in dieser Häuserzeile, und ich weiß auch nicht, was mich an ihm so anzog. Ich sah nicht nach, was für Leute das Haus bewohnten, denn diese Tatsachen würden mir nichts sagen. Über der Eingangstür und den verschlossenen Fenstern erblickte ich merkwürdige Details an der Fassade. Kränze mit Schlangenknäueln, Eulen, abstrakte Symbole, deren Namen ich nicht kannte, all das konnte dem sezessionistischen Baustil zugeschrieben werden, mit dem das Gebäude zeitlich auch zusammenzufallen schien. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“, kam mir die Aufschrift auf dem Gebäude der Wiener Sezession in den Sinn. Von deren wahrscheinlich bekanntestem Vertreter, Gustav Klimt, stammen wiederum die Deckengemälde in einem angesehenen Theater in Rijeka, worüber, außer in Fachkreisen, kaum jemand spricht. Mir hatte davon, wie von allem anderen auch, natürlich Slavica erzählt. Nachdem ich meine Aufmerksamkeit mit einiger Mühe wieder auf das Haus, vor dem ich stand, gerichtet hatte, wurde ich ungefähr in Augenhöhe eines rätselhaften Frieses gewahr, bestehend aus einer Reihe von Vierecken, die man auf der abgasverschmutzten Fassade kaum erkennen konnte. Auf einigen der Vierecke waren Streifen abgebildet, deren Muster an Hakenkreuze erinnerten, während die anderen sonderbare Symbole enthielten, die ich beim besten Willen nicht zu entziffern wusste. Während mich die Zeichen um mich herum an diesem Tag äußerst lebhaft angesprochen hatten, hüllte sich die braune Fassade, die einmal weiß gewesen sein musste, in tiefes Schweigen. Da haben wir es, dachte ich, am Ende steht doch das steinerne Schweigen. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, wie viele Bedeutungen die Menschen bisher dem Schwei- 163 gen beigemessen haben? Schweigen ist der Rest und Schweigen ist Gold, Schweigen macht Menschen zu Philosophen, Schweigen ist die Eigenschaft der Musen, wenn Waffen sprechen. Dieses Schweigen verleitete mich schließlich auch dazu, die Tür zu öffnen und mich in den Gang des Hauses zu schleichen. Drinnen fand ich nichts Unerwartetes. Trotzdem ahnte ich, dass ich mich nicht ganz ohne Grund entschlossen hatte, das Innere des Hauses zu betreten. Um mich herum war alles ruhig und still, bis auf das Summen eines unsichtbaren Lichtautomaten irgendwo über meinem Kopf. Als ich an das Treppenhaus in Slavicas Wohnhaus dachte, wurde mir beinahe schwindlig. Irgendwie war ich immer noch dort, gefangen in einem Augenblick meiner eigenen Erinnerungen, die ich nicht auszulöschen vermochte, obwohl ich sie auch nicht für besonders wichtig hielt. Von Slavica habe ich niemals Antwort auf meinen Abschiedsbrief erhalten, obwohl ich ihr nachträglich meine neue Adresse zugeschickt hatte. Es kam nur ein Schreiben von unserem Rechtsanwalt, in dem stand, unser Scheidungsverfahren sei im Gange. Ich fragte mich, wie es wohl den Kindern gehe, dann fiel mir aber ein, dass ich mich zu jeder Zeit bei meinem Bekannten, dem Schriftsteller und Professor, danach erkundigen konnte, dieses Thema jedoch nie angesprochen hatte. Durch ein Fenster am Ende des Ganges fiel fahles Nachmittagslicht herein. Alles war still, außer dem Automaten. Zu meiner Linken stand eine Tür eine Handbreit offen, auf der weder ein Namens- noch ein Firmenschild angebracht war. Ich sah durch den Türspalt und erblickte eine Treppe. Sie führte in die Tiefe. Würde mich ein Strudel hinunterziehen, wenn ich die Tür öffnen würde, fragte ich mich und lachte leise. Nein, würde er nicht, antwortete eine Stimme aus dem Inneren meines Kopfes, der Abstieg ist 14.4.2009, 20:30 164 RELA Dezember sicher. Woher wusste sie, dass ich hinuntersteigen wollte? Und wer versteckte sich eigentlich hinter dieser Stimme? Einer meiner Dämonen, deren Namen ich nicht kenne? Für alle Fälle ließ ich die Tür offen und betrat die glitschigen Stufen. Es waren nicht viele, ich stieg vielleicht ein Stockwerk hinab, überzeugt, ich würde in den Keller gelangen. Ich gelangte jedoch in einen kleinen kreisförmigen Raum, aus dem eine offenstehende Tür in eine Art Garten führte. Über der niedriger gelegenen Straße musste dieser eine Terrasse bilden. Niedrige Fenster, beinahe in Bodenhöhe, besagten, dass es einen noch tieferen Raum geben musste. Leider konnte ich nichts finden, was als Eingang zu diesem hätte dienen können. Ich erinnere mich nicht mehr, wie weit sich der Gras- und Unkrautbewachsene Garten erstreckt hatte, glaube aber, an seinem Ende entweder Büsche oder Baumkronen gesehen zu haben, die aus einem niedriger gelegenen Innenhof, wahrscheinlich in der Kurel~eva-Straße, emporzuragen schienen. Im Garten herrschte vollkommene Ruhe. Der entfernte, eintönige Widerhall des Stadtgewirrs umrahmte die Stille. Die späten Sonnenstrahlen fielen schräg und warfen lange Schatten. Die Wände des kreisförmigen Raumes, in dem ich stand, verstärkten durch ihre Akustik jedes Geräusch, so dass ich beinahe zu atmen aufhörte. Einige Minuten lang stand ich so da, und als ich endlich meinen Blick senkte, entdeckte ich auf dem steinernen Boden ein Mosaik, geheimnisvoll wie die Verziehrungen an der Fassade. Inmitten einer schwarzen Kreislinie befand sich ein kleinerer, gelber Kreis, in dem ein Stern mit fünf schwarzen Zacken und einer roten Mitte abgebildet war. Im weißen Feld zwischen Kreis und Kreislinie sah ich fünf Druckbuchstaben – zweimal ein I, ein U, ein R und ein S – jeder von ihnen zwischen je zwei Sternzacken. Ich las sie in allen erdenklichen Rei- relations 2009.pmd 164 henfolgen, bis ich schließlich mit Mühe entzifferte, was tatsächlich auf dem Boden geschrieben stand: SIRIUS. Dasselbe S stand als erster und letzter Buchstabe des Wortes und bildete daraus einen Kreis. Uroboros, fiel mir ein, was Slavica mit über Symbole erzählte hatte, die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt, eine uralte Allegorie der Ewigkeit und der Totalität, des mystischen Spiels des Werdens und Vergehens, des Zerfalls und der neuen Vereinigung. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie nicht auch an der Fassade des Gebäudes gesehen hatte. Und wenn schon, dachte ich und spürte die Spannung in mir wachsen. Meine ursprüngliche Beklommenheit war ganz und gar von mir gewichen. Würde ich denn ihre Bedeutung an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt zu deuten wissen? Eine leichte Brise wirbelte im Garten die ersten abgefallenen Blätter auf. In der Luft, die mich umgab, verdichtete sich der Herbst. Der Fluss bringt den Herbst, lange stirbt die Stadt, summte ich geistesabwesend ein liebes Chanson. Die Schlange zu meinen Füßen begann langsam zu mir zu sprechen, stumm und geheimnisvoll, wie Schlangen eben sprechen, mit der Stimme eines Dämons, der auf den angespannten Saiten meiner Nerven tanzt. Sirius, fuhr es mir durch den Sinn, der Hundsstern, hatte mich denn Iva erst vor wenigen Tagen nicht nach ihm gefragt? Während der Hundstage, unter der Herrschaft des Sirius, so wird gesagt, schlüpft aus einem Ei, das von einem Hahn gelegt wurde, der widerwärtige Basilisk. Dieser steht drüben, in der Burg von Trsat, und hütet wachsam den Eingang zu Nugents Mausoleum. Nacht Trsat, erzählt eine andere Legende, brachten vor langer Zeit Engel auf leichten Schwingen das Heilige Haus aus Nazaret. Drei Jahre und einige Tage später wurde es dann von den Winden des Schicksals ins italienische Loreto getragen. Obwohl die Kirche TIONS nicht besonders begeistert war, ließ Gabriele D’Annunzio, ein leidenschaftlicher Liebhaber von Geschwindigkeit und Technik, und als solcher einer der ersten, die sich wegen zu schneller Fahrt vor Gericht zu verantworten hatten, die Santa Casa aus Loreto auf die Tür seines Fiat 4 malen, damit sie ihn vor bösen Missgeschicken bewahre. Und mit demselben Wagen fuhr der Comandante im September 1919 auch in Rijeka ein. Der Kreis hatte sich geschlossen, die Schlange hat sich in den Schwanz gebissen, der eherne Basilisk in der Burg von Trsat schwang unsichtbar seine Flügel. Wie betäubt stand ich da, während ein ungebetenes Fieber abermals von meinen Sinnen Besitz nahm. Auf einmal, glauben Sie mir, ich weiß selbst nicht, wie viel Zeit verstrichen war, riss mich ein schrilles Knarren jäh aus meiner Meditation. Die Tür, ich fuhr zusammen, jemand öffnet sie gerade und wird gleich die Treppe hinuntersteigen, und ich werde erklären müssen, was ich hier überhaupt zu suchen habe. Aber ich hatte mich getäuscht, die schwere Holztür ging langsam zu, bis sie sachte ins Schloss fiel. Meine Angst wurde durch die Tatsache verstärkt, dass ich mich nicht erinnern konnte, ob ich an der Innenseite der Tür überhaupt eine Klinke gesehen hatte. Ich schaute mich um, konnte aber keinen Ausgang aus dem Garten entdecken. Ich wusste, es wäre blanker Wahnsinn, an sein Ende zu laufen und mich Hals über Kopf in jemandes Hof in der Kurel~eva zu stürzen, sollte ein solcher überhaupt existieren. Ich stand über dem fünfzackigen Hundsstern und versuchte mir auszumalen wie – und warum eigentlich? – der Basilisk von Trsat Ivas Freund Wagner in seinen Bann gezogen hatte. Keine plausible Erklärung kam mir in den Sinn, ich wusste nur, dass ich mich in derselben Lage befand. Die erste Dämmerung senkte sich über den Garten. Abend kehrt in alten Garten; Sonjas 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Boris Peri} Leben, blaue Stille, rezitierte ich stotternd vor mich hin, um mein Unbehagen zu unterdrücken, verstärkte es mit diesen düsteren Versen jedoch nur. Sonja, würde ich heute sagen, was für ein schöner und passender Name. Sonja, Sofia, Weisheit; Sonja Marmeladowa, die Hure mit ihrem enormem Heiligenpotential, die als Allegorie jeglicher Abwege und reinster Moral dem geliebten Mörder Raskolnikow freiwillig ins tödliche Sibirien folgte. Ich meine, die Figur der Sonja ist gewiss kein Alibi für das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, aber wann immer ich über Perversionen nachdenke, die, wie mein Bekannter, der Schriftsteller, bestimmt sagen würde, das System der europäischen Präferenzen weitgehend dominieren, kann ich nicht umhin, mir vorzustellen, wie aus dem Boden dieser dekadenten Fäulnis früher oder später die ersten Heiligen hervorgehen werden, ob wir dafür nun Verständnis haben oder nicht. Aber über solche Dinge habe ich, wie Sie jetzt richtig annehmen werden, in jenem kreisförmigen Raum, über den fünf steinernen Zacken mit dem Namen des Hundssterns, gewiss nicht nachgedacht. Die Minuten verstrichen, meine Unruhe wuchs ins Unermessliche, und die Tür, davon war ich fest überzeugt, konnte nach wie vor nicht von innen geöffnet werden. Ich hätte warten können, bis jemand zufällig nach der Klinke greift, oder aber ich hätte hinaufgehen und wie wild drauf losschlagen können, wodurch ich mich bestimmt ordentlich blamiert hätte. Außerdem hätte ich das Misstrauen des gesamten Hauses auf mich gezogen, egal, wer seine Bewohner waren. Ich ging wahrscheinlich recht in der Annahme, dass keiner von ihnen mit den geheimnisvollen Symbolen an der Fassade etwas zu tun hatte, geschweige denn mit dem Stern, den ich fortwährend anstarrte. Umso mehr wäre ich in ihren Augen ein Sonderling, und es hätte mich auch nicht relations 2009.pmd 165 gewundert, wenn jemand von ihnen die Polizei gerufen hätte. Ich beschloss daher abzuwarten, mag kommen, was wolle. Je mehr ich über die Tür nachdachte, umso sicherer war ich, dass es von innen keine Klinke gibt, und so wurde sie für mich zu einem immer schwerer zu bewältigenden Problem. Man könnte sagen, ich schloss mich mit meinem fieberhaften Nachdenken von Sekunde zu Sekunde immer stärker ein. Und über den Garten in seinem Herbstmantel senkte sich schon die Dunkelheit herab. Als ich jedoch nach geraumer Zeit, trotz steigendem Fieber und immer größerer Unruhe, die Ausweglosigkeit meiner Lage begriffen und beschlossen hatte, an die Tür zu klopfen und jenem, der mir öffnet, zu sagen, ich hätte mich zufällig in diesen Teil des Gebäudes verirrt, wurde mir schlagartig klar, dass es während meiner gesamten eingebildeten Gefangenschaft keinen Grund zur Panik gegeben hatte. Es gab von innen zwar keine Türklinke, aber ebenso auch kein Schloss, mit dem man die Tür hätte zusperren können. Ich öffnete sie ganz leicht, indem ich sie mit der Hand in Richtung Gang drückte, und lief rasch auf die menschenleere Straße hinaus. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung hatten die sonderbaren Symbole an der Fassade des Gebäudes ihre tägliche Erkennbarkeit zur Gänze eingebüßt. Ohne sein stummes Reden in einer Sprache, die niemand zu übersetzen wusste, wirkte das Gebäude noch unheimlicher. Aber nachts, traue ich mich zu sagen, sehen alle Häuser gleich unheimlich aus. Vor dem nächtlichen Himmel zeichnen sich schwarz die Dächer ab, es locken uns blinde, erloschene Fenster, und sollte in einem von ihnen tatsächlich noch Licht brennen, fragen wir uns voll Misstrauen, was für ein Verbrechen dort gerade im Anzug ist. Was meinen Sie, wie oft ich hier auf der Insel darüber nachdenke, 165 wenn ich aus der Einsamkeit der Oberen Gasse heraus die schlafenden Dächer der Stadt betrachte? Während ich nach dem Schlüssel suchte, um in mein eigenes Haus eintreten zu können, sah ich eine vertraute Silhouette aus dem Dunkel auf mich zukommen. Es war Filippo Doberti, der entweder mit den dämonischen Kräften im Einverständnis war, die mich dort unten angekettet hatten, wie einen Galeerensklaven an die Bretter im Unterdeck seiner Galeere, oder der mich die ganze Zeit über verfolgt und in der Nähe meines Hauses auf mich gewartet hatte. Dass wir uns zufällig getroffen haben könnten, daran glaubte ich nicht, und ich tue es auch heute nicht, denn hinter dem Zufall, wie wir ja schon immer gewusst haben, steckt nur eine unerkannte Verbindung. Er wirkte äußerst gut gelaunt, in der Hand hielt er eine Flasche Wein, mit der er, wie er mir sofort sagte, vorhatte, sich für seine früheres Benehmen zu entschuldigen. Obwohl ich derjenige war, der sich nicht anständig benommen hatte, nahm ich seine Entschuldigung an und lud ihn ein, mit mir in meiner Wohnung ein Glas davon zu trinken. Ich wusste nicht, ob ich ihm vom unliebsamen Vorfall im Keller des Nachbargebäudes berichten sollte, weil ich fürchtete, er könnte mich für unseriös halten, vor allem, wenn ich ihm von den sonderbaren Assoziationen erzählen würde, die der steinerne fünfzackige Stern in meinem Gehirn hervorgerufen hatte. – Hübsch haben Sie die Wohnung eingerichtet – sagte er gleich nachdem wir eingetreten waren. Es war mir keineswegs klar, was er damit meinte, denn ich hatte in der Wohnung hinsichtlich Aussehen und Ausstattung keinerlei Veränderungen vorgenommen. Die Möbel waren dieselben, die ich angetroffen hatte, als ich eingezogen war, die wenigen Bücher und anderen persönlichen Gegenstände, die ich mit- 14.4.2009, 20:30 166 RELA Dezember gebracht hatte, hoben sich auf den alten Regalen gar nicht hervor. War er etwa gekommen, nur um mich zum Narren zu halten? Daran konnte ich beim besten Willen nicht glauben. Andererseits war diese Geste auch durch seine übertriebene Höflichkeit zu erklären, die nicht jedes Mal die exakten Sachverhalte in Betracht zog. Ich versuchte, seine Worte ohne Hintersinn wahrzunehmen, was mir aber nicht gelingen wollte. Er luchste durchs Zimmer, als würde es ihn auch stören, dass auf dem hölzernen Tischlein in der Ecke keine Uhr stand. Bald begriff ich jedoch, dass ihn eigentlich gar nichts störte. Er begann, seelenruhig an seinem Weinglas zu nippen und mir von irgendwelchen Hobbys zu erzählen, mit denen er sich in früheren Jahren die Zeit zu vertreiben pflegte, bis er sie seiner Diplomatenkarriere wegen aufgeben musste. Eine Zeitlang, sagte er, züchtete er Pferde, irgendwo im Norden Italiens, dann, ich war nicht wenig erstaunt, das zu hören, sammelte er Uhren, und widmete sich schließlich dem Studium alter Bücher, die durch ihre okkulte Thematik meinem Bekannten, dem Zagreber Schriftsteller, gewiss nicht uninteressant sein dürften. Letzteres, sagte er, tat er nur aus purer Neugierde, denn er sei, wie die meisten Menschen, immerhin ein Kind des aufgeklärten Zeitalters und könne sich nicht ohne weiteres dem Aberglauben hingeben. Darin war er, wie ich später begreifen werde, nicht ganz ehrlich, und dennoch ist es nur allzu verständlich, dass „Kinder des aufgeklärten Zeitalters“, angetrieben von Zweifeln und Wissensdurst, früher oder später beginnen, an das zu glauben, was sie vorher noch als Aberglauben abgetan haben. Obwohl mich, ehrlich gesagt, sein Interesse für Okkultes zu diesem Zeitpunkt weit mehr interessierte, unterhielten wir uns über Uhren. Es versetzte mich in Erstaunen, wie gut er sich nicht nur in künstlerischen und relations 2009.pmd 166 stilistischen Epochen, sondern auch in der für das Verständnis der Uhrmacherlehre unentbehrlichen Mechanik auskannte. Denn Doberti hatte die Uhren, die er in Antiquitätengeschäften in ganz Europa gekauft hatte, falls sie nicht intakt waren, vorwiegend selbst repariert. Ich weiß nicht warum, aber dabei fiel mir Meyrinks verrückter Uhrmacher ein, dessen Uhr nur einen Zeiger hatte, während das Zifferblatt aus Tier- und Dämonenköpfen bestand. Und statt zwölf, zählte sie vierzehn Stunden. Ich glaube, dabei muss es sich um seine versteckte Allegorie gehandelt haben, so etwas wie die fünfundzwanzigste Stunde des Tages oder der dreizehnte Monat des Jahres. Dazu zählen letztendlich auch die Hundstage der Ägypter, Tage, an denen alles erlaubt ist, denn niemand am Himmelszelt herrscht über sie, außer dem Sirius, dessen dunkles Geheimnis offenbar erst noch gelüftet werden muss. Ich erwähnte all die Miniaturchronometer, von denen ich die Jahre hindurch gelesen hatte, darunter auch D’Annunzios Totenschädel aus Elfenbein, den ich später in Zürich tatsächlich gesehen habe. Er hatte, natürlich, davon gehört, wie auch von einer Vielzahl anderer Juwelen des filigranen Uhrmacherhandwerks. Als ich aber den Dichter erwähnte, hielt er einen Augenblick lang inne. Hätte ich ihn nicht besser gekannt, hätte ich gesagt, es sei ihm wegen seines älteren Volksgenossen unangenehm gewesen, der in der Stadt, in der wir beide arbeiteten, immerhin im üblen Ruf eines Besatzers stand. Obwohl all dies in den letzten zwanzig Jahren ziemlich schleierhaft geworden ist, klang im Wort Besatzer nach wie vor ein gewisses Unbehagen mit, ohne dass jemandem dabei der Comandante oder sein kurzlebiger Staat in der Kvarner-Bucht eingefallen wären. Der bissige Satz von den zwei alten Weibern blieb der kroatischen Allgemeinkultur ebenso fremd, wie TIONS auch D’Annunzios Bücher oder der Marsch seiner Legionäre auf Rijeka, denn der kroatischen Allgemeinkultur, fürchte ich, dürfte heutzutage viel mehr fremd sein, als nur diese kleine historische Episode. Im übrigen bezweifle ich auch, dass es im heutigen Serbien noch jemandem geben könnte, der aus D’Annunzios „Ode an das serbische Volk“ Begeisterung oder Verbitterung schöpfen würde. Als die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte, schon zur Neige ging, wechselte Doberti plötzlich das Thema. Aufrichtig, wie ein alter Freund, und dennoch ohne freundschaftlichen Eifer, sah er mir in die Augen und sagte: – Ich werde den Eindruck nicht los, Sie seien verspannt und etwas würde ihnen Kummer bereiten. Ich wünschte, ich könnte ihnen bei Ihrem Dilemma helfen, sofern es sich tatsächlich um ein Dilemma handelt. Ohne Erklärung zauberte er eine neue Flasche Wein aus der Luft und stellte sie auf den Tisch. Als ich ihn auf der Straße getroffen hatte, hatte er keine zweite Flasche bei sich, und ich hatte sie ganz bestimmt nicht gekauft. Trotzdem ließ ich ihn die Flasche entkorken und mir von Neuem einschenken. – Tja, wissen Sie, unser Institut – begann ich umständlich. – Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich mir über seinen Zweck nicht völlig im Klaren bin, geschweige denn über die Dinge, die dort passieren. – Lieber Freund, niemand ist sich darüber im Klaren – erwiderte Doberti versöhnlich. – Glauben Sie denn, ich hätte eine komplette Einsicht in unsere Institution? Ich weiß nur, was mich interessiert, beschäftige mich mit Dingen, mit denen ich mich beschäftigen möchte, und Ihnen würde ich raten, dasselbe zu tun. Sehen Sie sich mal jene beiden im Zimmer neben dem ihrigen an. Was tun die? Sie drücken sich vor der Arbeit, tun so als ob, vertrödeln ihre Zeit, warten, bis der verdammte Arbeitstag zu Ende 14.4.2009, 20:30 RELA TIONS Boris Peri} ist, um sofort zu vergessen, was während der Arbeitszeit getan wurde. Oder mein Dienstbote, der nur Papiere von einem Ort zum anderen trägt? Aber diese Leute, das können Sie sich ja sicher denken, leiden unter keinerlei Zweifeln, sie gehen zu ihren Frauen und Kindern oder besaufen sich im erstbesten Wirtshaus und damit ist die Arbeit getan. Und morgen, wie man bei Ihnen auf dem Balkan zu sagen pflegt, Jovo nanovo. – Und wie erklären Sie dann, dass für so eine schlampige Arbeit, falls überhaupt von Arbeit gesprochen werden kann, von irgendwo auch noch Geld kommt? – ermutigte ich mich zu fragen. – Es kommt nicht von irgendwo – verbesserte er mich. – Es kommt aus Brüssel, und dorthin kommt es aus verschiedenen Teilen des Kontinents, ja sogar von hier. Dieses ganze sinnlose zirkulieren des Geldes, das ist wie das Prinzip verbundener Gefäße. Wir nehmen von den Naiven, um ihnen einen bestimmten Teil zurückzugeben, während wir mit dem Rest das finanzieren, was uns sonst niemand, der recht bei Trost ist, finanzieren würde, nämlich unseren Müßiggang. Das ist der Lauf der Welt, oder wozu, meinen Sie, sind die Theorien über die Anpassung von Wertsystemen nütze, wenn nicht, um uns in eure Gesetze einmischen zu können? – Aber Herr Rorschach erwähnte in Wien auch gewisse ästhetische Fragen – fiel ich ihm ins Wort. – Ach, Rorschach beschäftigt sich hier mit seinen Fixierungen, von denen ich Ihnen lieber nicht erzählen möchte, und redet manchmal allerlei Unsinn – erwiderte Doberti und zündete sich eine Zigarette an. Nie zuvor hatte ich ihn rauchen sehen. Aus Achtung vor ihm zündete ich mir selbst eine an. – Rorschachs finanzierter Müßiggang heißt Sex, vielleicht etwas morbide und widerwärtig, aber alles in allem geht es um Sex. Warum auch nicht? Schließlich kommt er ja aus Freuds Heimat, oder etwa nicht? relations 2009.pmd 167 – Freuds und Mozarts – fügte ich höhnisch hinzu. – Da sehen Sie, wie gut sie die Dinge begriffen haben – gratulierte mir Doberti lächelnd. – Freuds und Mozarts, das ist die hohe Kultur, das sind die ästhetischen Fragen, das ist der perverse Charme der untergegangenen k. u. k. Monarchie, und sollte Sie der gelegentliche Gestank stören, machen Sie doch das Fenster auf, das ist doch die einfachste Lösung. Ich schwieg. Ich wollte ihn in diesem Augenblick fragen, was das für Dinge seien, die ihn interessieren und unter die Sparte „bezahlter Müßiggang“ fallen, traute mich aber nicht. Jede Antwort, die ich hätte erwarten können, schien mir gefährlich, vielleicht sogar verheerend für meine fragile Überzeugung, in der Welt existiere immer noch etwas, was wir eine gewohnte Ordnung nennen könnten. In seiner Einstellung klang etwas von jener mit, die D’Annunzio mit dem Wort disobbedisco bezeichnet hatte, ich konnte jedoch beim besten Willen nicht verstehen, an wen Doberti eine derartige Parole adressieren sollte. Jenes trübe Gebilde über ihm, das wir Europa nennen, erwartete von Menschen seines Schlages offensichtlich keinerlei Gehorsam. Es forderte ihn von uns kleinen, unbedeutenden Leuten, denen es Gnade erwies und abgenagte Knochen zuwarf. Disobedisco? Ich fürchte, das gibt es nicht mehr, weil sich die Dämonen versteckt haben oder eingeschlummert sind. Oder sie tanzen irgendwo allein, wie in jenem Lied. – Wo wir schon beim Sex sind, wie steht es denn bei Ihnen damit? – fragte Doberti unerwartet. – Wie bitte? – fuhr ich zusammen. Ich hatte alle möglichen Fragen erwartet, nur nicht diese. – Ich meine, verstehen Sie mich bitte nicht falsch – fuhr er fort. – Das ist wichtig, das ist eine wesentliche Vorbedingung jeglichen seelischen Gleichgewichts, außerdem entspannt es den Menschen. Wenn ich Sie so ver- 167 spannt dasitzen sehe, frage ich mich, hat mein Freund überhaupt ein gesundes Sexualleben? Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Doberti griff zur Flasche und füllte unsere Gläser nach. Während ich mein Glas festhielt, berührte er sanft meine Hand. Von der Stelle seiner Berührung strömte eine seltsame Elektrizität durch meine Nerven, als würde jemand in meiner Nähe Hochspannungsexperimente durchführen. Treppenbeleuchtung, dachte ich. Es half aber nichts. Ich hörte, wie in der Dunkelheit die Eingangstür aufging. Natürlich, ich war nicht der einzige, der einen Schlüssel zu meiner Wohnung besaß, das hätte ich ja vorausahnen können. Gewiss besaß auch Doberti einen und wer weiß wer noch alles. Ein stilles Knarren der Dielen im Flur kündigte einen Besucher an und in der Tür erschien zu meinem Entsetzen Alice in der Tür. Sie trug ihren schwarzen Regenmantel, während ihre Augen, sie werden es gewiss schon erraten haben, hinter ihrer schwarzen Sonnenbrille versteckt waren, obwohl ich mich fragen musste, wie sie sich in der Dunkelheit, die uns umgab, überhaupt zurechtfinden konnte. Ich dachte an die Fassade mit dem Fledermausrelief. Auch das half nichts. Alice lächelte uns zu, ging in die Küche und kam mit einem leeren Weinglas zurück. Sie nahm mir gegenüber in einem Sessel Platz und warf mir durch ihre schwarze Sonnenbrille unsichtbare Blicke zu, die mich ziemlich in Verlegenheit versetzten. Um ehrlich zu sein, am meisten tat es mir Leid, dass sie sich nicht zwischen Doberti und mich gesetzt hatte, um den Stromkreis zu unterbrechen, der mein ursprüngliches Fieber zusätzlich in die Höhe trieb. Doberti grüßte sie freundlich und legte seine Hand auf meine Schulter. In seiner Berührung lag etwas Vertrautes, ich traue mich beinahe zu sagen, Verlockendes, zugleich aber auch Eiskaltes, Abweisendes, als sei die Hölle selbst auf 14.4.2009, 20:30 168 RELA Dezember einmal zugefroren und strecke nun ihre schleimigen, klammen Tentakel nach meiner schwankenden Welt aus. Als hätte Doberti ihr ein vorher ausgemachtes Zeichen gegeben, zog Alice ihren Mantel aus. Ich sah viel Schwarzes, hauptsächlich Spitzen und Nylon, aber auch viel nacktes, weißes Fleisch. Ich dachte an das Schlangenknäuel im Kranz an der Fassade gegenüber. Natürlich, auch das half nicht. – Entspann dich, lieber Freund, wir wissen genau, was du jetzt brauchst – sagte Doberti mit versöhnlicher Stimme, umarmte mich und küsste mich auf den Mund. Im nächsten Augenblick merkte ich, dass ich kein Hemd mehr anhatte. Alice stand auf und entledigte mich meiner restlichen Kleidung. Zugleich entledigte sie sich auch selbst all jener verführerischen Modedetails, wie eine Stripperin in einem Nachtclub. Es folgte eine Berührung, ich kann nicht sagen von wessen Hand, und schon reckte sich der Obelisk meiner Scham stolz in die Höhe, in der heißen Luft obszöner Lusttempel zitternd, vom ausgelassenen Babylon bis zu den Bordellen in Odessa, von den Docks in Amsterdam bis hin zu Sodom und Gomorrha. Vom Fieber des Augenblicks gepackt, dachte ich an den Sirius, an die Hundstage und den grimmen Basilisken, an Engel, die Reliquien durch die Lüfte tragen und den rasenden Fiat 4 des Dichters, an die nekromantischen Zeremonien unter den Zypressen eines namenlosen Friedhofs und an etwas, das plötzlich eine völlig neue Bedeutung erhalten hatte und einst, in der Zeit von D’Annunzios zweifelhaftem Ruhm, Santa entrada hieß. Genießen Sie es, sagte mir die Kellnerin im Cafe. Genießen sie es, befahl mir Rijeka durch sein perfide ausgeklügeltes Zeichensystem. Genussdiktatur, fuhr mir die Phrase aus dem Büchlein des Anarchisten durch den Sinn. Aber nichts, nichts half. „Er eroberte Fiume, die Duse und das Besitztum am Gardasee, aber relations 2009.pmd 168 nicht einen Filmkredit“, sagte, soviel ich weiß, Bertolt Brecht über D’Annunzio: „Er war ein Scharlatan, aber dieser Scharlatan schrieb Hirtengedichte, die kaum untergehen werden. Auch seine Provokationen könnte man, mit Opusnummern versehen, herausgeben. Seine Eitelkeit ist der Selbstgefälligkeit Hollywoods turmhoch überlegen, so ist es sein Geschmack, wenn er auch etwas zu disparat ist, und sein ganzer Lebensstil, der immerhin nicht nur der Arbeit, sondern auch der Ausschweifung etwas Produktives verleiht.“ Verstehen Sie, was ich damit sagen will und warum mir von allen Dingen auf der Welt in diesem Augenblick gerade diese Sätze eingefallen sind? Wissen Sie, der große deutsche Schriftsteller schrieb auch über Sodom und Gomorrha, wo laut seiner Einsicht in den Stand der Dinge nichts passiert ist und gerade in diesem Nichts lag der Kern aller Ausschweifung und Sittenlosigkeit: „In Sodom und Gomorrha haben sie den ganzen Tag die Hände in Fotzen gehabt und nichts anderes gemacht, als gefickt und geleckt, aber keinem ist’s gekommen.“ Natürlich, auch die Nacht unserer Ausschweifung war auf ähnliche Weise verstrichen. Denn, soviel wir, entschuldigen Sie den Ausdruck, auch gefickt hatten – eigentlich waren es ja jene beiden, die sich wie lustgeile Aasgeier auf mich gestürzt hatten – blieb die einzige Einschränkung, die der aufrührerische Engel in seinem Fall als dauerhaftes Handikap, manche würden gewiss auch sagen, als zweifelhaften Segen, erhalten hatte, auch in dieser Nacht in Kraft: Der Teufel kann nicht kommen, wie es auch in den Städten der Unzucht und der Lüsternheit, die durch die Hand Gottes von den kargen Landkarten irdischer Moral gelöscht wurden, niemandem gekommen ist. All die Geschichten vom Samen, der eiskalt wie Quellenwasser sein soll, werden wohl eher auf Hirngespinste notgeiler Dorfhexen zurückzuführen TIONS sein, wie sie von impotenten Inquisitoren, die ihre Federn streichelten, statt unter die eigene Kutte zu greifen, in ihren widerwärtigen Analen aufgezeichnet wurden. Als draußen der Morgen zu dämmern begann, waren wir drei immer noch wach. Durch unzählige Spiegel gebrochen, erschien in der Glastür des Balkons das rote Abbild der Sonne. Ich fühlte mich nicht besonders benutzt, aber auch nicht besonders glücklich, obwohl mir mindestens einmal im Laufe der Nacht das unwiderstehliche Wesen aus dem Warteraum im Krankenhaus in den Sinn gekommen war, in dessen Schönheit sich, zumindest in meiner Vorstellung, die besten Eigenschaften beider Geschlechter zu vermischen schienen. Ich dachte über die Zahl Elf nach, von der, so hatte ich es mir zumindest eingebildet, meine seltenen Leidenschaftsausbrüche begleitet wurden, die ich heute, in Anbetracht der unerbittlichen Entwicklung der Ereignisse, getrost zur Vergangenheit zählen kann. Caro alla mia superstizione, murmelte ich vor mich hin, während Alice ihren biegsamen Körper erneut an mich schmiegte. Die Nacht lag schon weit zurück, als sie endlich ihre Sonnenbrille abnahm. Jetzt schaute sie mich mit ihren leeren Augen an, deren Farbe ich im fahlen Morgenlicht unmöglich bestimmen konnte. Doberti saß an der Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. Seine Berührungen begleitete die ganze Nacht hindurch ein fernes Unbehagen, weil mir die Agenten des Alltags aufgetragen hatten, mich von dieser Art Intimitäten fernzuhalten, oder sie wenigstens geschickt zu vertuschen, sollte ich je in deren Umarmung geraten. Und ich hörte auf sie und flüchtete zu Slavica und dann auch noch zu Elizabeta. Und was hat mir das gebracht? Einige Fachkenntnisse in bildender Kunst. Ich fürchte, nicht viel mehr. Aus dem Kroatischen von Boris Peri} 14.4.2009, 20:30