rela tions - Hrvatsko Društvo Pisaca

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rela tions - Hrvatsko Društvo Pisaca
RELA
TIONS
Inhalt
1
RELATIONS
Literarisches Magazin
Zeitschrift der Kroatischen
Schriftstellervereinigung
1-2/2010
Einführung
Herausgeber
DOSSIER: ZORAN KRAVAR
Kroatische Schriftstellervereinigung
Interview: Zoran Kravar [Tomislav Bogdan]
Redaktion
[Chefredakteur]
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5
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7
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25
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45
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56
Zoran Kravar
Der Ring des Nibelungen als Nebenthema
Roman Simić Bodrožić
Zoran Kravar
[Redakteurin]
Eine Sendung aus der Gegenwelt
Jadranka Pintarić
Lektur / Korrektur
Marijana Miličević Hrvić
Redaktionsadresse
Kroatische Schriftstellervereinigung
Basaričekova 24
Tel.: (+385 1) 48 76 463
Fax: (+385 1) 48 70 186
www.hdpisaca.org
[email protected]
Preis 15 €
Zoran Kravar
Tiefe Fiktion
DOSSIER: ŽARKO PAIĆ
Žarko Paić
Landkarten für Irrende
Nomadentum und Chaos am Ende der Geschichte
..................................................................................
67
Žarko Paić
Gott ohne Religion:
Die Leere der Welt und das Ereignis der Offenheit
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80
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92
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105
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109
Umschlag
„Crtaona“
Žarko Paić
Prepress
Herrschaft des Genusses:
Inszenierung des Lebens als sozialen Erlebnisses
Krešo Turčinović
Gedruckt in Kroatien bei
„Profil“, Zagreb
ISSN 1334-6768
LITERARISCHE PRODUKTION:
DRAGO ŠTAMBUK
Vesna Parun
Die Zeitschrift wird vom Kultusministerium der Republik Kroatien
und vom städtischen Fond der Stadt
Zagreb finanziell unterstützt.
Orpheus mit dem Skalpell eines Steinmetzen
Sead Begović
Ein Dichter des Metaphysischen
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Inhalt
TIONS
Drago Štambuk
Poesie
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110
Dalmatien, lichtes Dalmatien [111]; Nacht-Stein [112]; Auftrieb [113]; Macchia auf Brač [113]; Greeneyes [114]; Skarabäus [114];
Der baufällige Palast [115]; Gnade [116]; Meine Radogna-Bucht [117]; Osiris [117]; Dem Sohn Gottes [118]; [Die Menschen
fürchten sich vor Dornen] [118]; Ivan, der im Sommer Geborene [118]; Der Thron [119]; Gewicht [119]; Hand der Freude [120];
Kalki [120]; Lapis [120]; Der Ackersmann [121]; Spalatum [121]; Der Sklave, der ein König war [122]; Der verwaiste Elefant [122];
Nadir [124]; Brandstifter himmlischer Feuer [124]; Varanasi [125]; Harmonie [125]; Pietas [125]; [Schnee auf dem Vidovica-Berg]
[126]; Split [126]; Die Insel [126]
Drago Štambuk
Brač, Auge des Zyklopen
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127
BRANISLAV GLUMAC
Marijan Matković
Die Prosa des Branislav Glumac ......................................................................................................................................................................................................................................
131
Branislav Glumac
13 Kurzgeschichten, die vierzehnte kommt per EU-Post
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Der Sturm .............................................................................................................................................................................................................................................................................................
Alles ist so unsicher ..................................................................................................................................................................................................................................................................
Wie Šonja gestorben ist ......................................................................................................................................................................................................................................................
Der Mensch, den es nicht mehr gibt ...............................................................................................................................................................................................................
Ich schreibe eine Geschichte von einem Tag voller Kleinigkeiten ............................................................................................................................
133
133
135
140
142
145
POESIE DER NACHBARN
Zvonko Maković
Poesie .....................................................................................................................................................................................................................................................................
154
Schöne Aussichten [154]; Beispiele [155]; Dreistigkeit [156]; Drei Abschnitte über eine Tatsache [157]; Übungen [158]; Ich erinnere
mich [159]; Das Schreiben der Poesie [160]; Ein Beitrag zur Geschichte der kroatischen Literatur [162]; Aufzeichnungen [163];
Cardo & Decumanus [164]; Nachmittag [166]; Voreilige Entscheidunge [169]; Der Titel: Ausgelassen [176]; „...die Erde“. [179];
Wir haben uns [180]; Die Anwesenheit des Körpers [181]; Das Leben ist ein Traum [182]; Zwischen [182]; Abschied [183]; Auf der
anderen Seite [184]
Branko Čegec
Poesie .....................................................................................................................................................................................................................................................................
Der Fahrer von Thomas Bernhard [185]; Getarnte Portraits von A. Warhol [187]; Konzert für das Eis und den georgischen
schwarzen Tee [188]; Schwarz [189]; Himalaja [189]; Die kurze Geschichte der stummen Farben [190]; Sieben Brände im Hof
der Gundulićeva Straße 24 [191]; Shopping Therapy [193]; Die Farbe der Bora, der Schwung der Haare [193]; Das
Reisebuchschreiben [194]; Basketball [195]; Nie in den Niederlanden [196]; Regenschirm [197]; Die Landschaften der Sexualität
und des Schlammes [198]; Don Quijote [198]; Kulturtreger [199]; Kompass [199]; Nadeschda und die Angst [200]; Der Mann,
der immer wieder verloren ging [200]; Fado [201]; Maljčiki [201]
185
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Inhalt
Delimir Rešicki
Poesie .....................................................................................................................................................................................................................................................................
203
In jenen Tagen, eine nicht anmaßende Aufzeichnung [203]; Christa [205]; Heilpflanzen [206]; Die Weissagung der
Vergangenheit [206]; Mizar [208]; Ich werde nach Sichuan gehen um dort mit Pandabären zu sterben [209]; Die Mandeln in
deinem Schoß [209]; Dieser Sommer [211]; Das Gold [211]; Die Ungeborenen [213]; Das Buch über die Engel [213]; Die Wissenschaft
über dich [214]; Pilze und Flechten [215]; Neon spielte Lyra [217]; Die Krähe [218]
Tomica Bajsić
Poesie .....................................................................................................................................................................................................................................................................
220
Apokryphe über Tito [220]; Kardinal Kuharić am Telefon 9827 [221]; Eingelassen in den Asphalt von Rio de Janeiro [223]; Der
Einsiedler, den ich kannte [223]; Titan [224]; Jeder Tag ein neuer Tag [225]; Sechs Jahre des Wartens [225]; Das Ruder ist im
Looping der schwarzen eisigen Nadeln durchs Wasser gefahren [226]; Cape Kennedy [226]; Elftausend Meter über den Großen
Tälern [227]; Der siebenundzwanzigste Tag [228]; Toledo [229]; Der Engel des Dunkels ohne Flügel [230]; Die Diktatoren [234];
Australien [234]; Knochensammler [235]; Poesie übersetzen [235]; Drei Schritte [235]; Maybe Airlines [236]; Srebrenica [237];
Gaugins Fluch [237]; Schreckliche Sehnsucht [239]; Die Nacht im Naturkundemuseum [239]; Die Windjacke der New Yorker
Müllmänner [240]; Volksastronomie [242]
Gordana Benić
Mediterraneo
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243
Die Stimmen im Hafen [243]; Spiele mit dem Sand [244]; Das andere Meer [244]; Der Südwind [245]; Die Fallen der Kartographen [246]; Der goldene Berg [246]; Rapport 22 [247]; Genius loci [247]; Beschreibungen [248]; Magistrale [248]; Die
Unsichtbaren [249]; Das Volk hörte den Hellsehern zu [249]; Engel des Nebels [250]; Urhäfen des Mittelmeers [250]; Nirgends
[250]; Sie untersuchten die Grenzen der Wirklichkeit [252]; Willkommen im Nirgendwo [252]; Das Addieren des Vergessens [253];
Sternendeuter [254]; Engel an meinem Tisch [255]
Ivana Simić Bodrožić
Poesie
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[Der Sieg gehört dem Mann in der Unterwäsche...] [257]; Das Hotel „Donau“[258]; [Man sollte unbedingt den Hund ausführen.] [258];
[Auf die Plätze, fertig, los! ] [259]; Ohne dich [260]; [Sie haben ihre Kameras direkt an den Straßenrand gestellt.] [260]; [Es ist früh
am Morgen...] [261]; [Was ist mit den Frauen aus meinem Leben passiert? ] [263]; [Wir haben ein breites Bett.] [263]; [Wir sind beim
Spaziergang in Richtung Gornji grad...] [264]; [Der erste Schritt in die Dunkelheit.] [265]; [Rosmarin, der an der Wand des Hauses
wächst] [265]; Tagebuch einer Mutter [266]; [Alles ist vorbereitet für Deine Ankunft.] [267]; [Die Nacht war lang, die Sonne kommt
heraus.] [267]; [Immer ernsthafter bete ich zu Gott,] [268]; Zimmer 39 [269]; [Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten
an Dir,] [269]; Ein Tag am Meer [270]; [Heute haben mich Kirschen aus dem Bett geholt.] [271]
Luka Baljkas
Foto: Shapes of Hindu Kush [2005 – 2008]
[Seite: 24, 44, 55, 65, 79, 91, 103, 110, 123, 129, 132, 153, 173, 202, 219, 233, 242, 251, 262]
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Einführung
D
ie Wissenschaft über die Literatur ist ein Bestandteil der literarischen Tatsache, die aus Schriftstellern, Büchern und Lesern besteht. Gerade deshalb widmen wir
den ersten Teil dieser Ausgabe den
Texten des angesehenen kroatischen
Schriftstellers und Theoretikers Zoran Kravar. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere lag sein Interesse beim kroatischen literarischen Barock, aber er beschäftigte sich auch
mit der Zeit der Moderne, ebenso
wie mit der Theorie des Verses und
der vergleichenden Metrik. Nichtsdestotrotz interessierte ihn, eigenen
Aussagen zufolge, vor allem die Verflochtenheit der Literatur mit Weltanschauungen und Ideologien. Neben Facharbeiten, die „Wachheit und
intelektuelle Neugierde verlangen“,
verfasste er Artikel, Zeitungstexte,
ja sogar Hefte, in denen er der breiteren Leserschaft literarische und literarisch-theoretische Themen nahebringt. Die hier vorgestellte Auswahl (aber auch das inspirierende Gespräch, das für Relations einer seiner
ehemaligen Studenten, heute selbst
angesehener Wissenschaftler, Tomislav Bogdan, mit ihm führte) stellt nur
einen kleinen Teil des reichen schrift-
stellerischen Opuses eines Professors
dar, der den literarischen Gedanken
vielen Generationen von Studenten,
Theoretikern und Praktikern des literarischen Wortes beibrachte. Zwei
übersetzte Essays wurden in Kravars letztem Buch „Öllampen und
Geister“ („Uljanice i duhovi“, 2009,
Goran-Preis für das Buch des Jahres)
veröffentlicht, während der Essay
über Tolkien aus dem noch unveröffentlichten Buch über antimodernistische Tendenzen in der so genannten
hohen Fantasy-Literatur stammt.
Der zweite Teil des Dossiers über den
zeitgenössischen kroatischen essayistischen Gedanken ist Žarko Paić gewidmet, dessen Interessensgebiete
die Soziologie der Kultur, Semiotik,
Theorie der Kunst und der Ästhetik,
Literatur und visuelle Kommunikation umfassen. Außer seiner Beschäftigung mit der Theorie schreibt Paić,
ebenso wie Kravar, auch Poesie. Wir
bringen eine Auswahl aus seinem
letzten Essay-Werk „Umschwung“
(„Zaokret“, 2009), in dem er über
die Phänomene des Modernen sinnt,
wie zum Beispiel: Globalisierung, die
[Un]möglichkeit der Zukunft, Religion in einem neuen Kontext u. Ä.
Nicht zuletzt bringt diese Ausgabe
von Relations eine Auswahl aus dem
dichterischen und prosischen Opus
von Drago Štambuk und Branislav
Glumac, ebenso wie die Übersetzungen einheimischer Dichter (Tomica Bajsić, Gordana Benić, Branko
Čegec, Zvonko Maković, Delimir
Rešicki und Ivana Simić Bodrožić),
die an dem Projekt Die Poesie der
Nachbarn teilgenommen haben, das
im Jahr 2009 in Edenkoben stattgefunden hat.
Die Fotografien in dieser Ausgabe sind
Arbeiten des preisgekrönten kroatischen Fotografen Luka Baljkas und
die letzten Zeilen dieser Einführung
bieten die Gelegenheit auch allen
unseren Mitarbeitern zu danken, vor
allem den Übersetzern, ohne deren
aufopfernde und akribische Arbeit es
diesen Band nicht gäbe. Deshalb danke Hedi Blech Vidulić, Alida Bremer,
Ulrich Dronske, Marijana Miličević
Hrvić, Klaus Detlef Olof, Boris Perić
und Blažena Radas!
Redaktion
Foto: © Martina Kenji
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Dossier: Zoran Kravar
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TIONS
ZORAN KRAVAR wurde 1948 in Zagreb geboren, wo er auch die Grundschule
besuchte. Einen Teil seiner Kindheit und seine Gymnasialzeit verbrachte
er in Zadar. In Zagreb hat er an der Philosophischen Fakultät Vergleichende Literatur und Philosophie studiert. Ende 1973 nahm er seine Tätigkeit
an der Abteilung für vergleichende Literatur an derselben Fakultät auf,
wo er sein gesamtes bisheriges Arbeitsleben verbrachte: bis 1978 als
Assistent, bis 1984 als Dozent und seither als Professor. In seinen Büchern beschäftigte er sich mit der Literatur des 17. Jahrhunderts (Studije
o hrvatskom književnom baroku, Zagreb 1975; Barokni opis, Zagreb 1980;
Das Barock in der kroatischen Literatur, Köln – Weimar – Wien 1991; Nakon
godine MDC, Dubrovnik 1993), mit Verstheorie und vergleichender Metrik
(Tema „stih“, Zagreb 1993; Stih i kontekst, Split 1999), mit der kroatischen
Moderne (Književni protusvjetovi, Zagreb 2001, gemeinsam mit Nikola
Batušić und Viktor Žmegač), und in neuerer Zeit mit regressiven und antimodernistischen Tendenzen in der Philosophie, Ideologie und Literatur um
1900 (Antimodernizam, Zagreb 2003; Svjetonazorski separei, Zagreb 2005).
Zeitweilig veröffentlichte er Zeitungsartikel unterschiedlicher Thematik, ein Teil davon sind in seinem Buch Sinfonia
domestica (Zadar 2005) gesammelt. Er hat ein gutes Hundert fachlicher und wissenschaftlicher Arbeiten und Besprechungen von Fachliteratur veröffentlicht, einen Teil davon in ausländischen Publikationen. Er hat über zweihundert
Artikel für verschiedene Lexika und Enzyklopädien verfasst (Hrvatski leksikon, I, Zagreb 1996; Krležijana, I–II, Zagreb
1993–1999; Leksikon hrvatskih pisaca, Zagreb 2000; Leksikon hrvatske književnosti. Djela, Zagreb 2008; Kindlers
Literatur Lexikon, Göttingen 2009).
Für seine Arbeit hat er folgende öffentliche Auszeichnungen bekommen: den Krleža-Preis (für das Buch Stih i kontekst), den Josip-JurajStrossmayer-Preis (für das Buch Književni protusvjetovi) und den Sfera-Preis für seinen J. R.
R. Tolkien gewidmeten Essay Duboka fikcija. Er hat auch Lyrik verfasst und 1998 einen Gedichtband unter dem Titel
Vinograd veröffentlicht. Zur Zeit schreibt er an einem Buch über antimodernistische Tendenzen in der so genannten
‚Hochphantastik’ (high fantasy).
RELA
TIONS
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Interview: Zoran Kravar
•
Foto: © Martina Kenji
Das Gespräch führte Tomislav Bogdan
TOMISLAV BOGDAN: Ihr neuer Es-
sayband Uljanice i duhovi (‚Öllampen und Geister’) hat die Aufmerksamkeit durch zahlreiche Memoireneinschübe auf sich gezogen. Als
einer unserer führenden Literaturtheoretiker und Literaturgeschichtler sind Sie sonst eher durch die
Strenge der Metasprache und eine
spezifische Distanziertheit der Wahrnehmung bekannt. In jeder Ihrer
Arbeiten im Band Uljanice i duhovi ist der essayistische Diskurs indessen durchsetzt mit Autobiografischem. Wie ist es zu einem derartigen Kurswechsel gekommen?
ZORAN KRAVAR: Zu diesem Kurswechsel ist es gekommen, ohne dass
ich ihn bewusst programmiert hätte. Ich wollte einfach, dass die Texte,
aus denen ich schließlich den Band
Uljanice gefügt habe, anders würden als meine fachlichen Arbeiten.
Memoirenhafte Proömien, in denen
ich versuche, Alltagserfahrungen mit
Themen fachlicher Natur zu verbinden, haben sich da als Faktor der
Verschiedenheit von selbst angeboten. Zwar habe ich mich auch früher
darauf verstanden, Fachliches und
Geschichten aus dem Leben miteinander zu kombinieren, aber nur in
kürzen für die Zeitung geschriebenen
Texten. In den Uljanice indessen habe ich kurze Geschichten in Arbeiten
eingeflochten, die ich für die eigenen
Erkenntnisleistungen für repräsentativ halte.
Professor Zoran Kravar Gespräch mit Tomislav Bogdan
Der Stil meines neuen Buches lehnt
sich erheblich an die Art und Weise an, in der ich mich mit Freunden
und Kollegen über wissenschaftliche
Themen unterhalte. Wenn ich in ihrer Gesellschaft ein Buch oder eine
Idee kommentiere, habe ich immer
sowohl die fachliche Problematik als
auch den biografischen Kontext im
Sinn, und es scheint mir ganz normal
zu sein auch zu sagen, wo, wann, unter welchen Umständen, auf Grund
welchen Zufalls ich den Anregungen
begegnet bin, die sich mir als nachdenkenswerte Themen anboten. Außerdem neige ich auch als Vortragender zu narrativen Abschweifungen. Wenn ich den Studenten Begriffe und Theorien in Verbindung
mit einem gegebenen Gegenstand
erkläre, erzähle ich ihnen gewöhnlich
auch einiges über die Menschen, von
denen wir sie übernommen haben.
Und etliche dieser Menschen habe
ich persönlich gekannt, ich habe als
Student in ihren Vorlesungen gesessen, oder ich bin ihnen, als Professor,
auf Symposien begegnet, mit einigen von ihnen habe ich Umgang gepflegt, fachliche und außerfachliche
Gespräche geführt, korrespondiert,
und so sind auch sie ein Teil meiner
Biografie. Wenn ich zum Beispiel
Verstheorie oder komparative Metrik vortrage, gibt es immer einen Anlass, auch etwas über Svetozar Petrović
oder Ivan Slamnig zu sagen. In einem
Gespräch, das ich unlängst mit einer
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Studentin führte, die gerade Uljanice
las, bemühte ich mich, auf akademische Weise zu erklären, wie und aus
was einzelne Texte komponiert sind,
worauf sie ohne jedes Anzeichen von
Verwunderung entgegnete: „Ja, ja, so
sind auch Ihre Vorlesungen.“
•
RELA
Dossier: Zoran Kravar
BOGDAN: In den ersten Kommen-
taren zu Ihrem neuen Buch wird
unterstrichen, dass es sich um eine
Autobiografie handelt, in der die
Erinnerungen den Anlass abgegeben
für Erörterungen komplizierter theoretischer Probleme. Mir scheinen
die Memoirenelemente im Buch
eher akzidentell zu sein, gedacht als
Illustration. Obwohl sie zweifellos
erfrischend wirken und mit großem
Interesse gelesen werden – vor allem
die Abschnitte über die sechziger
und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die Zeit Ihres
Heranwachsens und Reifens, die
eine kleine intellektuelle Geschichte
dieser Epoche bilden – sie werden
in dem Buch eigentlich um die
Erkenntnisinteressen herum organisiert, nicht die Erkenntnisinteressen um sie herum. Sie würden,
um nur ein Beispiel anzuführen,
auf ähnliche Weise vermutlich über
den Vitalismus des jungen Krleža
schreiben, auch ohne im ersten
Essay ein bestimmtes Gebirge zu
erwähnen, aber schwerlich würden Sie dieses Gebirge jemals ohne
Krleža erwähnen ...
KRAVAR: Dieser bosnische Gebirgszug mit Namen Motajica ist
aus der Umgebung von Brod gut zu
sehen. Im Text Panska glazba (‚Panmusik’), in dem ich den jungen Krleža mit dem alten konfrontiere, erwähne ich nebenbei, dass ich Mitte der neunziger Jahre mit Kollegen
nach Osijek gereist bin und dass
wir uns, als wir jenseits der Save das
bläuliche Bergmassiv erblickten, an
Krležas Text von 1919 erinnerten, in
dem er erzählt, wie er in Kapela Batrina am Waggonfenster steht und eben
dieses Massiv betrachtet. Natürlich
ist Krleža in meinem Text der Hauptgegenstand, während das Gebirge
eine Digression ist. Doch haben sowohl der Gebirgszug als auch Krležas
Konversation angesichts seiner ihren Platz in meiner Bekanntschaft
mit Krleža, vor allem mit einem seiner stilistisch-motivischen Komplexe,
die ich als Spatialisierung der Musik
und der musikalischen Eindrücke beschreibe, wobei ich an die figuralen
Ausdrücke denke, in denen das semantische Feld der Musik zur Quelle von Metaphern für die Phänomene der natürlichen Welt wird, zum
TIONS
als auch der selbst erfahrenen, das um
so mehr, als sich mit dieser Begebenheit gezeigt hat, wie sehr die Perzeption bei unseren Gebildeten durch die
Lektüre Krležas präpariert ist.
In den Uljanice sind anschauliche
Bilder und gedankliche Motive gewöhnlich durch sachliche – räumliche, zeitliche, ursächliche, substantielle – und nur an manchen Stellen
metaphorische Verbindungen verknüpft. Meistens beginne ich einen
Artikel oder ein Kapitel mit einem
bildhaften Diskurs, in dem ich die
Erfahrungen oder Ereignisse, deren
Wirkung antizipativ war, konden-
Professor Zoran Kravar
Beispiel für die Konturen der Landschaft („Melodie der Berge“) oder für
atmosphärische Geschehen („Musik
des Tages“). In den Kapela Batrina gewidmeten Passagen in Krležas
Dnevnik (‚Tagebuch’), das ich erneut
las, nachdem ich von jener Reise zurückgekehrt war, ist die Beschreibung
des Gebirges gänzlich mit musikalischen Metaphern durchwoben, und
die drängen sich hier als Problem
auf. Auf genau dieses Problem aber
beziehe ich mich in den ersten Kapiteln von Panska glazba, was mich
angeregt hat, mich an Motajica zu
erinnern, sowohl der Krležianischen
siere. In dem Artikel zum Beispiel,
nach dem das Buch seinen Titel hat,
erzähle ich, wie ich die Gelegenheit
bekam, nach dreißig Jahren den Film
Letztes Jahr in Marienbad wiederzusehen. Nachdem ich ihn gesehen
hatte, war mir, als hätte ich an einer
Öllampe gerieben, der ein Geist entstiegen war, jener der sechziger Jahre,
der in der Zeit, als ich den Film zum
ersten Mal sah, die weltanschauliche
Norm und als solcher unproblematisch war.
Oder nehmen wir jene Autobus-Episode zu Beginn des Artikels über
Ortega y Gasset. Das verhielt sich
RELA
TIONS
so. Im Frühjahr 2003 schrieb ich an
meinem Buch über den Antimodernismus und beschäftigte mich dabei auch mit dem Begriff der Masse,
wie ihn Reaktionäre wie Julius Evola
und Edgar Jung verstehen, für die die
Traditions- beziehungsweise Nationalgemeinschaft Ordnung und System sind, die moderne Gesellschaft
hingegen Masse und Haufe. Und
als ich mich an einem dieser Tage,
vom Supermarkt zurückkehrend, in
meinen Vorstadtbus setzte, wurde
ich Zeuge, wie sich auf den Plätzen
hinter mir zwei Fahrgäste ergrimmt,
sehr laut, Feinde der aktuellen sozialdemokratischen Regierung, über irgendwelche spontanen Demonstrationen ausließen, und dass es gut wäre,
wenn sie „massenhaft“ wären, denn
nur die „Masse“ könne Veränderungen bewirken, wie sie sie sich erhofften. Über diese ungewollte Parodie
des politischen Diskurses musste ich
aus zwei Gründen lächeln: einerseits
erinnerte er mich an einen weiteren
Begriff der Masse, der sich durch
affirmative Bedeutung auszeichnet
und dem totalitären politischen Geschmack nahe steht, sowohl dem linken als auch dem rechten, und der
auch in der Rhetorik des jugoslawischen Sozialismus gut vertreten war;
außerdem war es nett zu hören, wie
die beiden angelernten Rechten mit
einem Begriff um sich warfen, der
ihnen vermutlich aus Titos Reden in
Erinnerung geblieben war. Ihr Gespräch ist mir ebenso lebendig in Erinnerung geblieben wie Evolas These
vom „Kollektivismus der modernen
Zivilisation“. Nun, als ich ein Jahr
später über Ortega schrieb (Anlass
war die neue kroatische Übersetzung
von Der Aufstand der Massen) und beschloss, in einem kurzen Abriss der
Bedeutungen zu beginnen, die der
Begriff der Masse in der sozialphilosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts gewonnen hat, galt es nur
noch die linken Kritiker der „Massengesellschaft“ hinzuzufügen.
Dossier: Zoran Kravar
Aber ich möchte erwähnen, dass
mich die Schreibweise, die das Nacherzählen einer Begebenheit aus dem
Alltagsleben erlaubt, auch deshalb
anzieht, weil sie einigermaßen die
Atmosphäre meines Arbeitsumfeldes
wiedergibt. Rein gedankliche Operationen, aus denen sich meine fachlichen Arbeiten zusammensetzen, verlangen Wachheit und intellektuelle
Neugierde, und ihre Resultate können eine bestimmte Art Befriedigung
hervorrufen, etwa so wie wenn Sie ein
Problem in Computerspielen wie Incredible Machine oder Gravity lösen.
Aber das Aufrufen und Festhalten
von Erinnerungen erweckt richtige
Gefühle, einschließlich ihres physiologischen Ausdrucks, gibt etwas von
der Wärme, oder Kälte, zurück, die
an Ort und Stelle geherrscht hat. Ich
hoffe, dass sich etwas von dieser Sensibilität auch auf die Leser überträgt,
und das nicht nur auf jene wenigen,
mit denen ich die evozierten Erinnerungen teile.
•
BOGDAN: In der literaturwissen-
schaftlichen Gemeinschaft, in der
Sie schon fast vierzig Jahre aktiv
tätig sind, hat sich in den letzten
Jahren eine Reihe von Paradigmen
geändert. Für diese Veränderungen,
könnte man, vereinfacht gesagt,
sagen, dass sie sich im Zeichen der
Aufgabe formalistischer Ansätze zu
Nutzen kontextbestimmter Zugänge
ergeben haben. Man könnte sagen, dass sich auch Ihre wissenschaftlichen Interessen in derselben
Grundrichtung entwickelt haben:
von der stilistischen Untersuchung
des Barock zu Beginn Ihrer Karriere über die Verslehre hin zu ideologiekritischen Deutungen, sogar
bis zu Themen aus dem Gebiet der
Pop-Kultur. Sehen Sie auch selber
Ihren wissenschaftlichen Weg so?
KRAVAR: In der Tat. In meinen
ersten Arbeiten habe ich literarische
Schöpfungen und ihre Elemente mehr
als Phänomene untersucht, aber mit
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der Zeit habe ich gelernt, sie in ihren
historischen Kontexten zu betrachten, gewissermaßen als Epiphänomene. Dennoch habe ich auch in diese
„epiphänomenologischen“ Arbeiten
mein Wissen über die strukturellen
Elemente eines literarischen Werkes
eingebracht, vor allem über Figuren
und über Versformen. Mehrmals habe ich mich vor der Aufgabe gesehen,
die Spuren des Kontextes in einem
literarischen Werk auch mit Hilfe
einer Analyse der figuralen Sprache
oder der Art und Weise nachzuweisen, in der sich ein gegebener Dichter
eines bestimmten Metrums bedient.
Anfang der neunziger Jahre habe ich
eine Arbeit veröffentlicht, in der ich
Veränderungen in der lautlichen Organisation in Ujevićs Elfsilbern in
Verbindung mit seinem Übertritt
aus dem Lager der Rechtspartei in
das jugo-nationalistische Lager gebracht habe.
Die Absicht, den Sinn eines literarischen Werkes in einem außerliterarischen Code zu betrachten, kann
uns zu unterschiedlichen Bereichen
der außerästhetischen Wirklichkeit
führen. Mich hat am meisten die
Durchdringung der Literatur mit
Weltanschauungen und Ideologien
interessiert. Dabei habe war es notwendig, mich in beiden Richtungen
zu bewegen, vom Text zur Ideologie
und auch umgekehrt, wie in meinen Büchern über den Antimodernismus. Meine Bekanntschaft mit
den regressiven Ideen und Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts
hat ja mit philosophischer und theoretischer Lektüre begonnen, später
ist mir allerdings bewusst geworden,
dass sich im selben Schlüssel manche Gedichte, Erzählungen, Dramen
oder Opern interpretieren lassen, die
ich schon lange gekannt und in manchen Fällen auch geliebt habe. Auch
in den Uljanice behandele ich ideologiekritische Themen und wende
mich ausgehend von der Ideologie
ihren Übereinstimmungen in der
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RELA
Dossier: Zoran Kravar
Thematik und in der Faktur der ästhetischen Schöpfungen zu, selbst
dann, wenn ein Kunstwerk als erstes
erwähnt wird und im Zentrum der
Aufmerksamkeit bleibt, wie es zum
Beispiel mit Krležas Pan in Panska
glazba oder Wagners Ring im Essay
„Der Ring des Nibelungen als Nebenthema“ der Fall ist.
Mitunter verspüre ich aber doch den
Wunsch, mich den literarischen Werken und ihren Elementen ohne Nebengedanken an die Interpretierbarkeit ihrer Themen und strukturellen Merkmale in diesem oder jenem
weltanschaulichen Code zu widmen.
Gern würde ich zum Beispiel zur
Verslehre zurückkehren, die ich freilich nie ganz vernachlässigt habe,
denn auch wenn ich nicht über Verse
schreibe, halte ich Kollegs aus Verstheorie und Vergleichender Metrik.
Zwar können wir uns mit Versformen auch ausgehend vom Kontext
beschäftigen – das zeigen die Arbeiten meines Lehrers Svetozar Petrović,
meines Kollegen Pavao Pavličić und
meines Schülers Slaven Jurić, aber
auch meine eigenen, vor allem die
in jenem Buch versammelten, das
den Begriff des Kontextes auch im
Titel führt (Stih i kontekst, ‚Vers und
Kontext’). Dennoch würde ich heute über den Vers lieber ausgehend
von seiner Architektonik schreiben.
Auch über dieses Thema ließe sich,
obwohl viele glauben, dass es bis ins
Letzte erforscht ist, noch allerhand
Neues sagen.
•
BOGDAN: Wie sehen Sie heute Ihre
Beschäftigung mit dem Barock? Wie
sehen Sie die Rolle des stilistischen
Verständnisses des literarischen Barock? Sie waren sein wichtigster Vertreter in unserer Mitte und haben mit
die größten Verdienste an der positiven Umwertung der kroatischen
Literatur des 17. Jahrhunderts. Barock als Stil scheint noch immer
nicht selbstverständlich geworden
zu sein, nicht einmal im engeren
Fach, wo man noch immer verallgemeinernd von „barocker Epik“
oder „barockem Vers“ spricht. Muss
man das als ein weiteres Beispiel für
das Vergessen von schon erlangtem
Wissen ansehen, ein Phänomen,
TIONS
zu dem es heute nicht selten infolge Nacheiferns in Mode stehender
Schulen und Zugänge kommt?
KRAVAR: Mein Barockverständnis ist aus der Einsicht hervorgegangen, dass die europäische Literatur
zwischen etwa 1590 und 1650 dahin
gehend uniform ist, dass sie sich des
poetischen Ornatus bedient, nicht
aber zugleich in Hinblick auf das
Gattungssystem, den künstlerischen
Charakter oder den gesellschaftlichen Status. Im Europa um 1600 gab
es mehrere Konfessionen, mehrere
Herrschaftsformen, mehrere Weltanschauungen, aber literarische Werke
mit dominanter ästhetischer Funktion und ein Publikum, das fähig
war, das Werk als Objekt ästhetischer
Kontemplation zu rezipieren, gab es
nur in West- und bis zu einem gewissen Grad in Mitteleuropa, wo die
literarische Tätigkeit auf den Errungenschaften der Renaissance fußte,
d. h. auf der Rezeption der griechischen Kunstphilosophie, der römischen Rhetorik und auf der partiellen Reanimierung antiker Literaturgattungen. Im europäischen Osten
RELA
TIONS
gab es noch immer viel Literatur des
Vorrenaissance-Typus, eingeschlossen in das Gattungssystem des Kirchen-, Hof- und Kanzleischrifttums.
Aus der Tatsache, dass man eine ähnliche Metaphorik in Gedichten von
Madrid bis Kiew finden kann, darf
man keine Schlüsse hinsichtlich der
Identität des „barocken Menschen“,
des „barocken Geistes“, der „Poetik“
u. ä. ziehen. Die europäische Literatur um 1600 ist wie ein Drache mit
mehreren Köpfen, aber nur einem
Schwanz, und so habe ich mich dafür
eingesetzt, den Barock als Periodisierungsbegriff mit universalistischem
Anspruch auf den Schwanz zu begrenzen und die Köpfe getrennt zu
beschreiben und zu benennen.
Aber aus der heutigen Perspektive
zieht unsere Barockforschung der
siebziger und achtziger Jahre, einschließlich meiner Beiträge, die Aufmerksamkeit nicht nur mit ihren
konzeptuellen Lösungen auf sich,
von denen meine nur eine war, sondern auch mit ihrem ideologischen
Hintergrund. Es wäre interessant,
wenn jemand versuchte, die wechselhafte Beziehung der kroatischen
Wissenschaft von der Literatur zum
Barockbegriff und zu den heuristischen Hypothesen zu deuten, die er
mit einschließt. Es würde sich vermutlich erweisen, dass der Begriff
den Literaturhistorikern näher und
verständlicher war, die den Gedanken an den Einschluss der älteren
kroatischen Literatur in den europäischen Literaturhorizont unbelastet akzeptiert und die Modernisierungsprozesse positiv gewertet haben, und dass ihm vor allem jene
weniger zugeneigt waren, die an außergeschichtliche ästhetische Universalien (Croceaner wie Haller und
Kombol) oder an die lokale, heimische Verwurzelung der literarischen
Praxis glaubten, auf die die akademische Literaturgeschichte der fünfziger Jahre setzte. Aus der Perspektive der Gesellschafts- und Politikge-
Dossier: Zoran Kravar
schichte wiederum ist es evident, dass
der mitteleuropäische Multikulturalismus des österreich-ungarischen
Kroatiens (Vodnik, Prohaska) und
der Europäismus des letzten Drittels
des 20. Jahrhunderts der Rezeption
des Begriffs mehr entgegen kamen
als das ideelle Klima des Nationalismus der Zwischenkriegszeit und des
dogmatischen Sozialismus nach dem
Zweiten Weltkrieg.
•
BOGDAN: Kehren wir zu Uljanice
i duhovi zurück. Darin beschäftigt
Sie, wie auch in Ihren anderen
neueren Arbeiten, das Thema des
Antimodernismus. Als Antimodernismus sehen Sie, ganz allgemein
und vereinfacht gesagt, die weltanschaulichen Gegensätze zu Prozessen der liberal-kapitalistischen
Modernisierung. Wie kam es zu
Ihrem Interesse für dieses Thema?
KRAVAR: Würde man nur nach
meinen Bücher urteilen, könnte es
wirklich so scheinen, dass der Antimodernismus direkt vom Mars in
mein Arbeitszimmer gefallen ist, und
das vor relativ kurzer Zeit. Aber so ist
es nicht. Auch in der Zeit, in der mich
die Öffentlichkeit mehr anhand meiner Arbeiten über den Barock und
den Vers kannte, habe ich von Zeit
11
zu Zeit Artikel über moderne Dichter
veröffentlicht, vor allem über solche,
die in sich die Abneigung gegenüber
typischen Erscheinungsformen der
modernen Zivilisation mit der Geste weltanschaulicher Regression, mit
Nostalgie nach archaischen Formen
der Sozialität, mitunter auch mit
dem Versuch vereinen, sich in das
biologisch Primitive einzuleben, wie
in Rilkes Achter Elegie, über die ich
in den achtziger Jahren geschrieben
habe.
Aber mehr als in meinen Arbeiten
haben sich die Erfahrungen mit der
Thematik, die mein Buch Antimodernizam und fast alles, was ich danach veröffentlicht habe, füllt, in
meinem ästhetischen Gedächtnis akkumuliert, und manches auch in
meinen Notizbüchern. Das war ein
langer Prozess. Auf der einen Seite
habe ich immer gern nicht-realistische Literatur gelesen, die im Schatten des Realismus oder nach seiner
„Desintegration“ entstanden und in
der die Atmosphäre des Zivilisationspessimismus ebenso präsent ist
wie die Sehnsucht nach Räumen „wo
immer außerhalb dieser Welt“ (Baudelaire). Diese Sehnsucht ist mitunter evasiv, mitunter utopisch, zumeist
aber regressiv und regressiv-utopisch,
in dem Sinne, dass die Rettung bringende Zukunft als Kopie eines irgend
gearteten archaischen Urzustandes
gedacht und ihr Kommen einem zyklischen Prinzip untergeordnet wird.
An dieses Anfangsinteresse schloss
sich die Lektüre essayistischer und
philosophischer Texte an, in denen
die aus einem Prozess liberal-kapitalistischer Modernisierung hervorgegangene geschichtliche Welt von
regressiven Positionen aus kritisiert
wird. Früh habe ich Spenglers Untergang des Abendlandes und seinen
Antagonismus Kultur – Zivilisation
kennen gelernt, und ich habe auch
Autoren aus dem Kreis des spiritualistischen und vitalistischen Monismus gelesen, deren Werke parallel
12
zum Symbolismus und zur Sezession
in der Kunst entstanden sind. Gleichzeitig habe ich marxistische Kritiken
der regressiven Philosophien, Ideologien und Kulturtendenzen gelesen:
Lukács’ Zerstörung der Vernunft, Adornos Versuch über Wagner, Blochs
Prinzip Hoffnung, Benjamins Baudelaire. Das waren komplementäre
Erfahrungen: auf der einen Seite habe ich einen potentiellen Gegenstand
der Analyse kennen gelernt, auf der
anderen Seite habe ich mich auf die
Methodologie seiner ideologiekritischen Durchdringung eingelassen
und mich im Erkennen regressiver
weltanschaulicher Strukturen, Ideologeme und ihrer Übereinstimmung
in Thematik und Faktur ästhetischer
Schöpfungen geübt. Dennoch konnte ich Lukácz, Adorno und anderen
in einem fundamentalen Punkt nicht
zustimmen. Sie erklären nämlich die
Kultur der Regression ziemlich einmütig als Symptom der „Degeneration“ oder „Krise“ des Bürgertums.
Meine Arbeiten über den Antimodernismus hingegen gründen auf der
Annahme einer tripartitischen Teilung des ideologischen Feldes der
Moderne und auf der Überzeugung,
dass sich antimoderne Ideologien,
Kunststile und poetische Phantastereien in offener oder impliziter Polemik mit den Tendenzen und Werten
der bürgerlichen Zivilisation herausbilden, und nicht als Begleiterscheinung ihrer Dekadenz.
•
RELA
Dossier: Zoran Kravar
BOGDAN: Bisher haben Sie sich
hauptsächlich mit dem Antimodernismus in der Kultur des späten
19. und frühen 20. Jahrhunderts
beschäftigt, und das zuerst in ihren
literarischen Welten. Nachdem Sie
das viel beachtete Buch über den
Antimodernismus in der europäischen Kultur (Antimodernizam,
2003) veröffentlicht hatten, haben Sie sich mit seinen Beispielen
im kroatischen Kontext beschäftigt (Svetonazorski separei, 2005,
‚Weltanschauliche Nischen’). Ihr
Interessensgebiet im neuen Buch
hat sich zusätzlich erweitert. Die
Analyse antimodernistischer Tendenzen applizieren Sie hier auf die
literarischen Elemente in Opernwerken (Wagner, Szymanowski)
und Filmen, aber selbst in der klassischen Musik entdecken Sie antimodernistische, antizivilisatorische
Stimmungen. Wohin könnte die
Anwendung Ihrer Methode Sie noch
führen?
KRAVAR: In den Arbeiten vor Uljanice haben ich Bekenntnisse und Figuren regressiver Weltanschauungen
und Ideologien hauptsächlich in Texten aufgespürt, seien sie ästhetischer
und außerästhetischer Zielrichtung.
Das natürlich in Übereinstimmung
mit meiner literarisch-philosophischen Bildung. In meinem neuen
Buch wiederum, in dem ich mir die
Freiheit des Mutmaßens genommen
habe, habe ich versucht, die Nachforschung auch auf andere Künste, vor
allem auf die Musik auszuweiten. Dabei haben mich am meisten die Korrelate einer der antimodernistischen
Weltanschauungen – des Vitalismus
– in der Musik zwischen Wagner und
dem frühen 20. Jahrhundert interessiert. Ich bin von dem Eindruck aus-
TIONS
gegangen, dass es den Komponisten
dieser Epoche gelungen ist, Stimmungen zu stimulieren und Kontraste entsprechend den gedanklichen
Motiven und begrifflichen Antagonismen der Lebensphilosophie zu
errichten, wie wir sie in der philosophischen und essayistischen Literatur zwischen dem frühen Nietzsche
und Ludwig Klages kennen gelernt
haben. Das Gefühl zum Beispiel des
Versinkens in das Ur-Eine, der Verlust der in den Prozessen der Individuation errungenen Konkretheit –
so wichtig für Nietzsches Deutung
des dionysischen Komplex – ist bereits in der Grundlage von Wagners
„endlosen Melodien“ und unermüdlicher harmonischer Progressionen
deutlich zu ahnen, die uns aus der
Erscheinungswelt, aus dem Raum
individueller Formen und ihrer Begrenztheit, in eine Art biozentrisches
apeiron zu tragen scheinen, in die
Sphäre der Dinge an sich. Freilich
begleitet der Mythos von der Regression in das Ur-Eine, von der Ekstase
in einer Welt ohne Transzendenz, die
Reduktion der aus der Klassik und
Romantik ererbten musikalischen
Mikro- und Makrostrukturen nicht
nur als vage synästhetische Suggestion, sondern mitunter auch als vertonter Text. In der Schlussszene des
Tristan singt Isolde davon, wie sie
mit dem All verschmilzt, und im Finalsatz des Schönberg’schen fis-mollQuartetts verklingen die letzten Parameter der musikalischen Ordnung
mitsamt der Tonalität zu den Versen
Stefan Georges: „Ich löse mich in Tönen [...] Dem großen Atem wunschlos mich ergebend.“
•
BOGDAN: Können die heutigen re-
gressiven Weltanschauungen, die
eine Nähe zu antimodernistischen
zeigen, in den Status öffentlicher
Weltanschauungen aufsteigen? Haben sie das Potential für politische
Wirkung? Mit anderen Worten, ist es
Ihrer Meinung nach möglich, sich
RELA
TIONS
eine solche Veränderung des politischen Lebens in der westlichen Welt
vorzustellen, die den Aufstieg antimodernistischer Ideale ermöglichte.
KRAVAR: In Uljanice habe ich an
mehreren Stellen deutlich gemacht,
dass es noch immer Weltanschauungen gibt, die sich strukturell mit denen decken, die ich in meinem Buch
über den Antimodernismus analysiert habe, wenngleich mehr an den
Rändern der Normalkultur. Ihre Rezidive finde ich hier und da in Texten von Pop- oder Rock-Schlagern,
worauf ich in einem Artikel mit dem
Titel Razodgajatelj eingegangen bin,
aber die umfassende Untersuchung
dieser subkulturellen oder kontrakulturellen Sphäre würde ich Jüngeren überlassen, weil ich mich darin zu wenig auskenne. Hätte mir
übrigens jener ‚viel jüngere Kollege’
(d. h. Tomislav Bogdan) seinerzeit
nicht eine CD der Gruppe Radiohead geschenkt, hätte der Rock in
den Uljanice völlig gefehlt. Im selben
Artikel habe ich mehr Raum Dan
Brown und seinem Roman Sakrileg
gewidmet, nachdem ich ein wenig
auch in irrationalistische Traditionen und Doktrinen hineingeschaut
habe, aus denen er seine Meinungen
zum Gnostizismus und zur angeblichen Rolle der Frau und des Sexus
in heidnischen Ritualien bezogen
hat. Ich habe ebenfalls versucht zu
zeigen, dass sich dieses Denken so
ziemlich mit der vitalistisch-monistischen Interpretation heidnischer
Religiosität und mit dem Konzept
der Liebe in der Lebensphilosophie
vom frühen Nietzsche bis zu Klages’
„kosmogonischem Eros“ deckt. Zu
guter Letzt habe ich in Uljanice am
Beispiel eines Buches von Sean Kane auch mit den Ideen der ökologischen Holisten beschäftigt, bei denen
die systemtheoretischen Annahmen
der naturwissenschaftlichen Ökologie im irrationalistischen Schlüssel
re-interpretiert werden. Während für
den Naturwissenschaftler die natürli-
Dossier: Zoran Kravar
13
che Umwelt ein System ist, ist sie für
die Holisten ein intelligentes Wesen.
In Kanes Buch über die paläolithische Mythologie als einer Alternative
zur modernen Philosophie und Wissenschaft (Wisdom of the Mythtellers)
habe ich eine Menge über die „Intelligenz der Erde“ und über Jäger und
Sammler gelesen, die sich dieser Intelligenz, im Unterschied zu den zivilisierten Menschen, unterordnen
und sie weitergeben, ohne zu versuchen, sie durch die Idee des Subjektes
zu versklaven.
Aber lassen Sie mich zu Ihrer Frage zurückkehren. Nein, ich erwarte
stehen und Funktionieren genügt es,
dass der Einzelne, als Arbeitnehmer
oder als Arbeitgeber, dem im Arbeitsprozess und im Geschäftsleben verdinglichten prozeduralen Rationalismus folgt. In welchem Schlüssel wir
allerdings die Letzten Dinge mit Sinn
erfüllen – im aufklärerischen oder im
christlichen, im vitalistischen, spiritualistischen oder materialistischen
– ist Privatsache.
Darin unterscheidet sich der Kapitalismus vom realen Sozialismus,
der so, wie ihn sich seine Initiatoren
und Realisatoren gedacht haben, auf
weltanschauliche Fragen empfind-
nicht, dass aus solchen Weltanschauungen Impulse zur Herausbildung eines korrektiven oder sogar konservativ-revolutionären politischen Willens kommen könnten. Das Höchste, was sie können, ist, dass sie die
Einzelnen vereinsamen oder sie zu
Randgruppen der Gesellschaft zusammenzwängen. Denn sie keimen
auf ideologischem Niemandsland, in
Räumen, von denen die auf kapitalistischer Ökonomie und auf Eigentümerverhältnissen gegründete Gesellschaftsordnung, die sie diktiert, die
Hände gehoben hat. Das kapitalistische System ist nämlich nicht weltanschaulich präskriptiv. Für sein Be-
lich und repressiv reagierte. Von den
Bürgern der sozialistischen Länder
wurde erwartet, dass sie – zumindest
öffentlich – nicht nur an den Parteikurs und an den Rationalismus der
Wirtschaftspolitik glauben, sondern
auch an jenen ganzen Komplex ontologischer, kosmologischer und geschichtsphilosophischer Prämissen,
die gemeinsam die „Dialektik der
Natur“ und den „historischen Materialismus“ bilden. Ein Autor mit
den Ideen Sean Kanes würde dort
im Gefängnis oder in der Irrenanstalt
landen. Zwar wurden auch im Sozialismus, vor allem in der Lyrik und in
der Erzählprosa mit Elementen von
14
Phantastik, Formen von Diskursen
toleriert, in denen sich unorthodoxe Weltanschauungen maskiert als
Auslöser von Verwunderung ausleben konnten, aber das abhängig vom
Wo und Wann.
•
RELA
Dossier: Zoran Kravar
BOGDAN: In Uljanice entdecken
Sie also Überreste des Antimodernismus auch in einigen Sektoren
der modernen Welt, von unterschiedlichen esoterischen und populärwissenschaftlichen Lehren bis hin zur
Pop-Kultur. Scheint Ihnen nicht,
dass der Begriff damit ein wenig
an Präzision verliert?
Den Antimodernismus haben Sie
ja ursprünglich präzise mit der
Epoche der weltgeschichtlichen Moderne verbunden, also mit der Zeit
um 1900. Ich will es erklären: wird
der Antimodernismus – anstatt als
bewusstes ästhetisches Programm
oder als sein ideologischer Hintergrund – als „jenes Irrationale“ im Einzelnen gesehen, das zur
Rückkehr in die Totalität tendiert,
wird er damit nicht überpräsent,
bekommt er dadurch nicht einen
konstanten transhistorischen Anstrich? Da der Mensch nicht nur
ein Wesen der Rationalität ist, sondern Atempausen und „Nischen“
braucht, wie sehr ist es da gerechtfertigt, den reinen Abscheu vor der
bürgerlichen Zivilisation und die
Angst vor dem Partikularismus der
modernen Welt als Antimodernismus zu bezeichnen?
KRAVAR: Natürlich bin ich mir
bewusst, dass die heutige irrationalistische Szene viel mehr umfasst als
Gedankengebilde und Visionen, die
mit den Ideen der kanonischen Antimodernisten vergleichbar oder sogar verbunden sind. Da gibt es alles
Mögliche: religiösen Radikalismus,
Aberglaube und Determinismus, Reinterpretation der Quantenmechanik und des Urknalls im spiritualistischen Schlüssel, Jung’sche Psychologie; es gibt den Hellseher, den
Sterndeuter, den Exorzisten, den Hexer, den Lehrer. Das ist ein nicht zu
überblickender Komplex, der bisher weder beschrieben noch durchforscht wurde, aber seine Ätiologie
ist uns im Großen und Ganzen klar.
Seine Gedanken lässt sich auf der einen Seite mit der bereits erwähnten Tatsache erklären, dass Irrationalismus und Aggressivität gegenüber
den Errungenschaften der Aufklärung nicht verboten sind, während
es auf der anderen Seite bedingt ist
durch gesellschaftliche Veränderungen. Es scheint nämlich, dass in den
modernen Gesellschaften die Demokratisierung rascher vorangegangen ist als die Edukation, was bedeutet, dass auch Gesellschaftsschichten
zum Ausdruck gekommen sind, die
keine auf den Resultaten moderner
Natur- und Geschichtswissenschaften gegründeten Bildung erworben
haben. Sie haben eigene Kanäle der
öffentlichen Kommunikation, eigene Zeremonien, aber ihr Geschmack
und ihr kollektives, von der Prozessen der aufklärerischer Demythologisierung nicht erfasstes Bewusstsein
wird maßgebend auch für den Markt
ideeller und kultureller Güter. Die
Antwort des Marktes ist eine kräftige Welle ästhetisch gestalteter Irrationalismen, die sich in den Produkten der Pop-Kultur ausbreiten und
allmählich auch in die Sphäre der
Hochkultur eindringen.
Wie aber in diesem Durcheinander
die Spuren antimodernistischer Theorien wiedererkennen? Ihre Tiefenstruktur, ausgehend von den klassischen Texten, habe ich in einer spezifischen Geschichtsphilosophie gefunden, die die gesamte menschliche
Phylogenese in eine vormoderne Urzeit, gewöhnlich jenseits des historiografischen Gedächtnisses angesiedelt,
ungeschichtlich und zirkular, und in
eine lange Periode der Modernität
teilt. Die Moderne beginnt, anders
als in unseren kulturgeschichtlichen
Periodisierungen, nicht mit dem Hu-
TIONS
manismus oder mit der Aufklärung,
sondern mit Sokrates (Nietzsche),
mit den Vorsokratikern (Guénon),
mit dem Christentum (Klages), mit
dem Zusammenbruch der Kastenordnung (Evola).
Die Übermacht der vormodernen
Gegenwelt liegt darin, dass in ihr
immer eine Form von Vertrautheit
zwischen Mensch und Totalität bestanden hat, wobei man sich Totalität
in verschiedenen weltanschaulichen
Codes vorstellt, zumindest als biozentrische Verflochtenheit alles Bestehenden (Nietzsche, Klages, Lawrence) oder als hierarchische Traditionsgemeinschaft mit einer Elite, deren Legitimität aus der Transzendenz
gewährleistet wird (Guénon, Berdjajew, Evola). Der moderne Mensch
hingegen ist ein egoistischer Individualist, und so entzieht sich ihm
die Gesamtheit des Bestehenden. Sie
transzendiert den Horizont seiner
weltanschaulichen Konstruktionen
und Erkenntnisinteressen: aufklärerische Philosophien von Mensch und
Geist, exakte Wissenschaften, ökonomischer Egoismus.
Als Rezidive des Antimodernismus
in der heutigen Kultur erlebe ich
jene Gedankengebilde und künstlerischen Visionen, in denen dieser fundamentale geschichtsphilosophische Entwurf repliziert wird.
Seine vielleicht ganzheitlichste Reinkarnation habe ich in jener Untergattung des ökologischen Denkens gefunden, den ich irrationalistisch oder holistisch genannt habe.
Es ist in den Uljanice mit dem Buch
des erwähnten Sean Kane vertreten,
wo die paläolithische Gegenwelt, als
das Zeitalter des menschlichen Gehorsams gegenüber der Intelligenz
der Erde, von der langen Epoche
des Anthropozentrismus geschieden
wird, die vom Neolithikum bis heute
dauert. Es tut mir leid, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich auch anderen Zivilisationspessimisten zuzuwenden, die von ökologischen The-
RELA
TIONS
orien ausgehen, zuallererst Thomas
Berry (The Dream of the Earth) und
Daniel Quinn (Beyond Civilization),
aber sollte ich erneut über die moderne Kultur der Regression schreiben,
werde ich sie im Sinn haben.
Die letzten zwei Jahre habe ich mich
sehr für die Rezidive des Antimodernismus in einer populären Literaturgattung, in der sog. Hochphantastik
(high fantasy), interessiert, am meisten bei Tolkien und seinen Vorgängern, bei Eddison und Lord Dunsany. Alles Mögliche habe ich gefunden: vorzeitliche Gegenwelten, deren
Bewohner im Einvernehmen mit den
numinosen Mächten oder in enger
Durchdringung und im Gleichgewicht mit der Pflanzen- und Tierwelt leben; dämonische dark lords,
die umstrittene Trends der modernen
Zeit (instrumentaler Geist, technische Ausbeutung, politischer Hegemonismus) erkennbar allegorisieren;
gesalbte Herrscher, die die Vorstellung antimodernistischer Etatisten
von der transhumanen Herkunft der
Traditionselite zu verkörpern scheinen. Das Resultat dieser Nachforschungen und Einsichten ist ein kleineres Buch, das in Kürze erschei-
Dossier: Zoran Kravar
nen soll. Sein Titel ist Kad je svijet
bio mlad (‚Als die Welt jung war’),
was natürlich ein Zitat aus Tolkien
ist (Silmarillion). Über Tolkien und
die Hochphantastik habe ich in der
letzten Zeit auch Kollegs für meine
Studenten gehalten. Alle haben sie
Der Herr der Ringe gelesen, und einige kennen ihn wie die Zeugen Jehovas die Bibel. Ich musste sehr darauf achten, nicht Merry und Pippin
(nach ihrer Funktion) oder Gildor
und Galdor (nach dem Klang) zu
verwechseln.
Die letzte Revelation allerdings habe ich im Kinematografen erlebt.
Unlängst hat mich die Jugend aus
meiner Familie ins Kino zum Avatar mitgenommen, und da habe ich
mir schon nach einer halben Stunde
vor Zufriedenheit die Hände gerieben. Im Film wird das Leben einer
vormodernen Gesellschaft – zwar
auf einem anderen Planeten angesiedelt, aber entsprechend den antimodernistischen Phantasien vom
Vorzeitmenschen konzipiert – ausgiebig im Geiste des vitalistischen
Biozentrismus charakterisiert, selbst
in den szientistischen Diskussionen
gelehrter Erdbewohner, in denen,
15
ähnlich wie beim Thema midi-chlorians im Krieg der Sterne, biologistische Semantik und holistische Syntax
umgeschichtet werden. Symptomatisch ist auch die Diesseitigkeit des
Heiligen (die Göttin als Baum), ein
bekanntes Motiv aus vitalistischen
Deutungen heidnischer Religiosität,
denen zufolge sich der Heide nicht
vor einer transzendenten Gottheit
verneigt, sondern die „Göttlichkeit
dieser Welt“ (Klages) verehrt. Die
Szene des Gebetes über dem getöteten Tier wirkt, als wäre sie aus Kanes
Mythtellers übernommen. Dennoch
trägt der Konvertit auch die Verschlagenheit des modernen Geistes in die
Urgemeinschaft, denn er manipuliert
rational mit ihren Mythen. In gewisser Weise ist er noch immer der Yankee am Hofe König Arthurs.
•
BOGDAN: Vor ein paar Jahren sind
sie aus Zagreb in die Isolation der
Berge bei Samobor übersiedelt, wo
Sie sich ungestört der wissenschaftlichen Arbeit und Ihrer großen Leidenschaft, der klassischen Musik,
widmen. Ist auch Ihre Übersiedelung eine spezifische antimodernistische Nische?
16
RELA
Dossier: Zoran Kravar
das Bergland von Samobor habe ich
mich in der Hauptsache aus praktischen Gründen entschieden. Ein
Mensch meines Faches, meines Alters und ähnlicher Interessen hat gewöhnlich schon viele Bücher, CDs,
DVDs angehäuft, schreibt auf dem
Computer, hat Hi-Fi, hat oder möchte ein Hauskino, aber all das verlangt
Platz. Zu dem kommt man wiederum viel günstiger auf dem Dorfe als
in der Stadt oder in den Vorstadtsiedlungen. Zum anderen verlangen
hören, wissen sie, dass ich zu Hause bin und dass sie etwas bekommen
werden, wenn sie die Treppe erklimmen und miauen.
Auf die Idee, mich in Zagreb aufzuhalten, so weit das meine Fakultätsverpflichtungen erfordern, und die
übrige Zeit hier zu verbringen, hat
mich auch gebracht, dass ich mich
in der Landschaft wohl fühle: unter
Bäumen, auf der Flur, im Wald, auf
dem Berg. Das Wohlgefühl im natürlichen Ambiente, der Reiz, den das
Sirren der Insekten hervorruft, das
sowohl meine professionelle Arbeit
als auch meine Mußestunden Stille,
und die habe ich in den Stadtvierteln, in denen ich früher gewohnt
habe, nicht in ausreichendem Maße
gehabt. Schließlich bin auch ich mit
meinen Hauskonzerten ein potentiell unangenehmer Nachbar, und so
schien es mir moralisch korrekt, mich
an einen Ort davonzustehlen, wo ich
niemandes Arbeit oder Schlaf störe.
Hier kann ich auch in den Sommermonaten, wenn Türen und Fenster
offen stehen, höchstens die Dorfhunde in Aufruhr bringen oder die Katzen aus den Nachbarhöfen anlocken.
Katzen sind Geschöpfe mit feinem
Gehör, sie mögen keinen Lärm, aber
wenn sie Musik aus meiner Mansarde
Rauschen der Baumkronen, der Duft
der Wiesen, die Sinuskurve des Bergrückens, sie gehören natürlich zu den
geschichtlich bedingten „Kulturreaktionen“. Das habe ich auch mehrere
Male bewiesen in den Analysen von
Gedichten mit Landschaftsthematik. Aber letztlich sind alle unsere
Neigungen und Abneigungen gesellschaftlich mittelbar und geschichtlich bedingt, was sie aber nicht weniger intensiv macht.
Und noch etwas: während ich hier in
den Bergen bin, bin ich nicht in Zagreb, und so bleibe ich verschont von
seinen verschiedenen Disfunktionen
und seinen unschönen Ambienten,
deren es leider viele gibt. Wenn ich
aus meinem Bauernhaus kommend
KRAVAR: Ich denke nicht. Für
TIONS
den Weg zum Nachbardorf einschlage, um dort Frischkäse und Sauerrahm zu kaufen, kommt mir manchmal der Gedanke: wäre ich jetzt in
Zagreb, müsste ich in den nächstgelegenen Supermarkt, was für mich eine
Fahrt mit dem Vorstadtbus bis zum
Busbahnhof Črnomerec bedeutet.
Dieser Terminal ist ein unfreundlicher, urbanistisch undefinierter peripherer Raum, wo österreichische Kasernen, baufällige Häuschen aus der
Vorkriegszeit, sozialistische Zehnstöcker, gestrige Neubauten und Punkte
unseres kommerziellen Neokapitalismus, von tragbaren hölzernen Verkaufsständen bis zu Verkaufshallen
mit dem Präfix super- und megaunmittelbar nebeneinander stehen.
Beispiele solcher urbanistischen Unausgegorenheiten, chaotische Umsetzungen anachronistischer Ideen,
von denen keine einzige stark genug
war, den Raum von einigen Hektar
zu beherrschen und eine gute Architektur und eine harmonische oder
zumindest funktionale Gesamtheit
zu erzeugen, gibt es in Zagreb mehr
als genug, und die Konfrontation mit
ihnen deprimiert. Schließlich wären
auch die Artikel, die ich in einem der
Supermärkte um den Terminal kaufen würde, wie Frischkäse und Sauerrahm, nicht vergleichbar mit den
Erzeugnissen aus dem Nachbardorf.
Auch die Katzen haben einen Löffel
heimischen Sauerrahms lieber als den
aus dem Plastikbecher.
Aber Scherz beiseite, ich liebe auch
die Städte, und auch in Zagreb gibt
es hübsche Straßen und Plätze, sagen wir, zwischen der Frankopanska
und der Draškovićeva, wo Sie einen
gemütlichen Spaziergang mit einem
Besuch in einem der Buchläden oder
CD-Shops verbinden können. Es gibt
noch schöne urbanistische Komplexe zwischen der Austrijska und der
Frankopanska und östlich der Börse,
nur ist dort der Verkehr dicht, es gibt
keine anziehenden Läden und Cafés
und auch keine gute Beleuchtung,
RELA
TIONS
nichts, was sie in einen Ort zum Flanieren verwandeln würde.
Natürlich auch hier unter der Plješivica habe ich die Gewohnheiten und
Sensibilität eines urbanen Menschen
beibehalten. Von der Idee, mich mit
einem Garten zu beschäftigen, habe
ich nach ein, zwei Monaten kümmerlicher Versuche Abstand genommen
und dieses Geschäft Leuten überlassen, die es gegen vernünftige Entlohnung wahrzunehmen wissen, und
meinen hiesigen Aufenthaltsort habe
ich von Anfang an als Stadtwohnung
eingerichtet. Ich habe mich nach
meiner Ankunft hier nicht auf die
Suche nach alten Schränken, Truhen
und Holzuhren gemacht, sondern
habe rational zugeschnittene Regale
und Arbeitstische bestellt, habe einen Teil der Bücher hergebracht, einen Computer installiert und die in
Zagreb begonnenen Arbeiten fortgesetzt. Nebenbei, auch der größte
Teil von Uljanice ist hier entstanden.
Und dann, hier gibt es keine besondere Isolation. Die Menschen machen
gerne Ausflüge, und so empfange ich
hier öfter Besuch, als es der Fall war,
solange ich in der Stadt lebte.
•
BOGDAN: Immer mehr Menschen
sind heute in der Lage, sich für
marginale, alternative Lebensweisen zu entscheiden. Und doch, die
Listigkeit der liberal-kapitalistischen Ordnung kommerzialisiert
die eigenen Gegenwelten, indem
sie aus ihnen oft käufliche Lebensstile macht. Wenn jede Kritik und
jeder Widerspruch zur Ware wird,
stumpft ihr subversives Potential
ab. Bedeutet das tatsächlich, wie
man heute oft hört, das neoliberale
Ende der Geschichte?
KRAVAR: Ich bin kein ausgesprochener Anhänger von Theorien, denen zufolge mit diesem Angebot des
Irrationalismus – gezielt, böswillig
und kennerisch – irgendein „Hexenmeister“ („Kapital“, „System“, Establishment) in der Absicht auftritt, die
Dossier: Zoran Kravar
Masse zu verdummen und ruhig zu
stellen. Eher ist hier eine Form der
Selbstregulierung am Werk, eine sozialgeschichtliche Analogie der natürlichen Selektion: auf dem Markt
gibt es immer alles, aber das Interesse
der Masse ist auf Produkte gerichtet,
in deren Struktur und Thematik sich
ihre Mentalität und ihre Interessen
widerspiegeln. Wenn eine Ware laufend verfügbar ist, finden sich natürlich Erzeuger und Vermittler auf dem
Schauplatz ein, aber als Nutznießer
einer schon bestehenden Konjunktur. Würden die Massen plötzlich
Gefallen an Marienbad finden, hätten wir alle fünf Jahre ein Remake.
Der Gedanke vom Ende der Geschichte ist mir irgendwie fremd, obwohl ich Fukuyamas Buch desselben
Titels, in das viel geschichtsphilosophisches Wissen eingeflossen ist, mit
Interesse und mit Respekt gelesen habe. Ich denke, dass die menschliche
Welt, solange sie unter den Sternen
und Galaxien existiert, unvollkommen, unvollendbar und veränderlich sein wird, aber auch insoweit
geschichtlich, wie sie, entgegen allen
antimodernistischen Phantasien, geschichtlich von Anfang an war, seitdem der Mensch von den Bäumen
gestiegen ist. Nur gibt es in diesem
Augenblick den politischen Willen
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oder die organisierte Kraft, die das
neoliberale fait accompli in Frage stellen könnte? Ich sehe nicht, wer der
Initiator und wer der Ausführende
seiner Metamorphose in Richtung
„nachhaltiger Entwicklung“, eines
unternehmerischen Systems mit starker staatlicher Kontrolle oder sogar
des Sozialismus sein könnte. Mir
scheint, dass das menschliche Substrat in Form des organisierten und
gebildeten Proletariats, auf das sich
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Marx’sche kommunistische Programm stützte, heute nicht
mehr existiert.
Und dann, wäre eine solche Bewegung großen Stils auch wünschenswert, was würde sie für unser Privatleben bedeuten? Revolutionen, wie
auch Kriege, treiben uns unter den
Standard der Toleranz, den wir für
normal halten, denn sie zwingen uns
die Einteilung der Menschen in Eingeschlossene und Ausgeschlossene,
die Perzeption von Gleichgesinnten
und Andersgesinnten als Realabstraktionen auf. Sehen Sie sich an, was
dieser Tage in Griechenland geschehen ist. Soweit ich informiert bin, hat
sich die Masse auf der Linie antikapitalistischer Ideen in Marsch gesetzt,
hat eine Bank als Symbol der Ordnung in Brand gesetzt und den Feu-
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Dossier: Zoran Kravar
erwehrleuten den Weg versperrt. Die
Perzeption des Bankbeamten als systemimmanentes Schräubchen und
als Klassenfeind hat die normalen
menschlichen Reaktionen wie Rücksicht und Mitgefühl blockiert. Ich
möchte nicht in solche Geschehnisse
verwickelt sein, weder als Beobachter
noch als Opfer, noch als Täter.
Auf der anderen Seite ist die Versuchung groß. Heute befinden sich die
Zügel in so wenigen Händen, dass
wir uns in Diskussionen über die
weltgeschichtliche Situation fast ausschließlich mit Vor- und Nachnamen
zufrieden geben können. Vor ein paar
Jahren habe ich Mike Davis’ Artikel
Planet der Slums über die Massenmigrationen der Agrarbevölkerung in der
unterentwickelten Welt gelesen, über
die Ausbreitung wilder Siedlungen
an der Peripherie größerer Städte und
über die Formen der Armut, die dort
herrscht. Davis beweist, dass diese
katastrophalen Trends durch Entscheidungen leicht auszumachende
Institutionen mit kleinen Gremien
an der Spitze ausgelöst wurden. Es
scheint, dass es heute reale Abstraktionen nur noch unten gibt, während
oben alles auf eine Handvoll Namen
aus der Sphäre des großen Kapitals,
der Weltpolitik, des Militärkomplexes und des Terrors reduziert ist.
Auch auf der Rechten sehe ich keine
organisierten Kräfte, aber es gibt die
Befürchtung, dass das liberale Zentrum immer mehr nach rechts rücken
könnte, denn sein ärmlicher ökonomischer Rationalismus ist kein Bollwerk gegen irrationale Versuchungen,
denen jene verfallen, in deren Händen viel militärische und ökonomische Macht konzentriert ist. Was das
Schlimmste ist, der Umschlag kann
auch vor sich gehen, ohne dass wir
es bemerken, ohne jenen manifesten
Irrsinn, der Mussolinis und Hitlers
Aufstieg an die Macht begleitet hat.
Es ist möglich, dass die Rituale der
Demokratie und ihr Name, Wahlen,
Parteien und Parlament bleiben, aber
mit einem Staat, der noch weniger als
der heutige die Schiedsrichterrolle
zwischen Kapital und Arbeit wahrnimmt, und mit Großmächten, die
alle Augenblick neokoloniale Kriege
beginnen, und an die Stelle der gestürzten Autokraten in „ersten demokratischen Wahlen“ gewählte Kollaboranten setzen. Demokratien, die
solche Kriege führen, sind nicht demokratisch. In einer effizienten Demokratie wären die Menschen, die
keinen ungerechten Krieg wollen,
immer in der Mehrheit.
•
BOGDAN: Obwohl Sie ein humanis-
tischer Wissenschaftler sind, zeigen
Sie ein ausgesprochenes Interesse für
die Naturwissenschaften und betonen deren formative Rolle in ihrem
Heranwachsen und intellektuellen
Reifen. Wie den szientistischen, naturwissenschaftlichen Blick auf die
Welt in unserer Mitte möglichst
zugänglich zu machen? Er ist, wie
Sie zu Recht sagen, immer weniger vertreten, die oberflächlich
Gebildeten stellen in der heutigen
Gesellschaft die Mehrheit, zu ihnen
gehören auch die politischen Eliten.
Brauchen wir heute wirklich, wie
das C. Hitchens am Ende seines
TIONS
Buches God is not Great. How
religion poisons everything behauptet, eine neue Aufklärung?
KRAVAR: Über die Welt in Anlehnung an die Errungenschaften
der exakten Wissenschaften und an
das Verständnis von Geschichte frei
von mythologischen und metaphysischen Elementen nachzudenken,
war normal in der Zeit meines Heranwachsens. In den fünfziger Jahren
nahm mich mein Vater mit in die
Sternwarte in der Zagreber Oberstadt, wo ich mich an Mondvulkanen
und Saturnringen begeisterte und
Vorträge der Professoren Divjanović
und Randić über das Sonnensystem
hörte. In den Sechzigern, als wir
schon in Zadar lebten, gingen wir
abends gern in die Foša, jenen kleinen Hafen am Ende der Riva, wo wir
aus der Finsternis heraus am Himmel
nach beweglichen Himmelskörpern
suchten, nach Satelliten. Die Prinzipien, auf denen die Naturwissenschaft basiert – dass die Systeme der
natürlichen Welt selbstregulierend
sind, dass die anorganische Materie in unserem Universum älter ist
als das Leben und das Bewusstsein
– sind ein Teil meiner Weltanschauung geblieben, so sehr ich später in
meinem Studium und meiner Arbeit
mit Philosophien bekannt geworden
bin, die an den Uranfang das (göttliche, absolute) Bewusstsein oder das
Leben setzen.
Auch heute interessiert mich, was in
den naturwissenschaftlichen Gebieten vor sich geht, und so lese ich hier
und dort den Scientific American und
populärere Werke angesehener Autoren, zum Beispiel Steven Weinberg
oder Richard Dawkins. Kritisch eingestellt bin ich allerdings gegenüber
Versuchen der Naturforscher, aus
ihren Theorien philosophische Systeme und so genannte finale Theorien zu machen. Was mich bei solchen
Versuchen abstößt, ist die starke reduktionistische Tendenz, die besonders bei Theoretikern der Elemen-
RELA
TIONS
tarteilchen anzutreffen ist. Werden
wir denn, wenn wir die subatomare
Mikrowelt erklären, die Grundlagen für eine „Theorie des Ganzen“
bekommen? Lukács hat in seinem
Buch Die Zerstörung der Vernunft
den Gedanken Charles Morris’ verlacht, dass der Bleistift auf seinem
Schreibtisch nur der „verrückte Tanz
von Elektronen“ sei, aber gute antireduktionistische Argumentationen
gibt es auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. In diesem Sinne
hat mir der Artikel More is Different
des Physikers Philip W. Anderson
aus den siebziger Jahren viel bedeutet. Ganz vereinfacht ist seine These, dass jede Wissenschaft eine fundamentalere Wissenschaft voraussetzt, die indessen nur Einheiten der
höheren Wissenschaft erklärt, aber
nicht zugleich ihre Systeme. Auf der
Ebene der Systeme entsteht im Bereich jeder Wissenschaft etwas Neues, nicht auf die Systeme der niederen Wissenschaft Rückführbares.
Heute wird das Emergenz genannt
und im Rahmen der Komplexitätstheorie studiert. Die Regel der Emergenz setzt die Autonomie der Wissenschaft voraus, ungeachtet des Grades
der Deriviertheit oder der Elementarität der Systeme, mit denen sie sich
beschäftigt: Physiologie ist keine angewandte Chemie; Psychologie keine
angewandte Physiologie.
Es stimmt, ein wenig bin ich überrascht, dass ich mein Interesse für die
erwähnten Themen nur mit einer
kleineren Anzahl von Kollegen aus
den humanistischen Fächern teile,
und noch mehr, wenn ich im Gespräch mit den Menschen spüre, dass
sie über die Errungenschaften der
natürlichen Evolution wie Augen,
Ohren, Fledermausradar oder Salamanderhaut bewusst oder unbewusst
im Rahmen der Theorie vom „intelligenten Design“ nachdenken. Ich
weiß nicht, wie heute die Schulbücher aus den naturwissenschaftlichen
Gegenständen aussehen und wie viel
Dossier: Zoran Kravar
die heutige Jugend aus ihnen lernen
kann. Mir scheint aber doch, dass
es immer weniger Menschen gibt,
vor allem junge, die bereit sind, aus
den Erkenntnissen der Naturwissenschaft weltanschauliche Konsequenzen zu ziehen. Das steht sicher
in Verbindung mit den Wellen des
Irrationalismus, über die wir bereits
gesprochen haben, und ein Gutteil
auch mit dem Einfluss der Kirche.
Von Beginn der Neunziger bis heute habe ich mehrere Texte unserer
Theologen gegen Darwins Theorie
gelesen, aber auch das Urteil, dass für
sie kein Platz in den Schulprogrammen sei. Die christlichen Kirchen
begreife ich als Vereinigungen von
Bürgern, die an die Erlösung durch
Jesus Christus glauben, und so ist mir
ihre Tendenz verständlich, die Welt
auf eine Weise zu re-interpretieren,
die erlaubt, dass im Alten und Neuen Testament beschriebene widernatürliche Ereignisse, wie zum Beispiel Josua die Sonne still stehen lässt
oder Jesus Wasser in Wein verwandelt,
stattfinden konnten. Es wäre, scheint
mir, akzeptabel, dass die Kirche auch
ein paralleles Schulwesen entwickelt,
wo Natur- und Humangeschichte
als Handschrift göttlicher Vorsehung
gedeutet wird, aber es ist schlecht,
dass aus diesen Kreisen Forderungen erhoben werden in Verbindung
mit Programmen, die für staatliche
Schulen vorgesehen sind.
In Verbindung mit dem Ideal der
neuen Aufklärung melden sich Fragen und Zweifel ähnlich jenen, die
die Überlegungen zum Ersatz der
neoliberalen Ordnung durch eine
andere begleiten. Nämlich: wer wird
der Aufklärer sein, und wer das Publikum. Für jede gesellschaftliche Veränderung ist die Einwilligung breiter,
was bedeutet, auch schwächer gebildeter Schichten notwendig, aber
meine Erfahrungen mit Menschen,
die dieser gesellschaftlichen Sphäre
angehören, geben keinen Anlass zu
Optimismus. Ihre Weltanschauung
19
beruht zum großen Teil auf irrationalistischen Prämissen wie Fatalismus,
Verschwörungstheorien, Theozentrismus, Kreationismus. Mit anderen
Worten, es scheint, dass heute die
neue Aufklärung nur von den potentiellen Lehrern herbeigewünscht
wird, nicht aber auch von den Schülern. In Verbindung mit dem Bewusstsein der unteren Schichten, konkret, dem der Arbeiterschaft, werde
ich Ihnen eine Anekdote aus meiner
Lehrtätigkeit erzählen. Unlängst habe ich in einem Kolleg über den ideologiekritischen Zugang zum literarischen Werk Lukácz’ Thesen zum Bewusstsein des Proletariats und dessen
Vormacht gegenüber dem Bewusst-
sein der Bourgeoisie re-interpretiert.
Als ich jene Stelle aus seinem Werk
Geschichte und Klassenbewusstsein zitierte, wo er davon spricht, dass die
Arbeiterklasse, im Unterschied zu
allen vorhergehenden, einen Blick
jenseits ihres Klassenprogramms geworfen und die Erkenntnis gewonnen hat, dass das Klasseninteresse
der Motor der Geschichte ist, brachen die Studenten in Gelächter aus.
Dieses Lachen war völlig spontan
und ideologisch unschuldig, ohne
die mindeste ständische Borniertheit
20
RELA
Dossier: Zoran Kravar
oder Boshaftigkeit, denn ich denke,
dass die Studenten unseres Instituts
ohnehin eher linken Gesellschaftstheorien zuneigen. Aber der Gedanke, dass die Arbeiterklasse der beste
Geschichtsphilosoph sei, sticht von
ihren Erfahrungen mit den Themen
ab, über die die Menschen unterhalb
der mittleren gesellschaftlichen Ebene denken und reden.
Aber ist Aufklärung dann wirklich
die beste Wahl, wenn die Rede ist von
Ausgangsbasen für eine Kritik des
Irrationalismus und für die Verhinderung seiner möglichen Rückkehr
auf den politischen Schauplatz? Die
Aufklärung hat sich große Verdienste
in den Bestrebungen um die Demystifizierung von Herrschaft und die
Stärkung der demokratischen Legitimatierung der Herrschenden erworben, sie hat den Einfluss der Kirche
in den bürgerlichen Schichten zurückgedrängt und das Lesepublikum,
dessen ästhetische Bedürfnisse im
17. Jahrhundert von Tuba novissima
oder Pia desideria befriedigt worden
waren, mit der Zeit zu Candide und
Wilhelm Meister geleitet. Aber der limes seiner Rationalität war das gute
Funktionieren der Marktökonomie
und die Prosperität der bürgerlichen
Klasse. Seine ökonomischen Theorien, vor allem sein Vertrauen in die
Fähigkeit des Marktes, das Privatinteresse in ein öffentliches Gut zu verwandeln, sind schon zu den Zeiten
kläglich gescheitert, die uns Dickens
und Zola beschreiben, und selbst der
Mythologismus des Rings des Nibelungen oder, heute, der ökologische
Holismus des Avatar sind spezifische
Warnungen vor dem Bösen, das in
die Welt kommt, wenn der Marktwert das Maß aller Dinge wird, sei es
das Gold aus den Nibelungenhöhlen
oder das Erz vom Planeten Pandora.
Natürlich plädiere ich nicht für eine
Lösung der modernen Weltprobleme
durch eine Rückkehr ins Diluvium.
Schön, oder zumindest kitschig, ist es
nur in künstlerischen Werken, wo es
die Rheintöchter mit ihrem Gesang
verherrlichen oder wo die Weidenruten des Götterbaumes schimmern.
An der heutigen anti-liberalen Front
gibt es korrektive Modelle, die rationaler und thematisch umfassender
sind als die Gesellschafts- und Staatsphilosophie der Aufklärung, und die
den Wohlstand aller Gesellschaftsschichten – was gewissermaßen auch
bei der Sozialdemokratie der sechziger und siebziger Jahre der Fall war –
und die Erschöpfung der natürlichen
Ressourcen im Blick haben. Mir persönlich sind die Gemäßigteren näher,
die die Freiheit des Privatunternehmertums, Konkurrenz und Markt
mit einschließen, aber unter effizienter Kontrolle durch den Staat.
Leider hat noch keine dieser Theorien eine Plattform für die Sammlung einer Partei um ein Programm
ergeben, obwohl es in der modernen
Gesellschaft keine bessere Methode
zur politischen Willensbildung gibt.
Jetzt sind wir in einer paradoxen Situation: in der theoretischen Literatur hat sich viel gesellschaftskritischer
Verstand konzentriert, aber auf den
Straßen hat sich eine Menge Energie
angesammelt, die immer zerstörerischer wird. Und wenn die Straße die
Ordnungen einreißt, sind die Folgen
gewöhnlich schlecht. Es mangelt an
warmem Wasser, die Menschen räumen die Läden leer, die Straßenbahnen bleiben stehen. Aber auch Köpfe
rollen, schuldige wie unschuldige.
•
BOGDAN: Ich denke, es wäre nicht
übertrieben zu sagen, dass Sie Ihr
Leben der elitären Hochkultur gewidmet haben. Wie ist ihr Schicksal
in der heutigen Gesellschaft, in einer Zeit des Simplifizismus, wenn
in den Medien das „öffentliche Wissen“ trivialisiert wird und wenn
selbst unter den Literaturstudenten
nicht selten der Logik der Popkultur und der Massenmedien gefolgt
wird? Ist nicht eine Ursache Ihres
Interesses für antimodernistische
TIONS
Tendenzen gerade die Tatsache, dass
sie, obwohl vielleicht weltanschaulich anstößig, ästhetisch attraktiv
sein können und dass sie in der
Regel der Hochkultur angehören?
KRAVAR: Es stimmt, dass ich mich
als Leser und als Genießer von Werken der Bildenden Kunst, vor allem
aber als Musikhörer, an die kulturelle Sphäre gebunden habe, die wir als
hoch oder elitär bezeichnen, obwohl
ich denke, dass man für sie einen besser geeigneten Namen finden müsste,
weniger provokant für Outsider, die
auch nicht mehr nur den „nicht-elitären“ Gesellschaftsschichten angehören. Heute kann es Ihnen passieren,
dass Sie auch in einer durchaus als
vornehm zu bezeichnenden Gesellschaft, anstatt Boccherini oder Couperin, Pink Floyd oder Santana als
Musikkulisse zu hören bekommen.
Aber auch ich habe in meinen Lebensabschnitten Kontakt mit der Pop-Kultur gehabt. In der Jugend hat
mich Rockmusik angezogen, und
Fellini und Bergman habe ich nach
einer Unmenge Western, Abenteuerfilme und Kriegsspektakel gesehen.
Auch im Rahmen des Faches habe
ich mich nicht exklusiv an die Hochkultur gebunden: als Barockforscher
habe ich mich nicht selten auch mit
frommen Volksbüchern (Gebetbüchern, Erzählsammlungen, Gesangbüchern) beschäftigt, und unlängst
habe ich mich, als Lehrender und als
Analytiker, auf high fantasy eingelassen, was ich in den letzten paar Jahren
ziemlich intensiv gelesen habe, mitunter nur aus fachlichem Interesse
und ohne größere Befriedigung – besonders wenn es sich um Phantastik
in der Nachfolge Tolkiens handelte –
aber manchmal auch mit Elan, wenn
Tolkiens Vorgänger an der Reihe waren, von denen mir ganz besonders
Lord Dunsany gefallen hat. Er ist
zwar ein inkonsistenter Schriftsteller, aber in kürzeren Sachen, vor allem in seinem ersten Buch The Gods
RELA
TIONS
of Pegana, versteht er es, orakelhaft,
epiphanisch, metaphysisch geistreich
zu sein.
Heute bin ich ‚Elitist’, vor allem,
wenn es sich um Musik handelt.
Ernste Musik tagein tagaus zu hören
habe ich gegen Ende meiner Gymnasialzeit begonnen, zuerst über das
Zagreber Dritte Programm, dann
von Langspielplatten und später von
CDs, deren Zahl in meiner Sammlung parallel zu meinem Status und
Standard gewachsen ist. Mit der Zeit
habe ich die Fähigkeit erworben, auf
musikalische Sprache etwa zwischen
Monteverdi und der minimal music
emotiv zu reagieren, obwohl ich zumeist Kompositionen aus der Zeit
zwischen Wagner und der frühen
Avantgarde höre. Ansonsten scheint
mir die Musik stärker als andere Künste vom Rückgang der Rezipientenbasis betroffen zu sein. Junge Leute, mit
denen ich Kontakt habe, lesen ohne
Schwierigkeiten kanonische Literaturwerke und werden sich gern Antonionis L’Avventura oder Tarkowskis Stalker ansehen, finden aber sehr
viel schwerer den Weg zu Beethovens Streichquartett oder Mahlers
Sinfonie. Das könnte mit der Tatsache zu tun haben, dass ein großer
Teil der Literatur und der Film fast
zur Gänze auf einer Geschichte basieren, einer Tiefenstruktur, die am
leichtesten die Neugierde weckt und
die Aufmerksamkeit aufrecht erhält.
Ein Musikwerk kann dem ungeübten Ohr amorph erscheinen: es gibt
nichts, um sich daran festzuhalten
oder es im Gedächtnis zu behalten.
Wenn Sie Anfängern erklären, dass
auch hier eine Form besteht, wenn
Sie ihnen sagen, „siehst du, dies ist
das erste Thema, dies ist die Brücke
zum zweiten, und diese Melodie der
Oboe, das ist das zweite Thema“, entstehen Voraussetzungen zum Werkverständnis und für eine anders geartete Beziehung zu ihm.
Vielleicht ist für die zunehmende
Gleichgültigkeit gegenüber der Hoch-
Dossier: Zoran Kravar
kultur auch der Unterricht in den
künstlerischen Gegenständen im Rahmen der gymnasialen Mittel- und
Oberstufe verantwortlich. Ich weiß
nicht, unter welchen Bedingungen
er heute abläuft, aber zu meiner Zeit
mangelte es ihm fatal an technischer
Infrastruktur. Es gab zwar Lehrer voller Enthusiasmus, aber die Schulen
verfügten weder über Plattenspieler
noch Phonotheken, und für die Bildende Kunst standen in der Hauptsache Schulbücher mit unscharfen
Schwarz-weiß-Reproduktionen zur
Verfügung. Die Schüler antworteten
auf Fragen nach Chopins Nocturnes
oder nach Giottos Fresken auf Grund
dessen, was sie darüber bei Trude
Reich beziehungsweise bei Momčilo
Stefanović gelesen hatten. Wenn in
meinem Fall alles dabei geblieben
wäre, hätte ich mich neulich um eine
Karte für das Deep Purple-Konzert
angestellt. Aber ich mache natürlich
einen Scherz. Diese Band ist eine der
letzten, die ich in meiner Jünglingszeit gehört habe, und als ich jetzt die
Ankündigung ihres Zagreber Konzertes sah, habe ich tatsächlich überlegt, ob ich hingehen solle, einfach
so, aus Nostalgie. Ich habe darauf
verzichtet, nachdem ich in Wikipe-
21
dia gelesen hatte, dass sie von den
Sechzigern bis heute sieben Mal die
Zusammensetzung geändert haben.
Wenn von ästhetischen Schöpfungen
die Rede ist, die im antimodernistischen Schlüssel interpretierbar sind:
viele von ihnen sind früh in mein
Gesichtsfeld geraten, als ich für ihre
ideologischen Implikationen noch
nicht sensibilisiert war. Aber als ich
diese Sensibilität erworben hatte, war
es schon zu spät, und so ist mein Verhältnis zu ihnen ambivalent. In Uljanice räume ich das an mehreren Stellen ein, zum Beispiel wenn ich über
Krležas Pan oder über Szymanowskis
Oper Król Roger spreche, und auf jeden Fall auch in dem Essay über den
Ring des Nibelungen. Ich denke, ich
habe seine antimodernistische Natur deutlich genug hervorgehoben
und charakterisiert und sie mit der
dunklen Seite in Wagners Biografie verbunden, mit seiner offenen
gezeigten und hartnäckigen Vorliebe für reaktionäre und gefährliche
Ideologien, aber man sieht auch, dass
mir der Ring als ästhetischer Gegenstand unersetzbar ist. Und in der Tat,
einige seiner Szenen, zum Beispiel
der doppelsinnige Zusammenprall
zwischen Siegfried und Wotan, zwischen Schwert und Speer, im dritten Akt von Siegfried oder zu Beginn
des zweiten Aktes von Walküre, wo
sich Wotan im Voraus über Siegmunds Sieg freut, wo ihn dann aber
Fricka, Schritt für Schritt argumentierend, zu der Einsicht bringt, dass
Parteilichkeit gegenüber Siegmund
im Widerspruch zu den Prinzipien
seiner Gesetzesherrschaft steht, würde ich zu dem Besten zählen, was
vom Drama des 19. Jahrhunderts,
ob vertont oder unvertont, auf uns
gekommen ist.
Auf einige der Werke mit regressiven
Botschaften bin ich nur deshalb gestoßen, weil sie dem Kanon angehören und man deshalb allerorten über
sie spricht, um mir erst später Gedanken über die Qualität ihrer Ideologi-
22
RELA
Dossier: Zoran Kravar
siertheit zu machen, aber seit sich in
mir das Interesse am Antimodernismus verfestigt hat, hat sich der Korpus der relevanten Werke zielgerichtet erweitert. Irgendwo lese ich zum
Beispiel ein Zitat über die Schönheit
des archaischen Lebens und über die
Schrecken des modernen und suche
nach der Quelle. Oder ich stoße in
einer Geschichte der englischen Literatur auf eine Zusammenfassung
von Lawrences Die gefiederte Schlange (zwei angesehene Mexikaner wollen aus ihrem Land das Christentum
vertreiben und den alten Aztekenglauben wiederbeleben), und schon
springe ich zu Amazon und bestelle.
Wie gesagt, mit der Zeit hat sich das
Korpus nach unten hin erweitert, in
Richtung Popkultur.
Werke wie König Roger, wo die Hauptfigur ihre Nächsten zu überreden
versucht, einen archaischeren Glauben als den eigenen anzunehmen
(in Verbindung damit ist mir der
Gedanke vom „Rück-Erzieher“ als
einer typischen Figur der JugenstilLiteratur gekommen), oder der Ring,
wo mit dem Zerbrechen von Wotans Speer und der Rückkehr von
Alberichs Ring in den Rhein allegorisch die Bilanz der bürgerlichen
Modernisierung annulliert wird, las-
sen freilich keinen Zweifel über ihre
ideologische Rückwärtsgewandtheit
aufkommen. Trotzdem, wer sich mit
ihnen beschäftigt, muss nicht auch
selbst Antimodernist sein, das um
so weniger, wenn der ästhetischen
Befriedigung ein Quentchen ideologiekritische Vorsicht beigegeben
ist. Im Unterschied zu den die-hardRegressiven glaube ich nicht, dass
der Feuerbrand von Walhall oder
der dionysische Wahnsinn, den Szymanowskis Pasterz um sich verbreitet, Rezepte für eine Neuordnung
der realen Welt wären. Im Übrigen
schließt mein Kanon auch viele Werke gegenteiliger Botschaften mit ein.
Er schließt genau genommen nur
jene aus, in denen die aktuelle politische Korrektheit allzu direkt belletrisiert wird. Davon gibt es allerdings heute sehr viele. Korrektheit ist
wichtig im Alltags- und im Berufsleben, auch wenn sie immer ideologisch ist. Der humanistisch gebildete
Mensch, der akzeptiert, dass in seinem Leben nichts selbstverständlich
und routinemäßig ist, und dass jede
Zustimmung gewissermaßen auch
ein Verkauf der Seele an den Teufel
ist, dürfte auch in Hinblick auf die
Normen der Korrektheit keine Illusionen haben.
•
TIONS
BOGDAN: In Uljanice i duhovi
gibt es auch Beobachtungen zur
Krise des Bildungssystems. Sie haben auch die Bologna-Reform der
Hochschulbildung angeschnitten.
Der Arbeitskräftemarkt wird, so
scheint es, auch jene schlucken, die
ihn als Universitätsprofessoren füttern. Sie sind ordentlicher Professor
an der Abteilung für vergleichende
Literatur der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb. Wie
sehen Sie auf Grund ihrer reichen
Lehrerfahrung die Lage der Universitätslehrer heute?
KRAVAR: Ehrlich gesagt bin ich in
Uljanice weit entfernt von institutionellen Fragen in Verbindung mit der
Universität. Ich bin vor ihnen ‚in die
Pampas’ geflüchtet, wie der verrückt
gewordene Geograf bei Ilf und Petrov
ausruft, dürstend nach Freiheit von
der Krankheit, vom Irrenhaus, wohl
auch vom Sozialismus. Das Buch habe
ich so, wie ich es geschrieben habe,
vermutlich auch deshalb geschrieben, weil ich mich schon einige Zeit
lang im Status des zweimal gewählten
ordentlich Professors befinde, und
ich mich keiner Wiederwahl mehr
stellen muss. Texte wie Panska glazba
(‚Panmusik’) oder Razodgajatelj (‚Der
Rück-Erzieher’) würde ich nicht auf
die Liste der Facharbeiten setzen.
Die Bologna-Reform habe ich wohl
irgendwo erwähnt, und wenn ich es
getan habe, dann mit kritischen Beigedanken, als Versuch, mittels Umgestaltung der universitären Lehre
den Markt für qualifizierte Arbeitskräfte zu befriedigen. Die Möglichkeit, zwischen einem dreijährigen
und einem fünfjährigen Studium zu
wählen und mit insgesamt drei Jahren Hochschulbildung den Schritt
ins Arbeitsleben zu machen, habe
ich als Ausdruck des systemhaften
Bedarfs an mehr fachlich als intellektuell profilierten Kadern verstanden.
Aber der Reform ist jetzt die Rezession zuvorgekommen, so dass bei der
RELA
TIONS
Suche nach Beschäftigung sowohl die
Drei- wie die Fünfjahresabsolventen
Schwierigkeiten haben. Außerdem
herrschen in der EU immer mehr
kapitalintensive Produktionsformen
vor, bei denen der Profit bei niedrigem Beschäftigungsstand erzielt wird,
und auch durch Entlassung.
Die Reformen, wie sie waren, sind
für die Bildungseinrichtungen ein
großes Elend, denn sie beschäftigen
sich seither anstatt mit fachlichen
Themen mit sich selbst. Das habe ich
schon einmal erlebt, zu Beginn meiner
Karriere, Mitte der siebziger Jahre,
als die Universität entsprechend dem
Organisationsmuster der jugoslawischen Selbstverwaltung umstrukturiert werden sollte. Ach, was hat man
damals getagt und gesessen! Aber das
einzige positive Resultat bestand darin, dass wir uns der Reform irgendwie
widersetzt haben: neben einer Reihe
unschädlicher administrativer Innovationen blieben die wesentlichen
Dinge – die Arbeit mit den Studenten, die Aufnahme junger Kader, das
Beförderungssystem – wie sie waren. Und als in den achtziger Jahren
OOUR und SIZ* die jugoslawische
Wirtschaft zu Boden zwangen, arbeitete die Universität weiter und überstand selbst die kataklysmischen historischen Veränderungen von 1990
ohne große Erschütterungen.
Obwohl ich seit 1984 dem Professorenstand angehöre, verfüge ich kaum
über Erfahrungen, die als Ausgangspunkt für allgemeinere Schlüsse über
den Sinn meiner Profession dienen
könnten. Einerseits habe ich meine
Berufszeit, mit kleineren Unterbrechungen, im selben Ambiente verbracht, im Kreis der Zagreber Komparatistik, und wäre ich zu Beginn
meiner Karriere irgendwo anders gelandet, würde meine Erfahrungen
sicherlich andere sein. Wie oft ich
Dossier: Zoran Kravar
mich in anderen philologischen Abteilungen, heimischen und ausländischen, umgesehen habe, hat es immer
Ähnlichkeiten und Unterschiede gegeben. Andererseits habe ich nur in
professoralen und in darauf vorbereitenden Berufen gearbeitet, und so
fehlt mir das Bewusstsein dessen, was
für mich die Arbeit in irgendeinem
anderen Beruf bedeuten würde. Ich
kann mir natürlich vorstellen, dass
meine fachliche Tätigkeit und meine Mußestunden dann ganz anders
und mit unterschiedlichen Inhalten
organisiert wären.
Wie auch sonst alles bei uns in den
letzten zwanzig Jahren normalisiert
sich auch das Universitätsleben in
dem Sinne, dass es sich den westlichen Standards annähert. In der Zeit
des sozialistischen Staates standen
wir in einem gespannteren Verhältnis
zur Staatsgewalt, obwohl politische
Einmischungen in die Personalpolitik oder politische Repression gegen
Universitätsleute verhältnismäßig wenig zu verzeichnen waren. Ekzessive
Ausübung von Druck wurde in der
Geschichte des Instituts nach der
Zerschlagung des kroatischen politischen Kurses von 1971 verzeichnet,
war aber kein typisches Vorkommnis.
In den Siebzigern und frühen Achtzigern zeichneten sich Versuche ab,
die gesamte Kultursphäre, die humanistischen Fakultäten eingeschlossen,
einer ideologische Kontrolle zu unterwerfen, aber die Befürworter einer
solchen Politik hatten Opponenten
auch in der Partei und es gelang ihnen
nicht, genügend Gefolgsleute um
sich zu scharen. In den neunziger Jahren bekamen wir eine Regierung, die,
obwohl gewählt und liberal im prozeduralen Sinne, anfangs die Tendenz
zeigte, das gesamte Kulturleben neu
zu überdenken, um es in die Funktion der nationalen Idee zu stellen und
23
den „bösen Geist des Kommunismus“ aus ihm zu vertreiben. Aber im
Leben meiner Fakultät war das nur
insofern zu spüren, als ein Teil der
Kollegen auf der Seite der „geistigen
Erneuerung“ stand und ein Teil sich
implizit oder explizit widersetzte. Es
war das eigentlich ein Zeichen, dass
wir in eine Periode demokratischer
Spielregeln eingetreten waren: freie
Wahl zwischen Alternativen und offene Austragung von Gegensätzen
und Verschiedenheiten.
In diesem Moment, der vielleicht
auch der äußerste Schritt unserer
Okzidentalisierung ist, haben bei uns
Politiker die Oberhand gewonnen,
die endlich begriffen haben, dass die
Stabilität der Regierung vom Funktionieren des Ex- und Imports, von
der Ab- oder Zunahme der Beschäftigung, von den Gehältern und Pensionen, und nicht von der feierlichen
Begehung der Krönung Tomislavs
oder von der Finanzierung kulturgeschichtlicher Monografien abhängt.
Für sie sind wir in der Hauptsache
als Nutznießer des Staatshaushaltes
interessant, und unsere Tätigkeit gehört ohnehin zur Sphäre der akademischen Freiheiten und Autonomien. Selbst wenn wir uns gegen die
politische Philosophie, auf der ihre Pläne und Schachzüge beruhen,
aussprechen, geschieht nichts Besonderes. Es erweitert sich nur das
unkontrollierte Niemandsland, das
wir uns mit Utopisten und Regressiven, mit Nüchternen und Schlafwandlern teilen.
Alle Fotos von Professor Zoran Kravar
wurden von Martina Kenji aufgenommen
Aus dem Kroatischen von
Klaus Detlef Olof
* Zwei Organisationsformen innerhalb der sozialistischen Selbstverwaltung in Jugoslawien: OOUR = Osnovna organizacija udruženog rada (‚Grundorganisation der vereinten (assoziierten) Arbeit’); SIZ = Samoupravna interesna zajednica (‚Selbstverwaltungs-Interessengemeinschaft’).
RELA
24
TIONS
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
LUKA BALJKAS, geboren 1974 in Zagreb, Kroatien. 2002-2009 lebte und arbeitete er in Osttimor, Afghanistan und den
Vereinigten Arabischen Emiraten.
Ausstellungen: Band-e Amir, PIO Compound B, Kabul, Afghanistan (2008); Shapes of Hindu Kush, Gallerie MMC,
Rovinj, Kroatien; MMSU, Mali Salon, Rijeka, Kroatien; Gallerie Zuccato, Poreč, Kroatien, Einzelausstellung; Stadtmuseum, Kroatisches Foto des Jahres, Varaždin, Kroatien (2009)
Auszeichungen: Kadar, Fotografenportfolio des Jahres, Photodays Festival, Rovinj, Kroatien (2009)
Seine Bilder wurden in der kroatischen Ausgabe des National Geographic veröffentlicht, im Kabul Press org, der
Zeitschrift Globus, den Tagesblättern Večernji list, Jutarnji List und Glas Istre, diversen Portalen, Web-Seiten, einigen
UN Publikationen und Magazinen, bei Getty Images...
www.baljkas.com
RELA
TIONS
25
Der Ring des Nibelungen
als Nebenthema
[2008 – 2009]
Zoran Kravar
E
s gibt Musikzyklen, mit denen
ich mich länger und ausdauernder beschäftigt habe als mit Wagners
Ring, aber auch ihm habe ich einen
erheblichen Teil meiner Freizeit gewidmet. Leider habe ich wenig von
ihm auf der Bühne gesehen (nur
Rheingold und Walküre), und in der
Zeit der Vinyl-Tonträger besaß ich
gerade einmal zwei oder drei Schallplatten mit überwiegend orchestralen Ausschnitten. Seit er allerdings
auf CD und DVD zugänglich ist, nutze ich das Angebot der zahlreichen
Versionen (CD: Solti, Böhm, Karajan; DVD: Boulez/Chéreau, Levine/
Schenk, Barenboim/Kupfer und zum
Teil auch Rattle/Braunschweig) häufig als Ausrede für neue Hör- und
Seh-Abenteuer.
In der Tat ist es ein Unterfangen, eine mehr oder weniger kontinuierliche Beschäftigung mit dem Ring in
der wenigen Zeit unterzubringen, die
einem als Privatperson zur Verfügung
steht. Wenn ich mich entschließe,
eine neue Kassette zu öffnen oder
mich wieder einer alten zu widmen,
nehme ich mir gewöhnlich vor, sie
in vier Tagen abzuarbeiten, aber das
gelingt mir selten. So kommt etwa
nach der Walküre oder dem Siegfried
ein Tag, an dem sich die Unterrichtsvorbereitung in die Länge zieht, an
dem mir das Schreiben mehr Zeit
abverlangt als sonst, an dem es sich
mit Kapiteln zu beschäftigen gilt, die
eine doctoranda oder ein doctorandus
abgeliefert haben, und ich mich zu
einer eintägigen Pause entschließe,
die aber auch länger werden kann.
Ebenso passiert es mir, dass ich mit
einem der drei Dreiakter an einem
späten Abend beginne und nach Mitternacht feststelle, dass es doch klüger
wäre, ihn auf zwei Tage aufzuteilen.
Für mich als Rezipienten ist der Ring
also alles andere als nebensächlich.
An den Tagen, die ich ihm widme, werden die regulären Programme meines Berufs- oder Privatleben
zur Nebensache: seinetwegen schiebe ich das Studium der Fachliteratur
und den Abschluss bestellter Texte
auf, vergesse das Essen und Trinken,
stelle das Telefon ab.
Nebensächlich indessen ist mir der
Ring als Thema zum Nachdenken.
Da ich keine musikwissenschaftliche Ausbildung genossen habe, bin
ich ihm gegenüber aufgeschlossen
allein mit meiner ästhetischen Aufnahmefähigkeit, ohne die Möglichkeit, als Fachmann an ihn heranzugehen. Aber nicht selten drängt sich
der große Komplex an musikalischen
Motiven, Bühnenszenen, charakterologischen Konstruktionen, Gno-
men, sprachstilistischen Schöpfungen und poetisierten Ideologemen als
unwillkürliche Assoziation in meine
Gedanken, bisweilen in Gestalt einer in fremder Musik antizipierten
oder übernommenen Klangstruktur,
bisweilen als dramatische Szene, verwandt jenen aus der Literatur, die ich
gerade lese, oder als szenisches Ereignis, mit dem sich ein Gedanke aus der
laufenden literaturtheoretischen, soziologischen, psychologischen, philosophischen und sonstigen Lektüre illustrieren ließe. Dabei habe ich
manchmal das Gefühl, zum Ring
auch manche Einsicht gewonnen zu
haben, natürlich nur, wenn sich die
Überlegungen auf seine literarischen
Elemente richten, die nun einmal in
meine Fachkompetenz fallen.
Im weiteren Text beziehe ich mich
auf einen Abschnitt meines Lebens
und meiner Arbeit, in dem der Ring
des Nibelungen nach der beschriebenen Logik tagtäglich aus der Erinnerung aufstieg. Obwohl auch damals das tiefe Es aus der Ouvertüre
zum Rheingold, „Wotans Unmut“
(WA II, 1) und die Parade der Leitmotive im Finale der Götterdämmerung
ihre Rolle spielten, lag das Hauptgewicht auf den Worten, und so wird
es auch hier sein. Das könnte unter
Umständen Unmut bei musikalisch
26
RELA
Dossier: Zoran Kravar
gebildeten Lesern hervorrufen, die
über Vokalmusik und ihre poetischen Vorlagen nicht gesondert räsonnieren mögen. Auf der anderen
Seite ermutigt mich die Literatur zu
Wagner oder speziell zum Ring, die
ich in den letzten Jahren in den Händen hatte (Lacoue-Labarthe 1991;
Candoni 1998; Magee 2000; Borchmeyer 2002; Kitcher – Schacht 2004;
Steinacker 2008) und in der die literarische Seite des Rings ausführlich
besprochen oder sogar in den Vordergrund gestellt wird: Fabel, Figuren, Handlungen, Dramatik, wörtliche und eventuell latente Bedeutungen, weltanschauliche und ideologische Implikationen. Trotz scheinbarer Einseitigkeit haben sich alle diese
Bücher als ein interessanter und mehr
oder weniger nützlicher oder provokanter Lesestoff erwiesen, und viele
ihrer Seiten haben mich bewogen, die
Anlage einzuschalten und nach den
Kassetten und CDs zu greifen.
***
Nie zuvor habe ich über den Ring als
Gelegenheitsthema so viel nachgedacht wie im Frühjahr und Sommer
des Jahres 2003, als ich an meinem
Buch über den Antimodernismus
schrieb (Kravar 2003). Darin habe
ich, zur Erinnerung, den weiten und
undefinierten Begriff des Antimodernismus auf eine Gruppe von Weltanschauungen eingeengt, die wir als
spezifische Gegenprojekte zur bürgerlichen Moderne, zu ihren Institutionen und ihrer Propagierung auf
ideologischer Ebene erleben und deren Anfänge in der Literatur und Philosophie und im ideologischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. und
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
liegen. Außer der Negierung des modernen geschichtlichen Zustandes
ist ihnen auch eine besondere Geschichtsphilosophie gemeinsam, in
der die welthistorische Moderne (für
die meisten von uns die mit den bürgerlichen Revolutionen beginnende
Epoche) radikal verlängert wird. Ihr
Beginn wird in die tiefe Vergangenheit gelegt, und als ihre Symptome
werden „negative“ historische Veränderungen auf dem Gebiet des philosophischen Denkens, der Religionskultur, des menschlichen Selbstverständnisses und des gesellschaftlichen
Lebens erkannt: das Vergehen der
heidnischen und die Ausbreitung
der jüdisch-christlichen Religiosität
(oder, bei den Verfechtern christlicher Restauration, die Affirmierung
des humanistischen Atheismus), das
Aufkommen der rationalistischen
Philosophien und der exakten Wissenschaften, die Entzauberung und
technische Ausbeutung der Natur,
anthropozentrische Weltanschauungen und individualistisches Selbstbewusstsein des Menschen, Rationalisierung der politischen Sphäre. Was
noch ungewöhnlicher ist: die Moderne wird dabei der Geschichte gleichgesetzt, wobei auch die Geschichte
selbst eine negative Bedeutung bekommt. Bei allen antimodernistischen Autoren finden wir nämlich
die feste Überzeugung, dass der vorzeitliche Zustand, der der Moderne
voranging, nicht historisch, sondern
in sich vollendet und unwandelbar
oder zyklischem Wandel unterworfen sei und das Leben der menschlichen Gemeinschaften und ihr Verhältnis zur natürlichen Welt erst mit
dem Untergang der vormodernen
Vorzeit historisch werde. Freiheit von
Geschichte, von Geschichtlichkeit,
von linearer Temporalität und Fortschrittsdenken ist natürlich auch dem
transmodernen Zustand immanent,
sofern ihn die gegebene Doktrin überhaupt vorsieht, d. h., sofern sie die
eschatologische Vision eines Ausgangs aus der modernen Zivilisation
mit einschließt. Auf diese Weise verstanden, ließe sich die gesamte Dauer
der menschlichen Welt in folgendem
Schema veranschaulichen:
Vorzeit – Moderne
(= Geschichte) – Endzeit
TIONS
Das Schema schließt auch einen Werteunterschied zwischen den ungeschichtlichen Gegenwelten und der
Moderne mit ein, wobei sich ihre Formulierung ändern kann, je
nachdem wie der jeweilige Autor seine Vorzeit und eventuell seine Endzeit konstruiert. Mitunter sind sie
nämlich im Geiste des vitalistischen
Monismus als ein Zustand dionysischer Durchdringung alles Bestehenden (Friedrich Nietzsche, Alfred Schuler, Ludwig Klages, D. H.
Lawrence) oder, in Anlehnung an
den gestalttheoretischen Holismus,
als menschliche Gemeinschaften mit
Merkmalen systemhafter Ganzheit
(Ernst Jünger, Edgar Julius Jung) gedacht. Andererseits gibt es auch Gegenwelten, die in Anlehnung an dualistische Philosophien und in Form
einer hierarchisch organisierten Gemeinschaft mit einer (christlichen
oder nichtchristlichen) theokratischen Elite an der Spitze entworfen
sind, deren transzendente Legitimierung auch von den niederen Kasten
bedingungslos akzeptiert wird (Julius Evola, René Guénon, Nikolaj
Berdjajew). Etwas jedoch ist allen
Gegenwelten gemeinsam: in jeder
von ihnen ist ein direkter, spontaner
und vorrationaler Anteil an der Gesamtheit des Bestehenden möglich,
sei es, dass sie als vitalistisches „AllLeben“, als ein Ganzes, das mehr ist
als die Summe seiner Teile, oder als
aus dem Jenseits legitimierte hierarchische Ordnung begriffen wird.
Der Anteil an der Totalität ist das
Privileg, das die Bewohner der vormodernen oder transmodernen Welten vom modernen Menschen unterscheidet. Diesen verwandeln sein
Rationalismus, sein egoistisches Geschäftskalkül, sein demokratischer
Egalitarismus und – wenn er gläubig
ist – seine monotheistische Religiosität, die die diffuse Numinosität der
Vorzeit durch den Glauben an eine
personalisierte Gottheit ersetzt, in
ein quasi-transzendentales Subjekt,
RELA
TIONS
dessen Ökonomie, Theorie, Wissenschaft und Philosophie nur schmale,
aus der Perspektive pragmatischer irdischer Interessen relevante Bereiche
der Totalität abdecken.
Dass sich über den Büchern, die ihre
Unsympathie gegenüber der Moderne in der beschriebenen Weise inszenieren, mitunter die Erinnerung an
Abende und Nächte einstellt, die ich
in Gesellschaft des Rings des Nibelungen verbracht habe, sollte nicht verwundern. Denn auch der Ring und
sein Autor sind mit dem antimodernistischen Ideenkomplex auf mehrfache Weise verbunden.
Zuallererst erinnere ich daran, dass
uns Wagner, außer als geschichtliche
Person, auch als Held eines einflussreichen geschichtsphilosophischen
Schemas mit antimodernistischem
Hintersinn entgegentritt, jenes aus
der Geburt der Tragödie von Nietzsche. Dort ist ihm die Aufgabe zugefallen, mit seiner musikalischen Dramaturgie die Wiedererlangung des
Heils zu verkünden, die die europäische Kultur angeblich mit Sokrates
und Euripides verloren hat, d. h. des
dionysischen Anteils am „All-Leben“
und des Mythos’ als einer dem sokratischen und sonstigen Rationalismus
überlegenen Weltanschauung.
Aber was noch wichtiger ist, Wagner
hat auch selbst – im Ring, und später auch im Parsifal – Handlungen
in Szene gesetzt, die sich in Zahl und
Reihung der Glieder mehr oder weniger mit den antimodernistischen
geschichtsphilosophischen Szenarien
decken. Auch hier geschieht es nämlich, dass die mit Ethos ausgestatteten,
von Motiven bewegten und durch
Pläne geleiteten Figuren, die sich als
Verkörperung des antimodernistischen Begriffs vom modernen Menschen interpretieren lassen, den vorzeitlichen Zustand der Welt (Wotan,
Alberich) beziehungsweise die durch
eine transzendente Autorität gewährleiste Ordnung der hierarchischen
Gemeinschaft (Klingsor) stören.
Dossier: Zoran Kravar
Die Erzählungen, auf denen die beiden Musikdramen fußen, scheinen
mir jedoch als Ausgangspunkt für
ein Gespräch über Wagner und den
Antimodernismus nicht in gleicher
Weise geeignet zu sein. Den Vorzug
würde ich dem Ring geben.
Freilich darf auch Parsifal in diesem
Gespräch nicht ganz außer Acht gelassen werden, denn seine szenisch
dargestellte und narrativ ergänzte
Handlung scheint tatsächlich so etwas wie einen antimodernistischen
Mythos vom durch modernistische
Aggression ausgelösten Untergang
der Vorzeit und von ihrer Wiederherstellung zu schildern. Reduziert
auf das Wesentliche beinhalten ihre Etappen:
• die Störung der traditionellen Ordnung (Klingsor raubt, mit Hilfe
Kundrys als Verführerin, die heilige
Lanze und verwundet Amfortas);
• die Zeit der Krise (Amfortas stellt
den Gralsdienst ein und verursacht damit den Tod seines Vaters,
des alten Königs Titurel);
• die Wiederherstellung der alten
Ordnung (Parsifal zerstört Klingsors Machtzentrum, bringt die geraubte Lanze zurück, tauft Kundry
und betritt die Gralsburg, um das
Ritual zu erneuern).
Ebenfalls von Wichtigkeit ist, dass
das gemeinsame Leben der Gralsritter vor und nach der Krise in rituell kreisender und ungeschichtlicher
Zeit verläuft, ähnlich wie in den vorzeitlichen Gegenwelten der antimodernistischen Literatur (vgl. Gurnemanz’ Erklärung für den umherirrenden Parsifal: „Zum Raum wird
hier die Zeit“), und dass sich Klingsor und sein Séparée als die Verkörperung negativer Stereotype über die
moderne Welt interpretieren lassen:
sein hortus deliciarum, wie ihn sich
Theodor Adorno vorstellt, könnte
die „phantasmagorische“ Stilisierung
eines großstädtischen Bordells sein
(Adorno 1974, 87), sein Palast ei-
27
ne Kombination aus Observatorium
und Laboratorium, während das Orchestervorspiel zu seinem Auftritt zu
Beginn des zweiten Aktes nicht weniger mechanische Maschinenmusik
ist als Honeggers Lokomotive (Pacific 231) oder Mosolows Завод (‚Die
Eisengießerei ‘).
Auf der anderen Seite bleiben die beiden Räume der Parsifal-Handlung
zumindest auf der wörtlichen Ebene
begrenzt. Sie sind nicht die Welt, und
ihr Konflikt ist keine Weltgeschichte.
Rings um sie breiten sich – wie wir
aus den Repliken mehrerer Figuren
erfahren – Räume, die sich auf keinen
von ihnen reduzieren lassen („Arabien“, von wo Kundry den Balsam für
Amfortas bringt, Orte, an die sich
Gawan „auf neue Suche“ nach Balsam begibt, „Wald“ und „wilde Aue“,
woher Parsifal kommt, „üpp’ges Heidenland“, in dem sich Klingsor ursprünglich aufgehalten hat), während ihre Gründung als zeitlich nahes
Ereignis erwähnt wird: aus den Repliken Gurnemanz’ zu Beginn des ersten Aktes erfahren wir, dass die Gralsburg von Titurel errichtet wurde, der
im selben Akt als Lebender auftritt,
und dass auch Klingsor sein Schloss
mit dem „Wonnegarten“ für die zur
Sünde neigenden Gralsritter selbst
entworfen und erbaut hat.
Mit anderen Worten, Parsifal ist,
zumindest auf der textuellen Ebene,
die Geschichte von zwei gesonderten und besonderen Räumen, und es
ist fraglich, ob man da eine umfassende Tiefenstruktur in Form einer
Geschichtsphilosophie suchen darf,
wie wir sie in der Grundlage antimodernistischer Texte finden. Ich selber glaube freilich, dass sich auf einer höheren Ebene als der textlichen
der Konflikt zwischen Gralsburg und
Klingsors weltlichem Subuniversum
im angedeuteten Sinne deuten ließe,
was man ebenso akzeptieren wie zueückweisen kann.
Zum Glück darf, wer sich dem Antimodernismus bei Wagner auf die
28
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Fährte setzt, dem unsicheren Parsifal
den Ring des Nibelungen vorziehen,
dessen thematische Welt tatsächlich
„Welt“ ist. Während man Parsifal
erst in eine Art theatrum mundi versetzen und seine begrenzten Motive
allgemeiner fassen müsste, umfasst
die Thematik des Rings mit ihrem
großen Umfang einen vollständigen
fiktionalen mundus. Die Unterwasserwohnstatt der Rheintöchter, das
Gestade des Rheins mit Walhall, Riesenheim, Nibelheim, der Walkürenfelsen, der Wald mit Mimes Höhle
und Fafners Behausung, Brünnhildes Felsen, Gibichungenland bilden
zusammen ein ganzheitliches Universum, vergleichbar den „Sekundärwelten“ der literarischen Phantastik (vgl. Clute – Grant 1997, s.
v. „Secondary World“). Zudem ist
auch die Handlung im Ring nicht
begrenzt, sondern deckt die gesamte
zeitliche Dauer seiner Themenwelt
ab, in der Spannweite von frühmorgendlicher Unschuld bis hin zur Götterdämmerung. Sie ist die Geschichte dieser Welt und insofern „Weltgeschichte“.
***
Die Thematik des Rings des Nibelungen setzt sich bekanntlich aus Inhalten der germanischen Mythologie
und der Erzählüberlieferung zusammen. Die wichtigsten Quellen sind
(vgl. Magee 1993) die Lyrik und Prosa der Edda (die gesamte Tetralogie,
vor allem Rheingold), die Völsungasaga (Walküre, Siegfried), die Thidrekssaga (Siegfried) und das Nibelungenlied (Götterdämmerung). Außerdem
kannte Wagner auch die Dramentrilogie Der Held des Nordens (1810)
des romantischen Dichters Friedrich
de la Motte Fouqué, der vor ihm den
Versuch gemacht hatte, aus den separaten oder nur lose miteinander
verbundenen Teilen der altgermanischen Überlieferung ein ganzheitliches Werk zu schaffen. Er machte das
mit mehr Zurückhaltung und nahm
sich weniger Freiheit heraus als Wagner, der den mittelalterlichen Fabeln
viel Eigenes hinzufügte, einschließlich den Haupterzählstrang, die so genannte Ring-Erzählung. Odins (Wotans) Ring Draupnir, erwähnt in der
Edda, konnte dieser Erzählung nur
als indirekte Anregung dienen. Denn
nicht nur das Schicksal beider Ringe
ist unterschiedlich, sondern der Ring
bei Wagner trägt auch Merkmale
und wirkt in Handlungen mit, die
die mythische Narration umlenken,
zerstreut überlieferte Geschehnisse
in ein Dramenkontinuum zusammenpressen und den Rahmen der
mythischen Imagination auch verlassen. Der Ring des Nibelungen ist
der Garant weltlicher Macht, die auf
der Ausbeutung fremder Arbeit und
auf der Akkumulierung von Werten
in Form von Gold und Geschmeide basiert, wodurch er dem literarischen Imaginarium und der sozialphilosophischen Problematik des
19. Jahrhunderts viel näher ist als
den mythischen und epischen Vorlagen. Als solcher ist er auch einer
der Hauptgründe, der mir die Annahme eines Antimodernismus bei
Wagner einer Ausarbeitung wert erscheinen lassen.
Das Ringmotiv relativiert Wagners
Abhängigkeit von den Quellen: die
Handlungen, die seine Figuren vollführen, werden sowohl in der Überlieferung als auch in der Tetralogie
durch ihre Einbindung in die apokryphe Erzählung vom Ring und
seinem Besitz überschattet: Alberich,
Loge, Fafner, Wotan, Erda, Mime,
Siegfried, Hagen und Brünnhilde
definieren ihr Ethos in Bezug auf den
Ring, sei es, dass sie ihn schmieden,
nach ihm trachten, sich gegenseitig
über seine Eigenschaften unterrichten, in Verbindung mit ihm Pläne
machen oder ihn zeitweilig im Besitz haben. Hätte sich der Librettist
Wagner an die Überlieferung gehalten, wäre die Tetralogie von der düsteren Atmosphäre, der fatalistischen
TIONS
Kausalität und der Märchenhaftigkeit des altgermanischen Epos geprägt, so aber wird sie von Motiven
und Handlungen der Figuren in ihren Konflikten um den einen Gegenstand bestimmt, der als auktoriale Erfindung Eingang in die Fabel
gefunden hat. Im ersten Fall dürften die radikalen Vertreter des heutigen Regietheaters auch die physis
der übernatürlichen Figuren (Wotans Göttlichkeit, Alberichs Zwergengestalt, Fafners Dracheninkarnation) nicht re-interpretieren, Siegmund und Siegfried das Fellgewand
ausziehen und die nassen Felsen und
knorrigen Bäume von der Bühne entfernen. In Wirklichkeit indessen haben Wagners Erweiterungen aus den
märchenhaften Protagonisten und
der altgermanischen Szenerie eine
Variable gemacht, während sich als
Konstante die unmythische Erzählung vom Kampf um wirtschaftliche
und politische Macht in den Vordergrund geschoben hat, so dass Wotan
im rohseidenen Hausmantel (Patrice
Chéreau), Mime als Laborant (Harry
Kupfer) oder die Rheintöchter mit
Badekappen auf dem Kopf (Tankred
Dorst) legitim sind.
Aber interessanter als die Herkunft
der Wagnerschen Motive ist in diesem
Zusammenhang ihre Anordnung, die
an den Wechsel von Positivem und
Negativem, Vorzeitlichem und Modernem in der antimodernistischen
Geschichtsphilosophie erinnert. Dabei ist zu betonen, dass für eine derartige narrative Struktur des Rings
Wagners Erweiterung des Mythos
verantwortlich ist, und nicht der Mythos selbst.
Für ein Urteil über Wagners Antimodernismus ist ebenfalls wichtig, ob
sich die Handlungen, die den Untergang des ursprünglichen Weltzustandes bedingen, als poetische Symbole
modernistischer Innovationen deuten lassen. Ich gehe von der Annahme aus, dass es möglich ist, wobei
ich natürlich nicht allein bin. Die
RELA
TIONS
Deutung des Rings als indirekte kritische Aussage zur wirtschaftlichen
und politischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft hat eine lange Tradition. Sie beginnt, ohne die
Hinweise und Deutungen zu rechnen, die Wagner selbst in Briefen und
überlieferten mündlichen Äußerungen hinterlassen hat, mit der Schrift
Bernard Shaws The Perfect Wagnerite
von 1898 (dt.: ‚Ein Wagner-Brevier‘,
1973), und findet ihre Fortsetzung
in den zahlreichen szenografisch und
kostümografisch umkodierten Regiearbeiten, unter denen sich aus
heutiger Perspektive gesehen die von
Götz Friedrich (London 1974) und
Patrice Chéreau (Bayreuth 1976) abheben. Indem er also den durch den
Untergang der Urwelt entstandenen
Zustand als instabil und verwünscht
charakterisiert, formuliert Wagner eo
ipso eine Kritik der Moderne. Da sie
auch die geschichtsphilosophische
Erzählung vom Zerfall der Vorzeit
mit einschließt, kann man sagen, dass
sie näher an antimodernistischen Positionen ist als an anderen Ideologien,
die mit dem Umbau der bürgerlichen
Zivilisation rechnen, beispielsweise
jenen auf der linken Seite des ideologischen Spektrums der Moderne.
Ich denke, dass sie weiter weg ist auch
von Schopenhauers Welt als Wille und
Vorstellung als jenem Buch, das Wagner 1854, mitten in der Arbeit am
Ring, las und das er seiner Umgebung
gegenüber als jenes bezeichnete, auf
dem er in Hinkunft seine Weltanschauung gründen werde. Schopenhauers Philosphie ist eine Kritik der
Existenz insgesamt, während das, was
an Wotans und Alberichs Zeitalter
strittig ist, mit bestimmten Stereotypen über die weltgeschichtliche Moderne zu tun hat. Zu Wagners Zeit
lagen diese Stereotype noch „in der
Luft“, um sich in der Epoche nach
seinem Tod zu philosophischen und
ideologischen Doktrinen zu verdichten, die ich hier als Antimodernismus
bezeichne.
Dossier: Zoran Kravar
***
In meinem Buch über den Antimodernismus (Kravar 2003, 82) habe
ich zwei Ereignisse – ein dargestelltes, ein erzähltes – aus der Ring-Fabel
hervorgehoben, die ich als Schnitte zwischen der vorzeitlichen Welt
und einem der modernen Zivilisation vergleichbaren Zustand gedeutet
habe. Der erste der beiden ist Alberichs Raub des Rheingolds (RG 1),
eines Materials, aus dem sich, unter
der Bedingung beschworener Absage an die Liebe, ein wundertätiger Ring schmieden lässt, geeignet
um mit ihm die gesamte Welt zu
dominieren. Zum Raub kommt es,
als die Rheintöchter vor dem uneingeweihten Alberich, dessen Begierde ursprünglich erotisch ist und
ihnen gilt, unbesonnenerweise von
der geheimen Kraft des Goldes und
von dem hohen Preis erzählen, der
zu entrichten wäre, wollte man sich
seiner bemächtigen („Des Goldes
Schmuck schmähte er nicht, / wüßte
er all seine Wunder!“). Entgegen ihrer Erwartung und der Einschätzung
der eigenen weiblichen Attraktivität
lenkt der Nibelung seine Begierde
um und bringt den Schwur aus („so
verfluch’ ich die Liebe“). Oder wie es
post festum Loge formuliert (RG 2):
„Alberich zauderte nicht [...] geraten
ist ihm der Ring!“
Das zweite entscheidende Ereignis
ist die Schändung der heiligen Weltesche. In der thematischen Zeit der
Tetralogie geht sie Alberichs Raub
voraus, aber wir erfahren von ihr
erst aus dem Auftritt der Nornen im
Vorspiel der Götterdämmerung. Die
Geschichte ist folgende: einstmals
hat der „kühne Gott“ Wotan von
der Esche einen Ast gebrochen, von
ihm einen Speerschaft gemacht, in
ihn „treu beratner Verträge Runen“
geschnitten und mit ihrer Kraft seine göttliche Autorität befestigt, aber
auch eingeschränkt.
Sowohl das Motiv des geraubten Goldes als auch jenes des geschände-
29
ten heiligen Baumes sind mehr oder
weniger ein Produkt der Phantasie
Wagners.
Zur Gänze sind das die Rheintöchter
und ihr Gold, während die Erzählung von der Esche selbstverständlich aus der Edda stammt, wo Odins
Tat allerdings keine weltgeschichtlichen Folgen hat, wie es im Ring
der Nibelungen der Fall ist. Mit ihr
ändert sich am ursprünglichen Zustand der Welt nichts, und die heilige
Esche Yggdrasil behält ihre Funktion
auch, nachdem ihr ein Ast abgebrochen wurde: wie zuvor auch werden
in ihrem Schatten und unter ihrem
übernatürlichen Schutzschirm Gerichtsverhandlungen abgehalten und
Streitfälle entschieden.
In der Tetralogie finden wir eine ganze Reihe von Szenen, wo einzelne Figuren – mit Worten oder durch ihr
Verhalten – den vorzeitlichen Zustand der Welt herbeibeschwören,
sei es als nahe Vergangenheit oder
als Gegenwart, die durch die Rechtsnormen auf Wotans Speer und durch
Alberichs Wirtschaftspolitik in unverdientes Vergessen gestoßen wurde. Schon in der zweiten Szene von
Rheingold wird die Atmosphäre der
Vorzeit von den Riesen Fasolt und
Fafner ebenso mittels des gleich grobschlächtigen Äußeren wie mittels eines archaischen Leitmotivs heraufbeschworen. Dieser Eindruck wird
von Wotan verstärkt, der noch vor
ihrem Erscheinen auf der Szene an
ihre kürzlich erfolgte Umerziehung
erinnert: „durch Vertrag zähmt’ ich
ihr trotzig Gezücht“ (RG, 2).
Trotzdem geben die Riesen in mehreren Repliken zu verstehen, dass sie
sich in der neuen Welt gut eingerichtet haben, das heißt, sie haben Wotans Gesetzgebung kennen gelernt
und sind bereit und fähig, sie sich
zum Schaden des Gesetzgebers zunutze zu machen. Außerdem zeugt
von der progressiven Modernisierung ihrer Mentalität auch die Leichtigkeit, mit der sie auf Freia als den
30
RELA
Dossier: Zoran Kravar
ursprünglich vereinbarten Lohn für
den Bau von Walhall verzichten und
Wotan zwingen, ihnen im Tausch gegen sie Alberichs Gold zu beschaffen.
Die männlich-weibliche Innigkeit als
vorzeitlicher Wert tritt ihren Platz an
das Gold ab, das mit der neue Ordnung ökonomischen und strategischen Wert bekommen hat.
„In der Welten Ring nichts ist so
reich, / als Ersatz zu muten dem
Mann / für Weibes Wonne und Wert!“
(RG 2) erklärt in derselben Szene Loge, der von der Suche nach einem Gegenstand zurückgekehrt ist, den die
Riesen vielleicht an Freias statt akzeptiert hätten, was uns einen Blick
in die dionysische, biozentrische Urwelt erlaubt, die die Modernisierung
im Verborgenen überlebt hat und in
der die Allmacht der Liebe jede gesetzliche Regulierung und alle ökonomischen Interessen gegenstandslos macht:
So weit Leben und Weben,
In Wasser, Erd’ und Luft,
viel frug’ ich,
forschte bei allen,
wo Kraft nur sich rührt,
und Keime sich regen:
was wohl dem Manne
mächt’ger dünk’,
als Weibes Wonne und Wert?
Doch so weit Leben und Weben,
verlacht nur ward
meine fragende List:
in Wasser, Erd’ und Luft,
lassen will nichts
von Lieb’ und Weib.
(RG 2)
Auf berührende Weise beschwört Alberichs Bruder Mime in der dritten Szene des Rheingolds die einstige
Welt. Ihn hat, wie auch die anderen
Nibelungen, der Wandel am stärksten getroffen, er hat ihm Unheil gebracht, vergleichbar dem, das die reale liberal-kapitalistische Modernisierung der Arbeiterklasse gebracht
hat, und so kommt es in seiner Replik, mit der er Loge und Wotan die
Sitten im einstigen Nibelheim beschreibt, zur ethisch schärfsten Opposition zwischen dem Alten und
dem Neuen:
Sorglose Schmiede,
schufen wir sonst wohl
Schmuck unsern Weibern,
wonnig Geschmeid’,
niedlichen Niblungentand;
wir lachten lustig der Müh’.
Nun zwingt uns der Schlimme,
in Klüfte zu schlüpfen,
für ihn allein
uns immer zu müh’n.
(RG 3)
Die Opposition und ihr Gewicht
werden auch dadurch nicht verringert, dass sich Mime in Fortsetzung
seines Klagegesangs, darüber verzweifelt, dass er nicht in der Lage war,
den Tarnhelm zu verwenden und
Alberich um den Besitz zu bringen,
als spezifischer kleiner Alberich erweist, als den ihn im ersten Akt von
Siegfried sein Lebensprojekt enthüllt:
sich mittels langfristiger Investition
in die Erziehung des jungen Siegfrieds des Ringes zu bemächtigen,
dessen Macht er am eigenen Leib zu
spüren bekommen und bereits in den
ersten Tagen des Nibelheimer Umsturzes erkannt hat.
Aber die alte Welt wurde nicht ausschließlich vom Lustprinzip beherrscht, sondern auch von Weisheit, nur
dass sich deren Sitz nicht im Bewusstsein der menschlichen und humanoiden Wesen befand, sondern dass, wie
die erste Norne im Vorspiel der Götterdämmerung singt, die Wellen der
heiligen Quelle sie raunen:
An der Weltesche
wob ich einst,
da groß und stark
dem Stamm entgrünte
weihlicher Äste Wald.
Im kühlen Schatten
rauscht’ ein Quell,
Weisheit raunend
rann sein Gewell’.
TIONS
***
Freilich haben auch die Rheintöchter, für die im Rheingold der Untergang der Vorzeit noch ein nahes
Geschehen ist, eine Menge zu der
weltgeschichtlichen Veränderung zu
sagen, vor allem in der Strophe, die
sie, parallel zum Einzug der Götter
in Walhall, auf das Sehnsuchtsmotiv
„Rheingold! Rheingold!“ singen. Die
Strophe ist auch insofern interessant,
als in ihr der Gegensatz von Altem
und Neuem durch eine räumliche
Opposition erweitert wird, die nicht
nur in den Motiven der Tetralogie
anklingt, sondern auch die antimodernistische Auffassung von der Vorzeit und ihrem Weiterleben unter der
Oberfläche der modernen Zivilisation vorwegnimmt. Auf die ironische
Bemerkung, mit der Loge den trauernden Töchtern als Ersatz für den
ästhetischen Genuss am Gold den
Anblick Walhalls anpreist („Glänzt
nicht mehr euch Mädchen das Gold,
/ in der Götter neuem Glanze / sonnt
euch selig fortan!“, RG 4), kommt aus
der Schlucht die abweisende, Unheil
kündende Antwort:
Reines Gold!
O leuchtete noch
in der Tiefe dein laut’rer Tand!
Traulich und treu
ist’s nur in der Tiefe:
falsch und feig ist,
was dort oben sich freut!
(RG 4)
Den erwähnten räumlichen Antagonismus schaffen adverbielle Kennzeichnungen „in der Tiefe“ und „dort
oben“, wobei beide Pole – Tiefe wie
Höhe – reich an Konnotationen sind.
Die Höhe bezeichnet nicht nur die
neue Götterburg und ihre Situiertheit auf dem Berg, sondern – als Metonymie – auch die Welt als Ganzes im
Herrschaftsbesitz der Götter. Aus der
Rhein-Perspektive gesehen, die auch
für den Rezipienten maßgebend ist,
ist diese Welt schlecht: außer dass sie
durch Wotans doppelzüngige Ge-
RELA
TIONS
setzgebung kompromittiert ist, die es
zulässt, dass die Riesen mit zweifach
geraubtem Gold entlohnt werden,
lastet auf ihr auch Alberichs Fluch
(RG 4), dessen Wirksamkeit sich augenblicklich erweist (in Fafners Mord
an Fasolt), schlecht steht es um sie
aber auch im Lichte von Erdas Warnung, deren Eintreffen wir viel später
erleben werden, in der Auflösung der
Götterdämmerung. Die Höhe ist also der Raum der falschen Werte und
der unsicheren Zukunft, und der Bau
von Wallhall und seine unsichere Finanzkonstruktion sind der Anfang
vom Ende. Das wird auch durch die
Entwicklung des Motivs unterstrichen, zu dem die Töchter um das
Gold trauern und das in der letzten
Zeile, parallel zu den Worten „was
dort oben sich freut“, die bisherige
romantische Weichheit verliert und
einen triumphalen und zugleich rachelüsternen Beiklang bekommt.
Ebenfalls weit gefasst, aber positiv,
sind die Konnotationen des oppositionellen Pols der Tiefe. Der Grund des
Rheins – Handlungsort der ersten
Szene der Tetralogie – erweist sich,
im Lichte der weiteren Handlung,
als eine der letzten Zufluchten der
alten Welt: während wir nämlich die
Unterwasserepisode mit den Töchtern und Alberich verfolgen, wo im
Aufeinanderprall zweier Beziehungen zum Gold die Antithese zwischen
vorzeitlicher Uneigennützigkeit und
dem modernen Willen zur Macht
aufgestellt wird, hat sich das Leben
an Land schon längst im Zeichen der
Runen Wotans gewandelt.
Aus der Tiefe, diesmal der irdischen,
kommt in der vierten Szene von
Rheingold auch Erda, von der Wotan
die erste, wenngleich bereits verspätete Belehrung über die Geschichte
der eigenen Welt und ihre antithetische Form erhält: Erda (die „UrWala“) ist die Göttin der Vorzeit,
während Wotan einer der Pfeiler des
modernen Zustandes ist, der Erda
als der verkörperten antimodernisti-
Dossier: Zoran Kravar
schen Weisheit instabil dünkt („Ein
düst’rer Tag dämmert den Göttern“,
RG 4).
In Überstimmung mit der Handlung
der Tetralogie und ihrer Zielsetzung
steht allerdings, dass, beginnend mit
der Walküre, die Tiefe als Motiv oder
Symbol in Vergessenheit gerät und
entwertet wird. Implizit ist sie noch
in Wotans Erinnerung an seinen unterirdischen Aufenthalt bei Erda vorhanden (WA II, 2), und Weisheit der
Tiefe verrät auch der strategische
Plan, den der Gott dort gefasst hat:
den Ring, bevor sich Alberich seiner
bemächtigen kann, Fafner zu rauben
und dem Rhein zurückzugeben. Im
Übrigen ist dieser Plan entscheidend
für die Tetralogie als dramatisches
Kontinuum und für die Begründung
des weiteren Handlungsverlaufs. Er
schafft, da Wotan ihn wegen des Vertrages mit den Riesen nicht allein erfüllen kann, die Notwendigkeit, eine
neue Figur zu erschaffen:
Not tut ein Held,
der, ledig göttlichen Schutzes,
sich löse vom Göttergesetz.
So nur taugt er
zu wirken die Tat,
die, wie not sie den Göttern,
dem Gott doch
zu wirken verwehrt.
(WA II, 1)
In der Rolle dieses fast unvorstellbaren „freundlichen Feind[es]“ (WA II,
2) wird sich zuerst Siegmund versuchen, und dann Siegfried, wobei wir
uns ein weiteres Mal davon überzeugen können, dass in der Tetralogie
aus der Überlieferung übernommene
Figuren Handlungen verrichten, die
sich von dem unterscheiden, was ihnen Saga und Epos zuschreiben.
Aber Wotan übernimmt, nachdem
er Brünnhilde in Schlaf versenkt und
vom Bann befreit hat (WA III, 3), die
passive Rolle des betrachtenden Wanderers, er zieht sich an den Rand der
Dramenhandlung zurück (SI I-III),
und auch seine Ernüchterung in Er-
31
das Tiefe trägt nicht mehr zur Symbolik der vorzeitlichen Tiefe bei. Auch
Brünnhilde, die das Kind Wotans
und Erdas ist und etwas vom Geist
ihrer Mutter geerbt hat, wird nach
der Verwandlung in eine menschliche Gestalt (SI III, 3) umstilisiert
nach dem Bild einer bürgerlichen
Frau als einem Wesen, das mit seinem
Privatleben beschäftigt und für die
Anforderungen des Systems unempfänglich ist (vgl. die Szene Brünnhilde – Waltrauta, GD I, 3). Die neue
Brünnhilde benötigt drei Akte der
Götterdämmerung, um durch ihr eigenes und das allgemeine Vergessen
der Vorzeit hindurch zu der Erkenntnis vorzudringen, die Wotan ihrer
früheren Ichheit bereits in der Walküre verkündet hat, und zwar, dass es
unheilvoll wäre, den Rheintöchtern
den Ring vorzuenthalten, nachdem
er Alberich geraubt wurde:
Den Ring, den er [Alberich] schuf,
entriß ich ihm listig;
doch nicht dem Rhein
gab ich ihn zurück:
mit ihm bezahlt’ ich
Walhalls Zinnen,
der Burg, die Riesen mir bauten,
aus der ich der Welt nun gebot.
(WA II, 2)
Rasch, bereits zu Ende von Rheingold,
verlässt auch Loge den Schauplatz
der Tetralogie; seine ununterbrochene Verbindung mit der Vorzeit wird
auf mehrfache Weise augenfällig: in
der Freude, mit der er sein Umherschweifen durch das ursprüngliche
„Leben und Weben“ beschwört, in
der Beharrlichkeit, mit der er Wotan erklärt, der Alberich abgenommene Ring müsse den „lachenden
Kindern“ des Rheins zurückgegeben
werden, in der Entschlossenheit, mit
der er seiner vorzeitlichen Feuergestalt vor der neuen, anthropomorphen Verkörperung den Vorzug gibt
(„zur leckenden Lohe mich wieder
zu wandeln“, RG 4). Von den beiden
Riesen tritt der empfindsamere Fasolt
32
RELA
Dossier: Zoran Kravar
ab, zurück bleibt der egozentrische
Fafner, dessen Drachen-Inkarnation
(SI II, 1-2) nur scheinbar regressiv
ist, denn der einstige Riese erfreut
sich auch weiterhin am Besitz des
Goldes. Trotzdem bleibt seine Gier,
wenngleich eine nicht-vorzeitliche,
hinter Alberichs unternehmerischem
Kalkül zurück. Sein Kredo, mit dem
er seinen Besitzerstatus formuliert,
ist primitiver und durchaus der psychologischen Charakterisierung des
Geizigen im realistischen Roman verwandt: „Ich lieg’ und besitz’“ (SI II, 1).
Drastisch werden aber die Störungen
der Vorzeit offenbar, als Erda erneut
geweckt wird (SI III, 1) und sich herausstellt, dass „die weihlich weiseste
Wala,“ (WA II, 2) in der Zwischenzeit
zu einer müden und desinteressierten
Greisin geworden ist, zerstreut und
desorientiert in weltgeschichtlichen
Perspektiven. Aber diese Verwandlung ist vermutlich auch als Antithese zu Erdas Gesprächpartner Wotan
und seiner endgültigen Befähigung,
das Schicksal der Welt in seine Hände zu nehmen, zu verstehen: schon
in der folgenden Szene wird er seinen Unheil stiftenden und kompromittierten Speer scheinbar Siegfrieds
Schwert entgegenhalten und geradezu aussetzen und so die lange und
fruchtlose Herrschaft der vertragsstiftenden Runen beenden.
Erst am Ende der Tetralogie (GD III,
1-3) öffnet sich wieder der Blick
in die Weltentiefen, was durch die
Rückkehr der Rheintöchter in die
Handlung und durch Brünnhildes
Verwandlung ermöglicht wird. Die
Töchter berichten im Geplauder mit
Siegfried (GD III, 1), bei dem sie
übermütig Scherz und Ernst, frivoles Lachen und präzise Prophezeiungen mischen, von der Unterwasserwelt des Rheins und vom Gold als
„hehre[m] Stern der Tiefe!“, und in
dem Monolog, der ihrem Sprung in
Siegfrieds Scheiterhaufen (GD III,
3) vorausgeht, bittet Brünnhilde die
Rheintöchter, mit denen sie zuvor
in der nicht gezeigten Handlung zusammengetroffen ist, den Ring, nachdem ihn die Flamme vom Fluch
gereinigt hat, in den Rhein mitzunehmen, wo sich sein Gold in den
ursprünglichen Zustand zurückverwandeln werde:
Ihr in der Flut
löset ihn auf,
und lauter bewahrt
das lichte Gold,
das euch zum Unheil geraubt.
Wenn am Ende der Tetralogie der
Rhein den Scheiterhaufen überflutet und die Töchter den Ring nehmen und mit ihm in die Tiefe tauchen, erhält Brünnhildes Bitte auch
eine szenisch sichtbare Antwort. Zugleich erinnert uns die unruhige Wiederaufnahme der Rhein-Motive im
Orchester daran, dass die Rückkehr
des Goldes in die Tiefe ein schicksalsträchtiges Ereignis ist.
Die Sympathie mit der Tiefe, wie sie
die Beispiele illustrieren, teilt Wagner mit vielen Autoren vom antimodernistischen Habitus, bei denen sie
ebenfalls als Refugium der Vorzeit
und als Signifikant einer durch die
erfahrbare Wirklichkeit verschleierten Totalität figuriert. Gültige Bestätigungen, wie immer, wenn vom Antimodernismus die Rede ist, finden
wir beim frühen Nietzsche (in der
Geburt der Tragödie), wo die Wörter
„Tiefe“, „Wurzel“ „Grund“ und Substantive und Adjektive mit dem Präfix „ur-“ der kontrastierenden Charakterisierung des dionysischen mit
dem modernen Zustand dient. So
wird das „Leben“, das für Nietzsche
eine ontologische Universalie ist, „im
Grunde der Dinge“ geahnt, und über
den Menschen der dionysischen UrKultur lesen wir, dass er das „mythische Fundament“ besitze.
Dem entgegen entsteht mit dem „auf
Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus“ eine Kultur ohne „heiligen Ursitz“, bevölkert von
Menschen, die den Verlust des „my-
TIONS
thischen Mutterschoßes“ empfinden
und „grabend und wühlend nach
Wurzeln“ vergeblich nach Kompensation suchen.
Ähnlich verhält es sich mit der Tiefe und ihren Metonymien auch bei
anderen antimodernistischen Autoren, vor allem bei jenen, die in der
Nachfolge Nietzsches stehen. In Alfred Schulers Vortragsreihe „Vom
Wesen der Ewigen Stadt“ ist die verlorene Vorzeit das „versunkene Reich
des Lichts“ und haben die modernen Menschen ein „vernebeltes ur-“
hinter sich. Stefan George, ein steter
Verehrer Nietzsches und zeitweiliger
Freund Schulers, hat eine Vision vom
Ausgang des eschatologischen Helden aus dem Erdenschoß:
Jetzt naht nach tausenden
von jahren
ein einziger freier augenblick:
da brechen endlich alle ketten
und aus der weitgeborstnen erde
steigt jung und schön ein neuer
halbgott auf.
Wie andere Inhalte des Rings des Nibelungen, die sich mit antimodernistischen Ideenmotiven decken, ist
auch der analysierte räumliche Antagonismus Wagners Idee. In den Mythen und archaischen Epen ist die
Tiefe der Sitz böser und unkontrollierter Mächte oder der Aufenthaltsort Abgeschiedener. J. R. R. Tolkien, der hartnäckigste Ausbeuter altgermanischer Überlieferungen nach
Wagner, obwohl auch selbst zur Lektüre im antimodernistischen Schlüssel geeignet, behält in seinen Erzählungen die Abneigung der mythischen Überlieferung vor den unterirdischen Räumen bei. Tief unter
der Erde – frei oder in Gefangenschaft – weilt Melkor, der negative
Hauptheld des „Ersten Zeitalters“
(Silmarillion), und Sauron, Melkors
Nachfolger im Zweiten und Dritten
Zeitalter, findet in den Tiefen den
Quell der Macht (Von den Ringen der
Macht und dem Dritten Zeitalter):
RELA
TIONS
Dort im Tal Gorgoroth entsteht
seine Festung groß und mächtig,
Barad-Dûr, der Dunkle Turm; in
diesem Land erhebt sich auch der
Feuerberg, den die Elben Orodruin nennen. Aus eben diesem
Grund hat vor langem schon Sauron dort seinen Aufenthalt genommen, um sich das Feuer, das
aus dem Herzen der Erde züngelt,
für seine Zauberhandlungen und
sein Schmiedehandwerk dienstbar
zu machen.
***
Mit dem Erkennen der antimodernistischen Motive im Ring des Nibelungen stellt sich die Frage nach Wagners Stellung in der antimodernistischen Strömung. Historisch kommt
ihm die Rolle eines Antizipators zu,
nicht die eines Begleiters oder Nachfolgers, wie wir schon an den Jahreszahlen seiner Geburt und seines
Wirkens ablesen können. Aber was
für ein Antimodernist im typologischen Sinne ist er, mit welchen Inhalten füllt er die Antithese zwischen
Vorzeit und Moderne, womit charakterisiert er den vormodernen Urzustand, und auf welchen Einsichten
von der modernen Welt beruht sein
Zivilisationspessimismus?
Wie bereits ausgeführt, wird bei antimodernistischen Autoren die Opposition Vorzeit – Moderne in unterschiedlichen weltanschaulichen
Rahmen gedacht, woraus ungleiche Charakterisierungen der vorzeitlichen Gegenwelt und eine nicht
völlig deckungsgleiche Betonung der
vermeintlich negativen Tendenzen
der Moderne erfolgen. Dennoch formuliert die Mehrheit von ihnen den
Antagonismus in idealistischer Manier. Auf der Liste der modernen
Übel stehen freilich auch Erscheinungsformen, die der materiellen
und sozialen Wirklichkeit angehören: Technik, Geld, moderne Großstadt, Massendemokratie („Herrschaft
der Minderwertigen“), individualis-
Dossier: Zoran Kravar
tischer Egoismus, „Masse“ an Stelle
der einstigen „Gemeinschaft“, aber
die ersten Ursachen verhängnisvoller Wandel werden gewöhnlich in
der geistigen Kultur gesucht. Die
Verantwortung dafür wird dem sokratischen Rationalismus (Nietzsche),
den anthropozentrisch und materialistischen Weltanschauungen (Evola), der vorsokratischen Naturphilosophie (Guénon) oder „Platons Lehre
von der Wahrheit“ (Heidegger) angelastet. Technik, Geld, Demokratie
kommen gewöhnlich zum Schluss
und werden aus Veränderungen in
der geistigen Sphäre abgeleitet.
Im Ring wird die Vorzeit etwas diffus determiniert, aber die Schlüsseldeterminanten nehmen klar Inhalte vorweg, die auch kanonische
Antimodernisten mit der Idee des
vorgeschichtlichen Zustands verbinden. Die allgemeinste dieser Determinanten – die universale Macht
der Liebe, die, wie uns Loge belehrt,
über alle Elemente herrscht – erinnert an die vitalistische Auffassung
von Liebe, die ebenfalls transsubjektiv ist, wovon etwa die Behandlung
des Eros in Nietzsches Darstellung
dionysischer Zügellosigkeit als der
„höchsten Wonnebefriedigung des
Ur-Einen“ oder Klages’ Philosophie
des „kosmogonischen Eros“ zeugt.
Außerdem zeichnet sich der vorzeitliche Mensch, im Unterschied zum
modernen, durch Uneigennützigkeit
im Umgang mit Natur und Mitmenschen aus, dem bei Wagner die unpragmatische Kunst der alten Nibelungen und der Genuss der Nixen an
den ästhetischen Eigenschaften des
Goldes entspricht:
Ein Tand ist’s
in des Wassers Tiefe,
lachenden Kindern zur Lust.
(RG 2)
Interessant ist auch das Motiv der
vorzeitlichen „Weisheit“, jener, von
der die Norne sagt, sie habe ihr im
Raunen des Quells unter der heili-
33
gen Esche gelauscht. Die antimodernistische Vorzeit ist eine Zeit der
kosmischen und sozialen Selbstregulierung: alles was zu ihrem Bestehen, ihrer Ordnung und dem ungestörten Kreisen ihrer Zeit beiträgt,
ist ursprünglich und subjektiver Erkenntnis und Manipulation unzugänglich. Ohnehin ist der Mensch
der Vorzeit in das kosmische Ganze eingebettet und lebt keineswegs
nach Art einer Hälfte der erkenntnistheoretischen Formel Subjekt –
Objekt. Wenn es also in der Vorzeit
Bewusstsein, Intelligenz, „Weisheit“
gibt, kann sie nicht im subjektiven
Bewusstsein verankert sein, sondern
ist, um ein in Julius Evolas Revolte gegen die moderne Welt allgegenwärtiges
Wort zu verwenden, „transhuman“.
Oder wie der ökologische Antimodernist Sean Kane es heute interpretiert: der vorzeitliche (d. h. paläolithische) Mensch hat sich gemäß der
„Intelligenz der Erde“ verhalten, und
erst sein moderner (neolithischer, antiker, bürgerlicher) Nachfolger hat
das Bewusstsein mit der „Illusion der
Individualität“ versklavt, was man in
diesem Kontext als weitere ungewollte Paraphrase der Erzählung von der
Schändung des heiligen Baumes und
von der Degeneration der ursprünglichen, jedermanns und niemandes
„Weisheit“ lesen kann, seit Wotan
sie in den Speerschaft gekerbt und
seinem persönlichen Urteilsspruch
unterworfen hat.
Mit der antimodernistischen Geschichtsphilosophie und ihrer Wertung der Moderne lässt sich auch
Wagners Charakterisierung des durch
den Besitz von Speer und Ring gekennzeichneten Zeitalters verknüpfen. Allerdings sind hier auch Unterschiede zu bemerken, deren Kriterium sich als materialistische Nüchternheit definieren ließe. Bei Wagner beziehen sich nämlich die metaphorischen Bilder der Modernisierung, Speer und Ring, auf Phänomene aus der gesellschaftlichen Basis:
34
RELA
Dossier: Zoran Kravar
auf ein modern verfasstes Recht und
auf die Umwandlung toten Kapitals
(des Nibelheimschen Goldes und der
uneigennützigen Arbeit „sorglose[r]
Schmiede“) in einen Marktwert. Einzige Ausnahme sind die Gründe, aus
denen sich Alberich zum Raub des
Goldes und zum Schmieden des
Ringes entschließt: „Alberich“, wie
es Adorno formuliert (1974, 21),
„raubt den Ring und flucht der Liebe, weil die Rheintöchter ihm sich
nicht geben: die Dialektik von Trieb
und Herrschaft ist auf eine Differenz
der ‚Art‘ anstatt auf die gesellschaftliche Bewegung reduziert.“ Der Differenz der Art können wir die erotische
Frustration hinzufügen, und wenn
wir Alberichs Umorientierung vom
Liebesbegehren zur ökonomischen
Macht als mythologische Metapher
für moderne Gesellschaftsbeziehungen interpretieren, wäre sie auf einer
Linie nicht nur mit dem Immaterialismus der antimodernistischen
Genealogien der Moderne, sondern
auch mit der vitalistischen These von
der Moderne als einer Epoche der
Subjektivierung und Degenerierung
des Eros (Kravar 2003, 75). Im Übrigen ist auch die Umwandlung des
Eros in Sexus, wie sie die Antimodernisten deuten, in Alberichs Schicksal wortwörtlich verkörpert: obwohl
er der Liebe feierlich entsagt hat, ist
er doch im Stande, die Mutter der
Gibichungen mittels Bestechung zu
gewinnen und mit ihr den Sohn Hagen zu bekommen. „Wunder gelang
/ dem Liebelosen“, sagt der besorgte Wotan zu Brünnhilde im zweiten
Akt der Walküre.
Im Übrigen entlastet Wagner sogar
auf der Ebene der sichtbaren Handlung Ring und Speer von idealistischen und märchenhaften Beimischungen. Bei beiden Motiven wird
die Phantastik maximal ausgedünnt,
und so vermitteln sie uns die Epoche,
in der die Tetralogie geschrieben wurde, genauer, ihre antimodernistische
Interpretation, deutlicher als andere
Motive. Der Speer wird in der Tetralogie als Garant der geschlossenen Verträge in einer rationalisierten Rechtsprozedur behandelt, die,
im Unterschied zu den Gerichtsentscheidungen in den Überlieferungen von der Weltesche, der Diskussion und Revision unterliegt. Seine prosaische Instrumentalität wird
bei mehreren Gelegenheiten sichtbar, am schönsten vielleicht in jener
Episode in Rheingold, wo sich Gott
Donner erkühnt, den um Freia entbrannten Streit mit den Riesen gewaltsam zu lösen. Den Herrn des
Klimas rügend („Halt, du Wilder!“)
und die Konfliktparteien trennend,
vernichtet Wotan mit seinem Speer,
dessen Autorität von der Verhandlungsbereitschaft der an Rechtsnormen und Vertragsverpflichtungen interessierten Subjekte abhängt, die
übernatürliche, aber illegale Macht
des Donnerschen Hammers.
Der Ring wiederum hat den Status
eines Zaubermittels in den Szenen
aus der Nibelungischen Unterwelt
(RG 3), wo es Alberich allein schon
durch das Heben der Faust gelingt,
das Volk der Zwerge zu zwingen, sich
– unter unvergesslichem kollektivem Wehklagen – an die Knappen-,
Grob- und Goldschmiedsarbeiten zu
machen. Dem gefangenen Alberich
(RG 4) hilft der Ring allerdings nicht,
und wie wir aus seinem unvorsichtigen Selbstlob vor Loge und Wotan
(RG 3) erfahren, hat er auch nicht
vorgehabt, die Herrschaft über die
Welt allein durch den Ring und seine Magie zu erringen, sondern durch
Tauschhandel: durch das Gold, das
ihm die Nibelungen herbeischaffen,
will er sich Loyalität erkaufen und
seinen Einfluss vergrößern. Dabei
soll das Gold, ähnlich wie die Ware
in den marxistischen Theorien von
der Konsumgesellschaft, nicht nur
reale Bedürfnisse befriedigen, sondern auch ein Subjekt für das Objekt
schaffen: „Mit Golde gekirrt, nach
Gold nur sollt ihr noch gieren!“
TIONS
Als Objekt und Träger des AlberichFluchs (RG 4 und später) erlangt der
Ring nur scheinbar zauberähnliche
Kraft: genau genommen ist er insofern verflucht, als ihn alle begehren,
wobei die einen zu Konkurrenten
und Feinden der anderen werden.
Deshalb steht auch das von ihm ausgehende Böse weniger in Verbindung
mit der Phantastik der mythischen
und epischen Vorlagen, sondern mit
Wagners Sicht der geschichtlichen
Wirklichkeit, gegenüber der sich die
Tetralogie wie eine kostümierte Kritik ausnimmt. Was für Wagner tatsächlich unheilvoll und fluchbeladen ist, ist seine Epoche, soweit sie
von den liberal-kapitalistischen Modernisierungsprozessen erfasst und
von deren Begleiterscheinungen gekennzeichnet ist. Deshalb werden
wir auch das Motiv des Fluches besser verstehen, wenn wir es mit dem
Gedanken an das 19. Jahrhundert
einkreisen, als wenn wir es unter den
Bildern jener Welt zu fassen suchen,
welcher der Gott mit dem Speer, der
in einen Drachen verwandelte Riese
oder der Held mit dem umgeschmiedeten Schwert Namen und Gestalt
schulden.
***
Auf schwarzem Grund sind in geschwungenen weißen Linien Flusswellen gezeichnet, die aus dem Hintergrund in den vorderen Plan dringen. Im Hintergrund schwebt hoch
oben in undeutlichen Umrissen eine
von flammenförmigen weißen Linien umkränzte Burg. Im Vordergrund
tauchen mit zurückgeworfenem Kopf
drei langhaarige, ranke und zugleich
üppige Mädchenfiguren aus den Wellen und bilden gemeinsam eine Pyramide, aus der sich der hoch erhobene Arm der höchsten der drei empor windet. In der Hand den Ring,
und dahinter luftige Strahlen, weißer als alle anderen. Irgendwo über
der flammenden Burg steht: Гибелъ
боговъ (‚Götterdämmerung‘).
RELA
TIONS
Das Bild, genauer gesagt, die Grafik,
ist kurz nach 1900 in der Petersburger
symbolistischen Zeitschrift Аполлон
(‚Apollon‘) erschienen, ihr Autor ist
der russische Illustrator, Graphiker
und Maler Jewgenij Lansere (Lanceray). Ich habe sie vor vielen Jahren
als Reproduktion in einer Auswahl
von Jugendstil-Grafik gesehen, aber
ich erinnere mich nicht mehr, wie
sie deklariert war: als Theaterplakat,
als Illustration zu einer Übersetzung
aus Wagner oder zu einem Lied mit
Wagnerischem Thema. In jedem Fall
ein interessantes Motiv, das dem Grafiker repräsentativ für die Götterdämmerung zu sein schien: von den vielen
Geschehnissen am Höhepunkt des
Dramas hat er den Moment herausgehoben, als die Rheintöchter, nachdem sie den Ring von Siegfrieds und
Brünnhildes Scheiterhaufen genommen und Hagen in den Tod gezogen
haben, in den Strom zurückkehren;
in der Weite zwischen Wasserfläche
und Himmel dominieren die Strahlen des wiedergeborenen Goldes und
die glitzernde Haut der ewig jungen
Najaden. „Rheingold, Rheingold!“,
die Welt hat sich verjüngt, die Vorzeit
ist wiedererrichtet. Vielleicht hat es
den Anschein, dass ich bisher grundlos und zum Schaden der eigenen Argumentation, das Ende des Rings des
Nibelungen ausgelassen habe.
Und zwar: Gibt es bei den Antimodernisten nicht auch eine Endzeit, d.
h. den Glauben an einen Übergang
aus der Moderne in einen der Vorzeit
ähnlichen Zustand; und inszeniert
nicht gerade der letzte Akt der Tetralogie den Untergang der Welt, die
wir als Moderne, re-interpretiert im
Geiste des Zivilisationspessimismus,
dechiffrieren? Würden in der Götterdämmerung die Akzente dort liegen,
wo sie – im Geiste des Jugendstil-Vitalismus – die feine Grafik Lanceray
loziert, käme die Antwort rasch und
zustimmend. Zustimmend mag sie
wohl auch so sein, wenngleich mit
einigem Zögern.
Dossier: Zoran Kravar
Der letzte Akt der Götterdämmerung
deckt sich mit der Aufdeckung der
Ränke Hagens. Sie resultiert zuerst
in Siegfrieds Ermordung, und nach
dem sie aufgedeckt wurde, mit Gunthers Tod und Brünnhildes Sprung
in den Scheiterhaufen. Ihre indirekten Folgen sind die Übergabe des
Rings an die Rheintöchter, die Hagens Tod mit einschließt, und der
Brand von Walhall mit dem Untergang der Götter. Kein einziges dieser Geschehen hat das Gewicht endgültiger Erfüllung, was auch für den
Triumph der Rheintöchter gilt, denn
in der turbulenten Coda bietet sich
der Flussgrund, um den vom Fluch
befreiten Ring bereichert, nicht unbedingt als Paradigma einer Weltordnung „nach Wotan“ an. Eher ist
er eine spezifische partielle Vorzeit,
die in die Handlung zurückkehrt,
damit es einen Ort gibt, wo sich
Wotans Versprechen einer von Alberichs Fluch und der Herrschaft Walhalls befreiten Welt verwirklichen
kann (SI III, 1). Das Orchester freilich unterstützt die Unterwasserszene
in lebhafter Weise mit Fragmenten
des neuen Motivs der Rheintöchter
(„Frau Sonne!“, GD III, 1) und mit
dem alten Motiv „Weia! Waga! Woge du Welle!“ (RZ 1). Aber gleich
darauf wendet sich der Blick vom
Geschehen im Rhein anderswohin,
und das Orchester nimmt das Walhall-Motiv auf. Nach ihm, nach dem
kurzen Anruf „Weia! Waga!“, folgt
ein Motiv, das wir zum ersten Mal
schon zu Beginn des dritten Aktes der
Walküre gehört haben, als Sieglinde
sich ihrer Schwangerschaft bewusst
wird (WA III, 1), und das zweite
Mal unmittelbar am Schluss der Götterdämmerung, zu den letzten Worten Brünnhildes, aber hier in einer
unruhigen, harmonisch instabilen
Variante. Als Epilog der Motivfolge Walhall – „Weia! Waga!“, die wir
zweimal hören, kommt es zur Ruhe
und nimmt eine Standardform an.
Nach dem zweiten Erscheinen ist
35
wieder das Walhall-Motiv zu hören,
aber jetzt mehrere Male wiederholt,
klanglich verstärkt und vom Motiv
des prasselnden Feuers Loges begleitet. Es folgt die erste, einführende
Hälfte des Siegfried Motivs, das auch
als Brücke zum letztmaligen Erklingen der Sieglinde-Melodie dient. Sie
bleibt schließlich allein übrig, nachdem sie sich das Privileg erkämpft
hat, die Tetralogie zu einem tröstlichen Abschluss zu bringen und uns
zu jener Szene zu führen, die Wagner
tatsächlich als letzte geplant hat und
die in den begleitenden Didaskalien
wie folgt beschrieben wird: „Aus den
Trümmern der zusammengestürzten
Halle sehen die Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit dem
wachsenden Feuerschein am Himmel zu.“
Wer die Hauptströme und Nebenarme der Handlung des Ring kennt
und sich in ihre weltanschaulichen
Voraussetzungen eingelebt hat, wird
immer einigermaßen überrascht von
der Massenszene an seinem Ende: alles was wir bisher gesehen haben, ist
die Folge des Konflikts zwischen den
übermenschlichen Figuren und den
menschlichen Individuen, die dazu
erzogen wurden, sich in die bereits
vorgezeichneten Antagonismen einzufügen. Das einzige Kollektiv im
Ring sind Hagens Mannen, aber sie
haben keinen Anteil an der Handlung, außer dass sie im zweiten Akt
der Götterdämmerung in naiver Weise die verhängnisvollen Hochzeiten
(Siegfried – Gutrune; Gunther –
Brünnhilde) begrüßen und am Ende
des dritten Akts den toten Siegfried
tragen und in der letzten Szene statieren. Wer sind jetzt jene „Männer
und Frauen“, womit wird ihre Ansammlung im Feuerschein des fernen
Brandes gerechtfertigt?
Sie kommen zu Beginn der letzten
Szene der Götterdämmerung als Geleit bei Siegfrieds Begräbniszug auf
die Bühne, auf seinem Weg vom „wilden Tal des Rheines“, wo der Held
36
RELA
Dossier: Zoran Kravar
ermordet wurde, bis zur Halle der
Gibichungen: „Männer und Frauen, mit Lichtern und Feuerbränden,
geleiten den Zug der mit Siegfrieds
Leiche Heimkehrenden.“ Aber mit
dieser Erklärung ist das Problem ihrer
Identität und Funktion nicht gelöst.
Denn sie werden nirgends in den vorangegangenen Segmenten der Tetralogie angekündigt, sie haben kein eigenes Leitmotiv, und keine der Figuren, die wir in den vorangegangenen
Dramen, Akten und Szenen gesehen
oder gehört haben, hat mit ihnen
gerechnet oder sie erwähnt. Für die
mit dem konkreten Ring verbundene
Handlung, mit seiner Ausarbeitung
und mit dem Wechsel seiner Besitzer
(Alberich – Wotan – Fafner – Siegfried – Brünnhilde) sind sie nicht erforderlich. Aber sie sind da, und alle
die sich mit dem Ring beschäftigen,
sei es dass sie ihn hören, bei ihm Regie führen oder über ihn schreiben,
sind aufgefordert, ihr Vorhandensein zu erklären. Ich selbst würde sie
unter der Annahme interpretieren,
dass Wagner die Geschehnisse um
den Ring als Material wohl für ein
agonales Drama als ausreichend ansieht, aber unzureichend für eine geschichtsphilosophische Aussage, was
der Ring ebenfalls ist. Der Dramatiker Wagner hat in der Auflösung der
Götterdämmerung die Lichter an den
Schauplätzen aller schon eingeführten Handlungen (Gibichungenhalle,
Rhein, Walhall) gelöscht, aber für ihn
als Geschichtsphilosophen war die
Erzählung von Wotans Welt kein
sich selbst genügendes Ganzes, sondern eine Zwischenepoche. Rheintöchter, Riesen, Loge, Erda und Nornen haben uns daran erinnert, dass
der Zeit Wotans und Alberichs eine
lange und konstante Ur-Zeit vorangegangen ist. Auf der anderen Seite
zeugen die „Männer und Frauen“
davon, dass Wagner der Erzählung
vom geraubten und wiedererstatteten Ring, vom abgebrochenen Ast
und vom zerbrochenen Speer auch
einen Epilog geben wollte und den
Sinn der langen Zwischengeschichte
von Göttern, Riesen, Zwergen und
Helden überdies von der Beschaffenheit der Welt abhängig gemacht hat,
die nach ihrer Auflösung entsteht.
Nur, was für eine Welt ist das, und
wer sind die Menschen, mit denen sie
der Epilog bevölkert? Darüber habe
ich viel nachgedacht, mitunter, Hand
aufs Herz, völlig müßig.
So wollte es mir nach einem in Gesellschaft des Rings verbrachten Abend
scheinen, dass der Schluss der Götterdämmerung den Übergang aus einer
mythologisch kostümierten Moderne in eine realistischere Vorstellung
von ihr bezeichnet und dass die Menschen in der letzten Szene sozusagen das erweiterte Theaterpublikum
sind, eine szenische Chiffre für das
Bürgertum, mit dem der Ring seit
1876 die Theater füllt und das mit
den Feuerbränden und Brandstätten
von Walhall, d. h. mit dem Anblick
der desakralisierten Welt, in seinem
Alltag konfrontiert ist. Mir kam sogar der Gedanke, ob man das Finale nicht so inszenieren könnte, dass
man einen Teil der Zuschauer aus
dem Parterre auf die Bühne lädt, so
dass sich die Themenwelt der Tetralogie von einer kritischen Allegorie
zeitgenössischer Geschichte hin zu
einem synekdochischen Ausschnitt
von ihr verschiebt.
Ich habe mich ebenfalls gefragt, aber
sicherlich nicht allein, ob jene „Männer und Frauen“ nicht vielleicht Relikten der anarchistisch-revolutionären Phantasie Wagners entstammen,
ob sie nicht der Versuch sind, der
Tetralogie im letzten Moment eine
Dimension von Humanität und Sozialität oder sogar von Utopie-Perspektiven des Jahres achtundvierzig
zu verleihen: die Volksmenge strömt,
nachdem Gewehre und Granaten
verstummt sind, hinaus auf Straßen
und Plätze, wo sie von den gestürzten
oder abdizierten Dynastien Kenntnis
erhalten. Wagner hatte mit der Arbeit
TIONS
am Text der Tetralogie bereits begonnen, als er seine einstigen Überzeugungen revidierte und die Revolution durch einen philosophischen
Pessimismus ersetzte, wobei die Rolle des Katalysators der Lektüre von
Schopenhauers Die Welt als Wille und
Vorstellung zukam. Die verworfene
Urfassung von Brünnhildes Schlussauftritt enthielt noch Verse, in denen,
beinahe in der Manier einer didaktischen Dichtung, die anarchistische
Lehre von Altruismus und Liebe als
Ersatz für possessivischen Egoismus
und legalisiertes Recht zusammengefasst wird:
Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk;
nicht trüber Verträge
trügender Bund,
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt – die Liebe nur sein.
Dennoch sind mir die Versuche, das
Massenfinale der Tetralogie als Aufforderung zu verstehen, den Stand
der Dinge und die Geschehnisse in
ihrem breiteren Kontext zu interpretieren, letztlich immer zu leicht
erschienen, so als stünden dahinter
allzu viele Möglichkeiten zur Verfügung, von denen jede gleich beliebig
ist. Deshalb habe ich mit der Zeit den
Gedanken akzeptiert, dass sich die
Lösung im Drama selbst finden lasse,
vor allem wenn man von der Universalität seines thematischen Umfangs
und von der Logik seiner Auflösung
ausgeht. Die Tetralogie ist eine Inszenierung der Weltgeschichte mit den
Mitteln des mythischen Imaginariums. In seiner Auflösung erschöpfen
sich aber sowohl Mythologie als auch
Geschichte, wobei eine der Folgen
auch die Rehabilitierung der Massenhaftigkeit auf Kosten der Singularität ist: mit der Mythologie entfällt
ein Zeichensystem, in dem eine klei-
RELA
TIONS
nere Gruppe Götter, drei Nymphen,
je zwei Riesen und Zwerge und eine
Handvoll menschlicher Protagonisten große Bereiche der Wirklichkeit
und der geschichtlichen Tendenz repräsentieren können; und mit der
Geschichte, wie sie im Zeichen von
Ring und Speer verlaufen ist, geht eine Welt unter, in der die Totalität in
real abstrakte Areale parzelliert wird
(auf dem Feld der politischen und
wirtschaftlichen Macht) unter der
Kontrolle repräsentativer Einzelner.
Das Erscheinen der Volksmenge im
Finale des letzten Dramas deckt sich
mit besagten Veränderungen: in einer Welt ohne mythologische Wesen
bleiben nur die Menschen übrig, und
in einer Welt ohne Repräsentanz ist
jeder Mensch gleich wichtig.
Aber für eine solche Deutung des Finales der Götterdämmerung ist auch
das Sieglinde-Motiv wesentlich, das,
in der Coda des derart massiven
Werks verwendet, enorm an Gewicht
und Zeichenhaftigkeit gewinnt. Das
Nachdenken über seine Beziehung
zum szenischen Bild hat mich zu einer Überzeugung gebracht, die sich
mit den Einsichten aus den vorangegangenen Kapiteln deckt, nämlich
dass jene „Männer und Frauen“ in
einen weltgeschichtlichen Zustand
eintreten, der sich – von der Position
des späteren Wissens aus – mit eschatologischen Visionen antimodernistischen Schlages verbinden ließe.
***
Das musikalische Motiv vom Ende der Götterdämmerung bringt uns
die dramatische Szene auf dem Walkürenfelsen zurück (WA III, 1), als
Brünnhilde die schwangere Sieglinde ins Exil schickt und sich selbst
daran macht, Wotan aufzuhalten,
der beiden auf den Fersen ist. Sieglindes Situation ist verzweifelt: kurz
nach Siegmunds Ermordung, ohne
Schutz und, wie sie gerade erfahren
hat, schwanger, muss sie ins Unbekannte fliehen, d. h. „nach Osten“
Dossier: Zoran Kravar
in die Umgebung von Fafners Behausung, wo momentan niemand
weilt außer dem Schmied Mime,
ihrem intimsten Feind und späteren
Ausnützer. Brünnhilde, die einzige
Gönnerin Sieglindes, plant ihr Überleben mit immer noch instrumentalem Verstand: dass Sieglinde und
der gerade gezeugte Siegfried überleben, ist nicht nur um ihrer selbst
willen wichtig, sondern auch wegen
Siegfrieds vorgesehener Rolle in den
künftigen weltgeschichtlichen Peripetien. Deshalb kulminiert Brünnhildes Hohelied der Schwangerschaft
auch mit dem martialischen, anorganisch kantigen Siegfried-Motiv, das
mit allem unvereinbar ist, was jemals aus einem Mutterschoß auf die
Welt gekommen ist. Sieglinde aber
bricht auf die Nachricht hin von der
Schwangerschaft – trotz aller aktuellen und absehbaren Schwierigkeiten
– kühn in jenes Motiv aus, das mit
der Übersichtlichkeit seiner harmonischen Bewegung, mit seiner melodischen Weichheit und der Fähigkeit, einfache Gefühle wiederzugeben, die synästhetische Phantasie
unfehlbar in Richtung organisches
Sein und Eros lenkt. Sublimiert erotisch ist auch ihr Text, in dem das
Gefühl der Mutterliebe dominiert,
aber auch die Erinnerung an Siegmund als den geliebten Menschen,
nicht als den Vollstrecker oder des
Vollstreckers Vater.
Kurzum, es scheint als hätte Wagner
damit, dass er das Sieglinde-Motiv
ans Ende der Tetralogie stellte, sagen
wollen, dass für das gemeinsame Leben jener Menschen auf den Ruinen
der alten Ordnung von allergrößter
Wichtigkeit die Liebe sein wird. Aber
das Wort „Liebe“ darf man heute
unreflektiert vielleicht nur noch in
Schlagern und in Fernsehserien aussprechen. Der Begriff hat alle Philosophien der westlichen Kultur durchlaufen, er wurde von den Religionen
vereinnahmt, und mit ihm haben die
Ideologien manipuliert. Auch die
37
künstlerischen Werke der Hochkultur treten fast immer kreativ an ihn
heran und mit Sensibilität für seine
erlangten weltanschaulichen Implikationen, und dass das auch für Wagner gilt, konnte man an einer Reihe
von nacherzählten oder zitierten Szenen und Repliken in den vorangegangenen Kapiteln ersehen. Wie aber
ist jetzt die spezifische Sinngebung
der Liebe in den Schlussklängen der
Götterdämmerung zu verstehen?
Außer der Szene auf dem Felsen steht
hinter Sieglindes SchwangerschaftsMotiv auch die ganze Geschichte
ihrer Begegnung mit Siegmund aus
dem ersten Akt der Walküre. Dort erweist sich in der dritten Szene, wenn
sich das Paar Hundings Kontrolle
entzogen und der Sorge um die Waffen entledigt hat und die Handlung
von amorösen Worten und Gesten
erfüllt ist, die Liebe als große transsubjektive Macht, so wie Loge sie im
Rheingold sieht („In Wasser, Erd’ und
Luft ...“). Sieglinde und Siegmund
empfinden sie in sich und außer sich
(„in heiliger Lust“), und der „Lenz“,
der am Ende des Aktes mit seinem
lyrischen musikalischen Motiv in das
unfrohe Haus Hundings einbricht,
ist das spezifische Urbild des „kosmogonischen Eros“ („... vereint sind
Liebe und Lenz!“). Mit anderen Worten, die beiden Liebenden teilen das
Gefühl des Einsseins mit der Totalität, was gemäß der antimodernistischen Philosophie vom Menschen,
die höchste Stufe des Glücks und
der Erfüllung ist. Als Dramenfiguren
sind sie für dieses Erleben auch durch
ihre Herkunft vorherbestimmt: beide
sind Kinder des späten, wiedergeborenen Wotans, jenes, der sich unter
Erdas Einfluss seines alten Wissens
entledigt und demodernisiert hat.
Deshalb spricht er auch selbst zu Beginn des zweiten Aktes der Walküre,
im Gespräch mit Fricka, als er noch
glaubt, die Liebesverbindung seiner
Nachkommen lasse sich (obwohl ehebrecherisch und inzestuös) vor der
38
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Schutzherrin legaler männlich-weiblicher Beziehungen verteidigen, von
der Liebe als einem Unterliegen einer
universalen Macht:
Was so Schlimmes schuf das Paar,
das liebend einte der Lenz?
Der Minne Zauber
entzückte sie:
wer büßt mir der Minne Macht?
Schließlich gibt auch der Abschluss
von Brünnhildes Monolog vor ihrem Tod, obwohl in einer anderen
Situation gesprochen, dem Schwangerschaftsmotiv den Gedanken von
der Liebe als einer transsubjektiven
Macht ein. Brünnhilde spricht nicht
nur von ihren Gefühlen für den Menschen, den es nicht mehr gibt, sondern ergibt sich „mächtigster Minne“, die es ihr ermöglicht, Siegfrieds
erfolgten Tod und den eigenen, unmittelbar bevorstehenden zu ignorieren. Gerade in ihren letzten Worten, an ihr Pferd Grane gerichtet, mit
dem sie gemeinsam in den Tod geht,
wird das szenisch sichtbare Feuer des
Scheiterhaufens, gleichgesetzt dem
metaphorischen „Feuer“ in der Brust,
zu einer Erscheinungsform jenseits
des Unterschiedes Subjekt – Objekt
(„Lockt dich zu ihm die lachende
Lohe? / Fühl’ meine Brust auch, wie
sie entbrennt; / helles Feuer das Herz
mir erfaßt“).
Das ist die Liebe, an die ich denke,
wenn im Finale der Götterdämmerung das Sieglinde-Motiv erklingt,
von dem wir, sobald es in Konkurrenz
mit den benachbarten Klangsymbolen zu seiner Urform zurückkehrt,
vorausfühlen, dass es das letzte sein
und die Turbulenz zum Stillstand
bringen wird. Den Menschen, die wir
dabei auf der Bühne sehen – mögen
sie vom Besitz der Gibichungen, aus
revolutionären Utopien oder aus den
ersten Reihen im Parterre gekommen sein – vermittelt es die Lehre
von der Liebe jenseits des subjektiven Egoismus und der Subjektivität überhaupt, uns aber sagt es, dass
die thematische Welt der Tetralogie
auch in ihrer futurologischen Projektion ein Medium der antimodernistischen Polemik bleibt, nur dass sie
sich jetzt aus einer kritischen Allegorie in eine eskapistische Gegenwelt
verwandelt.
***
Während ich dabei war, das vorangegangene Kapitel abzuschließen,
und überlegte, wie ich diesen ganzen
Versuch bald einem Ende zuführen
könne, drängte mir eine Zufallsbegegnung mit einer neuen Oper den
Ring des Nibelungen erneut als Nebenthema auf. Besagte Oper enthält
nämlich bestimmte Anspielungen an
den Ring, und im programmatischen
und kritischen Diskurs, der sie begleitet, werden sie ausdrücklich erwähnt. Mir schien, dass sie auch eine Grundlage für das bieten, was ich
hier noch sagen möchte.
Vor zwei, drei Jahren habe ich, Musikzeitschriften verfolgend und entsprechende Internetseiten aufsuchend,
erfahren, dass John Adams in Zusammenarbeit mit Peter Sellars als
Librettisten eine Oper unter dem
Titel Doctor Atomic geschrieben hat.
Ich erfuhr ebenfalls, dass die Oper
die Vorbereitungen für den ersten
Versuch mit der Atombombe in Los
Alamos im Juni 1945 zum Thema hat
und dass die Hauptfigur der Physiker
Robert Oppenheimer ist.
Bis vor kurzem schlummerte Doctor
Atomic in meiner Erinnerung als reine Information und Gedächtnisnotiz
mit der Suggestion: eventuell besorgen, wenn die CD oder DVD herauskommt. Aber Ende 2008, nachdem
die Oper im New Yorker Metropolitan aufgeführt worden war (die Uraufführung war 2005 in San Francisco), nahm ihre Präsenz in den Medien sprunghaft zu: in der im Internet
zugänglichen Publizistik reihten sich
die Rezensionen, eine DVD mit der
Aufnahme der ersten europäischen
Aufführung kam heraus (De Neder-
TIONS
landse opera, Amsterdam 2007), und
in der Dezembernummer der Zeitschrift Gramophone wurden zwei Besprechungen veröffentlicht (die eine
zur Inszenierung an der Metropolitan, die zweite zur DVD). Bewogen
durch den Medienlärm und angeregt
auch durch die nicht geschäftsmäßig
beliebigen Rezensionen, bestellte ich
die DVD. Mich interessierte sehr, ob
Adams auch die Sätze von der Atomspaltung oder von der Schädlichkeit der Gammastrahlen mit derselben provokativen Unmittelbarkeit
behandelt (ohne erkennbare Intention, sowohl die Sätze als auch das
Opernmedium zu verfremden), mit
der er gut zwanzig Jahre zuvor die
politische Prosa seiner ersten Oper
(Nixon in China) vertont hat. Ich
fragte mich auch, wie sich der Bariton Gerald Finley in der Hauptrolle zurechtfinden würde, den ich auf
mehreren DVDs gesehen hatte, unter anderem auch als Figaro in einer
sängerisch soliden, wenngleich von
der Regie her unspektakulären Inszenierung der Mozartschen Komödie
(Glyndebourne 1994). Verständlicherweise aber erweckte die größte
Neugierde die Erwähnung von Wagners Ring in mehreren Rezensionen
der neuen Oper.
Als die DVD angekommen war, bestätigte sich, dass Finley ein guter
Sänger und Schauspieler ist und dass
im Wirkungskreis der Adams’schen
Auffassung von Opernkunst Worte wie „Plutonium [...] zerstört die
menschlichen Nieren / und verursacht tödlichen Knochenkrebs“ tatsächlich nicht weniger geeignet sind
als ein „Pace, pace, mio dolce tesoro“
für Mozart, worüber man natürlich
auf unterschiedliche Weise und mit
unterschiedlichen Wertmaßstäben als
Ausgangspunkt urteilen kann. Aber
in diesem Kontext ist Doctor Atomic
ohnehin nebensächlich, und die eigentliche Frage ist, wo in ihm oder
um ihn herum Wagner ist und welches Licht seine Wagnerischen An-
RELA
TIONS
spielungen auf das Thema werfen,
mit dem ich mich in den vorhergehenden Kapiteln beschäftigt habe.
Wagner ist in der Diskussion um
Adams-Sellars Oper mit der Götterdämmerung vertreten. So können wir
lesen, Doctor Atomic sei die „Götterdämmerung unserer Zeit“, die „amerikanische Götterdämmerung“ u. ä.
Den Vergleich hat, so scheint es, als
erster Sellars in einem Gespräch gezogen, das er anlässlich der Uraufführung mit Alex Ross von der Zeitschrift The New Yorker geführt hat
und wo er sagt (Ross 2005), dass seine
und Adams’ Oper die „Götterdämmerung unserer Zeit“ sei, wobei er das
katastrophische Finale beider Werke im Sinn habe. Tatsächlich ist der
Vergleich nur bedingt annehmbar,
denn im Finale der Götterdämmerung
bleibt die Welt nach einer Reihe von
Katastrophen frei vom fluchbeladenen Gold, überwölbt vom ruhigen
Sieglinde-Motiv und vielleicht für
menschliches Leben und Glück geeignet, während Doctor Atomic mit
einer orchestral-elektronisch imaginierten Explosion und der Stimme
einer Japanerin aus dem Off endet,
die in ihrer Sprache um ein wenig
Wasser bittet und fragt, wo ihr Mann
sei. Die moderne Variante des Alberich-Fluchs hebt sich also nicht von
der Welt, sondern verschiebt sich
vielmehr vom Status der Latenz (Los
Alamos) hin zur tatsächlichen Katastrophe (Hiroshima, Nagasaki) und zu
einer unabsehbaren Drohung.
Aber an Wagner würde Doctor Atomic
auch ohne die erwähnten Kommentare erinnern. Erstens werden in dieser
Oper die Figuren in Hinblick auf ihre
unterschiedliche Einstellung zu den
Waffen charakterisiert, mit denen
die Welt sowohl erobert als auch vernichtet werden kann. Zudem ähnelt
Adams-Sellars Vision der historischen
Realität, bedroht durch militärische
Logik und eine aller ethischen Rücksichten entblößten Wissenschaft, in
Stärke und Art des kritischen Poten-
Dossier: Zoran Kravar
tials der Welt des Rings des Nibelungen, solange sie von Speer und Ring
beherrscht wird, nur dass Los Alamos ein pars pro toto der modernen
Geschichte und Wotans Reich ihre
Allegorie ist. Oder wie es Sellars formuliert, die Götterdämmerung ist eine „Metapher“, während im Libretto
von der Atombombe „alles Realität“
ist. Letztlich enthält auch Doctor Atomic Textteile, in denen das Bild eines
vorzeitlichen Zustandes wiederbelebt wird. In der Oper tritt nämlich
eine Figur auf, in deren Repliken sich
eine archaische Gegenwelt auftut, die
allerdings nicht so phantasiereich ist
wie Wagners Rheingrund, Schulers
„offenes Leben“ oder Evolas „Traditionszivilisationen“, sondern durch ethnologisches Wissen vermittelt wird.
Oppenheimers Gattin Kitty, die auf
die Nachrichten von den Versuchen
ihres Mannes besorgt, aber indirekt
auch in lyrischen Stimmungen reagiert (ihre Repliken sind tatsächlich
Lyrik, d. h. Zitate aus pazifistischen
Liedern Muriel Rukeysers), beschäftigt als Dienstmädchen Pasqualita,
die Angehörige eines lokalen Indianderstammes. Pasqualita tritt im
zweiten der beiden Akte auf, und
obwohl sie in mehreren Anläufen das
Wort nimmt, bleibt sie außerhalb der
Kommunikation mit den anderen Figuren. Ihr Schlüsseltext ist nämlich
ein folkloristisches Schlaflied, mit
dem sie das Kind der Oppenheimers
einlullt, ein spezifisches rhetorisches
ready-made, das nicht aus dialogischer
Interaktion entsteht, sondern schon
von früher her existiert. Natürlich ist
das Schlaflied, wenn man seine englische Sprachform außer Acht lässt, authentisch, es ist einer ethnologischen
Sammlung entnommen, die unter den
Text Credits am Anfang des Librettos
angeführt wird. Geteilt ist es in vier
durch die Auftritte anderer Figuren
getrennte Repliken, aber es platzt immer aus den Nähten, denn es besteht
auch aus vier fast identischen Strophen. Die erste von ihnen lautet:
39
Im Norden blüht
eine Wolkenblume,
Und da, der Blitz leuchtet,
Und da, der Donner rollt,
Und da, der Regen fällt!
A-a-aha, a-a-aha, mein Kleines.
In den drei folgenden Strophen ist
alles gleich, nur dass in der adverbialen Kennzeichnung im ersten Vers
die Himmelsrichtungen wechseln:
auf Norden folgt Westen, Süden und
Osten. Nach der Idee des Regisseurs
der auf DVD aufgenommenen Aufführung (Sellars) erscheinen um das
Kind beim erneuten Aussprechen des
Schlafliedes noch drei oder vier Indianerinnen, und ihre geometrische
Verteilung und ihre Gebetsgesten haben erkennbar rituellen Charakter.
Womit könnte das Schlaflied antimodernistisch eingestellte Hörer
anziehen? Ihnen könnten als erstes
die heidnisch-religiösen Strukturelemente gefallen, erkennbar im Anrufen der Naturkräfte (Blitz, Donner,
Regen) durch rituelles Wiederholen
der entsprechenden Worte, und sicherlich würde ihnen auch die „Wolkenblume“ (cloud-flower) ins Auge
stechen, die – was immer sie im Originaltext bedeuten mag – wie ein
Mythologem und ein Beweis wirkt,
dass Pasqualinas Kultur tatsächlich
vorzeitlich ist, d. h. dass sie die Wirklichkeit mit der Methode mythischen
Denkens deutet. Schließlich würde ihnen auch nicht entgehen, dass
Pasqualita ihre Welt in ihrer Totalität erlebt und umfasst: wenn sie sich
mit der vierten Strophe nach Osten
wendet, haben wir den Eindruck, als
hätte sie sie eingekreist und komplettiert, als wäre sie mit der Gesamtheit
des Bestehenden in Kommunikation
getreten.
Der Umstand aber, dass sie das mit einer uralten rituellen Formel erreicht
hat, ohne Anlehnung an rationale
Erkenntnis, steht in starkem und natürlich gesuchtem Gegensatz zu der
Art und Weise, in der die moderne
40
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Wissenschaft an die Welt herantritt,
insbesondere jene, wie sie Dr. Atomic
mit seinen Forschungen und Versuchen praktiziert.
***
Die Beschwörung der Vorzeit in
Adams-Sellars Oper könnte zugleich
ein Vergleich sein, aber auch ein Kontrast zu ihrer Präsenz und Beschaffenheit im Ring des Nibelungen: Vergleich insofern, als sich noch einmal
erweist, dass der antimodernistische
Kritizismus – ebenso wie im Ring
oder in der Geburt der Tragödie oder
in der Revolte gegen die moderne Welt
– gesetzmäßig durch eine imaginative Regression in vorgeschichtliche
Welten unterstützt wird; Kontrast insofern, als Doctor Atomic bezeugt, wie
sehr sich der Status der vorzeitlichen
Phantasmen in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts geändert hat, in
einem gesellschaftlichen Ambiente,
wo demokratische Spielregeln außer
Frage stehen. Pasqualitas Worte, ihre Folklore hören sich zwar wie eine
spezifische Mahnung an und werden
als Modelle des archaisch Schönen erlebt, aber im Unterschied zu den regressiven Motiven in der originalen
antimodernistischen Literatur besitzen sie keine korrektive Energie.
Demnach sind die Inhalte, die Pasqualita in die Oper einbringt, viel
mehr als ein individueller Einfall.
Denn die amerikanischen Kulturprodukte ab den siebziger Jahren
wimmeln von Evokationen vormoderner Werte, die allerdings Gegenstand ethnologischer Nostalgie bleiben oder zum Anlass genommen
werden, um politische Korrektheit zu
demonstrieren. Als magistrales Beispiel fallen mir die Partituren Philip
Glass’ für Filme mit afrikanischen
und indianischen Themen oder Assoziationen ein (Anima mundi, Koyaanisqatsi), aber die Erfahrung besagt,
dass Interesse an einer zivilisierten,
gezähmten und sogar in die ungestörte Abwicklung des modernen Le-
bens eingeschlossenen Vorzeit nicht
nur von der künstlerischen Sphäre
gezeigt wird, der Glass und Adams
angehören, sondern auch von der
amerikanischen Pop-Kultur, insbesondere der Filmindustrie. In den
letzten zwanzig Jahren habe ich mehrere amerikanische Filme gesehen, in
denen rote, gelbe oder dunkelhäutige
Episodendarsteller, ausgestattet mit
religiöser, weltanschaulicher oder okkult-medizinischer Urweisheit, dem
Menschen vom städtischen Asphalt
auf seinem Weg zu persönlichem
oder familiärem Glück im unberührten kleinbürgerlichen Alltag beistehen. Ein extremer Schritt in diese
Richtung im Plädoyer für eine friedliche Koexistenz von Vorzeit und
Moderne scheint mir Lucas’ Mehrteiler Krieg der Sterne zu sein, wo die
phantastischen Jedi-Ritter – für sich
genommen typische vorzeitliche Wesen, eingebettet in die als force gedeutete Totalität des Weltalls – ihre
Hauptaufgabe in der Verteidigung
der demokratisch-republikanischen
Ordnung sehen, derselben, die der
einstige Antimodernismus als „Herrschaft der Minderwertigen“ denunziert hat.
Alles das war natürlich anders in der
Zeit zwischen Wagner und Klages
oder Evola. Wie man hier bereits sehen konnte, haben die Motive der
Vorzeit selbst in literarischer Applikation die Notwendigkeit erzwungen,
die Repräsentationen der modernen
Welt konsequent schwarz zu färben
und die lineare Zeit der Moderne
bzw. der Geschichte in eine kreisförmige umzugestalten. Die überlebenden Bewohner der Vorzeit haben sich
nicht, wie die filmischen Jedis, der
neuen Ordnung angepasst, sondern
haben sie untergraben, wie Loge, der
schon am Ende von Rheingold den
Untergang der Götter plant:
zur leckenden Lohe mich wieder
zu wandeln, [...]
sie aufzuzehren, [...]
und wären es göttlichste Götter!
TIONS
Außerdem äußerte sich die negative
Energie des originalen Antimodernismus auch in seiner Intensität, in
seiner Fähigkeit, Philosophie zu werden, womit seine Sicht der Geschichte den Anschein einer theoretischen
Erkenntnis gewann, oder sich in Bereiche der Ideologie auszubreiten, wo
seine Losungen zu einem virtuellen
politischen Programm wurden. Seine Ideologisierung stützte sich gewöhnlich auf Doktrinen rechts vom
bürgerlichen Zentrum, insbesondere
auf den Nationalismus („meine ethnische Gruppe hat als einzige das vorzeitliche Ethos bewahrt, während sich
die anderen irreparabel modernisiert
haben“), auf verschiedene elitistische
Konzepte („meine Kaste ist [...]“) und
auf den Rassismus („mein Ethnos widersetzt sich erfolgreich der Modernisierung dank seiner biologischen
oder biopsychischen Übermacht“).
Konsequenterweise war die thematische Welt des ideologisierten Antimodernismus von tiefen Abgrenzungen
und potentiellen Fronten durchzogen, wobei sich seine ursprüngliche
Antithetik in einen Komplex von
Antipathien und Feindschaften verwandelte. Jenseits der Freund-FeindGrenze blieben gewöhnlich:
• historische Figuren, die den Rationalismus und den Glauben an die
Erkennbarkeit der Welt durch die
menschliche Vernunft affirmiert
oder an der Demythologisierung
der Religion gearbeitet haben; die
Vorsokratiker, Sokrates, Luther,
Descartes, Hegel, Marx, moderne
Naturwissenschaftler;
• Gruppen, die angeblich die Vorzeit zerstört oder ihr Vergessen
beschleunigt haben, sei es durch
monotheistische Religiosität (Judaisten, optional auch die Christen, vor allem die Protestanten),
anthropozentrische Lehren (Humanisten, Aufklärer), Teilnahme
an der kapitalistischen Arbeitsteilung (Kapitalisten, Arbeiterschaft),
Rationalisierung der politischen
RELA
TIONS
Sphäre (Demokraten, Liberale, Sozialisten) oder Annahme denaturierter Lebensstile (Großstädter);
• Völker, die gemäß stereotypen Vorurteilen, die Aufklärung begrüßt
und/oder in der liberal-kapitalistischen Epoche starke Positionen bezogen haben, vor allem die
Juden, aber auch die Franzosen
und Engländer (aus der mitteleuropäischen Perspektive) und die
Amerikaner (aus der allgemeineuropäischen Perspektive).
Auch bei Wagner hatte der theatralische Antimodernismus sein ideologisches Komplement, das sich mit
der Zeit immer weiter nach rechts
vom Zentrum verschob und etliche
seiner gefährlichen Beimischungen
bewahrte. Die sichtbarste ist sicher
die antisemitische, bezeugt in einer
Reihe seiner schriftlichen Äußerungen, die sich von dem Artikel Das Judenthum in der Musik (1850) bis hin
zum späten Essay Religion und Kunst
(1880) spannen. Sie wurde, mit Blick
auf das musikalisch-szenische Opus,
von Adorno stark hervorgehoben
(1974, 14-23) und wird in den letzten dreißig Jahren detailliert und
unter Aufarbeitung immer umfangreicheren Materials analysiert, das
nicht selten auch als Ausgangspunkt
für die Deutung der Musikdramen
dient, was allerdings auch allzu freie
Interpretationen zeitigen kann (zum
Beispiel Rose 1992), die zu polemischen Antworten herausfordern (vgl.
Magee 2000, 373-377).
In verschiedenen Lebensabschnitten, vor allem nach der Gründung
des Deutschen Kaiserreichs, hat sich
Wagner auch als überzeugter, mitunter auch allzu eifriger Patriot zu erkennen gegeben, wobei er nationalistischen Kreisen nahe stand, die, wie
Stefan Breuer (2001, 86) sagt, „dem
deutschen Volksgeist eine universale Anlage bescheinigten und daraus
Ansprüche auf Superiorität und Hegemonie ableiteten“, wenn auch nur
Dossier: Zoran Kravar
die kulturelle. Was hingegen den Rassismus betrifft, so war es für Wagner
anscheinend selbstverständlich, dass
die menschlichen Rassen „ungleich“
sind, im Sinne der Gobineau’schen
inégalité, und in seinen – nicht-fiktionalen und dramatischen – Texten
finden sich zahlreiche Spuren eines
unreflektierten Rassismus: ein ungünstiges Urteil über historische Personen, mitunter gestützt durch die
Erwähnung ihrer nationalen oder
regionalen Zugehörigkeit, und die
Beleidigungen, mit denen die Konfliktpersonen im Drama einander bedenken, können derart verfasst sein,
dass sie nicht nur auf die Person zielen, sondern auch auf ihren Ethnos.
In Wirklichkeit war Wagners Verhältnis zum Rassismus als Theorie,
wofür seine eingeschränkte Rezeption der Gobineau’schen Ideen ein
Beispiel ist, im Großen und Ganzen
negativ, vorbestimmt von der Idee,
dass die menschliche Gattung letzten
Endes doch eine ganzheitliche Gemeinschaft bildet (vgl. Breuer 2001,
51; Borchmeyer 2002, 331). Aber
dieser Standpunkt hat auch seine
Kehrseite, die sich zeigt, wenn wir
uns fragen, worauf Wagner seine Vision einer trotz rassischer „Ungleichheit“ vereinten Menschheit gründete. Borchmeyer (2002, 332) sagt darüber: „Dem von Gobineau verabsolutierten Rassenunterschied steht für
Wagner also die durch Christentum
garantierte Einheit der Menschheit
gegenüber.“ Der Unterschied ist augenfällig, gilt aber nur halb, denn
auch die korrigierte Idee und ihre
Korrektur gehören zum selben Segment des ideologischen Spektrums:
der extrem rechte rassistische Elitismus wird durch das gleicherweise
undemokratische Prinzip des christlichen Egalitarismus ersetzt. Es ist
auch nicht besonders tröstlich, dass
sich Wagners späte Begeisterung für
das Christentum als Begleiterscheinung seiner Arbeit am Parsifal begreifen lässt, denn das war mehr als
41
eine Kunstreligion und bezog sich
durchaus auf eine historische Realität jenseits des ästhetischen Anscheins. Auch ich bin gerührt, wenn
Siegfried Jerusalem in der Rolle des
Parsifal das tief durchscheinende Gefäß in die Höhe hebt und es mit seinem roten Schein die graue Architektur der Gralsburg erleuchtet, wie sie
sich Wolfgang Wagner vorgestellt hat
(Bayreuth 1981). Aber zum ästhetischen Eindruck trägt auch die Sicherheit bei, dass ich mich, wenn ich die
Geräte ausschalte, in der Realität wiederfinde, in der nur eine vernachlässigbare Anzahl von Mitbürgern auf
Wagners Gedanken kommen könnte, Geschehnisse wie die im dritten
Akt des Parsifal als Modell für eine
„Regeneration der Menschheit“ zu
nehmen.
***
Wagners ideologisches Engagement
lässt naturgemäß die Frage aufkommen, ob irgend etwas davon auch in
die Musikdramen Eingang gefunden
hat, vor allem in den Ring des Nibelungen. In der kritischen Literatur ist
das nicht mehr strittig, womit sich
auch meine Erfahrungen einigermaßen decken. Zum Beispiel fühle ich
mich immer unwohl, wenn in der ersten Szene in Rheingold der Spott der
Rheintöchter Alberich trifft („Pfui!
Der Garstige!“), denn ich empfinde
ihn als rassistisch: er beruht auf der
Überzeugung, dass Rassenmerkmale
nicht relativ sind, d. h. dass die Flussmädchen Wesen sind, die objektiv
gelungener sind als die Höhlenzwerge, und dass sie das Recht haben, das
auch zu sagen. Noch schwerer fällt es
mir, die Hassergüsse Siegfrieds gegen
Mime im ersten Akt von Siegfried
mit anzuhören. Mime ist zwar ist eine getarnte Negativfigur, aber solange er den besorgten Fürsorger gibt,
wäre Siegfried für uns annehmbarer
als Naivling. Es wäre sympathischer
und würde auch der Entwicklung der
Beziehung zwischen Sigurd und Regina in der skandinavischen Vorlage
42
RELA
Dossier: Zoran Kravar
entsprechen, wenn er seine Abwehrhaltung einnähme, nachdem ihm der
Waldvogel in wortloser Sprache des
Zwergen wahre Absichten verraten
hat (SI II, 3). Der Apriorismus seines Hasses, aber auch Beispiele seiner Verbalisierung deuten auf einen
rassistischen Hintergrund hin.
Andererseits führt die längere Beschäftigung mit dem Ring zu der
Erkenntnis, dass Wagner als dramatischer Autor weitaus dialektischer
und weniger vorhersehbar ist denn
als Ideologe. In den Konflikten der
scheinbar positiven und negativen Figuren des Rings des Nibelungen wissen
wir nie, wessen Replik auf der internen Stufenleiter der ethischen Werte höher kotieren wird, wofür Alberichs Auftritte ein gutes Beispiel sind.
In den radikalen ideologiekritischen
Abrechnungen mit Wagner wurde
es üblich, diese Figur als antisemitische Karikatur zu deuten. Aber wer
aufmerksamer zuhört, wird bemerken, dass sie überhaupt nicht karikativ ist. Im ersten Wortgefecht mit
Wotan (RZ 3), der ihn gefangen genommen, ihm die Tagesförderung
an Gold und den Tarnhelm geraubt
hat und sich jetzt anschickt, ihm
auch den Ring abzunehmen, übertrumpft er mit seiner Schlüsselreplik
nicht nur Wotans Quasi-Argumente,
sondern trifft auch hervorragend das
ethische Klima der Tetralogie, das
eine Scheidung der Figuren in Unschuldige und Schuldige ausschließt.
Alle sind durch ein unterschiedliches
Ausmaß und eine unterschiedliche
Art der Schuld belastet, und Alberich bringt in scharfsinniger und zugleich schmerzlicher Antithese, mit
der er auf seine erotische Abstinenz
anspielt, zur Kenntnis, dass seine
Schuld nicht die größte ist:
Frevelte ich,
so frevelt’ ich frei an mir:
doch an allem, was war,
ist und wird,
frevelst, Ewiger, du,
entreißest du frech mir den Ring!
Auch in der späteren Begegnung vor
Fafners Höhle (SI II, 1) gelingt es Alberich, Wotans Autorität zu schmälern („Wie stolz du dräust in trotziger Stärke, / und wie dir’s im Busen
doch bangt!“), und die Aura finsterer Größe behält er auch bei seinem
letzten szenischen Auftreten bei, d. h.
im Gespräch mit Hagen (GD II, 1).
Trotz der Beleidigungen durch die
Rheintöchter ist Alberich eine ernstliche Versuchung für einen empathischen Zuhörer, eine starke und unterschwellig anziehende Figur.
Nicht weniger allerdings als die Sonderung des Akzeptablen vom Abstoßenden bei Wagner, im Bemühen
zu beweisen, dass das erste über das
zweite obsiegt, trägt zu seiner ausgeglichenen Rezeption die Qualität
des sozialen Kontextes bei, der die
Inszenierungen seiner Werke umgibt. Dabei gilt die Regel: je demokratischer und liberaler der Kontext,
desto leichter können wir dem Ring
des Nibelungen – oder Parsifal, Lohengrin usw. – Inhalte und Aspekte
abgewinnen, die einer ästhetischen
Reaktion wert sind. Adams-Sellars
Pasqualita und ihr Schlaflied sind
für mich ein Lehrstück über die Reduzierbarkeit ansonsten starker antimodernistischer Motive auf ungefährliche ästhetische Attraktionen
unter Bedingungen, in denen der
demokratische sensus communis auch
für das auktoriale Bewusstsein gilt.
Aber einige Beispiele aus der Literatur des 20. Jahrhunderts und ihre Rezeption zeigen, dass eine vom
Vorherrschen moderner politischer
Vernunft geprägte Kultur auch mit
Werken zurecht kommt, die von einem Bewusstsein erdacht wurden,
das sich implizit oder explizit in Gegensatz zu den Normen bürgerlicher
Normalität stellt.
***
Der Wechsel der literaturwissenschaftlichen Methodologien zu Ende
des 20. Jahrhundert hat eine Situati-
TIONS
on geschaffen, in der man von Leuten
meiner Branche erwartet, dass sie sich
als Vortragende und Autoren von
Fachtexten zeitweilig auch mit populärer Literatur beschäftigen. Auch
selbst diesem Trend folgend, habe ich
zu einem meiner akademischen Themen J. R. R. Tolkien gemacht, den
ich auch früher nicht ohne Interesse
gelesen hatte. Ähnlich wie bei Wagner haben mich auch bei Tolkien
am meisten die antimodernistischen
Motive angezogen, die es bei ihm im
Überfluss gibt, obwohl sie im Großen und Ganzen in den Grenzen des
fiktionalen Opus bleiben und keine
bösartigen Formen annehmen. Von
den augenfälligsten habe ich in einem
schriftlichen Beitrag (Kravar 2007)
besonders die regressive Konzeption
des erfolgreichen Herrschers (Beispiel: Aragorn, Die Rückkehr des Königs) und die Bestrafung des anthropozentrischen Individualismus (Beispiel: Túrin, Die Kinder Húrins) herausgehoben. Dennoch bin ich beim
selben Anlass (ibid., 177) zu dem
Schluss gekommen, dass bei Tolkien, anders als bei den eingeschworenen Antimodernisten, besagte und
ähnliche Motive „in der Quarantäne
durch das Vorzeichen reiner Phantastik und ideologischer Harmlosigkeit
gekennzeichneter literarischer Gattungen bleiben“. Diese Wertung ist
nicht absolut, sondern kontextabhängig: sie gilt für die Rezeption von
Tolkiens Erzählungen in einem sozialen Umfeld, in dem der demokratische Ausbau des politischen Willens
nicht in Frage steht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine neue Rechte,
wenn sie von kataklysmischen Veränderungen der politischen Landschaft
Europas an die Oberfläche gespült
würde, ihre Programme mit sentimentalen Reminiszenzen an Tolkiens
regressive Phantastereien schreiben
würde, so wie das schon die stillen
Antimodernisten von heute tun, die,
obwohl deklarativ noch immer den
Prinzipien aktueller politischer Kor-
RELA
TIONS
rektheit ergeben, eigentlich von den
Visionen einer mystifizierten, „holistischen“ Ökologie inspiriert sind
(vgl. Curry 1997).
Vom Vergleich zum eigentlichen Thema übergehend, würde ich sagen, dass
das demokratische Gesellschaftsklima auch die Rezeption des Rings des
Nibelungen erleichtert. Es verringert
nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass
sich aus den Szenen auf der Bühne
ideologische Missbildungen entwickeln. Rückwirkend betrachtet wäre Wagner vielleicht auch nicht in
solchem Maße „ein schwieriges Erbe“
(Grüner 2008), wenn der Staat, in
dem sich Bayreuth befindet, seit jeher so demokratisch gewesen wäre,
wie es heute der Fall ist. Zwar gelang
es auch dem konservativen Liberalismus der Bismarckära, den Ideologen Wagner und den Missbrauch
seiner Musikdramen einigermaßen
zu marginalisieren. Aber schon früh
begannen sich in Bayreuth die Völkischen und ähnliche Brüderschaften
zu scharen, die bereit waren, die szenische Illusion oder ihre eigenwilligen Interpretationen als Modell für
die Karnevalisierung des politischen
Lebens zu nehmen. Und alles was
nach Bismarck folgte (Wilhelminische Zeit, Erster Weltkrieg, die unsichere Weimarer Republik, Nazismus), beschleunigte das Wuchern
der potentiell bösartigen Seite des
Wagnerschen Phänomens.
Von 1945 an bis heute ist der Stand
der Dinge, wie wir wissen, ein anderer. Das moderne deutsche Theater
ist der Ausdruck einer ernsthaft und
aufrichtig demokratisierten Kultur,
und das zeigt sich auch in den neuen Inszenierungen des Rings des Nibelungen, die die Aufgabe einer Nos-
Dossier: Zoran Kravar
trifizierung auf sich genommen haben. Ich bin kein bedingungsloser
Verfechter des Regietheaters und seines Interventionismus, aber ich glaube, dass Inszenierungen wie die von
Friedrich, Chéreau und Kupfer zur
Erleichterung des „schweren Erbes“
beigetragen haben, unter anderem
auch durch Unterstreichen dessen,
was in ihm ethisch und ideologisch
verdächtig ist. Es stört auch nicht,
dass darin manchmal übertrieben
wird, wofür ich als Beispiel die neurotische Hast erwähnen würde, mit
der Kupfers Wotan (John Tomlinson) zwischen Rampe und Bühnenhintergrund hin und her wechselt
(Rheingold), oder Chéreaus Interpretation des Gesprächs zwischen
Mime und Wotan dem Wanderer
(SI I, 2), wo Wotan (Donald MacIntyre) drastisch den Vokativ Zwerg
betont, obwohl wir aus dem Kontext ersehen, dass das Wort nicht
als rassistische Beleidigung gedacht
ist, sondern wertmäßig neutral ist
(Mime bezeichnet sich auch selbst
als „Zwerg“). Aber wie auch immer,
Wagner, der weltanschauliche Antimodernist, hat es verdient, dass die
heutige Zeit, die Freiheiten der ihm
angemessenen theatralischen Expression ausnutzend, seine Musikdramen
mit mehr oder weniger Rachelust immer wieder revidiert.
Literaturhinweise
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Wagner (1952), Frankfurt am Main.
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Aus dem Kroatischen von
Klaus Detlef Olof
RELA
44
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
TIONS
RELA
TIONS
45
Eine Sendung aus der Gegenwelt
[2005]
Zoran Kravar
A
n einem späten Winternachmittag stieg ich in den Vorstadtbus,
um zum Busbahnhof zu fahren und
auf der dortigen Post ein Paket zu
beheben. Es war das eines von denen, die nur persönlich und gegen
Unterschrift ausgehändigt werden,
und als an jenem Tag die Post ausgetragen wurde, war ich nicht zu
Hause gewesen. Nachdem ich am
frühen Nachmittag zu einem nahe
gelegenen Laden gegangen war, war
ich gute fünf Minuten später wieder
zurück, als der Postbote gerade weitergefahren war. Noch war aus dem
Nachbarstraße das Knattern seines
Mopeds zu hören, als ich den Zettel aus dem Kasten holte und in der
Hand drehte.
Auf dem Zettel stand, dass die nicht
ausgehändigte Sendung nach 18 Uhr
auf dem und dem Postamt zu beheben sei und aus „GB“ komme. In jenen Tagen erwartete ich aus GB nur
einen über das Internet bestellten
Tonträger, und sofort fiel mir ein, was
der Briefträger gebracht und wieder
mitgenommen hatte, worauf mich
eine Stimmung erfasste, die von Zufriedenheit und zugleich Ungeduld
gekennzeichnet war. In den nächsten Stunden nahm der Grad der Zufriedenheit nicht ab, dafür wuchs die
Spannung, und als ich endlich im Bus
saß, war ich ungeduldig wie selten
einmal. Denn die Sendung, deretwegen ich unterwegs war, war nicht
wie andere. Auf sie wartete ich schon
mehr als ein Vierteljahrhundert.
***
Im Studienjahr 1979/80 weilte ich
als Stipendiat in der badischen Universitätsstadt Konstanz. Ich wohnte in einer Pension in einer kleineren Vorstadtgasse, ungewöhnlich auf
Grund ihres hufeisenförmigen Verlaufs. Sie zweigt von einer breiten
Hauptverkehrsader ab und steigt den
Berghang empor, um dann in einer
Kehre zur Hauptstraße zurückzuführen. Eines Tages im Oktober kehrte
ich am frühen Nachmittag in die
Pension zurück, stieg hinauf in mein
Zimmer und schaltete das Radio ein.
Die Musik, die mir entgegen klang,
zog mich rasch in ihren Bann, und
bewog mich, alle Tätigkeiten ruhen
zu lassen, die einer sonst verrichtet,
wenn er nach Hause zurückkehrt
und das Radio einschaltet, nur damit
es spielt. Ich setzte mich gegenüber
dem Fenster, unter dem die Kommode mit dem Apparat stand, ließ
meinen Blick auf der Krone der Buche ruhen, die im Garten der Pension wuchs, und begann zuzuhören,
wie jemand zuhört, wenn er nichts
anderes tut. Anhand zahlreicher musikmorphologischer Hinweise war zu
erahnen, dass ich in den ersten Satz
eines größeren sinfonischen Werkes
geraten war und dass da noch eine
Menge zu hören sein würde.
Die musikalischen Themen und Strukturen, die in den folgenden vierzig
Minuten aus dem Radioapparat kamen, wirkten vertraut und apart zugleich. Die Komposition war tonal,
und mit der Zeit bestätigte sich ihre
sinfonische Form mit der üblichen
Satzanordnung. Anhand der Abhängigkeit des formalen Bauplans, des
Themenmaterials und der harmonischen Syntax von der österreichischdeutschen Musik zwischen den sechziger und achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts, die wir gewöhnlich als
spätromantisch bezeichnen, war anzunehmen, dass der Komponist aus
dem deutschen Sprachraum stammte. Das Aparte hingegen lag darin,
dass die bekannten Elemente in Kombinationen vorkamen, die verschieden klangen, so dass niemand sie mit
den Tonsprachen verwechselt hätte,
deren Elemente sie sich bedienten.
Außerdem lag im Bau der Motive
und in der Natur ihrer Verknüpfungen ein gewisse Sophistik und
Sprödigkeit, an der ihre Abhängigkeit, ja Zweitrangigkeit erkennbar
war. Natürlich kam mir der Gedanke, dass zwischen dieser Sinfonie und
ihren Vorbildern ein gewisser Zeitraum und auch eine Art Entwicklungsweg liegen müsse. Ohne viel
nachzudenken ordnete ich das Werk
in die Zeit nach 1900 ein, was sich
später als zutreffend herausstellen
sollte.
46
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Dennoch war es ein schönes Musikerlebnis. Die Musik bewirkte nicht
nur Neugierde, sondern sie wirkte
auch, indem sie einen flimmernden,
aber ungetrübten Sinnesreiz ausübte, zu dem ihr überwiegend in Dur
gehaltener Klang und ihre undramatische Entwicklung beitrugen, der
es trotz des Wechsels der Motive
und der durchgeführten Paraphrasierungen, an Zielstrebigkeit, Abgestuftheit und agonalen Situationen
mangelte.
Auch die Klangfarben, klar und deutlich abgesetzt, reihten sich ohne Aufeinanderprall aneinander: Verschnörkelte Figuren der Geigen, kurze Soli
der Holzbläser und zeitweilige Choräle der Blechinstrumente wechselten oft und gefällig, aber nicht in
Antithesen, sondern eher in einem
flachen Oszillieren, dass sich Zeit
nimmt, ohne sie zu dramatisieren.
Die Buche im Hof, deren Krone mir
die ganze Zeit über das Blickfeld füllte, befand sich in diesen Tagen in der
ersten Phase der Verfärbung, und so
trug sie grüne und rote und gelbe
Blätter, und die alle zitterten in einer leichten Brise, wobei von Zeit zu
Zeit das eine oder andere gelbe Blatt
abfiel. Dieses Kolorit und seine relative Dynamik (die Lebendigkeit von
Laub und Zweigen kontrastierend
zur Ruhe des großen Stammes) traten allmählich in Korrelation zu den
Höreindrücken und boten sich an als
willkommenes Diagramm der Musik eines unbekannten Komponisten
und ihrer ungewöhnlichen Kinetik,
die unermüdlich wirksam war, wenngleich sie von keinerlei Gedanken an
Richtung und Ziel, an Peripetie und
Auflösung beschwert war.
Aber allmählich trat die Sinfonie in
ihren letzten Satz ein, und der in seine
Coda. Nach einer kurzen Pause, erfüllt von Erwartung und Verzicht auf
Herumraten, meldete sich der Sprecher: wir hörten, sagte er, die Zweite
Sinfonie von August Halm.
***
Seit meinem Aufenthalt in Konstanz
sind mehrere Jahrzehnte vergangen,
so dass ich heute nicht mit Sicherheit
behaupten kann, ob ich von August
Otto Halm (1869-1929) zum ersten Mal in der Absage seiner Sinfonie gehört habe, oder ob ich schon
früher auf seine musikwissenschaftlichen Werke aufmerksam geworden
bin, durch die er ebenso bekannt ist
wie er als Komponist vernachlässigt wird. Auf seine Theorien wurde
meine Aufmerksamkeit durch die
Werke Die Idee der absoluten Musik
von Karl Dahlhaus und Savremena
estetika muzike (‚Moderne Musikästhetik‘) von Ivan Focht gelenkt, wo
Halm ein Kapitel gewidmet ist. Aber
Fochts Buch erschien erst 1980, und
das von Dahlhaus war 1978 herausgekommen, also nur ein Jahr bevor
ich nach Konstanz gegangen war, daher ist es zweifelhaft, ob ich es mir
schon im selben Jahr besorgen und
lesen konnte. Vielleicht habe ich es
mir gerade in Konstanz gekauft, aber
wenn ich es getan habe, dann sicherlich nicht im Oktober, weil ich damals, kaum angekommen, anderes
zu tun hatte.
Ungeachtet der Reihenfolge, in der
ich mit Halms Musik und seinen
Ideen Bekanntschaft gemacht habe,
hat sich aus den Eindrücken über sie
mit der Zeit ein eigener, immer zugänglicher „file“ in meiner Erinnerung formiert, der in den späteren
Jahren auch Ergänzungen erfahren
hat. Allerdings hat den Anlass dazu nur die zeitweilige Lektüre von
Halms musikwissenschaftlichen Arbeiten gegeben.
Halm hat eine Reihe von Büchern
geschrieben, darunter eine Monografie über Bruckner als Sinfoniker (Die
Symphonie Anton Bruckners, 1914)
und eine musikmorphologische Studie über Fuge und Sonate, die typischen Formen der vorklassischen
bzw. klassisch-romantischen Musik.
TIONS
Die Studie trägt den Titel Von zwei
Kulturen der Musik und ist 1913 erschienen, sie erlebte zwei weitere Ausgaben, die letzte 1947. Auf ihr beruht
in der Hauptsache das Renommee
Halms als Musikwissenschaftler.
Die Methode, mit der er in den Zwei
Kulturen über musikalische Formen
nachdenkt, wird von Focht (1980,
129) als „phänomenlogisch“ bezeichnet, obwohl sich in ihr auch Beimischungen eines gestalttheoretischen Funktionalismus bemerken
ließen, der sich in Halms Grundgedanken zeige, dass Fuge und Sonate
nicht zwei gleichberechtigte musikalischen Formen seien, sondern zwei
unterschiedliche hierarchische Beziehungen zwischen Form und Thema:
während in der Fuge das Thema der
Form vorangehe und die Form eine
Begleiterscheinung der thematischen
Arbeit sei, gehe in der Sonate gewissermaßen umgekehrt die Form den
Themen und ihren Beziehungen voran, so dass sogar eine Sonate ohne
Thema, d. h. mit symbolischen Ersatzstücken für sie, vorstellbar sei.
Aber Halm geht auch über die Morphologie hinaus und begibt sich auf
ein Gebiet, das von Dahlhaus (1978,
120) als „Philosophie der Musikgeschichte“ und von einem jüngeren
Autor (Rothfarb 1998) als „Ideologie“ bezeichnet wird. In den Zwei
Kulturen sind nämlich Fuge und Sonate nicht nur Gegenstand typologischer Betrachtungen, sondern werden
auch als Schlüsselstationen der Musikgeschichte begriffen. Für Halm
deckt sich mit anderen Worten die
historische Musikentwicklung im
Wesentlichen mit dem Aufkommen
der Fuge und der Durchsetzung der
Sonate, wobei als eine weitere Station
die Synthese aus beiden Formen hinzukommt. Die drei Stationen werden
gleichsam in der Manier des Hegelschen geschichtsphilosophischen Reduktionismus mit den Namen dreier
Komponisten gleichgesetzt: mit Bach
als dem Meister der Fuge, mit Beet-
RELA
TIONS
hoven und seinen Klaviersonaten und
mit Bruckner, der im Rahmen seines
kontrapunktisch angereicherten Sinfoniesatzes dem Thema seine formbildende Energie zurückgibt.
Von den beiden Seiten der theoretischen Gedanken Halms ist für den
heutigen Leser die morphologische
interessanter und auch verständlicher
als die geschichtsphilosophische. Die
Überzeugung, dass bei Bach und
Beethoven die Fuge bzw. die Sonate
kulminieren, ist auf der einen Seite eine aus der Allgemeinbildung
resultierende Selbstverständlichkeit,
während sie sich auf der anderen Seite von den heutigen musikwissenschaftlichen Theorien abhebt, die in
Verbindung mit den Musikformen
und deren Realisationen lieber von
Unterschiedlichkeit als von geringerer oder größerer Vollkommenheit sprechen (zum Beispiel Rosen
1988). Die Meinung wiederum, dass
gerade Bruckners Sinfonien auf der
Linie einer Synthese der beiden Formen liegen und dass die Synthese
von Fuge und Sonate überhaupt das
Entwicklungsziel der Tonkunst sei,
wird nur verständlich auf Grund des
Einblicks in den Solipsismus des wilhelminischen Deutschlands, der die
Fama vom deutschen Monopol in
der Tonkunst und mehrere triadisch
konstruierte Philosophien der Musikgeschichte stützte, in denen alle
Namen deutsch waren. Keine dieser
Triaden kam ohne Bach und Beethoven aus, und nur die Frage des „dritten Mannes“ blieb offen (Dahlhaus
1978, 120): „Bülow plädierte für
Bach, Beethoven und Brahms, Nietzsche für Bach, Beethoven und Wagner, August Halm für Bach, Beethoven und Bruckner.“
***
Dem Komponisten Halm bin ich
später nicht mehr begegnet. Es war
natürlich nicht schwer herauszufinden, dass er seine Zweite Sinfonie
(in F-Dur) 1910 beendet und dass
Dossier: Zoran Kravar
er außer ihr zwei weitere Sinfonien
geschrieben hat (Nr. 1 in D-Moll, für
Streichorchester, 1907; Nr. 3 in A-Dur,
1911-1924), ein Konzert „für Orchester mit obligatem Klavier“, mehrere Streichquartette, je zwei Violinund Klaviersonaten und noch etliche
Kammer- und Vokalkompositionen.
Aber da ich in musicis kein Fachmann
bin und Musik höre, aber nicht lese, konnte ich nur hoffen, dass eines
dieser Werke einmal auf einem Tonträger verfügbar sein würde.
Anfangs war diese Hoffnung gering.
Von Halm war, wie ich mich beim
Durchblättern der Kataloge sofort
überzeugen konnte, nie etwas für
den Markt aufgenommen worden.
Jene Sinfonie war, wie ich mich gut
erinnere, vom Kulturprogramm des
Stuttgarter Rundfunks ausgestrahlt
worden, aufgenommen hatte sie das
dortige Radiosinfonieorchester, offensichtlich für den Eigenbedarf des
Senders, wobei die Motive auch lokalpatriotische sein konnten, denn
Halm stammte aus der Umgebung
von Stuttgart. Wie auch immer, die
Aufführung gelangte nicht auf kommerzielle Tonträger. Es war das noch
im Zeitalter der Vinyls, als das Aufnehmen mehr kostete als heute und
sich das aufgenommene Repertoire
im großen und ganzen mit dem der
Konzertveranstaltungen deckte.
Als die digitale Revolution aus der
Anfangsphase heraus war und das
starke Interesse neu gegründeter Independent-Labels für vernachlässigte konservative Komponisten in der
Zeit um 1900 dem Musikgeschäft
neue Impulse gegeben hatte, stiegen
meine Hoffnungen auf eine neue
Begegnung mit Halm. Trotzdem erinnerte sich seiner auch zu der Zeit
niemand, als man schon die Sinfonien eines Cyril Scott, Ture Rangström und Richard Wetz oder die Klavierquintette eines Ludwig Thuille
und Paul Le Flem erwerben konnte.
Zwei oder drei Mal setzte ich mich
der Unbequemlichkeit aus und füll-
47
te Befragungslisten aus, die von einzelnen Firmen den Heften ihrer CDs
beigelegt werden (wo man gefragt
wird, ob man Klassik oder Jazz liebe, ob man weiblich oder männlich
sei, und ob man der Altersgruppe von
25-50 oder 51-75 angehöre), um in
der Rubrik „Ihre Anregungen“ Halm
einzutragen.
Halm fiel mir auch wieder ein, seit
ich ans Internet angeschlossen bin,
das mir, verzweigt wie es ist, auf
diesbezügliche Anfragen etwas zu
sagen wusste. Dort fand ich zum
Beispiel seine kurze Biografie (auf
einer Seite über Komponisten aus
Württemberg), in der es heißt, er sei
unerwartet und infolge eines Unglücksfalls gestorben, an Blinddarmentzündung. Ich bemerkte auch das
Vorkommen seines Namens in zwei
oder drei Artikeln über alternative
Pädagogik der Wilhelminischen und
Weimarer Epoche und erfuhr, dass er
sich den größten Teil seines Arbeitslebens mit experimenteller Musikerziehung beschäftigt, mit dem pädagogisch alternativ orientierten Gustav Wyneken zusammengearbeitet
hat und auch lange in dessen Freier
Schulgemeinde im Thüringischen
Wickersdorf tätig gewesen ist. Ich
fand Halm auch in mehreren musikwissenschaftlichen Bibliografien,
die davon zeugen, dass über seine
Bücher auch heute noch geschrieben
wird, und in denen die Beiträge des
amerikanischen Musikwissenschaftlers Lee Rothfarb zahlenmäßig hervorstechen. Aber auch im Internet
gab es keinerlei Hinweise, das Halms
Musik von irgendwem irgendwann
aufgenommen worden wäre. Und
dann, eines Abends, geschah endlich
ein Wunder.
Es gibt eine kleine Internet-Seite unter der Bezeichnung Unusual Composers, auf der man erfährt, dass jemand
gerade ein Streichquartett von Willem Pijper oder das Klaviertrio von
Jean Cras aufgenommen hat. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht,
48
RELA
Dossier: Zoran Kravar
dort von Zeit zu Zeit nachzusehen,
was es Neues gibt, meistens zu Monatsanfang, wenn die Verzeichnisse auf den neuesten Stand gebracht
werden. Und um nicht zu ausführlich zu werden: als ich in den ersten
Februartagen einen Blick auf die Seite warf, stand gleich ganz oben in er
Liste, dass die schwedische Firma
Sterling in Zusammenarbeit mit dem
Stuttgarter Südwestfunk eine CD
mit der Sinfonie Nr. 3 in A-Dur von
August Halm herausgebracht habe,
worauf noch eine kurze und konzise Werkbeschreibung folgte. Erfreut
über die gute Nachricht (obwohl
auch ein wenig enttäuscht, dass die
Wahl nicht auf die Zweite Sinfonie
gefallen war), und dann etwas besorgt, als ich las, dass Sterling die
Aufführung einem Provinzorchester
und einem mir unbekannten Dirigenten anvertraut hatte (Württembergische Philharmonie Reutlingen,
Per Borin), aber letztlich doch froh
gestimmt und auch ein wenig aufgeregt, surfte ich zum Internet-CDLaden Crotchet, wo sie besagte CD
bereits hatten.
***
Im Bus, mit dem ich von der Post
zurückkehrte, drehte ich das flache
Päckchen hin und her, betrachtete es
mal von der einen, mal von der anderen Seite und versuchte es sogar zu
öffnen. Ich scheine dabei etwas Ungeduld gezeigt zu haben, denn die
Mitreisenden sahen mit Interesse herüber und wandten sich dann wieder
ab, als ich das Päckchen wieder in der
Tasche verschwinden ließ, nachdem
ich eingesehen hatte, dass für Crotchets Verpackung Finger und Fingernägel nicht ausreichen würden.
Meine Vorstellungen, wie das bevorstehende Kammerkonzert ablaufen
würde, gerieten etwas ins Wanken.
Neben fraglos positiven Vorgefühlen meldete sich ein wenig auch die
Furcht, ob die erneute Begegnung
mit dem Komponisten so ausfallen
würde, wie wenn wir nach vielen Jahren Menschen begegnen, die uns in
einem bereits abgeschlossenen Kapitel unseres Lebens – zum Beispiel in
der Schule oder beim Militär – nahe
standen und teuer waren: wir haben
zusammen beim Wein gesessen, gelacht, uns auf die Schulter geklopft
und an eine lange Freundschaft geglaubt, aber jetzt erscheint uns die
Person uninteressant und fern, und
Gesprächsthemen finden wird nur
mit Mühe.
Aber als ich alles Zwischenzeitige erledigt und die Crotchet-Schachtel,
nicht ohne heldenhaften Widerstand
ihrerseits, der Schere nachgegeben
hatte und kurz darauf die musikalischen Themen und Strukturen ihre
digitale Aufzeichnung zu verlassen
begannen, zeigte sich, dass sich die
positiven Erwartungen eher bewahrheiteten und nur wenig durch den
Umstand überschattet wurden, dass
die Sinfonie ihre Notenschrift unter
Vermittlung eines Orchesters nebst
Dirigenten aus dem nicht gerade
großen Reutlingen verlassen hatte,
die sie in einem mäßig akustischen
Saal und uninspiriert, wenngleich im
großen und ganzen deutlich strukturiert und mit etlichen feinen Auftritten der Holzbläser, heruntergespielt
hatten.
***
Das déjà vu-Erlebnis wird in den
Wörterbüchern auf zweierlei Weise
erklärt. Ich zitiere aus Webster (1999,
s. v.): „1. fr. schon gesehen; unoriginell, wie eine Szene in einer trivialen
Geschichte oder einem veralteten filmischen Verfahren; 2. psychol. die Illusion, etwas bereits erlebt zu haben,
das einem zum ersten Mal begegnet.“
Während ich Halms Sinfonie in ADur hörte, meldete sich das Gefühl
des déjà vu in der zweiten Bedeutung:
hier und da hatte ich das Gefühl, das
Werk schon einmal gehört zu haben.
Rational ließe sich das durch die Annahme erklären, dass zwischen der
TIONS
Dritten Sinfonie und jener, deren
Konturen ich in Erinnerung behalten hatte, Ähnlichkeiten gab, aber ich
fragte mich mitunter (und frage mich
das auch jetzt), ob nicht ein Irrtum
im Spiel sein könnte, d. h. ob ich dort
in Konstanz nicht in Wirklichkeit die
Dritte Sinfonie gehört und sich die
„Nr. 3“ in einer Phase der Erinnerung
an das immer weiter entfernte Ereignis in „Nr. 2“ verwandelt hatte. Allerdings bin ich noch immer eher bereit
zu glauben, dass es damals die Zweite war, nur fürchte ich, dass ich die
Sache erst ins Reine bringen kann,
wenn sich jemand entschließt, auch
dieses Werk aufzunehmen.
Die Dritte Sinfonie hat auch in dem
Sinne mit der Erfahrung des déjà vu
zu tun, als sie „unoriginal“ beziehungsweise abhängig ist: ihre Elemente und Strukturen klingen bekannt, und als Rahmen dieses Wiedererkennens drängt sich auch dieses
Mal die musikalische Sprache der österreichisch-deutschen Spätromantik auf. Es gibt also keinen Zweifel,
dass Halm in der hartnäckigen Überzeugung lebte und arbeitete, nach
der Epoche von Brahms und Bruckner habe sich in der Musik nichts
Relevantes ereignet. Das hat er auch
als Musikwissenschaftler in seinem
Buch über die zwei Kulturen der
Musik zur Kenntnis gegeben, wo er
Bruckner (1824-1896) zur „modernen Musik“ zählt (Halm 1947, 16).
Trotzdem erkennt man bei der ADur-Sinfonie sofort, dass sie jünger
ist als die kanonischen Beispiele der
musikalischen Spätromantik. Auf der
einen Seite ist die musikgeschichtliche Aussagekraft ihrer Inhalte bestimmter und weitreichender als jene, die den großen Werken aus den
siebziger und achtziger Jahren des 19.
Jahrhundert zu eigen ist. So zum Beispiel ruft das mittlere Thema des dritten Satzes (der kein richtiges Scherzo
ist, sondern den Titel Szene trägt) das
18. Jahrhundert in Erinnerung, und
das zweite Thema des Finales (ein
RELA
TIONS
Choral der Blechbläser) hat einen
gregorianischen Beiklang. Das erinnert von fern an eine Traditionsauffassung, die für das 20. Jahrhundert
typischer ist, das heißt, für künstlerische Tendenzen, denen heute Bezeichnungen mit den Präfixen „meta-“ oder „post-“ verliehen werden,
obwohl betont werden muss, dass
bei Halm die Evokationen der musikalischen Vergangenheit keine Zitate sind, sondern eher historistisch
stilisierte Inventionen, das heißt, dass
in seinen Augen die Tradition noch
immer Subjekt ist und nicht Objekt,
Gegenstand des Einlebens und nicht
Montage.
Auf der anderen Seite kommt es in
der Sinfonie auch zu Verdichtungen
des spätromantischen Klangbildes:
die Themen sind mitunter komplex
und ausgeschmückt, obwohl im Großen und Ganzen charaktervoll und
gefällig, und das im Verlauf des Satzes
abgeleitete Material überwiegt über
das originale. In den Sätzen mit Elementen der Sonatenform (1. Allegro
comodo; 4. Rondo. Allegro moderato) nehmen die Durchführungsverfahren bedeutend mehr Raum ein
als die Exposition, wo sie ebenfalls
schon antizipiert werden. Die thematische Arbeit ist phantasiereich,
und der schnelle Rhythmus der motivischen Abwandlungen wird durch
den Wechsel der orchestralen Farben
unterstützt. Auch nach mehrfachem
Hören ist es nicht möglich sagen, auf
wie vielfältige Weise die durchgeführten Motive gegeneinander stoßen
und sich einfügen, wie sie einander
wechselseitig aufrufen, kombinieren
und begleiten. Die höchste Wirkung
dieser umfangreichen Durchführungen schien sich mir aber doch mit jener undramatischen Oszillation zu
decken, die ich erlebte, als ich Halm
in Konstanz hörte. Nur gab es dieses Mal keine Laubkrone, auf die ich
meine Eindrücke hätte projizieren
können. Es war schon dunkel, tiefe
Wolken zogen über die Landschaft,
Dossier: Zoran Kravar
und während des zweiten Satzes setzte einer jener Schneestürme ein, mit
denen sich der Februar 2005 lange
im Gedächtnis halten sollte.
Von den Epitheta, die mitunter den
klassischen, romantischen und spätromantischen Sinfonien zugeschrieben werden (eroica, fantastique, tragische, pastorale, romantische), würde sich für Halms Sinfonie jene am
besten eignen, die keinesfalls zu der
Stimmung eines kalten und schneereichen Februars passt, und zwar pastoral oder, besser gesagt, idyllisch,
wenn wir Idylle als eine etwas abstrahierte, von Schafsgeblöke und
Hirtenflöten gereinigte Pastorale begreifen. Motive und Strukturen, die
wir im Rahmen der klassischen und
romantischen Codes als Symbole einer idyllischen Stimmung dechiffrieren, haben bei Halm die Rolle,
die jener vergleichbar ist, die in der
Thermodynamik dem Phänomen der
Entropie zukommt. Der Klang, der
den mit dem sinfonischen Schaffen
der Romantik vertrauten Hörer dazu
verleitet, Eindrücke von einem Ausflug, Blicke auf Ebenen und Hügel
einer Landschaft bei unterschiedlichem Tageslicht, auf die von einem
Lufthauch oder vom Wind bewegten
Baumkronen aus der Erinnerung heraufzuholen, ist der wahrscheinlichste Zustand der Halmschen Sinfonie
und ein Korrektiv für ihre Motive,
gleich nach welchem Charakterzug
man sie auch zu trennen versucht:
dem heroischen, tragischen, fantastischen oder mystischen.
***
Obwohl man in Deutschland in der
Zeit, in der Halm an seiner Dritten
Sinfonie schrieb (1911-1924), bereits Musik expressionistischen, aber
auch neoklassischen Klangs hören
konnte, lasse ich die musikalische
Avantgarde für den Augenblick beiseite. Ohne Umschweife indessen
betone ich, dass wir in der Sinfonie
auch sehr wenig von den Stilen des
49
frühen Modernismus vorfinden, jener Stile, die – parallel zu Symbolismus, Sezession und Impressionismus
in anderen Künsten – die europäische
Musik zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg revolutioniert haben,
unter anderem auch durch die Legalisierung von Dur und Moll unterschiedener Tonarten (chromatische,
ganztonige, modale). In dem Text allerdings, der Halms CD beigegeben
ist und dessen Autor der kompetente
Lee Rothfarb ist, lesen wir, dass man
in der A-Dur-Sinfonie stellenweise
den Einfluss von Mahler und Strauss
spüre (Rothfarb 2004, 5). Ich halte
das für unbestritten, denn ich habe
selbst an zwei oder drei Stellen an
die erwähnten zwei gedacht: Mahler
kam mir am unmittelbarsten in den
Sinn beim Anfang der Durchführung im ersten Satz, der durch Stimmendichte und stärkere harmonische
Verschiebungen gekennzeichnet ist,
während mich das erste Thema desselben Satzes mit der Spannweite
seiner Intervalle und einer Metrik,
die den Wechsel langer und kurzer,
gehaltener und beschleunigter Noten einschließt, an Strauß erinnerte, wenngleich eher an seine Werke
aus den vierziger Jahren (Konzert
für Oboe, Concertino für Klarinette
und Fagott).
Insgesamt indessen unterscheidet sich
Halm sowohl von Mahler als auch
von Strauss, was sich, glaube ich,
auch mit einer detaillierten Analyse
der scheinbaren Ähnlichkeiten beweisen ließe. Selbst in jenem scheinbar Strauss’schen Thema aus dem ersten Satz, ist, wenn wir aufmerksamer
zuhören, das Fehlen eines Merkmals
zu bemerken, das für Strauss distinktiv ist, nämlich des schnellen harmonischen Rhythmus. Während Strauss
in den Grenzen einer Phrase gern in
entfernte Tonalitäten springt, vollzieht sich in Halms Thema die Entwicklung der Phrase doch innerhalb
der normalen harmonischen Funktionen und kommt es zu chromati-
50
RELA
Dossier: Zoran Kravar
schen Verschiebungen in den Passagen zwischen den Phrasen. Natürlich
sind die Verschiebungen wahrscheinlicher in den durchgeführten Teilen
der Sätze, wo die Phrasen elliptisch
und die Passagen häufiger sind.
Solche Analysen, wenn es mehr davon gäbe und wenn sie fachlicher
wären, würden nicht nur bestätigen,
dass es Unterschiede gibt, sondern
würden vielleicht auch ihre Grundlage ans Licht bringen, wobei sich
vermutlich herausstellen würde, dass
sich Halm von seinen sezessionistischen Zeitgenossen vor allem insofern unterscheidet, als er auch als
Komponist, und nicht nur als Autor der Zwei Kulturen der Musik, die
Traditionskette „Bach – Beethoven
– Wagner“ ignoriert. Mahler und
Strauss hatten Wagners Chromatik
„im kleinen Finger“ und natürlich
noch manch anderes in den großen.
Rothfarb erwähnt auch Bruckner,
aber der ist im Gespräch über Halm
ohnehin unumgänglich, ungefähr so
wie Zeus im Mythos von Ganymed.
Trotzdem kommt er bei Halm, im
Sinne einer Übernahme musikalischer Strukturen, weniger vor, als es
der kundige Hörer erwarten würde.
Die eine oder andere ostinate Begleitfigur oder kühnere harmonische Progression klingt wie ein Zitat aus dem
reifen und späten Bruckner, aber die
Merkmale, anhand deren sich seine
Sinfonien im gleichen Moment erkennen lassen – Thematik mit langem Atem, gemäßigte Tempi, ruhige Gradierung, abgestufte Dynamik,
blockmäßiges Design der Sätze – haben in Halms Dritter keine rechten
Analogien. Sie unterscheidet sich,
gerade im Gegenteil, durch sprunghafte, brüchige Themen, und der
Wechsel der Motiveinheiten und Orchesterfarben geht bedeutend schneller vor sich als bei Bruckner. Von
den Sätzen besitzt nur das adagio
Brucknerschen Bauplan, aber auch
seine Klangdramaturgie ist eine andere: obwohl es im ersten Moment
scheint, dass das Hauptthema – nach
dem Muster des adagio in Bruckners
Siebenter oder Achter – in Dynamik
und Modulation bis zum Himmel
aufsteigt, wird seine Entwicklung
mehrmals unterbrochen und beruhigt und werden seine Bruchstellen
von lyrischen Floskeln der Holzbläser ausgefüllt, die uns daran erinnern, dass die Nullstufe des Halmschen Klanges, und gewiss auch seiner Welt, in der idyllischen Horizontalen liegt.
Mit anderen Worten, ich denke, dass
Halm aus seiner musikwissenschaftlichen Fixierung auf Bruckner keine allzu auffälligen musikstilistischen Konsequenzen gezogen hat.
Eher neige ich dazu zu glauben, dass
Bruckner für ihn der limes der Musikkultur war, den er als Komponist
weder überschreiten konnte noch
wollte: indem er Bruckners Sinfonien an den gedachten Punkt setzte,
an dem sich die Entwicklungslinien
der beiden musikalischen Grundformen schneiden, stützte er die Illusion
von der Spätromantik als dem Ende
der Musikgeschichte, womit er seinen kompositorischen Konservatismus begründete und seinen Unwillen rechtfertigte, die Grenzlinien zu
überschreiten, die die Generation
Mahlers, Strauss’, Debussys, Skrjabins, Regers, des frühen Schönbergs
gezogen hatte.
***
Zu den Regalen gekehrt, auf denen
ich die (schon Jahrzehnte nicht gehörten) Langspielplatten aufbewahre, versuche ich mich zu erinnern,
welche von ihnen ich aus Konstanz
mitgebracht habe und wie viele von
ihnen Musik des frühen 20. Jahrhundert enthalten. Da steht ein einstmals
sehr geschätztes Komplett der Werke
Schönbergs, Weberns und Bergs für
Streichquartett in der Ausführung
des La Salle-Quartetts, da sind Bartóks Quartette (Juilliard Quartet),
Hindemiths Kammermusiken (Con-
TIONS
certo Amsterdam). Es gibt auch frühen Modernismus: Klavierkompositionen von Debussy (Noel Lee),
Mahlers Sinfonien (Solti), das D-Moll-Streichquartett von Max Reger (Drolc-Quartett). Auf dem Umschlag von Regers Quartett sind Eduard Drolc (†1973) und seine Kollegen in einem Birkenhain aufgenommen, im Frack, die Instrumente
in den Händen (einer der Kollegen
ist der Bratschist Stefano Passaggio,
einst Mitglied der Zagreber Solisten). Auf dem Regal neben Reger
wieder Schönberg, aber der sezessionistische: die Gurrelieder (Kubelik)
und Verklärte Nacht auf einer vergessenen Turnabout-Platte, zusammen mit dem Streichquartett in Fis
(Ramor Quartett und Maria Theresia
Escribano). Die Illustration auf dem
Umschlag ist in der reduktionistischen Manier von Bilderbüchern aus
den sechziger Jahren gehalten und
ruft die Schlussworte von Dehmels
Verklärter Nacht herbei:
Zwei Menschen gehen
durch hohe, helle Nacht.
Auf der Rückseite sind Georges Litanei und Entrückung (im Zusammenhang mit dem Quartett) abgedruckt,
letzteres mit der wundersamer Weise richtigen Anfangszeile: „Ich fühle Luft von anderem Planeten.“ Die
Texte zu Aufnahmen, die mir in späteren Jahren in die Hände kamen,
haben regelmäßig „von anderen Planeten“, als ob es sich um Planeten in
der Mehrzahl handelte.
Unwillkürlich kommt mir der Gedanke, was gewesen wäre, hätte ich
in Konstanz auch jene im Rundfunk
gehörte Sinfonie von Halm erstehen
können. Auf dem Regal würde sie
sich zwischen Beispielen beider modernistischen „Musikkulturen“ wiedergefunden haben, von denen keine
die ihre wäre. Zu jener Zeit hätte ich
sie freilich nicht einmal in Gedanken
einordnen können. Als ich sie hörte,
hatte ich nur eine durch Blättern in
RELA
TIONS
Musiklexika gewonnene undeutliche Vorstellung, dass es auch nach
1900 noch verspätete Spätromantik
gegeben hat, aber aus dem Gehörten
selbst konnte ich mir den Kontext dafür nicht schaffen. Ich hatte nur eine
Assoziation „per similitudinem“: die
Zweite Sinfonie von Franz Schmidt,
die ich in den siebziger Jahren im
Wiener Radio gehört hatte, in einer
Aufführung – wenn ich mich recht
erinnere – des dortigen Radiosinfonieorchesters unter Milan Horvat.
Das Regal, auf dem Halms CD ihren Platz gefunden hat, ist ein völlig
anderer Mikrokosmos. Das frühe 20.
Jahrhundert ist auch hier mit den beiden erwähnten Musikkulturen vertreten, aber auch mit einer, in der
sich Halm wie unter seinesgleichen
fühlt. Die Repertoire-Politik nämlich, die seit den achtziger Jahren von
den Independent-Labels Hyperion,
CPO, Chandos, ASV, Timpani, Sterling, zum Teil auch Naxos betrieben
wird und die sich mit der Zeit in eine große und bewusste „konservative Revolution“ verwandelt hat, hat
auch meine Regale nicht verschont,
sondern sie mit einer Vielzahl der
Autoren gefüllt, die ins 20. Jahrhundert zufrieden mit den Errungenschaften des späten neunzehnten eingetreten sind: österreichischungarische Brahmsoiden, Wagneroiden und Bruckneroiden, Russen,
die auch die Revolution nicht von
dem Mächtigen Häuflein oder von
Tschaikowski befreit hat, Tschechen,
die auf Dvořák auch nach seinem verhältnismäßig späten Tod (1904) eingeschworen sind, Franzosen, die auch
nach 1900 Francks Sinfonie oder sein
Klavierquintett neu zu schreiben versucht haben.
***
Natürlich wird die Entscheidung, eine CD mit anachronistischer spätromantischer Musik zu erwerben, gewöhnlich von der Missbilligung jener
Kontrollinstanz begleitet, die wir als
Dossier: Zoran Kravar
modernes ästhetisches Bewusstsein
bezeichnen könnten. Das beruhigt
sich allerdings rasch, wenn das ausgegrabene Werk enttäuscht, wenn
es in geborgtes Material und willkürliches Bindegewebe zerfällt und,
bei aller Ausstattung mit bewährten
ästhetischen Attraktionen, unbehaglich wirkt wie die Physiognomie Boris Karloffs (Frankenstein), auf der
primitive anorganische Nähte deformierte Stücke eines menschlichen
Gesichts zusammenhalten. Dennoch
finden sich in der Menge der aufgenommenen spätromantischen Epigonen mitunter auch Autoren, die
im Stande sind, sich – sei es durch
angeborene Naivität oder erworbene
Fertigkeit – den Zerstörungskräften
epigonalen Komponierens zu widersetzen. So lässt sich zum Beispiel die
Zeit mit dem ersten Streichquartett
von Hans Pfitzner oder dem des Ungarn Leo Weiner, mit dem Klavierquintett von Reinhold Hahn oder
Dora Pejačević und auch mit einer
Sinfonie von August Halm angenehm verbringen. Aber gerade diese
Annehmlichkeit gibt natürlich Anlass zu Gewissensprüfungen.
Auf Menschen meines Alters, die
ihre Bildung zu Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erworben haben, hatte der Widerhall des großen innovatorischen
Schwungs, den kurz nach 1900 die
künstlerische Avantgarde ausgelöst
hatte und der dann von immer zahlreicheren Nachfolgern in Gang gehalten wurde, auf die Entwicklung
der ästhetischen Sensibilität erheblichen Einfluss. Er hat dazu beigetragen, dass die in den Programmen
der frühen Avantgarde-Strömungen
formulierten und in ihren kanonischen Realisierungen wirksamen anti-traditionalistischen Ideen in breiter Weise angenommen, ausdifferenziert und zugespitzt wurden und
normative Geltung erlangten. Die
Wichtigsten von ihnen ließen sich
wie folgt umschreiben:
51
• der Künstler, sei es allein oder als
Mitglied gleich denkender Gruppen und Richtungen, gibt sich
nicht mehr mit den schon bestehenden Poetiken zufrieden, sondern versucht eine neue, noch
nicht existente zu finden;
• das Verhältnis zur Tradition ist
kein Insiderverhältnis; Tradition,
falls nicht völlig verworfen, wird
als Material zugelassen, als Gegenstand der Intervention, des
Umbaus oder der Montage, aber
nicht als Medium;
• ein neues Werk sollte eine Neubestimmung der künstlerischen
Praxis hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion und vielleicht sogar eine neue Vision des
Menschen mit einschließen;
• die Kunst muss sich im Gleichschritt mit dem Fortschritt entwickeln, der anderen Bereichen
der modernen Welt zu eigen ist; es
wird sogar erwartet, dass sie dabei
beschleunigend und korrigierend
wirkt, dass sie utopistische Ziele
formuliert.
Kehren wir zu Halm zurück, werden
wir feststellen, dass bei ihm alles umgekehrt ist: er hat keine neue Tonsprache erfunden, sondern glaubte
an die Unerschöpflichkeit des Spätromantischen, wobei ihm die Tradition nicht nur als Material, sondern auch als Grammatik diente. Der
Unterschied zwischen seiner Musik und dem spätromantischen Kanon setzt zwar ein Weitergehen der
Zeit und Entwicklungsschritte voraus, zumindest solcher, die sich unter
dem Begriff des dekadenten Raffinements subsumieren lassen. Aber seine
musikwissenschaftlichen Aussagen
und seine Philosophie der Musikgeschichte lassen die Möglichkeit von
Veränderung und Entwicklung nur
im relativen Sinne als einen Prozess
zu, in dem ein bestimmtes, schon gegebenes Paradigma zur Vollendung
strebt (Halm 1946, 32):
52
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Mit dieser [...] Gesinnung werden wir auch den Gang der Musikgeschichte von unklaren zu klaren
Formen wieder anders ansehen,
werden wir Experimente als Ausnahmen respektieren, eigentlich
geniales Schaffen aber nicht da
erblicken, wo das Gewonnene wieder getrübt, das sich Unterscheidende wieder durcheinandergemengt erscheint, sondern da, wo
die Richtungslinien der Entwicklung deutlich werden; wir werden
dann in dem Sieg der Formen über
das mannigfaltige Störende, Verwirrende, Missglückte die stetig
wachsende Idee, die immer tüchtigere Verkörperung der [...] präexistenten Form wahrnehmen.
Trotzdem gibt es etwas, worin Halm
und die Avantgardisten, zumindest
prinzipiell, vergleichbar sind: im Bestreben, durch die Kunst und ihre
Deutung auf den gesellschaftlichen
Kontext und auf aktuelle Geschichtstendenzen einzuwirken. Ich glaube
nämlich, dass auch Halm seine Arbeit – sei sie musikologisch, pädagogisch oder kompositorisch – als
einen Versuch sah, im Mikrokosmos der Musikkultur Wertekorrektive für den Makrokosmos der bürgerlichen Moderne aufzustellen. Allein die Weltanschauung, von der er
ausging, war nicht avantgardistisch
und progressiv, sondern regressiv und
stand im großen und ganzen im Einvernehmen mit der elitistisch-ästhetizistischen Pädagogik, wie sie in der
FSG Wickersdorf gepflegt wurde. Sie
war hervorgegangen aus der wilhelminischen Jugendbewegung, von der
sie ihre romantische Rebellion gegen
nivellierende, der Epoche der liberal-kapitalistischen Ökonomie und
Massendemokratie eigene Tendenzen in der Gesellschaft übernommen
hatte. Als solche war sie ein Segment
einer breiteren Ideenfront, die den
Lebensstilen und Wertesystemen der
spätbürgerlichen Kultur entgegen-
gesetzt war, so dass man den Begriff
Antimodernismus auch auf sie anwenden könnte, wie ich es in einem
kürzlich veröffentlichten Buch des
gleichen Titels darzulegen versucht
habe (Kravar 2003).
***
Im Finale von Halms Dritter, mitten in der Durchführung, gibt es eine kleine Episode, die von dem, was
ich bisher über das Werk gesagt habe, abweicht. Sie beginnt mit einem
dissonanten und metrisch verwickelten Choral der Blechbläser, auf den
mehrere Takte folgen, in denen über
dem groben Ostinato der Kontrabässe absteigende glissandi der Posaunen und ein panisches Quieken
der Pikkoloflöte zu hören sind. Der
Hörer denkt für einen Moment an
Werke wie Honeggers Tondichtung
von der Lokomotive (Pacific 231)
oder Prokofjews Zweite Sinfonie,
und seine außermusikalischen Assoziationen wandern von ländlicher Beschaulichkeit und Melancholie in die
Welt des Stadtlärms und der Fabrikarbeit. Ein Werk, das aus lauter solchen Partien bestand, hätte „Großstadtsinfonie“ genannt werden können. Trotzdem ist die Episode kurz,
und nach ihr kehren die Hauptideen
des Finales zurück: das ernste gregorianische Thema, und dann die idyllischen Motive aus dem ersten Themenblock, jetzt etwas entschlossener
als in der Exposition und unterstützt
durch das erste Thema des Kopfsatzes. Es meldet sich unmittelbar vor
der „Maschinenmusik“, und nach
der Durchführung drängt sich eines seiner Fragmente stufenweise vor
und übernimmt die Aufgabe, Satz
und Sinfonie abzuschließen.
Beim Hören der kurzen Maschinenmusik im Finale der Dritten Sinfonie wollte mir scheinen, dass Halm
mit ihr sein Unbehagen an der modernen Wirklichkeit oder, genauer,
das antimoderne Stereotyp von der
Moderne als Maschinenepoche als
TIONS
jenem geschichtlichen Zustand ausdrücken wollte, in dem das Künstliche den Sieg über das Urwüchsige,
das Mechanische über das Geistige
und Organische davonträgt. Die Einmaligkeit der erwähnte Episode und
ihre unsichere Position im narrativen
Plan des Satzes könnten aber auch als
Ausdruck der Überzeugung gedeutet
werden, dass die Welt der Tradition
– der musikalischen wie aller sonstigen – die Kraft hat, sich der modernen Zivilisation zu widersetzen.
Übereinstimmend damit wäre die
Dritte Sinfonie nicht nur ein nostalgischer Blick zurück, sondern auch
ein Ausdruck regressiv-utopistischer
Hoffnungen.
Halms Berührungen mit antimodernistischen Stimmungen können,
außer durch die Interpretation seiner Musik, auch mittels ideologiekritischem Lesen seiner musikwissenschaftlichen Thesen nachgewiesen werden. Setzt man zum Beispiel
seine Vision der Musikgeschichte als
„der stetig wachsenden Idee“ in einen
Kontext, der breiter ist als der musiktheoretische, kommt ihre Übereinstimmung mit einigen bereits bekannten Formen des modernen intellektuellen Konservatismus zutage.
Ihrer Terminologie nach steht sie
der Hegelschen Rechten nahe, und
wenn wir für den Augenblick außer
Acht lassen, dass sich die „präexistente Form“ aus dem zuvor angeführten Passus auf Fuge und Sonate
bezieht und wir sie abstrakter begreifen, bekommen wir eine Aussage, die
sich leicht in die Geschichtsphilosophie deutscher Kulturpessimisten und
konservativer Revolutionäre wie Rudolf Panwitz, Oswald Spengler oder
Moeller van den Bruck einfügt. Bei
Moeller (1931, 247) lesen wir:
So gibt der konservative Mensch
sich eine Rechenschaft über alles,
was flüchtig ist, hinfällig und ohne
Bestand, aber auch über das, was
erhaltend ist, und wert erhalten
zu werden. Er erkennt die ver-
RELA
TIONS
mittelnde Macht, die Vergangenes an Künftiges weitergibt. Er
erkennt mitten im Seienden das
Bleibende. Er erkennt das Überdauernde.
***
Wenn die künstlerische Avantgarde
über die Zukunft jenseits der bürgerlichen Epoche nachdenkt, entstammt „der Stoff, aus dem die Träume sind“ nicht dem „Überdauernden“ oder der „präexistenten Form“,
sondern dem noch Nichtseienden.
Deshalb müsste, wenn wir jene gedachte Gewissensprüfung nicht nur
an Halms Musik, sondern auch an
ihren weltanschaulichen Rahmen anlegen, das abschließende Urteil lauten: Halms Utopie ist eine imaginäre, ontologisch nicht begründete
Gegenwelt, eine Art idealistischer
Gegengeschichte.
Trotzdem scheint mir das vorhersehbare Urteil in diesem Kontext weniger wichtig als die Entspanntheit, mit
der ich es zur Kenntnis nehme, wobei ich glaube, dass auch viele meiner Zeitgenossen es ähnlich erlebt
hätten. Nebenbei gesagt sollte man
diese Entspanntheit nicht mit der
angenehmen Erregung jener Zeitgenossen verwechseln, die den Übergang in die „zweite Moderne“ – real
oder erdacht – als freudige Botschaft
deuten, man dürfe die Avantgarde
endlich verachten. Avantgarde als
Maßstab relativiere ich zuallererst
deshalb, weil wir heute wissen, dass
der Antimodernismus seine verlorenen Schlachten nicht mit ihr, sondern mit den Manifestationen und
Errungenschaften der liberal-kapitalistischen Moderne geführt hat, die
sowohl aus diesem Konflikt als auch
aus jenem mit anderen „Feinden der
offenen Gesellschaft“ als einziger öffentlich anerkannter Maßstab aller
Dinge hervorgegangen ist. Wichtig
indessen ist auch, sich vor Augen zu
führen, dass sich der Antimodernismus, trotz aller Niederlagen, in die-
Dossier: Zoran Kravar
sem Konflikt nicht völlig verbraucht
hat, obwohl er sein verschwörerisches
Selbstbewusstsein eingebüßt hat.
Die Mitglieder der modernen „offenen Gesellschaft“ verweilen nämlich
in den Arealen der kapitalistischen
Wirklichkeit im großen und ganzen nur teilweise, als ökonomische
Wesen und funktionale Personen,
während sich ihr Konsum ästhetischer Güter in Séparées abspielt, in
denen die Umrisse der Wirklichkeit
mehr oder weniger verwischt sind.
Dabei können die Unterschiede zwischen dem prozeduralen Rationalismus moderner Institutionen und
dem weltanschaulichen Rahmen ästhetischen Müßiggangs verblüffend
sein. An seinen Rändern verschwindet der nüchterne Geschäftsalltag
im Labyrinth der Gegenwelten, für
deren Bedarf an Abweichung das
ganze Inventar abenteuerlicher weltanschaulicher Annahmen zur Verfügung steht, die (mittelbar oder unmittelbar) aus dem metaphysischen
Erbe des Westens und Ostens entlehnt sind. Mitunter finden sich unter diesen Annahmen aber auch Reste
jenes Antimodernismus, von dem in
meinem schon erwähnten Buch die
Rede ist. Beispielsweise vegetiert der
dionysische Rausch aus Nietzsches
Geburt der Tragödie zum Teil in der
Atmosphäre eines nächtlichen Party, eines Rockkonzerts oder in den
Prügelorgien fanatisierter Fußballfans; vitalistischer Monismus wie der
bei Klages oder Schuler inspiriert
die New Age-Kosmologie; die Staatsordnungen von Tolkiens Lothlórien
und Gondor haben Gemeinsamkeiten mit theokratischen Phantasien à
la Julius Evola und René Guénon.
Selbstverständlich fügt sich zu den
aufgezählten „regressiven Fixierungen“ auch der relative Markterfolg
jener late late romantic music, wie sie
heute gern von Hyperion, Sterling
und anderen aufgenommen wird.
Denn auch sie ist – wie ich mit der
Geschichte von sinfonischen Den-
53
ken August Halms und seinem privilegierten Platz in meiner persönlichen ästhetischen Erfahrung darzulegen versucht habe – in der Lage,
Welten zu evozieren, die weniger
modern sind als die aktuelle, und
virtuelle Geschichten herbeizuzaubern, in denen es kein Drama und
keine Antithetik gibt und wo Veränderungen nur als Rückholung oder
Vervollkommnung von Präexistentem vorstellbar sind.
Die Klub-, Haus- oder Portabel-Gegenwelten, die der liberal-kapitalistische sensus communis an seinen Grenzen erlaubt – indem er mit ihrer Ausstattung und ihren Lizenzen handelt
– unterscheiden sich untereinander in
mancherlei: bei einigen gibt es Gott
oder Götter, und bei anderen nicht,
einige sind mit hochkulturellen Inhalten gefüllt, andere tragen ein suboder kontra-kulturelles Vorzeichen,
einige werden in der Phantasie errichtet, bei anderen bewegen sich die
Genießer wie auf einer Bühne. Gemeinsam ist ihnen, dass in keiner von
ihnen antikapitalistische Verschwörungen geschmiedet werden. Die List
der geschichtlichen Vernunft zeigt
sich auch darin, dass wir heute die
antimoderne Windstille nicht ohne
den eigennützigen Hintergedanken
betreten, wie wir am Montagmorgen
noch frischer und effizienter an die
üblichen Schauplätze unserer Wachwelt zurückkehren werden, als konkurrierende Arbeitnehmer oder rationale Arbeitgeber, als gerissene Verkäufer oder vorsichtige Käufer.
Es gibt allerdings noch einen Grund,
warum ich die Einflüsterungen des
avantgardistischen Gewissens in Verbindung mit einer Musik wie der
von Halm ganz entspannt hinnehme. Bis heute hat sich nämlich an
mehreren Beispielen deutlich gezeigt,
dass der moderne weltbeherrschende
Mainstream auch das avantgardistische Widerstandsnest neutralisiert
und aus ihm eine mehr oder weniger
attraktive, aber unverbindliche Ge-
54
RELA
Dossier: Zoran Kravar
genwelt gemacht hat. Die Ähnlichkeit zwischen dem neoliberalen „Ende der Geschichte“ und jenem „noch
nicht“, das einst die avantgardistische
Hast auslöste, ist ausschließlich zufällig. Boulez’ Le marteau sans maître auf einer CD der Firma Sony ist
gleichermaßen „subversiv“ wie die
Analyse der 11. These über Feuerbach im Seminar einer Universität,
die nach den Richtlinien aus Bologna umorganisiert wurde, wo man
neuerdings noch eine Querverbindung zwischen der alma matris und
dem Markt hochqualifizierter Arbeitskraft erdacht hat.
***
Wieder hatte ich Pech mit dem Postboten und musste selbst auf die Post,
von wo ich jetzt mit einem noch
kleineren Paket zurückkomme. In
ihm wartet eine CD mit Cages Music of Changes (Steffen Schleiermacher, MDG). Ich habe gelesen, dass
bei der Entstehung dieser Musik das
Interesse des Komponisten für den
Zen-Buddhismus eine gewisse Rolle
gespielt habe (Griffiths 1978, 127).
Leider verstehe ich mich auf diese
Thematik nicht, und so habe beim
Hören andere Assoziationen, zumeist
Denkschemata, die ich behalten habe, als ich mich mit Literatur zum
Strukturalismus und zur Systemtheorie beschäftigt habe, den bis vor
kurzem sehr modernen Methoden
zum Verständnis alles Bestehenden.
Ich denke, hörend, über die Beziehung zwischen Teilen und Ganzem
nach, über das Prinzip der Invarianz
(wie sehr sich eine Menge ändern
kann, dass sie dabei identisch mit
sich selbst bleibt oder dass aus ihr
eine neue Menge wird). Aber auch
das ist natürlich „Luft von anderem
Planeten“. Denn auf diesem gibt es
kaum noch etwas außer Globalisierungsängsten und der Sachlichkeit
des liberalen Meliorismus, und dort,
wo der Optimismus von gestern (statische oder dynamische) Strukturen und Systeme erahnte, sehe ich
nur „Wachstum“ und „Mehrwert“,
„Agglomeration“ und „Akkumulation“. Wenn die Welt tatsächlich Musik wäre (musica mundana), würden
überall um uns herum die unangenehmen Ostinaten der Kontrabässe,
die Glissandi der Posaunen und die
aufgeregten Piepser der Pikkoloflöte
ertönen.
TIONS
Literatur
Dahlhaus, Karl (1978), Die Idee der
absoluten Musik, Kassel.
Focht, Ivan (1980), Savremena estetika
muzike, Beograd.
Griffiths, Paul (1978), A Concise History
of Modern Music, London.
Halm, August (1946), Von zwei Kulturen
der Musik, Stuttgart.
Kravar, Zoran (2003), Antimodernizam,
Zagreb.
Moeller van den Bruck, Arthur (1931),
Das neue Reich, Hamburg.
Rosen, Charles (1988), Sonata Forms,
London 1988.
Rothfarb, Lee A. (2004), Begleittext zur
CD August Halm, Sinfonie A-Dur,
Sterling CDS-1064-2.
Rothfarb, Lee A. (1998), „Zwischen Originalität und Ideologie. Die Musik
von August Halm (1869-1929)“, im
Sammelband Musik in Baden-Württemberg V, Stuttgart, S. 175-199.
Websters Encyclopedic Unabridged Dictionary (1996), New York.
Aus dem Kroatischen von
Klaus Detlef Olof
RELA
TIONS
55
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
56
TIONS
Tiefe Fiktion
[ J. R. R. Tolkien: Húrin’s Children, London 2007 ]
Zoran Kravar
W
enn Leute meines Schlages,
wenn also Literaturwissenschaftler Die Dämonen oder Der
Mann ohne Eigenschaften, Das verlorene Paradies oder Die Thrachinierinnen lesen und kommentieren,
dann fühlen sie sich wie zu Hause
und haben es nicht nötig, sich selbst
oder den anderen ihre Textauswahl
zu erklären. Wenn aber unsereins
den Herrn der Ringe oder Silmarillion
in die Hände nimmt und sich dabei
auch noch halbwegs wohl fühlt, dann
müssen wir uns früher oder später
bestimmt mit der Frage auseinandersetzen, wie weit wir uns eigentlich vom Literaturkanon entfernen
wollen, über den Euterpe, Kalliope
sowie Melpomene wachen und dem
die Tradition und altgediente Bildungsnormen das Etikett „hohe“,
„ernste“ oder „anspruchsvolle“ Literatur aufgeklebt haben. Ich muss
zugeben, dass ich angesichts meiner
Tolkien-Lektüren dann und wann
das Bedürfnis verspürte, mich zu
rechtfertigen, und dies war auch der
Fall, als ich mich unlängst mit Húrins Kindern amüsieren durfte, einer
Geschichte aus dem Zyklus Silmarillion. Im Frühjahr 2007 gab Tolkiens
Sohn Christopher diesen von ihm
aus verschiedenen handschriftlichen
oder schon veröffentlichen Quellen
zusammengestellten Text heraus. Als
mich dann noch der Herausgeber der
Zeitschrift Ubiq dazu einlud, meine
Leseerfahrungen zu Húrins Kinder in
schriftlicher Form zum Ausdruck zu
bringen, wurde bei mir der Wunsch,
mich zu entschuldigen, immer drängender. Dabei zeigte sich allerdings,
dass es nicht allzu schwer fällt, seine
Sympathien für Tolkiens Texte zu
erklären.
Zu Beginn überflog ich in Gedanken
meine Lektüren seit meinen Kinderjahren und konnte dabei schnell
feststellen, dass ich immer wieder
Bücher gelesen hatte, die wie Tolkiens Epik unmögliche thematische
Welten inszenieren und deshalb eine
hohe ästhetische Sensibilität voraussetzen. In meiner Kindheit dominierte genau diese Art von Büchern:
Ich las damals sehr gerne die Märchen der Brüder Grimm, die Kunstmärchen romantischer Schriftsteller (Puschkin, Brentano), Geschichten aus der hellenischen Mythologie,
die Prosa von Ivana Brlić-Mažuranić
(Neva Nevičica, Regoč), Comicstrips
mit Motiven rund um König Arthur
(Prinz Eisenherz), schließlich Peter Pan
mit Illustrationen von Arthur Rackham. Später habe ich diese Literatur
seltener gelesen (stattdessen verstärkt
realistische und modernistische Texte), doch niemals fielen sie völlig aus
meiner Lektüre heraus. Während
meines Studiums, aber auch später
noch las ich Ariosts Orlando sowie
ein wenig aus der nordeuropäischen
Epik (Nibelungenlied, Kalevala). Be-
stimmte Formen der phantastischen
Literatur entdeckte ich erst, als ich
mich für die literarische Folklore und
die Sekundärliteratur dazu interessierte, wobei mich am stärksten die
kurzen Geschichten beeindruckten,
die unsere kroatischen Ethnologen
als „predaja“ (dt. Sage) bezeichnen:
Ich bemerkte, dass ich für die Elemente des Horrors, eine die Mehrheit der Sujets kennzeichnende Eigenschaft, empfänglich war und dass
mich die in diesen Texten sich ausgestaltende dunkle Weltsicht anzog,
eine Weltsicht, in der neben der fatalistischen Überzeugung vom Einfluss
uralter Sünden und Verwünschungen auf das Schicksal der Menschen
eine pessimistische Geschichtsphilosophie zum Ausdruck kommt. In diesem geschichtsphilosophischen Ansatz wird der wahre Zustand der Welt
– versinnbildlicht durch menschliche
und phantastische Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten – in eine ursprüngliche Vergangenheit verschoben. Seit meiner Jugend bis hin zum
heutigen Tag zeigt sich meine Neigung zur tiefen Fiktion in meiner
neugierigen Beziehung zu Wagner.
Bücher über seine Musikdramen,
seine Libretti, Aufzeichnungen seiner
Werke auf CD’s und DVD’s, besonders von denen mit ritterlich-christlichen oder germanisch-barbarischen
Themen (Lohengrin, Tristan und Isolde, Parsifal, Der Ring des Nibelungen)
RELA
TIONS
stapeln sich schon seit langem auf
meinen Bücherregalen.
Kurz gesagt ist meine gesamte Leseerfahrung so strukturiert, dass ich
Tolkien von der ersten Begegnung an
als eine Art Fortsetzung erlebt habe,
allerdings als eine Fortsetzung von etwas, was Leser mittleren Alters und
älter normalerweise als ontogenetisch überwunden begreifen, zu dem
sie aber immer wieder von Neuem
durch irgendein Buch, irgendeinen
Film oder irgendeine Oper zurückgeleitet werden, und das nicht ohne ein gewisses Wohlgefühl, welches
– Hand aufs Herz – normalerweise
eine Rückkehr oder eine Regression
begleitet. Im Übrigen sah sich Tolkien selbst als Fortsetzer einiger der
erwähnten Traditionen. Dies gab er
manchmal auch zu, wenn auch nicht
immer: Wagner war für ihn anscheinend ein unangenehmes Thema, und
die motivischen Übereinstimmungen zwischen der Erzählung von Alberichs und Saurons Ring tat er als
bloßen Zufall ab.
***
Auf der anderen Seite interessiert
mich Tolkien auch deshalb, weil seine
Epik sich für verschiedene Methoden
des wissenschaftlich-analytischen Lesens anbietet, die sich gleichgültig
gegenüber der literarischen Qualität ihres Gegenstand verhalten, sodass sie von einem literaturwissenschaftlichen Profi auf jedwede Lektüre angewendet werden können,
ohne dass dieser sich dabei Sorgen
machen müsste, was Euterpe, Kalliope oder Melpomene von ihm wohl
halten mögen. Von diesen Methoden
scheint mir bei derartigen Texten die
ideologiekritische Exegese am besten geeignet zu sein. Diese habe ich
in meiner bisherigen Arbeit als eine
Suche nach umfassenderen weltanschaulichen Strukturen aufgefasst,
mit denen der Schriftsteller – normalerweise unbewusst oder halbbewusst
– die Konzeption seiner Thematiken
Dossier: Zoran Kravar
grundiert. In unserem Fall sind dies
die Figuren, die Handlung, die Anzeichen des Sozialen, die Beschreibungen des Raumes und die chronologische Orientierungspunkte. Wenn
wir an die erzählende Literatur mit
solchen Fragen herangehen, enthüllen uns deren thematische Einheiten neben ihrer faktischen Qualität
auch ihren Anteil am ideologischen
Diskurs, d.h. am gesellschaftlichen
Spiel der Anerkennung, der Korrektur, des Ausbaus oder der Leugnung
jener Wirklichkeit, die der gegebene
geschichtliche Kontext als Maß aller
Dinge akzeptiert, „der seienden, dass
sie sind, der nichtseienden, dass sie
nicht sind“. Die Welt in Der Herr der
Ringe oder in Húrins Kinder ist auf
den ersten Blick durch eine starke
Distanz zu dem für die Schriftsteller
und für unseren historischen Kontext maßgeblichen Wirklichkeitsgefühl geprägt, d.h. zur bürgerlichen
paramount reality und ihrer ideologischen Vermittlung. Dabei erscheint
diese Distanz als Effekt einer Regression, und zwar einer mehrfachen: einer stilistischen (in Richtung auf die
vormoderne Literatur), einer thematischen (in Richtung auf den Mythos, die Legende, den Epos und die
volkstümliche Literatur) und einer
auf die Textsorte bezogenen Regression (in Richtung auf erzählerische
Formen der Kinder- und der Trivialliteratur).
Ich denke allerdings, dass Tolkiens
„Sub-Kreation“ durch kapillare Beziehungen mit der Wirklichkeit, von
der wir ausgehen, verbunden ist, auch
wenn wir die Welt seiner Narration
als „nicht möglich“ oder als „sekundär“ bezeichnen. „Der Stoff, aus dem
die Träume sind“, stimmt in diesem
Falle nur partiell mit einer Phantastik überein, die archaischen Erzähltraditionen entstammt, während sein
anderer Teil aus Sinnkomplexen besteht, die der Zeit der Moderne angehören, bloß sind diese uns mittlerweile gleichsam zur zweiten Na-
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tur geworden, sodass wir nicht mehr
davon ausgehen, dass jeder, für den
solche Sinnmuster selbstverständlich
sind, als ein authentischer Vertreter
der Moderne anzusehen ist.
Aus den Tolkienschen Erzählmaterialien, die Spuren modernen Denkens zeigen und deshalb nicht vollständig mit dem Mythos oder mit
archaischen Epen übereinstimmen,
werde ich hier als Beispiel nur einen
Themenkomplex näher behandeln:
das Thema des Krieges. Der Krieg
ist bei Tolkien allgegenwärtig, er definiert den Normalzustand in „Mittelerde“, wo man sich schon seit jenen Zeiten bekriegt, als es noch keine
Elben, Zwerge, Orks und Menschen
gab und seit ihrer Ankunft erst recht
(„Die Schlacht an den Furten des
Isen“, „Der große Krieg des Zorns“,
„Das Verhängnis auf Schwertelfeldern“, „Die Schlacht der fünf Heere“
usw.). Die Verbindung zur bürgerlichen Moderne besteht darin, dass der
Krieg für Tolkien – wie auch für uns
alle – vor allem ein Politikum ist: ein
Konflikt von ethnischen Gruppen,
Stämmen oder Rassen um Herrschaft
und Territorien, ein Anlass zur Herstellung zweckmäßiger Koalitionen,
aber auch eine Gelegenheit, um auf
der eigenen Seite der Front alte Rechnungen zu begleichen, partikulare
Interessen durchzusetzen oder die
Krone zu erobern. Natürlich gibt es
Feindschaften und Konflikte auch im
Mythos, im Epos, in der volkstümlichen Literatur, aber dort ist der Krieg
kein ursprünglich politisches Phänomen. Denn die mythischen und
heidnisch-epischen Helden kämpfen in der Regel mit schrecklichen
Ungeheuern oder mit feindlichen
Gottheiten, während die Konflikte
zwischen den Menschen und ihren
Gemeinschaften sich hauptsächlich
aus privaten Gründen ergeben: In der
Ilias kämpfen die Achaier und Trojaner deshalb gegeneinander, weil Paris
Gefallen an einer fremden Frau findet, und Achilleus will nicht in den
58
RELA
Dossier: Zoran Kravar
Krieg ziehen, weil ihm der Heerführer seine Animierdame weggenommen hat; im Nibelungenlied stirbt
Siegfried, entwickelt Gunther territoriale Ambitionen, zerstört Attila
Burgund, weil Kriemhild Brünnhilde hämisch verrät, wer tatsächlich
in der Nacht nach ihrer Heirat mit
Gunther bei ihr lag. Im Unterschied
zu Tolkien hat die archaische Narration Schwierigkeiten damit, den Krieg
als eine politische Tatsache zu begreifen, weil sie ihn mystifiziert oder privatisiert, indem sie seine Ursachen
oberhalb oder unterhalb der Sphäre
des Systems zu finden glaubt.
In der Tolkienschen Prosa der modernen politischen Philosophie begegnet uns also ein reicher phantastischer Überbau und zugleich eine regressive Resemantisierung. Aus
einer Vielzahl an Beispielen wähle
ich wieder eines aus: die Nebenerzählung aus Der Herr der Ringe über
den Streit um Gondors Thron, den
Denethor als Statthalter provisorisch
eingenommen hat und auf den Strider alias Aragorn Anspruch erhebt.
Der Antimodernismus dieser Episode liegt in der Natur von Aragorns
Legitimation, die aus der Sicht des
modernen politischen Verstandes als
gegenstandslos erscheint (Aragorn ist
ein Nachkomme eines Königs, der
bereits 3000 Jahre vor dem Krieg
um den Ring starb). Eine nüchterne
realpolitische Skepsis wird in diesem
Buch selbst zum Ausdruck gebracht,
und zwar von Denethor, indem er
es ablehnt, sich vor einem Emporkömmling zu verbeugen, der von
einem Ahnherrn abstammt, dessen
„Würde und Ehre längst vergangen
ist“. Die Ideologie in Der Herr der
Ringe gestattet allerdings nicht, dass
Gondors politischer Streit im Geist
des politischen Rationalismus gelöst
wird, sondern sie favorisiert einen
Herrscher mit einer prämodernen,
transzendenten Legitimation. Und
genau hier greifen die Phantastik und
die weltanschauliche Archaik ein.
Beide haben die Geschichte über den
dynastischen Streit nicht hervorgebracht, aber sie beschleunigen dessen
antimoderne Auflösung: Aus dem
„zeitlichen Abgrund“ der Historie
von Mittelerde steigt die Geschichte
von Aragorns numenorischen Ahnen empor, die mit Zustimmung der
Valinorischen Gottheiten eingesetzt
wurden, und die Elben schmieden
Elendils zerbrochenes Schwert neu.
Den hohen Wert der Herkunft des
Thronprätendenten bestätigt zudem
die tote Armee aus Dunharrow, die
für ihn in den Krieg zieht, um einen drei Jahrtausende alten Verrat
zu sühnen. Positive Impulse gehen
auch von der musealen Landschaft
Mittelerdes aus, die über zahlreiche
Requisiten verfügt, welche sich ausgezeichnet für eine Übertragung uralter Entelechien in neue Schicksale
eignen. Wenn ich mich recht erinnere, wird sich Aragorn zusammen
mit den Seinen erstmals seiner herrschaftlichen Aura bewusst, als sein
Schiff die riesenhaften, königlichen
Klippen in der Schlucht des Großen
Flusses passiert:
Frodo drehte sich um und sah
Streicher. Aber war das noch Streicher? Der wettergegerbte Waldläufer war nicht wiederzuerkennen.
Am Heck saß Aragorn, Arathorns
Sohn, stolz und kerzengerade, und
steuerte das Boot mit geschickter Hand; die Kapuze hatte er
zurückgeschlagen, sein dunkles
Haar wehte im Wind, und seine Augen leuchteten: ein König
kehrte aus dem Exil zurück in
sein Land.
In der Art, wie sich in diesen Texten die Perzeption gesellschaftlicher
Erscheinungen, die die Zeitgenossenschaft mit uns belegen, mit aus
der literarischen Archaik übernommenen Motiven vermischt, scheint
mir das schriftstellerische Werk Tolkiens mit jenem kulturgeschichtlichen Phänomen verwandt zu sein,
TIONS
mit dem ich mich in den vergangenen Jahren sub voce „Antimodernismus“ beschäftigt habe. Denn auch
in der unter diesem Begriff von mir
zusammengefassten Literatur feiert
nirgendwo ein authentischer vormoderner Gedanke seine Auferstehung,
vielmehr begegnen einem regressive
Interpretationen moderner Thematiken, was mich zu der Einsicht in die
paradoxe Struktur einer „Modernität
des Antimodernismus“ geführt hat.
Allerdings gibt es bei den von mir
bislang studierten Antimodernisten
auch etwas, was bei Tolkien nicht
vorhanden ist, nämlich die Überzeugung, dass man die Moderne positiv
verändern kann. Der „transzendente
Realismus“ vormoderner Herrschaft,
über den Julius Evola (Aufstand gegen
die moderne Welt, 1934) schreibt, beinhaltet zahlreiche Aspekte, die sich
mit Aragorns Charisma vergleichen
ließen, aber Evola hofft darauf, dass
die Geschichte eines Tages die Möglichkeit bieten könnte, die moderne
Gesellschaft nach dem Modell der
„traditionellen Zivilisation“ umzugestalten. Demgegenüber verbleibt
die Tolkiensche Regression in der
Karantäne der mit dem Etikett reine Phantastik und ideologische Naivität versehenen Textsorten, sodass
die Wiederkehr des Königs auch von
denen genossen werden darf, die bei
den nächsten Wahlen für fortschrittliche Parteien ihre Stimme abgeben
wollen.
***
Ich komme jetzt zu dem Thema zurück, von dem ich ausgegangen bin:
zur Geschichte von den Kindern Húrins, d. h. von dem Sohn Túrin und
der Tochter Niënor. Sie hatte ich
schon in einem Kapitel aus Silmarillion bemerkt, in einem Buch, bei dessen Lektüre ich ständig zurückblättern („ach du meine Güte, da habe
ich schon wieder vergessen, wer dieser Fingolf ist, und wer war noch mal
Finarfin“) und immer wieder in die
RELA
TIONS
beigelegten Genealogien der Elben,
Zwerge und Menschen hineinschauen musste. In Silmarillion ist nämlich
ein umfangreicher Zeitraum thematisch relevant, es gibt eine Überfülle
an Figuren, kollektiven Subjekten,
Handlungen und (Kriegs-) Schauplätzen, sodass die Art der Darstellung sich stellenweise dem historiografischen Diskurs annähert und so
das Bedürfnis nach Appendices in
Form von Genealogien, Karten und
Namensindexen schafft. Hier wird
bereits jene Zusatzliteratur vorweggenommen („Geschichten“, „Enzyklopädien“ und „Atlanten“ von Mittelerde), in der die Welt der Tolkienschen Fiktion aus der erzählerischen
Linearität in eine lexikonartige Planimetrie umschlägt. Wer also Silmarillion mit den durch die Lektüre der
erzählenden Literatur erworbenen
Gewohnheiten liest, wird rasch ermüden und vieles sofort wieder vergessen. Zeitweilig kann man dann
doch aufatmen und das bei einigen
Episoden, in denen die chronologische Hast von einem ausführlichen
Erzählen abgelöst wird. Eine dieser Episoden ist die Erzählung von
Túrin, dem Sohn Húrins. Ihre Besonderheit war offensichtlich auch
Tolkien bewusst, da er die knappe
Version aus Silmarillion (die selbst
auf der Grundlage älterer Vorlagen
einschließlich einer unvollendeten
in alliterierenden Versen entstanden
war) zu einer eigenständigen Erzählung auszuarbeiten versuchte. Dieses
Vorhaben wollte er mehrfach umsetzen, besonders in der Zeit nach der
Fertigstellung des Herrn der Ringe.
Dabei gelang es ihm, fast alle Segmente der Erzählung zu entwickeln,
aber nicht im Rahmen eines identischen Arbeitsplans. Die aus diesen
Versuchen entstandenen Texte hatte
Tolkiens Sohn bereits in den nach
dem Tod seines Vaters erschienenen
Bänden veröffentlicht (am umfangreichsten und vollständigsten 1980
in dem Band Unfinished Tales). Jetzt
Dossier: Zoran Kravar
hat er sie gesammelt und mit eigenen, seiner eigenen Aussage nach
unbedeutenden Ergänzungen zusammengestellt.
Bei der Kommentierung von Erzähltexten verwendet man das Wort
„Mensch“ normalerweise als einen
metonymischen Ausdruck für eine
beliebige Textfigur („es handelt sich
um einen Menschen, der ...“). Bei
Tolkiens Texten muss man dieses
Wort ausschließlich in seiner buchstäblichen Bedeutung verwenden,
denn in den Geschichten von Mittelerde, und dies gilt insbesondere für
Silmarillion, spricht man über viele Textfiguren, die keine Menschen
sind. Insofern ist für Húrin, für seine Kinder und seine Frau Morwen
das Menschsein ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Auch in ihrer
Geschichte verflechten sich menschliche Schicksale mit den Lebenswegen von Elben und Zwergen. Wir
begegnen selbst einem Drachen, der
sogar einen Namen trägt (Glaurung)
und alle Merkmale eines intelligenten
Wesens vorweisen kann, einschließlich der Sprache. Er redet vernünftig,
ist überaus gut informiert und dabei
stets bösartig, sodass man allem, was
er äußert, den hämischen Selbstkommentar von Dantes Vanni Fucci hinzufügen könnte: „Dies sag ich Dir,
um dich damit zu kränken.“
Obwohl die Geschichte sich in einer
Zeit ereignet, die einige Tolkiensche
Jahrtausende vor dem Krieg um den
Ring liegt, ist das Szenario typisch
mittelerdisch: Menschen und Elben
– ab und an mit griesgrämiger Hilfe von Seiten egozentrischer Zwerge, aber häufiger ohne sie – kämpfen gegen Orks und Ungeheuer, nur
dass der dark lord hier Melkor/Morgoth heißt (auch Sauron ist schon
anwesend, allerdings als Morgoths
Diener), und die Wahrscheinlichkeit, dass die gute Seite eine Niederlage bei den Überfällen des Feindes,
bei den Zerstörungen und ethnischen Säuberungen in den eigenen
59
Ländern und Städten (Dor-Lómin,
Nargothrond, Gondolin, Menegroth)
erleidet, ist viel größer als im Herrn
der Ringe, wo es gelingt, die angegriffenen Territorien (Rohan, Gondor) zu verteidigen. Die Waffen, mit
denen gekämpft wird, sind identisch mit denen aus dem Herrn der
Ringe (Pfeil und Bogen, Speere und
Lanzen, Streitäxte sowie Schwerter,
die einen eigenen Namen tragen).
Hierin zeigen sich die Paradoxien
der mittelerdischen geschichtlichen
Zeit: Neben allen äußerlichen Signalen der Vergänglichkeit und Historizität (die Landschaft verändert sich
kataklysmisch, die Völker der Elben,
Menschen und Zwerge brechen zu
langen Wanderungen auf, ihre Staaten und Städte entstehen, bestehen
eine gewisse Zeit und vergehen wieder, Generationen von Menschen
mit ihren Eliten werden von neuen
Generationen mit neuen Eliten abgelöst) bleiben bestimmte Veränderungen vollständig aus wie die, die
man in unserer Welt unter dem Begriff des technischen und zivilisatorischen Fortschritts zusammenfasst.
Im Gegenteil, wenn die Rede ist von
der Erzeugung von Gütern und Artefakten, erfahren wir in Tolkiens Werk
immer wieder, dass die neuen Zeiten
den alten nicht gewachsen sind. In
Mittelerde hat ein zwei- oder dreitausend Jahre altes Schwert einen höheren Gebrauchswert als ein neues.
Auch dies könnte Gegenstand einer
ideologiekritischen Lektüre sein, bei
der die Affinitäten sichtbar werden
zwischen der Tolkienschen Sicht der
Geschichte als eines Prozesses der Dekadenz und der antimodernistischen
Geschichtsphilosophie, für die die
Veränderungen der wirklichen Welt
– trotz vorhandener Beweise für einen Fortschritt – nur als Segmente
einer auf lange Sicht fallenden Linie
erscheinen.
Diejenigen Leser, die nach der Lektüre von Húrins Kinder direkt zum
Herrn der Ringe übergehen wollen,
60
RELA
Dossier: Zoran Kravar
seien darauf hingewiesen, dass Tolkiens „sekundäre Welt“ in der Zeit
Húrins und Túrins anders aussieht
als auf den der Wiederkehr des Königs
beigelegten Landkarten. Die „Welt“
ist die gleiche und nennt sich Arda,
aber die Geschichte spielt sich in „Beleriand“ ab, dem westlichen Subkontinent des mittelerdischen Festlands,
der im Westen ans Meer grenzt und
in seinem Inneren Gebirge, Flüsse,
Wälder, Straßen, Dörfer vorweisen
kann, alle benannt mit einem reichhaltigen Schatz an Toponymen, die
auf ausgedachten Elbensprachen basieren und nicht immer leicht zu merken sind („Habe ich jetzt nicht Dorthonion mit Doriath verwechselt?“).
Das Problem mit Beleriand besteht
darin, dass es nur bis zum Ende der
ersten Ardaschen Ära existierte. Es
ging im „Großen Krieg des Zorns“
buchstäblich unter, dem letzten weltgeschichtlichen Ereignis in der Chronik von Silmarillion. Obwohl in diesem Krieg, in den sich auch die Gottheiten aus dem überseeischen Westen einmischten, Morgoth schließlich besiegt und aus dem sichtbaren
Weltall vertrieben wurde, gelangten
die Sieger zu der Überzeugung, dass
Beleriand unheilbar mit Morgoths
Bosheit infiziert war, sodass sie sich
dazu entschieden, es unter Wasser
zu setzen. Beleriands östlichstes Gebirge (Ered Luin) wurde so zur nordwestlichen maritimen Fassade von
jenem Mittelerde, durch das später
die Ringgesellschaft reist.
***
Obwohl die neu veröffentlichte Tolkiensche Erzählung den Umfang eines Romans vorweisen kann, ist es
nicht angebracht, sie mit diesem Begriff zu bezeichnen, weil ihre thematische Welt sich von dem unterscheidet, womit sich der Roman als
literarische Textsorte nun bereits seit
mehr als einem Vierteljahrtausend
beschäftigt. Auf Erzählungen, die der
Tolkienschen Erzählung wenigstens
entfernt ähnlich sind und in deren
Titel oder in deren Untertitel das
Wort „Roman“ vorkommt, werden
wir in der Literatur, die jünger als die
frühe Neuzeit ist, nicht stoßen. Wäre
die Erzählung Húrins Kinder wie ursprünglich gedacht in Versform verfasst worden, dann würde auf sie die
Bezeichnung „Epos“ zutreffen. Und
als Grundlage ihrer aktuellen Prosaform lässt sich auch wegen einer
entsprechenden Handlungs- und Figurenkonzeption der „epischen Zustand der Welt“ erahnen.
Die Hauptfigur in Húrins Kinder
ist Húrins Sohn Túrin. Er verfügt in
Übereinstimmung mit der mittelerdischen Skala ethischer Werte über
unbestreitbare Tugenden (Kraft, Mut,
Engagement für die Schwachen), sodass sein Einsatz für die richtige Seite während des ununterbrochenen
Kriegszustands im ersten Ardaschen
Zeitalter nicht in Frage steht. Dennoch stößt ihm von Kapitel zu Kapitel Unglück auf Unglück zu, und Unglück bringt er auch anderen, wobei
sich die Schicksale durch ein Zusammentreffen ungünstiger Umstände
oder durch tragische Ereignisse verändern, hinter denen man eine persönliche Schuld erahnen kann. Hier
eine gekürzte Liste der Unglücksfälle Túrins: er ist unfähig, sich einer
neuen Umgebung anzupassen (die
Elbengemeinschaft in Doriath), sein
übereilter Weggang aus Doriath verletzt die Einheimischen, enttäuscht
diejenigen, die ihn lieben, und einige von ihnen, die nach ihm suchen,
kommen dabei ums Leben. Durch
ein Zusammentreffen unglücklicher
Umstände tötet er den Elben Beleg,
seinen besten Freund. Die unterirdische Elbenstadt Nargothrond, wo
man ihn als Ratgeber in militärischen
Fragen aufnahm, setzt er, weil er seine Kampfkraft und seinen strategischen Verstand überschätzt, einem
tödlichen feindlichen Angriff aus.
Er kann die Liebe einer Elbenfürstin nicht annehmen, heiratet dafür
TIONS
am Ende unwissentlich seine eigene
Schwester, die er zuvor geschwängert
hat. Dieses letzte Unglück überlebt
er nicht: Konfrontiert mit der Wahrheit über seine Ehe wählt er den Freitod, nachdem sich vorher bereits seine Schwester umgebracht hat. Dass
er die Wahrheit erfährt, dafür sorgt
der Drache Glaurung, der von Túrin
zuvor tödlich verletzt wurde. In den
vorangegangenen Kapiteln fungierte
Glaurung übrigens als Regisseur der
unerlaubten Beziehung zur eigenen
Schwester: Bei der Zerstörung Nargothronds tötet er den Sohn Húrins
nicht, sondern er lässt ihn entkommen, sodass dieser auf dem Gebiet
von Beleriand herumirrt, wo sich
auch seine Schwester aufhält. Der
Drache Glaurung bewirkt, dass die
Schwester Túrins ihr Gedächtnis verliert, weshalb sie sich, als es zu der
verhängnisvollen Begegnung mit ihrem Bruder kommt, nicht richtig
vorstellen kann. Den Bruder hätte
sie so oder so nicht erkannt, weil er
sein Vaterhaus bereits kurz nach ihrer
Geburt verlassen hatte und in seinem
späteren Leben ständig seinen Namen änderte und seine Abstammung
verheimlichte.
Die Geschichte von Túrin ist übersichtlich aufgebaut, eine kumulativ
angelegte Aufeinanderfolge unglücklich endender Episoden, linear und
fast rhythmisch aneinandergereiht
werden sie von der Stimme eines
Chronisten erzählt, die durch die
Figurenrede zeitweilig ergänzt wird.
Sowohl der Erzähler als auch die Figuren beschäftigen sich mit Ereignissen in der äußeren Welt und bedienen sich dabei einer Sprache, die
dadurch, dass es ihr an Wörtern zu
fehlen scheint, mit denen sich das
Seelenleben ausdrücken lässt, viel
stärker als die zeitweilig eingestreuten lexikalischen und syntaktischen
Archaismen den Eindruck sprachlicher Archaik hervorruft.
Genauso wie die anderen Tolkienschen Bücher ist auch Húrins Kin-
RELA
TIONS
der im Hinblick auf seine rhetorische
Form und seine Sprachphilosophie
ein sehr konservatives Werk, unberührt von allen Entwicklungen, die
die erzählende Literatur vom Ende des Realismus bis zur Avantgarde umgewälzt haben, unberührt vor
allem von allen Überlegungen zum
Anteil des sprechenden Subjekts, des
Erzählens und der Sprache am Zustandekommen literarischer Themen
und sprachlicher Gegenstände. Während die moderne Prosa den Gedanken von der Welt erschaffenden
Produktivität der Sprache und seines Subjekts auch an einem Material ausprobiert, das die alltägliche
Wirklichkeit dokumentarisch vermittelt, herrscht in Tolkiens Werken,
in denen doch der Erzähler unmögliche Welten kreiert, die allesamt vom
Text sich nicht ablösen lassen, der
Anschein einer völligen Objektivität
der Berichterstattung.
Dies bedeutet nicht, dass Tolkien ein
uninteressanter Erzähler wäre. In den
Grenzen seines Konservativismus sowie in Übereinstimmung mit seinen
ungewöhnlichen Thematiken und
ihren weltlichen Horizonten gelingt
es ihm, seine Erzählkunst zu diversifizieren, sodass man hinsichtlich
jedes einzelnen seiner Werke sagen
kann, dass es anders erzählt wird. In
Silmarillion schlüpft die Stimme des
Erzählers in die Figur eines fiktiven
Elben-Chronisten, wobei der Anschein des Archaischen durch eine
Anlehnung an das Fachwissen über
die alte germanische Literatur, über
deren Texte und Stile erreicht wird.
Im Hobbit muss man sich an einen
Erzähler aus der Kinderliteratur gewöhnen, der mit dem Alter seines
Publikums rechnet, also mit einem
Publikum, dem nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen. Wir treffen hier auf einen Erzähler, der das Bildhafte, die
darstellerische Präzision, ein Erzählen ohne Digressionen, ohne zeitliche Sprünge liebt und dabei zu-
Dossier: Zoran Kravar
gleich noch Sinn für Humor zeigt.
Im Herrn der Ringe ist der Erzähltext
lakonisch und im Wesentlichen damit beschäftigt, die Veränderungen
in der sichtbaren Handlung aufzuzeichnen. Wenn die Textfiguren sich
ausruhen und miteinander reden,
kündigt er leicht kommentierend ihre Ausführungen und Redeauftritte
an. Dies geschieht in kurzen zusammenfassenden Passagen, die Regieanweisungen ähneln. Wenn sie aber
reisen, dann begleitet er jeden ihrer
Schritte mit ausführlichen und bis
ins Detail gehenden topographischen
Beschreibungen. Auskünfte über die
Hintergrundhandlung überlässt er
den Textfiguren. Dies gilt auch für
die umfangreiche Vorgeschichte, die
mehrere Kapitel aus der silmarillionischen und númenorischen „Mythologie“ umfasst. Wenn im Herrn der
Ringe von der Entstehung des zentralen Rings und von der der untergeordneten Ringe berichtet wird, von
Saurons tausendjähriger Vergangenheit, von Aragorns königlicher Herkunft, von der Geschichte Gondors,
dann ergreifen Textfiguren das Wort,
am häufigsten diejenigen, die mit einer übermenschlichen Hellsichtigkeit ausgestattet sind (Gandalf, Elrond, Galadriel).
Nicht nur im Herrn der Ringe, wo die
Textfiguren oft und lange sprechen,
sondern auch in anderen Texten zeigt
Tolkien Sinn für die Gestaltung der
direkten Rede und für die dramatische Konfrontation der miteinander
Sprechenden. Dies möchte ich nur
nebenbei bemerken, weil seine dialogische Rhetorik zusammen mit ihren Untergattungen eine gesonderte
Behandlung erforderlich macht und
diese auch verdient. Ich möchte allerdings einen Gesprächstypus hervorheben, der bei ihm häufig vorkommt
und für den es charakteristisch ist,
dass die Gesprächsteilnehmer nur
teilweise oder nur vorgeblich den
thematischen Gesprächsfaden fortspinnen, indem sie in ihre Repliken
61
einen gewissen Überschuss an Inhalt
einfließen lassen, normalerweise resultierend aus ihrer rassischen Natur
und der damit einhergehenden informatorischen Privilegiertheit. Eine solche Rhetorik gibt es bei Tolkien häufig, und zu ihr passt die Idee
Mittelerdes als eines rassisch und
kulturell bunt gemischten Raumes.
Besonders geschickt bedienen sich
die Elben dieser Rhetorik, wenn sie
sich mit Menschen unterhalten (dafür gibt es auch Beispiele in Húrins
Kinder) oder mit Hobbits (vgl. Hobbit, III; Die Gefährten, I, 3). Ihre
Extremform bilden Gespräche zwischen einander feindlich gegenüberstehenden Textfiguren. Diese reden
bei Tolkien ohne Lärm und Zorn,
aber mit dem Ziel, den Gesprächspartner tief zu erschüttern, um sich
an ihm zu rächen oder um ihn mit
Informationen zu vernichten, die belegen, dass ihr Wissen über ihn sein
Wissen über sich selbst übertrifft.
Ein schönes Beispiel hierfür ist das
Gespräch zwischen Húrin und Morgoth zu Beginn von Húrins Kindern
oder die grausame, wenngleich in ruhigem Ton formulierte Replik, mit
der der verletzte Drache Glaurung
der unglücklichen Niënor die Wahrheit enthüllt:
Sei gegrüßt, Niënor, Tochter
Húrins. Wir begegnen uns hier,
bevor wir beide sterben werden.
Freue dich, denn du hast endlich
deinen Bruder gefunden. Und jetzt
weißt du, wer er ist: ein Mörder
aus dem Hinterhalt, ein Schurke
für den Gegner, ein Wortbrüchiger
für den Freund und eine Schande
für seine Familie, Túrin der Sohn
Húrins! Aber das schlimmste seiner Verbrechen wirst du in dir
selbst noch spüren.
Eine solche rhetorische Überwältigung, ein solches rhetorisches Zustechen oder Vernichten gibt es nicht
oft in der Weltliteratur. Man könnte
es bei antiken Schriftstellern finden,
62
RELA
Dossier: Zoran Kravar
in Szenen, wo Götter mit Sterblichen reden oder hellsichtige Sterbliche mit weniger hellsichtigen, wahrscheinlich auch in Dantes Hölle und,
unserer Zeit näher stehend, in Wagners Musikdramen, zum Beispiel im
Gespräch zwischen Wotan und Fricke im zweiten Akt der Walküre oder
zwischen dem Reisenden/Wotan und
seinen Gesprächspartnern (Mime,
Alberich, Erda) im Siegfried.
***
Wie ich schon gesagt habe, lese ich
Tolkien in erster Linie deshalb mit
Elan und mit einem Gefühl des Verständnisses, weil ich ihn als eine Fortsetzung jener nicht realistischen Literatur erlebe, wie ich sie vor langer
Zeit kennen gelernt habe und von
der ich mich nie ganz getrennt habe. Seine Geschichten – manchmal
im Geiste der Tradition, manchmal
originell und eigenwillig – verlebendigen, transformieren und reorganisieren Motive aus dem mythischen
und folkloristischen Erbe, während
in der Charakterisierung seiner Figuren die Tugenden und Fehler, die
Taten und die Versäumnisse der archaischen Herrscher, der Hellseher,
der Krieger und der Drachentöter
wiederauferstehen.
Dies gilt auch für das Werk Hurins
Kinder bzw. für das Schicksal seiner Hauptfigur Túrin. Zwei aus der
Reihe seiner unabsichtlichen Fehler
– die Tötung des Freundes und die
blutschänderische Ehe – erscheinen
wie eine Variation der unbewussten
Untaten des jungen Ödipus. An die
Erzählung über Siegfried, allerdings
eher in der Wagnerschen Version als
in der ursprünglichen Fassung, erinnert die Tötung des Drachen, aber
noch deutlicher der Umstand, dass
Túrin durch sein eigenes Verhalten
seine einzigartige Tugend vernichtet. Das Motiv der frühen Trennung
von Bruder und Schwester und ihre spätere Wiederbegegnung in der
Rolle einander potentiell Liebender
stammt aus den Erzählschemata der
volkstümlichen Ballade, die tragische
Verwicklungen favorisiert, und zwar
insbesondere solche, zu denen es zwischen den Mitgliedern des engeren
Familienkreises kommen kann (vorsätzlicher oder unbeabsichtigter Brudermord, Vatermord, Blutschande).
Allerdings denke ich, dass Túrins Geschichte von den erwähnten Werken
und Traditionen abweicht, und zwar
aufgrund ihrer etwas bestimmteren
ethischen Dimension, die uns in dem
Maße bewusst wird, wie es uns bei
Túrin schwerer fällt, ihm seine Fehler
zu vergeben. Ödipus geht zugrunde,
weil er nicht gleich nach seiner Geburt getötet wurde, Siegfried macht
unter dem Einfluss der Manipulationen Hagens die falschen Zügen, gegen die Figuren aus der Ballade arbeitet ein undurchschaubares Schicksal.
Demgegenüber scheint Túrin sein
Unglück selbst zu provozieren, durch
seine Anhänglichkeit gegenüber falschen ethischen Normen, durch seine problematische Weltanschauung
– und das unter Bedingungen, unter
denen er wählen kann und über ein
äußeres Korrektiv verfügt. Seine Hybris, so scheint es, besteht darin, dass
er sich auf seine Menschlichkeit und
auf die menschliche Natur im Allgemeinen verlässt. Ein reiner Humanist
zu sein ist für viele selbst in unserer säkularisierten Welt nicht gerade empfehlenswert, dies ist jedoch auf jeden
Fall die falsche Entscheidung in Mittelerde, wo über den Menschen gute
und schlechte Gottheiten und Halbgottheiten (Valar und Maiar) stehen,
wo ihn Elben hinsichtlich Vernunft
und Ethos überragen, und sogar die
Zwerge, die lange leben und sich alles
gut einprägen, mehr Erfahrung vorweisen können. Túrin erschüttert mit
seinen Unternehmungen diese Ordnung, die er auch mit seinen Worten
bekämpft. In der Polemik mit dem
Elben Gwindor aus Nargothrond, in
der am deutlichsten Túrins Weltsicht
zum Ausdruck kommt, stellt er sich,
TIONS
indem er den offenen Krieg mit Morgoth befürwortet, der Weisheit der
Elben entgegen und wagt sich sogar,
die Götter in Zweifel zu ziehen:
“Valar!“ sagt Túrin. „Sie haben euch verlassen und verachten
die Menschen. Worin besteht der
Nutzen, wenn man übers endlose Meer blickt und sieht, wie
die Sonne im Westen untergeht?
Hier ist ein Valar, um den wir uns
kümmern müssen, und das ist
Morgoth, und wenn wir ihn am
Ende nicht besiegen können, so
können wir ihn doch wenigstens
verletzen und behindern.“
Diese Worte sind blasphemisch und
widersprechen zudem den weltgeschichtlichen Hoffnungen der Elben, die Gwindor in seiner Erwiderung auf Túrins skeptische Äußerung
verdeutlicht: „Bei uns gibt es eine
Prophezeiung, die besagt, dass eines
Tages ein Bote aus Mittelerde durch
den Schatten nach Valinor gelangt,
und Manwë wird ihm gehorchen.“
Diese Eschatologie intendiert eine
andere Politik als die Túrins: Bis zur
versprochenen Lösung (die am Ende der ersten Ära sich tatsächlich einstellt) gilt es, sich zu verstecken, sich
zu bewahren und abzuwarten.
Der Konflikt zwischen den Positionen Túrins und Gwindors ist nicht
dramatisch, zumal der Leser früh begreift, dass übermächtige böse Kräfte gegen Túrin eine Intrige spinnen,
und man weiß, dass sein menschliches Selbstbewusstsein falsch ist. Das
Drama besteht vielmehr darin, dass
ihm mehrfach, aber stets vergeblich,
die Gelegenheit geboten wird, durch
die Revision seines Anthropozentrismus, d. h. durch das Akzeptieren der
Ratschläge und Ermahnungen seitens der Elben, all seinem Unglück
zu entkommen, wenigstens aber einem Teil davon: Wenn er auf seinen
Freund Beleg gehört hätte, wäre er in
das sichere Doriath zurückgekehrt;
wenn er auf Gwindor gehört hät-
RELA
TIONS
te, wäre Nargothrond nicht gefallen
oder hätte wenigstens rechtzeitig evakuiert werden können; wenn er die
Liebe der Elbenfürstin erwidert hätte, wäre es nicht dazu gekommen,
dass er seine Schwester heiratet.
Wenn wir von der tiefen Fiktion in
das Reich ihrer Entstehung übergehen und den Autor ins Blickfeld rücken, dann könnten wir sagen, dass
Tolkien in der Figur Túrins den Individualismus abstraft, während er
eine ganze Reihe anderer menschlicher Textfiguren für ihre Zusammenarbeit mit den Elben und für ihre Bereitschaft zur Anerkennung der mittelerdischen natürlichen Ordnung
belohnt. Eine naheliegende und die
zugleich schärfste Antithese zu Túrin
ist Tuor, sein Verwandter, gleichwohl
Textfigur in einer selbstständigen Geschichte. Nicht nur, dass er an die
Götter glaubt, sondern er spricht
auch mit einem von ihnen, und die
Elbenfürstin, die ihn liebt, nimmt er
zur Frau. Die Richtigkeit ihrer Beziehung wird auch dadurch bestätigt,
dass aus ihr Earendil hervorgeht, der
Bote aus Gwindors Prophezeiung.
***
Eine Opposition vom Typ Túrin – Tuor existiert in Tolkiens Geschichten an
mehreren Stellen, zumal auch unter
den Elben Individualisten zu finden
sind. Der größte und der zugleich
schlimmste Individualist in Mittelerde aber ist Melkor/Morgoth, der ursprünglich zum ardaschen Gottesensemble zählte, aber sich von diesem
bereits bei der Erschaffung der Welt
trennte. Die Bemerkung, dass der Individualismus in Tolkiens „sekundärer Welt“ zum Bösen oder zum Untergang führt, ist ein schöner Anlass,
noch einmal daran zu erinnern, wie
interessant die Tolkienschen Werke
als mögliche Vorlage für eine ideologiekritische Lektüre sind.
Als ich eingangs bereits über den Sinn
eines solchen Zugangs zur Tolkienschen Fiktion schrieb, beschäftigte
Dossier: Zoran Kravar
ich mich kurz mit dem Gegensatz
Denethor – Aragorn, den ich als Ausdruck eines Konflikts zwischen unterschwellig modernen und antimodernen Vorstellungen über die Legitimation von Herrschaft in dem von
der Phantastik umgebenen und zugleich mit der Erfahrung der modernen Welt vermittelten Ereigniskontext dieses Textes interpretiert habe.
Ich glaube, dass die Geschichte von
Túrin sich aus ähnlichen Bestandteilen zusammensetzt, nur dass hier
der Vertreter der modernen Wertvorstellungen (des anthropozentrischen
Individualismus) ohne einen Gegensatz zu einer archaischen Alternative
(die man in den anderen Geschichten finden kann) zerbricht. Auch der
Ereignisrahmen erscheint nur von
außen als phantastisch, weil er mit
einem lang andauernden Kriegszustand identisch ist, der, wie auch woanders bei Tolkien, den historischen
Kriegen näher steht als den mythischen und epischen. Der Ausgangspunkt in der Realerfahrung, und
dies stimmt mit den Daten und Fakten aus Tolkiens Biographie überein,
könnte der Erste Weltkrieg im Zusammenspiel mit seinen literarischen
Präsentationen gewesen sein, die gemeinsam bei Schriftstellern unterschiedlicher ideologischer Orientierung die einhellige Vorstellung vom
Krieg als einer alles umfassenden Gewalt erzeugten: Für diejenigen, die
1918 aus den Schützengräben zurückkehrten, hatte sich der Krieg ohnehin nicht auf der Welt abgespielt,
sondern die Welt war im Krieg gewesen. Auch Tolkiens Kriege sind in
diesem Sinne „Welt“kriege: In seinem
Buch Silmarillion ist, nachdem Morgoth durch „plötzliches Feuer“ die
Blockade durchbrochen hat, keiner
in Beleriand mehr sicher, im Herrn
der Ringe werden die entscheidenden Schlachten im Südosten geführt,
aber die Hobbits begegnen bereits
in Breej Flüchtlingen und Spähern,
Sam Gamdschie erscheint in Galad-
63
riels Spiegel die Vision einer möglichen Verwüstung des fernen Auenland, während Frodo vom steinernen
Stuhl auf Amon Hen den Krieg auf allen vier Seiten der Welt wüten sieht.
Für einen Schriftsteller, der Kriege
in Übereinstimmung mit den ethischen Prinzipien der modernen Zeit
beschreibt und literarisiert, würde ein
Mensch vom Schlage Túrins, der in
einer nicht metaphysischen Weise an
die Kriegswirklichkeit herangeht, der
die Fähigkeit zu führen besitzt, sodass
aus Wegelagerern Partisanen werden,
der kleine Offensiven vorbereitet und
das Leben in den befreiten Gebieten organisiert, sich nachgerade dazu anbieten, als positives Beispiel zu
fungieren und durch ein glückliches
Ende oder durch den Heldentod ausgezeichnet zu werden. Die literarische und filmische Fiktion, die mit
den Ideologien der liberal-kapitalistischen Modernisierung einhergeht,
ist vollgestopft mit Kriegsindividualisten, die als positive Helden dienen,
von den „jungen Löwen“ bis zu Rambo
I, II und III. Die Tatsache aber, dass
in Húrins Kinder die in Túrins Worten und Werken verkörperten Werte entwertet werden, sehe ich als ein
weiteres Symptom für Tolkien Antimodernismus an. Denn gerade die
antimodernistischen Kreise von den
Nietzscheanischen Vitalisten bis hin
zu den konservativen Revolutionären
und den Ideologen einer christlichen
Restauration haben die Kritik des
modernen Individualismus und die
Favorisierung einer anderen Philosophie vom Menschen und der menschlichen Gemeinschaft forciert.
Tolkiens Antimodernismus ist keine reine Hypothese, die sich allein
durch eine methodologisch voreingenommene Analyse seiner Erzählungen verteidigen lässt. Von der
Unbehaglichkeit in der modernen
Welt berichtet der Autor auch in
seinen nichtfiktionalen Texten, besonders in dem Essay On Fairy Stories (1939 – 47), wo er sie mit der
64
RELA
Dossier: Zoran Kravar
„Wildheit des Herzens“ eingesteht,
was ich in den Repliken seiner Figuren so niemals gespürt habe, auch
nicht in denen von Morgoth oder in
den Repliken des Offiziers Saurons
vor dem Schwarzen Tor. Der Essay
über die Märchen beinhaltet auch
eine kleine Liste moderner Übel,
durch die wir in Versuchung geraten, die Tolkienschen Bestandteile
der „Sub-Kreationen“, besonders die
durch Schönheit oder Hässlichkeit
ausgezeichneten, als ein imaginäres
Echo auf vermeintliche ästhetische
und ethische Defizite „unserer Zeit“
aufzufassen: die hässlichen als phantasievolle Vituperationen und die
schönen als „eskapistische“ Entschädigungen. Die von Tolkien mit einer
geradezu unwirklichen Güte ausgestatteten Gestalten wie Earendil und
Frodo oder die hypertrophen Schönheiten wie Lúthien und Arwen können wir vielleicht besser begreifen,
wenn wir sie auf der Grundlage der
allgemeinen Haltung des Autors zum
„Bösen und Hässlichen“ als allgegenwärtigen Kennzeichen des modernen
Lebens betrachten. Die Architektur Tirions, Gondolins und Bruchtals ist vielleicht eine ästhetizistische
Antithese und Angband und BaradDúr eine Verhöhnung der „Hässlichkeit“ moderner Gebäude, von der
im Essay über die Märchen wiederholt und mit Nachdruck gesprochen
wird. Zur modernen Politik äußert
sich Tolkien in diesem Text nicht,
aber die Gründe, weswegen sein Denethor geht und Aragorn kommt,
Túrin scheitert und Tuor erfolgreich
ist, lassen erahnen, dass auch in ihr
Defekte vorhanden sind, ja sogar, wo
diese sich befinden.
***
Jedoch, ihr Liebhaber des Tolkienschen Werks, fürchtet euch nicht.
Nachdem ich die Anwendbarkeit
meiner geliebten hermeneutischen
Methode auf das Tolkiensche Opus
erprobt habe, denke ich nicht im ent-
ferntesten daran, dass Húrins Kinder oder Der Herr der Ringe nur die
Summe dessen sind, was man über
sie mit Hilfe der vorgegebenen Methode oder mit irgendeiner anderen erfahren kann. Einen Literaturwissenschaftler, der ein literarisches
Werk mit einer derartigen Überzeugung analysiert hätte, könnte man
mit jenem Einwand konfrontieren,
mit dem Gandalf in den Gefährten
Saruman rügt: „Wer eine Sache zerstört, um sie zu erkennen, verlässt
den Pfad der Weisheit.“ Wem es
gelingt nachzuweisen, dass in dem
von ihm untersuchten Werk nicht
viel mehr vorhanden ist als das, was
durch die Analyse sichtbar gemacht
werden konnte, muss nicht vom Pfad
der Tugend abgewichen sein, aber er
hat in diesem Falle seine Zeit damit
verschwendet, sich mit schlechter Literatur abzugeben.
Die Erzählung Húrins Kinder kann
allerdings eine ausreichende Anzahl
an motivischen und strukturellen
Bestandteilen vorweisen, die dahingehend wirken, dass auch ein erfahrener Leser zum einen ermuntert
wird, weiterzulesen, zum anderen
entmutigt wird, seine literaturwissenschaftliche Neugierde einzusetzen. Die Handlungsführung ist so,
wie sie sein muss. Wenngleich episch
linear erzählt, sind die einzelnen Ereignisse gut aufeinander abgestimmt,
so stehen die Anhäufung der Túrinschen Schuld und die Entwicklung
der Katastrophe in einem sinnvollen
Verhältnis zueinander. Und die Spannung wird noch verschärft durch die
Konfrontation von Túrins Selbstgewissheit mit einer unklaren, aber
doch wahrnehmbaren Ankündigung
des unglücklichen Endes. Kurz gesagt, es sind alle Bedingungen gegeben, unter denen ein reading for
the plot das kritische Stirnrunzeln
und die analytische Nachdenklichkeit
verhindern. Und dann sind da auch
noch die normalen Tolkienschen Köder: die verhängnisvollen Gesprä-
TIONS
che zwischen Gesprächspartnern verschiedenartiger Rassen, Weisheit und
Hellsichtigkeit, großartige thematische Requisiten (große Räume, eine
wilde Natur, riesige Gebirgsketten,
ein diabolischer Feind) und natürlich
vor allem die melancholischen Landschaften, in denen sich die geschichtliche und kosmogonische Tragik von
Mittelerde und des ganzen Ardas als
unfruchtbare und gleichwohl hübsch
ausgedachte Kreationen verdichtet.
Aber selbst in den Augenblicken,
in denen subliminale ideologische
Botschaften die einfache Freude des
Lesens ein wenig trüben, kommt
es nicht notwendig dazu, dass auch
die ästhetische Zufriedenheit gestört
wird. Die baufälligen antimodernistischen Phantasien, die verbrauchten regressiven Weltbilder können
nämlich aus sich selbst heraus, befreit von den fiktionalen Inszenierungen zum ästhetischen Gegenstand
werden, zu einem Modell, das Untergangssentimente zum Ausdruck
bringt, die nicht auf das beschränkt
werden können, wozu der Ruinenkult in der vorromantischen Malerei
geführt hat: zu Szenen mit zerstörten,
von Efeu überwucherten Schlössern
oder Klöstern, um die herum unwissende Hirten ihre Herden weiden.
Obwohl ich normalerweise am Ende eines Artikels nicht einen neuen
ankündige, gestehe ich ein, dass ich
mich in absehbarer Zeit gerne mit
den Entwicklungen und Erschütterungen des kulturellen Gedächtnisses beschäftigen möchte, die die
Umfunktionierung verworfener regressiver Weltbilder zu ästhetischen
Attraktionen ermöglichen. Damit
zugleich kündige ich an, auch weiterhin die Tolkienschen Texte lesen
zu wollen, denn das Phänomen des
weltanschaulichen Ruinenkults kann
man nicht ernsthaft ohne einen Blick
hinein in die Geschichten aus Mittelerde bearbeiten.
Aus dem Kroatischen von
Ulrich Dronske
RELA
TIONS
65
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
66
Dossier: @arko Pai}
RELA
TIONS
ŽARKO PAIĆ wurde am 16. Oktober 1958 in Kutina geboren. Er ist Dozent
am Studium für Modedesign an der Textiltechnologischen Fakultät der
Universität in Zagreb, wo er Kultursoziologie, Modetheorie, Semiotik und
visuelle Kommunikationen unterrichtet. Sein Diplom in Politologie und
seinen Magistertitel für Philosophie hat er an der Fakultät für Politikwissenschaften in Zagreb gemacht und an der Philosophischen Fakultät in
Zagreb den Doktortitel in Soziologie. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift
für Theorie, Kultur und visuelle Künste Tvrđa, Vize-Chefredakteur der Zeitschrift Europski glasnik und Redaktionsmitglied des Magazins für visuelle
Künste Art-e-fact. Außerdem war er Chefredakteur des Verlagshauses
Izdanja Antibarbarus. Gemeinsam mit dem Zentrum für visuelle Studien
in Zagreb organisierte er das internationale interdisziplinäre Symposium
für visuelle Kultur und Kunst („Visual Construction of Culture“, Zagreb,
Oktober 2007). Außer Studien in den Bereichen Philosophie, Soziologie
und Theorie der Kunst und Ästhetik veröffentlicht er auch literarische Essays. Er ist der Verfasser dreier Gedichtbände (Aura, Hrvatska sveučilišna
naklada, Zagreb, 1994, Opako ljeto, Ceres, Zagreb, 1998 und Uronjeni, Fraktura, Zaprešić, 2009). Seine Gedichte
fanden Einzug in drei Anthologien der modernen kroatischen Gedichtkunst. Übersetzungen seiner Studien, Essays
und seiner Poesie wurden in Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht, in englischer, französicher, deutscher,
slowenischer, ungarischer, rumänischer und slowakischer Sprache. Er wurde mit dem internationalen Literaturpreis
für die Literatur mitteleuropäischer Länder der österreichischen Stiftung KULTURKONTAKT aus Wien für das Jahr 2008
ausgezeichnet.
Veröffentlichte Bücher:
Njihalo na kraju stoljeća: kraj europskoga uma A.D. 1992., Biblioteka Hrvatskog radija, Zagreb, 1993; Aura (Poesie),
Hrvatska sveučilišna naklada, Zagreb, 1994; Postmoderna igra svijeta, Durieux, Zagreb, 1996; Gotski križ, Ceres,
Zagreb, 1997; Opako ljeto (Poesie), Ceres, Zagreb, 1999; Idoli, nakaze i suze: ideologijsko podjarmljivanje umjetnosti
u XX. stoljeću, DHK, Zagreb, 2000; Montaigneov rez, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2004; Plemenski zavjet krvi, Plima,
Ulcinj, 2005; Politika identiteta: kultura kao nova ideologija, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2005; Slika bez svijeta:
ikonoklazam suvremene umjetnosti, Litteris, Zagreb, 2006; Izgledi povijesnog mišljenja: zbornik radova povodom
osamdesete obljetnice rođenja Vanje Sutlića (Hrg.), Izdanje časopisa Tvrđa, HDP-Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2006;
Moć nepokornosti: intelektualac i biopolitika, Izdanja Antibarbarus – Plima, Zagreb – Ulcinj, 2006; Projekt slobode:
Jean-Paul Sartre – filozofija i angažman, Biblioteka časopisa „Nova Istra“, Pula, 2007; Traume razlika, Meandar,
Zagreb, 2007; Vrtoglavica u modi: prema vizualnoj semiotici tijela, Altagama, Zagreb, 2007; Događaj i praznina:
ogledi o kraju povijesti, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2007; Vizualne komunikacije: uvod, Centar za vizualne studije,
Zagreb, 2008; Uronjeni (Poesie), Fraktura, Zaprešić, 2009
RELA
TIONS
67
Landkarten für Irrende
Nomadentum und Chaos am Ende der Geschichte
Žarko Paić
1. Verloren im Territorium
D
er österreichische Schriftsteller
jüdischer Abstammung Gustav
Meyrink, Autor der phantastischen
Erzählung über den Riesen Golem,
sagt in einer seiner Parabeln: Sie irren durchs Leben dem Grabe zu wie
Schwaden, die der Windhauch in den
Sumpf zurücktreibt. Irrungen und
Gräber, Winde und Sümpfe, gehören zum uralten Motiv des jüdischen
Ahasvertums. Das Irren durch die
Wüste auf der Suche nach dem gelobten Land ist die universelle Symbolik
der Leiden und der Ohnmacht der
Menschheit. Das gelobte Land zeigt
sich nie. Alles, was übrigbleibt, ist die
Erfahrung der Gefangenheit des Irrenden in seinem ewigen Irren durch
die Wüste. Wir wissen, dass Meyrinks
„Wüste“ die imaginäre Raum-Zeit
des geistigen Mitteleuropas ist. Aber
hier geht es nicht um Nostalgie nach
einer verlorengegangenen Nostalgie
aus der kulturellen Geschichte des
modernen Europas.
Das Reisen hat ein Ziel, das man
zu erreichen trachtet. Das Irren, so
scheint es, ist ein aussichtsloses oder
zielloses Reisen. Zum Reisen kann
man nicht verurteilt sein. Es ist eine
Sache der Wahl. Aber die als Irren
1
2
begriffene Geschichte ist eine Art
Verurteilung zur vergeblichen Suche nach dem Ziel. Auf Reisen ist es
unmöglich, sich zu verirren, denn es
existieren Landkarten und gekennzeichnete Wegpunkte. Irren ist im
Vorhinein zum Verirren verurteilt,
zum Verirren im – Territorium? Der
Fremde, der Irrende, der Entwurzelte, der Heimatlose, der Emigrant,
der Nomade... Die Geschichte der
modernen europäischen Literatur
und zugleich auch der Philosophie,
die diese als Idee ermöglicht hat, ist
wahrlich eine Geschichte derartiger
Menschenfiguren, die ohne etwas
fixes und beständiges geblieben sind
oder sich auf der Flucht vor den Gefahren befinden, die aus der kollektiven Herkunftsbesessenheit hervorgehen, wie etwas Nationalismus, Rassismus oder die totalitären Ideologien des Faschismus, Nazismus und
Leninismus/Stalinismus. In der Welt
der Literatur scheinen diese Figuren
gleichbedeutend zu sein. Für all diese Figuren steht außer Zweifel, dass
es sich um den Anderen handelt. Sie
sind Mitglieder einer Minderheit in
Verhältnis zur Mehrheit einer Gemeinschaft. Die ethische Unreduzierbarkeit des Anderen als Person,
die in Gemeinschaft mit anderen (der
andere Andere) konstituiert wird, erweist sich schließlich nur als eine Art
Postulat. Dies, nämlich die Achtung
des Anderen, sollte ein universeller
Wert sein. Die reale Lage gestaltet
sich allerdings völlig anders.
Die Ethik gibt moralische Ziele vor.
Aber sie gibt sie stets aus der Perspektive einer bedingungslosen Erfüllungspflicht in der Zeit der Prozessualität vor. Emmanuel Lévinas
war bestrebt, auf dem Spuren der
Phänomenologie den Gedanken der
Unterscheidung und der Identität zu
errichten.1 Der Andere und anders
sein in der Bedeutung der Nichtverwurzeltheit in den Stereotypen der
mehrheitlichen Gemeinschaft heißt,
Angehöriger von etwas Fremdem und
Beunruhigenden zu sein. Aber dieses
Denken ist als Ganzes ethischer Horizont und kein existenzielles Gefüge
realer Strukturen gesellschaftlicher
Vernetzungen und Verhältnisse der
Machtverteilung in der Welt.2 Der
Fremde ist nicht der Andere, weil
er ein Fremder wäre, sondern, weil
er den Ereigniszentren der modernen politischen Machtartikulierung
zugleich fern und nahe ist. Warum
besetzte die Figur des Nomaden die
Plätze scheinbar synonymer literarischer Figuren des europäischen Mo-
Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit Versuch über die Exteriorität, V. Masleša, Sarajevo, 1976. Aus dem Französischen von Nerkez
Smailagić.
Alain Badiou, Ethics: An Essay on the Understanding of Evil, Verso, London – New York, 2001, S. 18-29.
68
dernismus und der europäischen Dekadenz? Was hat die Figur des Nomaden mit der existentiellen Stellung des modernen Immigranten in
den kapitalistischen „Lagern“ und
„Camps“ westlicher liberaler Demokratien zu tun?
Der Sinn des Nomadentums bezeiht
sich heutzutage, im Zeitalter des Chaos am Ende der Geschichte, auf nichts
Literarisches mehr. Es handelt sich
um keine literarische Figur, keine literarische oder künstlerische Bewegung. Das Nomadentum ist in dieser
Hinsicht bloße Metapher für den
Zustand ständiger Bewegung in der
Welt, nachdem diese, seit der Zeit
der westlichen Kolonisierung, zur
Raumzeit kapitalistischer Expansion
geworden ist. Das Jahr, das auch symbolisch den Beginn dieses Zustands
darstellt, gehört zum Ende des 15.
Jahrhunderts – 1489. Auf seiner dritten Reise erobert Christoph Kolumbus Amerika und betritt mit seinen
Schiffen fremdes Territorium. Im
gleichen Jahr stirbt auch der größte
Inquisitor in der Geschichte – Tomaso de Torquemada, ein dominikanischer Priester und Verfolger von Juden, Mauren, Ketzern und Frauen,
die als Hexen angezeigt und verurteilt
wurden. Er hatte über 300.000 spanische Mauren/Araber und Juden jenseits der Pyrenäen verbannt. Der Beginn der westlichen Moderne ist der
Beginn des planetaren Nomadentums
als Bewegung / Umsiedlung von
a) Technologie und Kapital,
b) Völkern auf der Suche nach
neuen Territorien,
c) Kulturen in der Bezeichnung
fluider und hybrider Identität.
Das Nomadentum ist kein geistiger
Zustand des sich dem Entwicklungsraum der modernen Nation / des
Staates nicht zugehörig und als in diesem nicht verwurzelt Empfindens.
3
RELA
Dossier: @arko Pai}
Dieser Modebegriff verbreitete sich
nach dem Erscheinen von Gilles Deleuze / Felix Guattaris bahnbrechender Schrift Anti-Ödipus in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.3 In
deren Werk kommt dem Nomadentum eine völlig andere Bedeutung
zu, als jene des so oft besungenen,
postmodernen, durch die als Labyrinth der neuen Medien begriffene
Welt Irrenden. Der Begriff wurde
entleert, weil der Nomade nicht als
Person, die durch einen unbestimmten Raum irrt, „Subjekt“ ist, sondern
als Angehöriger eines Stammes, eines Volkes, einer Gemeinschaft ohne festen Aufenthaltsort. So, wie es
in der zeitgenössischen Kunst keine
neomoderne Bewegung gibt, keinen
derartigen Stil oder gar eine Tendenz,
die Voraussetzungen der modernen
Kunst zu überwinden, bezieht sich
auch die Bezeichnung des Nomadentums im literarischen Sinn auf nichts
als Idee bestimmtes. Um zum Konzept im Sinne einer künstlerischen
Bewegung zu gelangen, benötigt das
Nomadentum zweier Dinge:
1) dass sich die Kunstwerke ausschließlich mit einem Aspekt des
modernen Nomadentums befassen, etwa mit der Berührung mit
Wandervölkern außerhalb der modernen Geschichte (z.B. die zeitgenössische Kunst der Aborigines
oder der Tuareg);
2) dass eine „Story“ theoretisch konstruiert wird, die die zerstreuten
Fragmente von etwas scheinbar unzusammenhängendem aufgrund
der fluiden Idee der Bewegung
des Künstlers über die imaginären,
symbolischen und realen Grenzen
der modernen Geschichte hinweg
in ein nichtganzheitliches Ganzes
einfügt.
In beiden Fällen handelt es sich um
etwas Selbstverständliches. Aber da-
TIONS
durch, dass es selbstverständlich ist,
ist es auch äußerst problematisch.
Was, nämlich, ist die moderne Geschichte? Es handelt sich hier nicht
um das bloße historiographische Problem der Bestimmung einer solchen
Geschichte. Die moderne Geschichte des Westens ist allein dadurch
modern, dass sie radikal mit jeglichem territorialen, national-staatlichem Verwurzelungsmythos bricht.
Die moderne Geschichte ist, um mit
Braudel zu sprechen, die Grammatik
der Zivilisationen der Weltgeschichte. Ihr Schicksal ist das absolute Nomadentum in allen geographischen
Gebieten der Welt. Die moderne
Kunst und die moderne Geschichte
sind gleichen Ursprungs. Die Hinausgeworfenheit aus dem heimatliches Wohnort in das Irren durch die
Welt, die Bewegung und Zirkulation von Ideen, Arbeitskraft, Kapital,
Technologie – das ist das einzige, was
die Welt, die wir modern nennen,
in ihrem Gleichgewicht hält. Aber
Gleichgewicht ist immer eine Frage
des Falls in den Zustand der Entropie. Jeder Teil einer komplexen Ordnung strebt dem Zerfall zu. Jeder Teil
wird erst im Ganzen aufs neue zusammen- und auseinandergefügt.
Auf die Frage, wer sich heute als Nomade bezeichnen kann, gibt es nur
eine unbestimmte Antwort: alle und
/ oder niemand. Der Nomade ist nicht
der sogenannte Weltreisende. Er ist
auch nicht der künstlerische Wanderer durch verschiedene kulturelle Welten. Im Unterschied zu den
Begriffen der Emigration, des Dissidententums und der Heimatlosigkeit, sind Nomaden in der modernen
Welt alles andere als Irrende. Sie sind
zeitweilige Migranten, aber keine illegalen Einwanderer in der imperialen Ordnung der globalen westlichen Welt. Nomaden stürzen nicht
die legitime Ordnung der politischen
Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Izdavačka knjižarnica Zorana Stanojevića, Sremski Karlovci,
1990. Aus dem Französischen von Ana Moralić.
RELA
TIONS
Einschließung / Ausschließung, die
auf der Idee des modernen Nationalstaates gründet. Die Europäische
Union als Projekt stellt den kosmopolitischen Bürger nicht an die Stelle des kulturell bestimmten Subjekts
der Anerkennung durch Nationen /
Staaten. Sie verallgemeinert lediglich den kontingenten Inhalt der
Volkssouveränität der Staaten auf
der Ebene einer föderalen Struktur
ökonomisch-politischer Macht. Illegale Einwanderer kehren tatsächlich nie in ihre „Heimaten“ zurück.
Nomaden kehren nach ihren Wanderungen stets zur Anfangsstellung
der Reise zurück. Illegale Einwanderer sind heute die einzig verbliebene
Spur der totalen Mobilisierung des
Nomadentums von Kapital / Technologie, Völkern und Kulturen in der
globalen Weltordnung.
Sie sind keine Nomaden, wohl aber
biopolitisch (un)anerkannt in ihrem „nackten Leben“ im Umfeld
der Ghettos und Slums, in denen
sie ihr Dasein fristen.4 Politische
Emigranten, Dissidenten und Heimatlose sind nur in der Ordnung
der ideologisch-politischen Situation
reinförmiger Totalitarismusherrschaft
möglich, wie es mit dem Nazismus,
dem Faschismus und dem Realsozialismus der Fall gewesen ist. Hybride
Formen autoritärer politischer Ordnungen nach 1989 – China, islamische Staaten, Russland, Weißrussland – übernehmen nur das Modell
des Ausschlusses der liberal-demokratischen Öffentlichkeit. Es bestehen auch weiterhin politische Emigranten, aber nur als Dissidenten,
die nach Hause zurückkehren, wenn
auch im Sarkophag. Heimatlosigkeit
besteht schließlich gar nicht als flu4
5
6
7
Dossier: @arko Pai}
ider Begriff, wie er im Zeitalter der
politischen Emigration der dreißiger
Jahre des 20. Jahrhunderts überaus
populär war. Heimatlos sein bezieht
sich keinesfalls auf den Verlust der
Staatsangehörigkeit. Die Schicksale
der Emigranten jüdischer Herkunft
haben zu dieser Zeit den Komplex
der europäischen Melancholie besonders geprägt. Der Heimatlose ist
kein Nomade. Vielmehr ist er eine
auf fremdem Boden unverwurzelbare Figur. Wenn von der Erfahrung der Erinnerung an die Heimat
und des Verlustes gerade dieser Heimat die Rede ist, findet die Nostalgie nach dem Ort der Verwurzelung
ihren festen Stützpunkt in der Sprache. Heidegger hatte gedanklich aufs
eindringlichste bewiesen, dass die gesamte Geschichte der neuzeitlichen
Metaphysik in ihrem technischen
Geschick eine Erfahrung der Heimatlosigkeit des Menschen ist.5 Wo
es keine Heimat gibt, gibt es auch
kein Vaterland. Im dunklen Zeitalter der menschlichen Heimatlosigkeit ist Sprache das letzte Medium
des Aussagens über das Wesen des
Menschen.
Wozu soll man dann heute überhaupt
noch vom Nomadentum als Art der
Existenz des modernen Menschen in
der globalen Ordnung chaotischer
Strukturen und vernetzter intersubjektiver Beziehungen sprechen? Ist
denn die Entleerung des Begriffs als
literarischer Metapher selbst nicht
Grund genug, um aus dem Zauberkreis der literarisch-künstlerischen
Produktion von Begriffen für den
zusammenhanglosen Gebrauch herauszutreten? In den visuellen Künsten erwies sich der Begriff des Nomadentums in den achtziger Jahren
69
des 20. Jahrhunderts als regulativer
Begriff nach der Erfahrung der Transavantgarde. Es war aber nicht völlig
klar, was er hätte präzise ausdrücken
sollen. Darauf hatte in einem anderen Zusammenhang der globalisierten Welt in einem Essay der Theoretiker der modernen Kunst Boris
Groys6 hingewiesen. Totaler Tourismus ändert die Landschaften der
Großstadt. Kunst und Architektur
sind in ihnen nicht mehr der Spiegel
des lokalen und regionalen Bauens.
Der internationale oder globale „Stil“
der Großstädte passt sich ästhetisch
an die Forderung nach Ausgleich von
Unterschieden an. Identität im globalen Zeitalter ist das Resultat der
Überkreuzung verschiedener Kulturen. Insofern lässt sich durch Nomadentum die Allokation des kulturellen Kapitals, der Informationstechnologie und der Konsumenten in der
Reproduktion des neuen ökonomischen Angebots nur vorübergehend
erklären. Nomaden sind kulturell
verschieden, aber im Wesentlichen
dieselben Verbraucher dieser globalen postmodernen Ökonomie. Es
scheint, als gäbe es zwischen Touristen und Nomaden keinen wesentlichen Unterschied.7
Seit 2003 und der Berliner Weltkonferenz über das Nomadentum
der Kultur wurde auch das erste Institut für Nomadentum eröffnet. Die
künstlerischen Projekte innerhalb dieses Instituts richten sich auf das Problem der neuen kulturellen Identität, der neuen Medien und der
Globalisierung, der Transkulturalität und des Kosmopolitismus. Mit
Nomadentum wird heute die Erfahrung der Übergangs aller kultureller
Grenzen der modernen Nation / des
Roberto Esposito, Bíos: Biopolitics and Philosophy, University of Minnesota Press, Minneapolis – London, 2008.
Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1976.
Boris Groys, „The City in the Age of Touristic Reproduction“, in: Art Power, The MIT Press, Cambridge Massachusetts, London – New
York, 2008, Se. 101-110.
Siehe dazu John Urrys soziologische Studie, Sociology beyond Societies: mobility for the twenty-first century, Routledge, London – New York,
2001.
70
modernen Staates bezeichnet. Dieser Begriff wird auf ein imaginäres
Labyrinth des literarischen Phänomens der Schriftsteller, Philosophen
oder Künstler angewandt, die einfach
durch die Welt reisen und sog. Erfahrungen der eigenen und fremden
Kultur im allgegenwärtigen Gemisch
von allem mit allem austauschen.
Das Durchkreuzen und Verknüpfen
verschiedener Traditionen wird zum
neuem Kulturprodukt. Dabei bleibt
es aber unklar, warum sich dies Nomadentum nennen sollte.
Im Rahmen der neuen postdisziplinären Kulturwissenschaften (cultural studies) wird unter diesem Begriff
eine Reihe kultureller Praktiken verstanden, die im sog. Cross-over, bzw.
dem multikulturellen Umfeld westlicher pluralistischer Gesellschaften
entstanden sind. Es bleibt aber weiterhin unklar, warum die ökonomische Migration aus den Ländern
der Dritten Welt in den Westen, das
Flüchtlingswesen und die Aussiedlung mit einem präzise bestimmten
Begriff gleichgesetzt wird, der Völker, ethnische Gruppen und Stämme bezeichnet, die auf der Suche
nach Weidegründen und ergiebigeren Nahrungsquellen zusammen mit
ihrem Vieh Wüsten und Einöden
durchwandern. Ursprünglich bezog
sich der Ausdruck nomades gerade
auf derartige Volksgruppen, nicht
aber auf Personen mit einem Hang
zum Reisen, Emigranten, Migranten oder Vertriebene. Die Juden waren keine Nomaden, obwohl sie von
ihrer historischen Herkunft her mit
verschiedenen Nomadenstämmen
in Verbindung stehen. Traditionelle
Nomadenkulturen sind Stammesgemeinschaften in Afrika und Asien,
indianische Stämme in Nordamerika und einige Gruppen von Abori8
9
10
RELA
Dossier: @arko Pai}
gines in Australien. Die einzige ursprüngliche nomadische Kultur in
der modernen Welt, die in historischer Hinsicht Erinnerungen an die
tragischen Züge des absolut Anderen, sowie ihre Nichtzugehörigkeit
zu Staaten / Nationen in ihren Spuren trägt, ist das überall umgesiedelte und nirgends ständig angesiedelte
Volk der Roma. Daher wird in allen
Volksüberlieferungen des Westens
der Irrende mit dem Schicksal des
„Zigeuners“ gleichgesetzt. Das Nomadentum überschreitet in diesem Sinne jeglichen künstlerischen Protest.
Die Roma sind die einzigen authentischen Nomaden von den Ursprüngen bis zum Ende der Geschichte.
Den zweiten, nicht weniger wichtigen Schritt im Überdenken des
Nomadentums lieferte der Theoretiker der neuen Medien und des digitalen Zeitalters Vilém Flusser mit
seiner Utopie von der telematischen
Informationsgesellschaft.8 Beide Paradigmen waren kennzeichnend für
die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Während Deleuze / Guattari unter Nomadentum die Struktur
des Kapitalismus in der Produktion von Wunschmaschinen (Kriegsmaschinen und Kapitalreproduzierungsmechanismen als objektivierte
Wünsche) über die Grenzen moderner Territorien hinaus verstehen, leitet Flusser die These von den medial
vermittelten gesellschaftlichen Verhältnissen als technischer Produktion
von Fernkommunikation ab. Besonders berücksichtigen werden wir hier
Flussers Paradigmen im Hinblick
auf die Frage des strukturellen Rahmens der globalen Welt als RaumZeit des Endes der Geschichte mit
den grundlegenden Merkmalen der
Simultanität, der Virtualität und des
Kreisens von Informationen in Im-
TIONS
plosion (Verdichtung und Zusammenziehung) und Entropie (chaotische Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse).
2. Telematische Gesellschaft
und Nomadentum
Vilém Flusser ist neben Marshall
McLuhan der bedeutendste Theoretiker der Medien und des digitalen Zeitalters.9 Durch sein Konzept des technischen Bildes, das die
Welt als digitales Bild generiert, eröffnete er die Möglichkeit, dass die
Erkenntnis der Welt im modernen
Zeitalter aus der Medienperspektive
heraus verstanden wird. Die Verbindungen zwischen den Menschen im
Zustand der Aufhebung der direkten und physischen Kommunikation sind durch technologische Vernetzungen von Verhältnissen vermittelt.
Daher ist seine Idee von der Entstehung einer telematischen Informationsgesellschaft die Verwirklichung
der Voraussetzungen der medialen
Kultur überhaupt. In seinem kurzen, aber weitgreifenden Essay über
das Nomadentum betrachtete Flusser, im Unterschied zu Deleuze / Guattari, die Frage des Nomadentums
außerhalb der Machtartikulierung in
der Kontrollgesellschaft.10 Sein Paradigma ist zugleich ein ontologisches
für das neumediale Nomadentum,
während jenes von Deleuze / Guattari ein sozial-anthropologisches
ist. Beide sind natürlich maßgebend
für das Überdenken eines Konzepts
am Ende der Geschichte, dem seine
Kompliziertheit und sein Chaos die
Grenzen der Geltung vorgeben.
Flusser hat die menschliche Geschichte in drei Epochen eingeteilt:
1) das paläolithische Zeitalter der
Agrikultur;
Vilém Flusser, „Nomadische Überlegungen“, in: Medienkultur, Fischer, Frankfurt a. M., 1997, S. 150-159.
Siehe dazu: Žarko Paić, Visuelle Kommunikationen, Einleitung, Centar za vizualne studije, Zagreb, 2008, vor allem das zweite Kapitel „Medien: Zeichen-Botschaften-Codes“.
Vilém Flusser, „Nomadische Überlegungen“, in: Medienkultur, Fischer, Frankfurt a. M., 1997, S. 150-159.
RELA
TIONS
2) das neolithische Zeitalter, das 1990.
endet und
3) das Zeitalter des neuen Nomaden-
tums, als jenes, das der Zukunft
gehört.
Das letzte Zeitalter ist gerade jenes,
das sich durch den posthistorischen
Verlust des fixen Territoriums auszeichnet. Das, was wir heute Globalisierung nennen ist daher nichts anderes als der Zustand der totalen Mobilisierung aller menschlichen, natürlichen und kulturellen Ressourcen.
Im Unterschied zum Begriff des Nomadentums als künstlerischer Bewegung ohne klare stilistische Merkmale, Tendenzen und artikulierte Ideen,
ist das neue Nomadentum, von dem
bei Flusser die Rede ist, ein phänomenologisches Ereignis der Ausgeräumtheit des Menschen im Zustand
der totalen Bewegung in allen Richtungen. Der Mittelpunkt existiert
nicht mehr. Das grundlegende ontologische Merkmal des Nomaden ist,
dass das ewige Herumirren und die
ständige Suche jenseits des erreichten
Ziels sein „Schicksal“ ist. Der Unterschied zwischen Reisen und Irren
besteht also darin, dass der Nomade
niemals am Ende seines Weges angelangt. Während die Migration der
Bevölkerung auf der Suche nach einem „neuen Heim“ und einer „neuen Heimat“ gründet, seien diese auch
nur vorläufig, ist für das Nomadentum der Zustand der Offenheit des
endlosen Irrens kennzeichnend.
In einem anderen Diskurs wirft Flusser das Problem der Übergangs aus
der industriellen in die Informationsrevolution auf. Das Ende des neolithischen ist zugleich der Anfang des
Informationszeitalters. Durch Einführung der (globalen) Informationsökonomie verwandeln sich industrielle in fluide telematische Ge11
12
Dossier: @arko Pai}
sellschaften. Die Medien sind nicht
mehr bloße Kommunikationsmittel.
Sie sind die Bedingung der Existenz
und das Wesen des digitalen Zeitalters. Der Mensch kann am Ende der
Geschichte nicht mehr Subjekt dieses
Prozesses des medial-informatischen
Nomadentums sein. Er ist mediales
Erzeugnis, ein Netz kommunikativer
Verhältnisse, ein verstellter / hinausgestellter Irrender zwischen verschiedenen, durch die Logik der Fernkommunikation miteinander verbundenen kulturellen Welten. Um
in einem derart ungesellschaftliche
Zustand der telematischen Gegenwart überhaupt leben zu können, ist
der Mensch medial durch sein Eintauchen in die Ereignisse des technologischen Weltbilds bestimmt.11 Die
Ungewissheit seines vorgeschichtlichen „Schicksals“ zeigt sich in der
Unmöglichkeit, Raum / Zeit totaler
Gegenwart in der globalen Zirkulation von Informationen einzunehmen.
Die Implosion (Verdichtung und Zusammenziehung) der Informationen
erzeugt den erwarteten Effekt der
Entropie der Gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen.
Die neuen Medien nehmen die Stellung der erkenntnismäßig-rezeptiven
„vierten Haut“ des Menschen ein.
Dadurch wird auch der Begriff der
Kultur in traditionellem humanistischen Sinne in Frage gestellt. Zusammengefasst ausgedrückt, die neuen
Medien sind die Technokultur des
neuen Nomadentums. Diese gründet auf den kreativen Spielen der Simulation und den kybernetischen
Voraussetzungen einer Gesellschaft
ohne Subjekt der ursprünglichen Gesellschaftlichkeit. Die Technokultur
tritt in den menschlichen Körper ein
und verwandelt ihn in eine Maschine, die denkt und erlebt. Insofern
gehört das Nomadentum nicht mehr
71
zum paläolithischen Zeitalter, vielmehr ist es das Resultat des Verlustes
von Lokalität und Beheimatung auf
einem bestimmten national-staatlichen Territorium. Das digitale Zeitalter erfordert jene Art des Irrens, die
nie mehr in einer „Stabilität im Wandel“ (Heidegger) zur Ruhe kommen
kann. Flussers Paradigma des neuen Nomadentums ist ein tiefer Einschnitt in alle verbliebenen Lebensmechanismen der humanistischen
Kultur. So wie Heidegger in seinem
berühmten „Brief über den Humanismus“ das Ende des Menschen als
Subjekts metaphysisch durchdacht
hatte, eröffnet Flusser im neuen Nomadentum der Technokultur radikal
die Möglichkeit, das Ende der Geschichte aus der Perspektive des Endes der Geschichte der Medien zu
betrachten.12
Was ist das Ungeheuerste in diesem für das Verständnis der Welt
schlechthin unbestreitbar unentbehrlichem Paradigma des Nomadentums? Nichts anderes, als Flossers
These, es sei von einer epochalen
Veränderung die Rede, die sogar radikalere Folgen hat, als alles, was nach
Hegel von der Posthistorie gesagt
wurde. Nomadentum ist nicht nur
ein alter Begriff aus der Praxis dem
paläolithischen Zeitalter der Agrikultur im neuen technologischen Umfeld. Weit von der bloßen modernen
Verblendung durch das Konzept der
künstlerischen Fixiertheit auf das Irren durch verschiedene kulturelle
Welten entfernt, ist hier von etwas
bedeutend Tieferem und daher auch
wesentlich Dunklerem die Rede. Die
epochale Veränderung trifft mit ihren Folgen nicht nur die sog. gesellschaftlichen Formen der Existenz des
Menschen in den entwickelten und
unentwickelten Gesellschaften der
Gegenwart.
Vilém Flusser, Kommunikologie, Fischer, Frankfurt a. M., 2005.
Siehe dazu: Dieter Mersch, Medientheorien zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg, 2006, „Vilém Flusser und die telematische Gesellschaft“, S. 136-153.
72
Es handelt sich um einen Bruch in
der gesamten Denkstruktur des linearen Ablaufs der Geschichte. Das
Ansiedeln in einem geographisch bestimmten Gebiet der Allokation des
Kapitals ist nicht mehr möglich.
Wenn bereits moderne Architekten
(Bernard Tschumi, Jean Nouvel, Rem
Kolhaas) in ihren Projekten Fragen
der vorläufigen Lebenszonen in den
Großstädten der Gegenwart aufwerfen, treffen wir aufs Neue auf das
Problem der Bestimmung der Reichweite des neuen Nomadentums.13
Der Nomade hat keinen „Namen“.
Die Nomaden sind keine Stammesgemeinschaften mehr und schon gar
nicht Völker oder Völkergruppen.
Die epochale Veränderung, „radikaler noch als die Posthistorie“, von der
bei Flusser die Rede ist, ist die radikale Dekonstruktion der Idee von der
fixen Identität historischer Völker.
Ist der moderne Nomade weder ein
„Jemand“, noch ein „Niemand“, entspricht auch das zeitgenössische Konzept der Nation nicht mehr der Bewohnbarkeit eines fixen Territoriums. Die Staaten aus dem modernen
Zeitalter der territorialen Souveränität beruhen noch auf derselben Bestimmung der Einnahme und der
Begrenzung des Territoriums. Aber
das Territorium wird nicht mehr besiedelt, vielmehr wird in / auf ihm
verweilt. Das Konzept der Eingeborenheit als jenes, das der Nation
in kulturellem Sinne ihren Daseinsgrund verleiht, hatte sich bereits im
ersten Akt der politischen Konstruktion einer Nation / eines Staates in
der modernen Geschichte als brüchig
erwiesen. Amerika, bzw. die USA,
sind eine universelle Konstruktion
des politischen Folkes ohne den Mythos vom eingeboren Sein. Es ist die
13
14
15
RELA
Dossier: @arko Pai}
Konstruktion eines Territoriums, das
sich vor dem ständigen Einbrechen
neuer Migranten zurückzieht. In seiner imperialen Macht ist es aber ein
Gebiet der übernationalen Souveränität des neuen Nomadentums.
3. Unruhe als planetare Treibkraft
Das Nomadentum gehört zu einem
Zustand der globalen Ordnung und
nicht zur Stellung des Subjekts inmitten dieser. Deleuze /Guattari sagen in
ihrem Anti-Ödipus, dass sich der „nomadische und mehrdeutige Gebrauch
zusammenfügender Synthesen dem
segregativen und zwei-eindeutigen Gebrauch widersetzt.“14 Das heißt, dass
das Nomadentum statt des rasenden
Reisens in allen Richtungen die ontologisch-existenzielle Erfahrung des
Vernetzens und Durchkreuzens voraussetzt. Selbst, wenn er nicht außerhalb des eigenen Umfelds reist, ist der
Mensch ein planetarer Irrender in
einer Epoche, die weder über eigene
Orte, noch über eigene Un-Orte verfügt. Das wohl deutlichste Beispiel
für diese These liefert das gesamte literarische Werk des portugiesischen
Autors Fernando Pessoa. In Das Buch
der Unruhe wird durch die „Hand“ des
Hilfsbuchhalters Bernard Soares gerade dieser gestörte Verlauf ohne festen
Ausgangspunkt beschrieben. Die Notwendigkeit des Herumirrens zwischen
allen möglichen Formen der diskursiven Schrift des post-historischen Zeitalters erfordert Reflexionen, die auf
paradoxe Weise Dekadenz und Avantgarde miteinander vereinen. Pessoa
hatte Lissabon niemals verlassen und
war dennoch ein ontologisch-existenzieller „Nomade“ der planetaren Bewogenheit jenseits jeglicher Grenzen
der modernen Sprache.15
TIONS
Die Bewegung aus dem Bedürfnis
nach dem Wunschgegenstand heraus ist kein zielloses oder gezieltes
Reisen. Es ist ein Bedürfnis, das aus
dem Grundbedürfnis nach der Erhaltung der existenziellen Gemeinschaft im leeren Territorium hervorgeht. Die Erfahrung des Nomadentums ist kein zielloses durch die Welt
Reisen, sondern die Einnahme von
Raum und Zeit im leeren Territorium. Wie kann ein Territorium leer
sein? Es gibt kein erfülltes Territorium. Die Leer bezieht sich hier nicht
auf eine physikalisch-metaphysische
Qualität des Raumes. Um ein Territorium einnehmen zu können, muss
man es entweder besiedeln, sofern es
von Menschen unbesiedelt ist, oder,
falls es von anderen Gruppen, Völker
oder Stämmen bereits besiedelt worden ist, durch gewaltvolle Ausrottung
und Vertreibung der ursprünglichen
Bewohner dieses Gebiets erobern.
Die Leere des Territoriums ist der
historische Ort des „wüsten Landes“.
Andererseits ist das Territorium der
„verbrannten Erde“ (Terra Combusta),
eines Landes, das dadurch, dass es
durch Krieg und Zerstörung verwüstet worden ist, paradoxer Weise zum
Ausgangspunkt einer neuen Kultur
wird, nicht verwüstet. Obwohl an
die gnostische dunkle Materie – Nigredo – erinnernd, verwandelt sich
das Territorium aus dem Nichts in
ein Land vorläufiger Bewohnbarkeit. Die gesamte Geschichte von
Kontinuität und Akulturation im
Sinne von Übernahme und Übertragung kultureller Archetypen, z.B.
der Ägypter bei den Griechen, der
Skythen in der georgischen Kultur
oder der vandalischen Stämme, die
auf den Ruinen des alten Roms das
mittelalterliche Europa aufbauten,
Aaron Betsky, Violated Perfection: Architecture and Fragmentation of the Modern, Rizzoli International Publication, New York, 1991.
Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Izdavačka knjižarnica Zorana Stanojevića, Sremski Karlovci,
1990, S. 86. Aus dem Französischen von Ana Moralić.
Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, Bd. I-II, Konzor, Zagreb, 2001. Aus dem portugiesischen von Tatjana Tarbuk, Nachwort: Žarko
Paić: „Traum und Verwandlungen“.
RELA
TIONS
erweist sich als nur teilweise richtig.
Die Diskontinuität mit der historischen Vergangenheit ist ein Bruch
mit der Linearität ein und desselben.
Der Neubeginn der Geschichte war
nicht bloß Merkmal der historischen
Avantgarde in der Kunst des 20. Jahrhunderts.16
Das ist das Erbe der Weltgeschichte
in allen geographischen Gegenden
der Welt. Deshalb konnte Walter
Benjamin ohne jeglichen Zynismus
behaupten, die Dokumente der Kultur seine zugleich Dokumente der
Barbarei. Um zu zeigen, dass Nomadentum als Zustand keine eigenen „Subjekte“ hat, wollen wir den
Sinn eines uralten Spruchs erörtern.
Dem rumänisch-französischen Philosophen Emile M. Cioran verdankt
er seine Berühmtheit, zugleich aber
auch seine Selbstverständlichkeit für
den Zustand des Menschen in der
modernen Welt.17 Warum? Gibt es
einen wesentlichen Unterschied zwischen dem ursprünglichen und dem
posthistorischen Nomadentum?
4. Nomadentum ohne Subjekt
Dieser berühmte uralte tibetanische
Spruch sagt: „Das Vaterland ist nur
ein Zeltlager in der Wüste“. Lager
und Lagern bezieht sich hier nicht
auf die Negation der Menschlichkeit.
Es handelt sich lediglich um eine vorläufige Station auf dem Weg durch
einen / zu einem Ort, der nicht das
Ziel der Reise ist. Im Lager sein bedeutet, seinen Platz haben. Vor biologischer Bedrohung, Witterungsbedingungen und dem Einbruch eines
16
17
18
19
Dossier: @arko Pai}
feindlichen Heeres geschützt sein, sowie die Sicherheit der Gemeinschaft
genießen können, bedeutet, sich im
„Vaterland als einem Zeltlager in der
Wüste“ zu befinden. Dieser rätselhafte Spruch scheint zum Gemeinplatz
des modernen Unbehagens in einer
von der Unausweichlichkeit eines
ständigen Bewegens ohne klares Ziel
erfassten Welt geworden zu sein. Was
ist der Sinn der Globalisierung und
Planetarisierung der Welt? Die Antworten auf diese Fragen sind immer
die gleichen. Es wird behauptet, es
sei notwenig und unausweichlich, die
Welt auf ein einheitliches und gleichbedeutendes gemeinsames Schicksal
zurückzuführen. Es ist nicht möglich
zurückzubleiben und sich außerhalb
dieser rasenden Bewegung zu befinden. Wird dies durch die Logik der
Bewegung des Kapitals über alle begrenzten Zonen der internationalen
Weltordnung hinaus bestimmt, ist
im Vorhinein klar, dass in der Idee des
Kapitals das global-historische Abenteuer der Überschreitung der Grenzen der Nation, des Staates, des Vaterlands in allen modernen Bedeutungen dieses Wortes enthalten ist.18
Der Begriff des Ziels ist dabei vom
Zweck der Reise zu unterscheiden.
Ziel ist gleichbedeutend mit Sinn,
der Zweck ist aber stets teleologisch
bestimmt. Dass die Reise überhaupt
keinen Sinn, aber dafür einen Zweck
hat, ist vielleicht die richtige Aussage
über das, was sich im Zeitalter des Endes der Geschichte abspielt. Das Ziel
der Reise ist nicht der Schlusspunkt
des Weges. Das eschatologische Denken des frühen Christentums nimmt
73
z.B. die Apokalypse als den endgültigen Zustand der Geschichte an. Danach kommt das endlose, ewige Jetzt
und in alle Ewigkeit – das Reich Gottes. Die gesamte Geschichte ist nur
eine „lange Reise durch die Nacht“,
bis zu jenem Punkt, an dem die Frage nach Ziel und Zweck nicht mehr
gestellt wird.
In seinen Historisch-philosophischen
Thesen unterschied Walter Benjamin,
als einer der Seltenen im geschichtlichen Denken des 20. Jahrhunderts,
zwischen dem ontologischen (metaphysischen) und dem anthropologischen Horizont der Geschichte.19
Der Sinn als Ziel (Meta) dessen,
wohin gereist wird, ist nicht im Vorhinein vorgegeben. Es handelt sich
um eine ursprüngliche Offenheit, als
Freiheit des Erscheinens des Göttlichen, des Seins und des Seins des Wesens auf dem Weg. Zweck ist hingegen Etwas Endgültiges und Einmaliges. Der Sinn verleiht dem Zweck
den zureichenden Grund, damit es
überhaupt möglich wird, irgendwohin zu reisen. Der Sinn beantwort
die Frage nach dem Warum und Wozu, oder er tut es nicht, während der
Zweck auf die Frage des Grundes,
wie und mit welchen Mittelnd das
Verschmelzen des Anfangs und des
Endes der Reise zu verwirklichen sei,
Antwort gibt.
Wenn wir uns für den tibetanischen
Spruch über jenes entscheiden, was
in der Debatte über den „Sinn des
Nomadentums“ im Zeitalter des Endes der Geschichte notwendig und
unausweichlich zu überdenken sei,
sollten wir noch einmal bei der Deu-
Alexander Demandt, Vandalismus, Gewalt gegen Kultur, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Nikica Petrak.
„Das Vaterland ist nur ein Zeltlager in der Wüste“, heißt es in einem tibetanischen Text. Ich gehe nicht so weit: ich gäbe alle Landschaften der Welt für die meiner Kindheit hin. Immerhin, muss ich hinzusetzen, wenn ich ein Paradies daraus mache, sind die Zaubertricks
oder schwachen Stellen meines Gedächtnisses daran schuld. Verfolgt werden wir alle von unseren Ursprüngen; die Empfindung, die mir
die meinigen einflößten, lässt sich zwangsläufig nur in negativen Ausdrücken wiedergeben, in der Sprache der Selbstbestrafung, der freiwilligen und öffentlich bekundeten Demütigung, der Zustimmung zum Unheil. Sollte für eine derartige Vaterlandsliebe die Psychiatrie
zuständig sein?“ – Emile M. Cioran, „Zwei Arten Gesellschaft“, in: Wille zur Ohnmacht: Geschichte und Utopie – Der Absturz in die Zeit,
Demetra, Zagreb, 1995. Aus dem Französischen von Gordana V. Popović (Hrsg.).
Žarko Paić, Politik der Identität: Kultur als neue Ideologie, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2005.
Walter Benjamin, Der neue Engel, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Snješka Knežević.
74
tung dieses Spruchs halt machen.
Was besagt er eigentlich? Dass Vaterland nur ein Zelten in der Wüste sei
und nichts weiter? Oder weist er auf
etwas anderes hin, was hier nicht ausgedrückt wurde? Die Wüste ist räumlich unbestimmt. So wie der Meerarchipel, erscheint auch die Wüste
im messbaren menschlichen Überwinden des Raumes, in dem man
ihn kreuz und quer durchwandert.
In geometrischer Hinsicht ist von
Fläche die Rede. Jede Fläche hat ihre territoriale Begrenzung. Die Griechen nannten die Erde einen Wanderstern (planetes).20 Wanderer sind
daher keine verirrten Reisenden, die
versehentlich vom Ziel der Reise abgewichen wären. Die Erde allein ist
ein Wanderstern in seiner Bewegung
durch die Weiten des Kosmos. Wanderer sein bedeutet notwendigerweise, von der ungeheueren Macht des
Lebens in seiner ständigen Bewegung
bewogen worden sein. Um die Bewegung überhaupt einem Ziel zuführen
zu können, ist es notwendig, vorläufig am räumlich-zeitlichen Punkt der
Nähe und der Entfernung vom Ziel
halt zu machen. Territorium ist daher die Einnahme von Raum für die
Orientierung auf ein nahe oder fern
gelegenes Ziel.
Das Lagern und das Lager, das bildlich mit Vaterland gleichgesetzt wird,
nimmt ein Territorium ein. Um ein
Zeltlager aufschlagen zu können, ist
es notwendig, ein Territorium einzunehmen. Dieser Ort ist durch reale
und imaginäre Grenzen eingegrenzt.
Im symbolischen Sinn, der aus diesem Spruch offensichtlich über alle
räumlich-zeitlichen Besonderheiten
hinausgeht und zur allgemeinen Metapher eines Zustands der Entwurzelung wird, ist das Vaterland als Lager
in der Wüste ein vorläufiges Territorium. Es kann nicht für immer einge20
21
RELA
Dossier: @arko Pai}
nommen werden, da es notwenig ist,
sich wegen etwas, was wir das Ziel der
Reise nennen, zu bewegen, obwohl
sich in diesem Ziel etwas unerhörtes und ungeheueres zeigt: nämlich,
dass gereist wird, weil einfach gereist
werden muss. Die Reise sei die Suche nach einer „besseren“, „schöneren“, „gerechteren“ und „wahrhaftigeren“ Welt?
Ziehen wir noch einmal den tibetanischen Spruch in Betracht. Vaterland, Lagern, Wüste – wer ist eigentlich das „Subjekt“ der Bewegung auf
etwas unbestimmtes, unbekanntes
und noch dazu unerreichtes zu? Ist
es das Vaterland als Lager / Lagern
in der Wüste oder die Wüste als abstrakt-konkreter Raum? Das Lager ist
die Architektur des eingenommenen
Territoriums. Es wird nicht bewohnt.
Im Lager hält man sich vorläufig auf.
Ein Vaterland haben scheint eine art
vorläufig Sein vorauszusetzen. Sich
aufhalten und bewohnen sind keinesfalls gleichbedeutende Wörter. Dort,
wo man sich aufhält, ist die Dauer
des Aufenthalts durch die Unmöglichkeit des dauerhaften Aufenthalts
begrenzt. Das moderne Konzept der
Nation in der westlichen rechtlichpolitischen Tradition ist mit dem
Begriff des eingeboren Seins (natio)
als angesiedelt Seins auf einem Territorium verbunden.
Der Begriff des Territorium selbst
ist die Grundlage des neuzeitlichen
Naturrechts. Dem Menschen stehen
aufgrund seiner Geburt die unentäußerbaren Rechte auf Freiheit und
menschliche Würde zu. Aber dieses
unentäußerbare Recht stellt lediglich
die Möglichkeit der Verwirklichung
innerhalb der vorgegebenen formalen und realen Grenzen des Rechts
schlechthin dar. Die Verwurzelung
im heimatlichen Boden und das eingeboren Sein in die Nation als orga-
TIONS
nische politische Gemeinschaft sind
bereits das kontingente Feld der Ausschließung aller Anderen (nicht verwurzelten und nicht eingeborenen).
Die Grenzen der Territorien sind die
Grenzen zwischen Nationen / Staaten. In der Gemeinschaft eingeboren und angesiedelt sein, bedeutet,
als Subjekt der Nation / des Staates, bzw. als ihr Angehöriger21 Anerkennung zu genießen. Das Recht
auf Existenz ist im politischen Sinne
des Wortes das Recht auf die Erfüllung der realen Existenz der Freiheit
in der modernen Welt. Ohne Erfüllung der Freiheit im politischen Sinne staatsbürgerlicher Rechte existiert
die Möglichkeit der Existenz innerhalb der internationalen Ordnung
der Nationen / Staaten nicht. Wer
also ist das „Subjekt“ der Bewegung
auf dem „Wanderstern“?
Der tibetanische Spruch weist auf
folgendes hin:
1) Raum als vorläufiges Territorium,
in dem sich das „Schicksal“ des
Volkes ereignet und nicht jenes abstrakter Identitäten von Einzelnen
außerhalb der Gemeinschaft;
2) Zeit als endgültige Grenze des
Verschiebens des Vaterlands von
einem Punkt zum anderen;
3) das Verschieben der Grenzen des
Territoriums im ständigen Bewegen durch die als Wüste begriffene
Welt;
4) die Unmöglichkeit der Einnahme
der Welt, der als „Wanderstern“
dem Anfangspunkt der Reise zugleich unendlich nah und unendlich fern ist.
Das Vaterland wird im ständigen
Bewegen verortet. Das Lager ist ein
vorläufiger Aufenthalt und nicht das
dauerhaft angesiedelte Aufenthaltsgebiet. Die ursprünglichen Wandervölker wurden nicht in die Wüste
Kostas Axelos, Einführung in das zukünftige Denken – Unterwegs zu einem planetaren Denken, Stvarnost, Zagreb, 1972. Aus dem Französischen von Franjo Zenko.
Giorgio Agamben, Homo Sacer, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2002.
RELA
TIONS
vertrieben. Sie sind „Wüstenvölker“,
nicht weil sie die Wüste besiedeln
würden, sondern weil sie sich auf der
Suche nach Nahrung, Wasser, Oasen,
sowie dem Schutz vor „unmenschlichen“ Existenzbedingungen in ihr bewegen. Die Nomaden wurden nicht
der Geschichte verwiesen. Sie sind
gerade deshalb, weil sie nicht angesiedelt und durch Staatsgrenzen nicht
territorial bestimmt sind, nicht-geschichtliche Völker. Das bedeutet
aber auf keinen Fall, sie wären ohne
Bewusstsein vom eigenen Ursprung
in Mythen, Legenden, Geschichten,
kurz, dem Imaginarium all dessen,
was das Wesen der ursprünglichen
Gemeinschaft ausmacht, die auch im
Zeitalter des Endes der Geschichte
der globalen Ordnung der Nationen
/ Staaten überlebt. Nomaden haben
ein Vaterland, aber keinen Staat. Der
tibetanische Spruch weist auf das
irrende „Schicksal“ von ständig in
Wanderung begriffenen Völkern hin.
Ohne Lager gibt es kein Vaterland.
Ohne Wüste gibt es keine Notwendigkeit, sich kreuz und quer durch Nichtraum und Nichtzeit zu bewegen.
Ist dadurch der Sinn dieses offensichtlich mehrdeutigen Spruchs erschöpft?
Noch einmal – was ist ein Vaterland?
Die Wiege, die Heimat, die Landschaft einer Nation, die durch staatliche Macht errichtet wird? Oder ist
Vaterland nur die Nostalgie nach der
„verlorenen Heimat“? Der Titel einer
Essaysammlung des Schriftstellers
Salman Rushdie weist ausdrücklich
darauf hin, was sich heutzutage unter
diesem metaphysischen, beinahe poetischen Begriff des Schutzes und der
Obhut des Menschen als Person in
22
23
24
Dossier: @arko Pai}
der Gemeinschaft gerade noch denken lässt – Imaginary Homelands.22
Rushdie ist ein beispielhafter Fall
der hybriden Identität des modernen Menschen ohne Heimat oder
mit mehreren Heimaten. Und diese
sind allesamt imaginär und real zugleich, weil sie vorläufig sind. Lassen
wir alle möglichen modernen Varianten des Erlebens von Heimat außer Acht, befinden wir uns vor der
entscheidenden Wende hin zu etwas
höchst wunderlichem. Dadurch, dass
es durch das Problem der rasenden
Bewegung von Völkern, Gruppen
und Einzelpersonen auf der Suche
nach der nackten Existenz, neuen
geistigen Erfahrungen oder aber dem
touristischen Wunsch nach der Begegnung mit dem „Unbekannten“
(exotischen) über die territorial bestimmten Grenzen der Nationen /
Staaten hinweg überhaupt am Ende der Geschichte erscheint, verliert
das Nomadentum seine substanzielle Bedeutung. Es mag paradox klingen, aber je mehr man davon spricht,
desto weniger existiert es, oder es
existiert überhaupt nicht. Dasselbe
gilt für die Rückkehr der Religion
in die modernen Gesellschaften. Je
mehr Gott in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht Macht zu haben scheint, umso gewisser ist es, dass
Religion zur neuen Kultur der Leere
oder des Lebensstils wird. Wer wahrhaft über Gott nachdenkt, dem steht
der Sinn nicht nach Religion.
5. Relokationen
Ist die Welt die globalisierte RaumZeit der Relokation (Verlegung) des
75
Kapitals als transzendentaler Bedingung aller denkbaren gesellschaftlichen Verhältnisse, so ist das Nomadentum nicht mehr die Ausnahme
des Herumirrens der Anderen auf der
Suche nach dem Unbekannten. Im
Gegenteil, die Welt hebt in der globalen Ordnung der Entwurzelung,
deren Grundmerkmal die massenhafte (I)migration der Bewohner der
Dritten Welt in den Westen ist, die
Idee der Heimat auf. Das Volk wird
im postmodernen Konzept der Nation / des Staates auf das ethnische
Substrat der Gemeinschaft zurückgeführt, der die kulturelle Identität
als einzige noch einen Sinn verleiht.23
Heimat ist im planetaren Zeitalter
nicht nur die „gedachte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), die im
modernen Zeitalter der Nation zustand, sondern ein vernetztes „Lager
in der Wüste“. Alles wird verteilt und
verlegt. Alles wird durchkreuzt und
überkreuzt. Alles verschwindet und
geht in der rasenden, ziellosen Bewegung der Welt verloren. Der lineare
Fortschritt / die lineare Entwicklung
der kapitalistischen Produktion allein der Produktion wegen, von der
im 19. Jahrhundert Karl Marx in Das
Kapital im Diskurs der Dekonstruktion von Hegels Logik des absoluten
Geistes gesprochen hat, führt zur
Komplexität der Welt im Zeichen
von Chaos und Entropie.
Was sagen uns die maßgebendsten
soziologischen Studien der Globalisierung und der Informationsgesellschaft, wie z.B. Manuel Castells’24
Theorie der vernetzten Gesellschaft?
Nur, dass das Nomadentum ohne
Subjekt zur Bedeutung der traditi-
Salman Rushdie, Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-1991, Penguin, London, 1991.
Homi K. Bhabha, Location of Culture, Routledge, London – New York, 1994.
Manuel Castells, Der Aufstieg der vernetzten Gesellschaft, Golden Marketing, Zagreb, 2000. Aus dem Englischen von Ognjen Andrić. – „Die
neue Ökonomie ist in den letzten beiden Jahrzehnten auf globaler Ebene entstanden. Ich nenne sie Informations- und Globalökonomie,
um ihre grundlegenden Unterscheidungsmerkmale festzustellen und ihre gegenseitige Durchdrungenheit zu betonen. Es ist eine Informationsökonomie, weil die Produktivität und die Konkurrenzfähigkeit der Einheiten oder Faktoren in dieser Ökonomie (egal, ob es sich dabei
um Unternehmen, Regionen oder Nationen handelt) im Grunde von ihrer Fähigkeit abhängen, die auf Wissen gründende Information
effektiv erschaffen, bearbeiten und anwenden zu können. Sie ist eine Globalökonomie, weil sie den Kern der Aktivitäten der Produktion,
des Verbrauchs und der Zirkulation darstellt...“ (S. 99).
76
RELA
Dossier: @arko Pai}
onellen Verbindung des Volkes, der
Gemeinschaft, des Territoriums, der
Nation / des Staates und der modernen Person gehört. Als Hannah
Arendt vorhergesagt hatte, das 21.
Jahrhundert werde – im Unterschied
zum 20. Jahrhundert, das im Zeichen von Vertreibungen und Flüchtlingswellen verlief – im Zeichen von
Bevölkerungsmigrationen verlaufen,
war die grundlegende Frage der Welt
schlechthin aufgeworfen. Metaphorisch gesprochen, das Zeitalter der
Lager und das Zeitalter der Vaterländer ist im Zeitalter der Informationsund Globalökonomie abgeschlossen.
Die Nomaden haben jedes erdenkliche leere Territorium als Unterkunft
und Oase in der Wüste verloren. Die
Welt wurde zu einer einheitlichen,
ununterschiedenen Raum-Zeit der
Bewegung in allen Richtungen über
und jenseits der Grenzen der universalen Wüste.
Die Verlorenheit im Territorium und
die Subjektlosigkeit im Zeitalter der
Rückkehr zur Idee des Subjekts sind
im modernen Denken, vom Poststrukturalismus bis zur Lacanschen
Psychoanalyse, scheinbar gleichbedeutende „Geschichten“. Die Idee
des Subjekts bezeichnet die Konstruktion der Gegenständlichkeit der
Umwelt. Das Subjekt ist seit dem
Beginn der neuzeitlichen Philosophie und danach auch der modernen Kunst – die Konstruktion einer Objektwelt in Raum und Zeit
der Entleerung der Welt schlechthin. Die neuzeitliche Philosophie
geht vom reinen Denken aus. Im
Akt der Selbsterrichtung jeder möglichen und realen Welt (Descartes)
eröffnet sich der gesamte Raum des
Denkens schlechthin. Die moderne
Kunst reinigt radikal ihren Raum,
indem sie sich zur Freiheit als der
Leere aller anderer Bestimmungen
hinwendet (Cézanne). Nur in diesem Sinne kann bedingt gesagt werden, die moderne Kunst sei vom Akt
ihrer eigenen Begründung an zum
Herumirren in Wüsten verurteilt und
ihr Schicksal sei das planetare Nomadentum ohne Subjekt.
Die Kunst-in-Bewegung (Art on the
Move) gehört zur einer offenen Welt,
in der alles abläuft, als sei das Wandern von einem zum anderen geographischen Ort bereits ein Ereignis der
kinetischen Mobilisierung des modernen Menschen. Das künstlerische
Nomadentum setzt die Mobilität von
Kapital und Technologie als eigene
unumgängliche Daseinsbedingung
voraus. Das Problem ist lediglich,
dass am Ende der Geschichte, wenn
das Nomadentum nicht mehr die
Eigenschaft der Beweglichkeit eines
pastoralen oder nichtpastoralen Volkes bezeichnet, sondern eine universale Bezeichnung für subjektlose,
mit zuverlässigen geopolitischen und
geostrategischen Landkarten ausgestattete Wanderer darstellt, das Wandern kein aussichtsloses Umherirren
mehr ist. Es ist die Reise und das
Abenteuer des Reisenden im Passieren der „Kreuzstationen der Melancholie“, wie es ein Fragment aus Benjamins Zentralpark ausdrückt.
Der australische Schriftsteller Bruce
Chatwin, Autor der wahrscheinlich
schönsten Postmodernen Reiseberichte (In Patagonien, Traumpfade,
Utz) verbrachte einen großen Teil
seines Lebens unter den Aborigines in der Wüste. Insofern ist seine Bestimmung des Nomadentums
das erfahrungsgemäße und durchdachte Schicksal der Verwurzelung
/ Entwurzelung im und aus dem
ursprünglichen Boden. Nomadentum ist, so Chatwin, das Verlagern
in Landschaften tiefer Verlassenheit,
Leere und Einsamkeit, aus denen
das erhabene Gefühl der Überwindung der modernen Beklommenheit des Einzelnen hervorgeht. Die
Nomaden waren das Treibrad der
Geschichte. Aus dem Nomadentum
gingen die monotheistischen Religionen hervor. Das Verschwinden der
Nomaden und die Umwandlung der
TIONS
Welt in einen „globalen Park für Nomaden“ entspricht der ungeheueren
Logik des neoliberalen Kapitalismus,
die Welt in ästhetisierte temporäre
Zonen des Lagerns, des Tourismus
und des Spektakels zu verwandeln.
Die paradoxe Logik des Spektakels
des Kapitals liegt darin, dass sie zugleich die Natur verwüstet, ohne die
das Nomadentum keine Zufluchtsorte mehr hat. Andererseits erlebt die
Natur ihre biogenetische und biopolitische Wiederauferstehung, indem
sie ökologisch versorgt, behütet und
vor unkontrollierten Verwüstungen
beschützt wird.
Beide Seiten, jene zerstörerische und
jene aufbauende, jene, die verwüstet und jene, die das Erbe der Natur hegt und bewahrt, sind Mechanismen der Selbstreproduktion der
Kultur der globalen Informationsökonomie des Kapitals. Die Tiefenökologie (Deep Ecology) nutzt animistische Erfahrungen nichtgeschichtlicher Urvölker, etwas der Indianer in
Nordamerika oder der Aborigines
in Australien, nur um ethisch auf
den Richtungswechsel der Ideologie
der brutalen Ausbeutung des Planeten hinzuweisen. Die Betonung
liegt auf dem ethischen und utopischen Schrei nach dem Verlorenen.
„Zurück zur Natur! Respekt für die
Tiere und ihre natürlichen Rechte!
Hüten wir unsere gemeinsame Umwelt!“ Aber, was ist das metaethische
Ziel dieser Art ökologischen Fundamentalismus der Postmoderne? Wie
immer, er ist transparent in seiner
Vermummung der Rückkehr zu den
heiligen Zielen des Zusammenlebens von Mensch, Tier und technologisch hergestellten Engeln und
Dämonen. Es handelt sich um eine
neue Art des planetaren oder globalen Tourismus.
Nomaden als künstlerische Wanderer sind die Vorgänger der kulturellen
Touristen. Sie sind die Avantgarde,
die am Ende der Geschichte in Ausstellungsstücke verwandelt wurde,
RELA
TIONS
ästhetisierter Kitsch für die Bedürfnisse des symbolischen Austauschs
von Kapital und Spektakel. Die Ironie des künstlerischen Nomadentums liegt darin, dass es nur scheinbar eine subversiv-kritische Reise ins
Unbekannte darstellt, allerdings immer nur in eine Gemeinschaft, die
intellektuell und erfahrungsmäßig
über dieselben Merkmale verfügt, an
welchen geographischen Ort sie sich
auch befinden mag. Der Nomade
kann niemals wirklich jener Andere
werden, den er bewundert und verehrt. Das ist der Fatalismus der kulturellen Kontingenz. Der Nomade
als „Subjekt“ kann Tantra oder ZenBuddhismus praktizieren, ein sufistischer Mystiker sein, alle Rätsel der
mystischen Erfahrungen der alten
Indianerstämme aus Mexiko kennen,
wie Artaud25 es ausgedrückt hatte.
Das Nomadentum kann ohne die
Idee der Natur und der Erhabenheit eines wilden Territoriums auskommen, das zu bereisen ist, um in
Gesellschaft von Erlebnissen Ekstase
als eine Art ästhetisierter mystischer
Erfahrung archaischer Räume zu erleben. Daher erscheint es keinesfalls
kreativ, alle wichtigen Künstler der
westlichen Moderne, von Goethe bis
Chatwin, aufzuzählen, wie dies der
Theoretiker des Nomadentums in
der Literatur Michael Haerdter in einem seiner Essays26 tut. Alle bahnbrechenden Künstler der historischen
Avantgarde, des Surrealismus und
der Neoavantgarde, von Malewitsch
bis Artaud, von Duchamp bis Kiefer,
sind radikale „Reisende“. Aber ihr
Reisen ist alles andere als Nomadentum. Gereist wird durch den Raum
der Geistlichkeit zwischen längst vergangenen Epochen, um einen Dialog
zwischen „toten“ und „lebendigen“
25
26
27
Dossier: @arko Pai}
Zeitgenossen aufzustellen. Zwischen
verschiedenen historischen und kulturellen Ideenmegalithen spielt sich
das geistige Abenteuer der Erfahrungen des gegenseitigen Verbindens der
Natur, der Erhabenheit, der Undarstellbarkeit und des Ikonoklasmus
einer Welt in rasender, endloser Bewegung ab. Die visuell einprägsamste
Darstellung des Nomadentums gibt
in diesem künstlerischen Sinne Wim
Wenders in seinem Film Bis ans Ende der Welt. Die Schlussszenen sind
faszinierende künstlerische Bilder eines neuen Mediums, wie der Film es
ist, in den Weiten der australischen
Wüsten und Einöden, Höhen und
bodenlosen Schluchten, wo nomadisch das Volk der Aborigines mit all
seinen uralten Legenden und Erzählungen vom Land und dem Platz der
Götter, der Natur und des Menschen
auf der Erde existiert.
6. Am Ende war das Chaos...
Paradox ist, wie auch Gilles Deleuze zu bestätigen weiß, jene Bestimmung des Nomaden, der zufolge er
sich nicht bewegt und nicht reist. In
der Ordnung der Komplexität der
modernen Welt ist das Nomadentum
ein Ereignis der gegenseitigen Verflechtung von Ordnung und Chaos. Ist gemäß der mythischen Vorstellung der Anfang mit dem Chaos
verbunden, so herrscht am Ende der
Geschichte dieselbe Situation. Das
Chaos ist nicht das Gegenteil der
Ordnung. Im Gegenteil, das Chaos
ist chaotisch, weil es die Kräfte vibrierender Schwingungen zwischen
Masse, Energie und Information in
sich trägt.27 Aktuell und virtuell lässt
sich in jenem, was heutzutage als
gegenseitige Wirkung fraktaler Ein-
77
heiten eines Netzes aus Faktoren erkannt wird, die eine Ordnung, z.B.
jene der globalen Informationsökonomie, bilden, das Wirken der Kräfte des neuen Schaffens und der Destruktion aufweisen. Das Virtuelle geht
dem Aktuellen in der Konstruktion
von Objekten voraus, deren Architektur in der umliegenden Welt nicht
existiert. Auf diese Weise erhält das
Nomadentum elementare Merkmale
der Imagination. Was vorgestellt werden kann, ist weder unreal noch surreal. Imaginäre Flächen sind zugleich
virtuell und aktuell. Chaos ist, also,
nicht das Gegenteil von Ordnung.
In der Literatur des 20. Jahrhunderts
existieren zwei „Fälle“ einer solchen
planetaren nomadischen Imagination. Sowohl Literatur, als auch visuelle Künste, sowohl Philosophie, als
auch Architektur, können nur planetar existieren. Die Weltliteratur,
von der Goethe träumte, existiert
virtuell-aktuell in der Ordnung der
Medien, durch die die Welt schlechthin gebildet wird (Sprache, Symbole, Zeichen, Codes). Zwei „Fälle“
der Imagination, die ontologisch der
Realität vorausgeht, sodass sie fantastisch und onirisch konstruiert wird,
finden sich in der Literatur von Jorge
Luis Borges und Fernando Pessoa. Im
ersten „Fall“ wird die Idee der Ewigkeit und der endlos vernetzten Spiegel des Texts mit dem Nomadentum
als Mythos und fantastischem Raum
der Welt aller Epochen gleichgesetzt.
Im zweiten wiederum erscheint der
Traum nicht mehr als innere Realität
im Gegensatz zur äußeren.
Der Traum ist eine virtual-aktuelle Wanderung / Reise durch den
formal begrenzten Sprachraum des
Träumenden, aber auch durch die
real unbegrenzten Weiten der Ima-
Antonin Artaud, Tarahumara und andere Werke, Litteris, Zagreb, 2003. Aus dem Französischen von Marija Bašić.
Michael Haerdter, „NeMe: Remarks on modernity, mobility, nomadism and the arts“, http://org/main/137nomadism.
Giles Deleuze, Logik des Sinns, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1993. Deleuzes Philosophie wird im Hinblick auf die Frage nach der Bestimmung des Territoriums, des Chaos und der Kunst auf außerordentlich originelle Weise in Elizabeth Grosz’ Buch Chaos, Territory, Art: Deleuze and the Framing of the Earth, Columbia University Press, New York, 2008, interpretiert.
78
gination. Das Nomadentum ist daher kein virtuell-aktueller Zustand
der Welt in Bewegung, und genauso
wenig ist es eine „neue“ künstlerische
Bewegung oder ein Stil, der aus den
erschöpften Möglichkeiten der modernen Kunst hervorginge. Imagination ermöglicht in seinem medialen Überwinden räumlich-zeitlicher
Grenzen ein „neues Leben“ für das
Nomadentum. Gerade das ist der
Sinn von Flussers Paradigma von
der telematischen Gesellschaft oder
dem kommunikativen Herumirren
im Verschwinden des Unterschieds
zwischen Nähe und Ferne.
Die nomadischen Stämme waren im
Zeitalter der paläolithischen Kultur
der Welt als Fläche in den Räumen
der Wüsten und grünen Weiten gegenüber offen. Ihre Wanderungen
waren stets durch einen äußerlichen
Grund bestimmt: dem Übeleben, das
durch ein Existenzmittel ermöglicht
wird – das Zähmen von Haustieren.
Pferde und Kamele als tierisches Mittel realer und symbolischer Kommunikation nomadischer Völker waren
den Bedingungen der Räume angepasst, die es zu durchqueren und einzunehmen galt. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist der Nomade die
Extension des Lasttiers (Pferd oder
Kamel) auf seinem weg von einem Ort
zum anderen. McLuhan hat die Medien anthropologisch als menschliche
materiell-geistige Prothesen bestimmt.
Im Nomadentum des Chaos am Ende der Geschichte ist der Mensch
nichts anderes mehr, als die Extension einer digitalen Erinnerungsmaschine, die mit Hilfe neuer Landkarten für Irrende die Welt umschreibt
und illustriert. So geht schließlich der
Unterschied zwischen Reisen und Irren immer mehr verloren. Man reist
irrend und irrt, das „bereits Gesehene“ durchreisend. Das „bereits Gesehene“ wird im Akt der Imagination
aufs neue rekonstruiert.
28
RELA
Dossier: @arko Pai}
Es kann nicht mehr geschrieben werden, was Nomadentum, bzw. wer
Nomade sei. Ohne Antwort auf die
Frage nach dem Charakter der verlorenen Weltlichkeit der verlorenen
Welt, die zum technischen oder digitalen Bild und Medium der eigenen Bildlichkeit geworden ist, ist es
vergeblich, die alten Streitgespräche
über die Realität und Objektivität
einer solchen Welt und die Subjektivität des Subjekts als des Erzeugers
einer solchen Welt zu wiederholen.
Wenn es unmöglich geworden ist,
über das Nomadentum ohne Nomaden etwas mit Sicherheit und Bestimmtheit zu sagen, und das ist der
eigentliche Sinn der „Story“ vom
Ende der Geschichte, mit dem wir
uns in jeder Form seines Ausdrückens der Formen und Inhalte einer gleichbedeutenden Weltstruktur
konfrontieren, bleibt uns zweierlei
übrig: entweder zu verstummen und
zu schweigen, wie es auf radikale Art
und Weise Ludwig Wittgenstein getan hatte, oder Vertrauen zu haben
in jene Art der Aussage, die durch
die Sprache gerade dieses Verstummens und Schweigens das Verstummen und Schweigen zu überwinden
vermag. Ein Nomadentum ohne Nomaden entspricht einem Bild ohne
Welt, das als Fläche und Rahmen
der chaotischen Ordnung des Lebens
selbst ständig aufs neue verbildlicht
wird. Verstummen und Schweigen
„reden“ mehr darüber, als sie auszusagen vermögen. Die poetische Sprache ist die sublime Erfahrung dieser
Grenzübertretung.
Über die Erfahrung der Wüste und
des Nomadentums kann gerade derjenige sprechen, der auf neognostische Weise aus dem realen Reisen
/ Irren durch die globalen Wüsten
hinausgeworfen wurde. In der kroatischen Dichtung des 20. Jahrhunderts – vielleicht könnte auch gesagt
werden, im Rahmen der planetaren
Marija Čudina, Parallele Vulkane, GZH, Zagreb, 1982., S. 16.
TIONS
Imagination derselben Zeit, als das
Nomadentum der achtziger Jahre des
20. Jahrhunderts mehr wird, als nur
ein verbindlicher Begriff – veröffentlichte Marija Čudina ihren testamentarischen Lyrikband Parallele Vulkane, ihr abschließendes, aussagendes
„siebentes Siegel“. Im Gedicht Die
Wüste, mit dem der Band beginnt,
drückt Marija Čudina im 10. Fragment das Wesen davon aus, was hier
in Frage steht – des Nomadentums und
des Chaos am Ende der Geschichte.
Ich erinnere mich, oft schloss
ich die Augen, wies mit dem Finger den Weg zum Himmel und sah
niemals nach, was sich dort ereignet. Gut, ich ging, traf niemanden
und hoffte nur insgeheim,
jemand würde mir aus der Ferne dennoch folgen und ich sei
nicht ganz allein in dieser Wüste,
die kein Ende nimmt. Es scheint
doch jedem, in der Wüste würde
jemand ihn betrachten.
Man soll aber nicht glauben.
Von der Stille bezaubert, wer kann
schon die Folgen des Irrens wissen?28
Objekte sind stets die Illusion des Blicks.
Das Nomadentums im Zeitalter des
Chaos am Ende der Geschichte hat
seinen Sinn überhaupt nur noch darin, dass das Wort Sinn seinen Sinn
verloren hat. Der Sinn des Chaos liegt
darin, dass es keine neue Ordnung
auf den Ruinen der alten schafft. Das
Problem liegt aber dennoch in der
Frage, wie und mit welchem Recht
wir von Anfang und Ende reden können, ohne die Zeit zu überdenken,
die jeder möglichen Verdichtung und
Zusammenziehung (Implosion) des
Raumes vorausgeht? Nomadentum
ist das planetare Schicksal des Irrens
am Ende der Geschichte. Das ist weder ein Merkmal, noch ein Zustand.
Das ist der Anfang vom Ende des
RELA
TIONS
epochal bestimmten Abenteuers der
Geschichte, das analog dort beendet
wird, wo die Welt der monotheistischen Religionen, der Apokalypse,
der Metaphysik des Scheins und der
Besessenheit mit der Erlösung des
Menschen entstanden ist.
Die Nomaden brauchen ihre Wüste, selbst wenn sie nicht da ist, um
in ihr die Möglichkeit eines neuen
Vaterlands haben zu können, sei es
auch im virtuellen Lager im Mond-
Dossier: @arko Pai}
schein. Wüste und Einöde, wie sie
von Marija Čudina besungen werden, erfordern den Blick des Anderen. Der kommende Gott der telematischen Gegenwart im Zeitalter
der Medien offenbart sich weder als
Gott der Nähe / Ferne, noch als die
rettende Wende der Geschichte zu
ihrem Neubeginn hin. Schweigen
und Verstummen sind das einzige,
was vom Nomadentum heute überlebt hat. Jeder irrt alleine durch die
79
Folgen des Reisens durch die endlose und bildlich faszinierende Einöde
dieses sterbenden Wandersterns. Den
Anderen benötigt er, damit sein Irren
einen Sinn hat, bzw. als ob es einen
Sinn hätte. Über das Nomadentum
kann nichts Wesentliches mehr gesagt werden.
Aus dem Kroatischen von
Boris Perić
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
80
TIONS
Gott ohne Religion:
Die Leere der Welt und das Ereignis der Offenheit
Žarko Paić
1. Nihilismus und Religion
E
s gibt etwas Rätselhaftes selbst
noch im Rätsel des Verhältnisses
zwischen dem Göttlichen und dem
Menschlichen in der Geschichten.
Dies ist von Anfang an der Unterscheid zwischen den Grundworten
der Philosophie. Die Frage nach dem
Sein, Gott und dem Menschen gehört in die onto-theo-anthropologische Struktur der Metaphysik. Sein
und in der Weise der Gegenwart Gottes sein bezeichnet den Grundmodus des Verständnisses der Welt als
Sinnhorizont. Er erhält seinen Sinn
erst in Bezug auf etwas ihm zugleich
innerliches und äußerliches, immanentes und transzendentes. Aus dem
Verb sein (einai, esse) werden alle logisch-sprachlichen Aussagen abgeleitet. Unser Denken ist ein metaphysisches und unsere Sprache notwendigerweise eine geschlossene Struktur
der Geschichte, deren grundlegendes
Merkmal durch die vertikal-horizontale Ordnung von Gott, Sein und
Menschsein bestimmt ist.
Von Gott sprechen bedeutet, von „jenem“ sprechen. Jenes, das ein derartiges Sprechen ermöglichst, ist das
„Jenige“ jenseits von diesem und jenem. In Hegels Die Phänomenologie des Geistes finden wir eine Erklä1
rung für die räumliche Bestimmung
des Bewusstseins, das seine Orientierung in der Zeit erst dann erhält,
wenn es sich selbst vom Anderen
mit Hilfe der Unbestimmtheit der
dritten Person Singular unterscheiden kann. Es ist jenes, das „vorhanden“ ist oder „nicht“. Die Sprache
strukturiert sich also nicht als Unbewusstes (Lacan), sondern „jenes“ in
der Sprache Außersprachliche zeigt
sich als Bedingung der Möglichkeit
der Sprache überhaupt. Von Gott
zu sprechen, geht aus der metaphysischen Struktur der Sprache hervor.
Die ursprüngliche Bestimmung von
Gott als Wort (logos) im Evangelium
des Johannes – „Am Anfang war das
Wort und das Wort war bei Gott und
Gott war das Wort“ – zeigt, dass die
Sprache als „göttliche Gabe“ an den
Menschen verstanden wird, die ihn
von allen anderen Wesen unterscheidet. Aristoteles’ Definition des Menschen als zoon logon echon eröffnet
sich in der christlichen Übersetzung
des Johannesevangeliums in der gesamten Macht des Sprechens, das das
Ereignis der Verständigung zwischen
Gott und dem Menschen ermöglicht. Leere tut sich auf, wenn sich die
Welt als Feld von Zeichen zeigt, die
lediglich auf andere, von ihrem Bezeichnenden selbständig gewordene
Zeichen hinweisen. Die Semiotik der
Religion zeugt in unserer postsäkularen Zeit von der gedanklichen Leere
und Ereignislosigkeit des Überschusses an Kommunikation. Das lebendige Wort über Gott und der lebendige „letzte Gott“, von dem Schelling
und Heidegger sprechen, verwandelt
sich in eine totes Testament, eine Erinnerung an das Ereignis ursprünglichen Glaubens. Wie soll man im
gegenwärtigen Zeitalter überhaupt
an die Frage nach Gott herantreten?
Philosophisch, theologisch, religiös?
Die Frage nach Gott ist heutzutage
die Frage nach den Fundamenten einer fundamentslosen Welt. In ihr erscheint Gott durch die Inflation der
„Rückkehr der Religion“.1
Daher sind die Fragen, ob Gott existiert, ob „er“ tot ist, oder nicht, und
alle daraus abgeleiteten Varianten
er ursprünglichen ontologisch-metaphysischen Frage, im Wesentlichen
mit der historischen Manifestierung
der Leere der Welt und des ihr zugleich gebotenen Schenkens des Ereignisses der Offenheit verbunden.
Die Sprache und das Denken „haben“ innerhalb des Sinnhorizonts
der Metaphysik, die die Zeit und
das Lebhaftigkeit des Lebens immer als Zweiheit der ursprünglichen
und der entfremdeten (falschen), die
Siehe dazu: Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“; in: Jacques Derrida / Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001,
S. 107-124.
RELA
TIONS
Lebhaftigkeit des Lebens aber als ursprüngliche und vom Ursprung abgewandte, falsche und uneigentliche
voraussetzt, die Möglichkeit, den unüberschreitbaren Horizont der Welt
zu durchbrechen. Die Frage danach,
ob Gott existiert, ob er ein lebendiger Gott, oder zur toten Religion des
Trostes und der Sehnsucht nach ursprünglichem Glauben geworden ist,
stellt sich jedes Mal, wenn die Welt
in ihrer Leere und dem Ereignis der
Offenheit keine andere Möglichkeiten mehr hat, die Zeit zu verstehen,
außer als Einsicht in das Erfüllte, Beendete, historisch Abgerundete und
insofern Vollstreckte. Aber das Wort,
das über die ontologisch-metaphysische Struktur des Denkens und des
erst aus diesem abgeleiteten rettenden Glaubens und nicht umgekehrt
hinausgeht, ist weit mächtiger als jegliche reale Existenz des Göttlichen in
der Welt.
Es ist ein Wort, das gewöhnlich als
Bezeichnung für Besitz angesehen
wird, als etwas Korruptes, dem Sein
entgegengesetztes. Es geht, also, um
das Wort haben. Sein hat keinen höheren ontologischen Status als haben.
Im Gegenteil, um überhaupt sein zu
können, muss man Sein „haben“,
Verantwortung für seine Existenz
übernehmen und Bezug zum Sein, zu
Gott und der Welt haben.2 Natürlich
„hat“ alles, was hier angeführt wurde, seine Spuren in den Gedankenreflexen Martin Heideggers hinterlassen, aus der Zeit seiner Abkehr von
2
3
4
5
6
7
Dossier: @arko Pai}
Ontologie und Metaphysik, sowie
des Versuchs, mittels eines anderen
Sprechens zum neuen Ursprung der
Welt zu gelangen.3
Das Rätsel des historischen Verhältnisses zwischen dem Göttlichen und
dem Menschen, schlussfolgert Heidegger in Die Zeit des Weltbilds, liegt
einfach darin, dass es als unantastbar gilt, Gott sei etwas Ewiges, ohne
Rücksicht auf den Wandel der historischen Epochen, in denen seine Idee
zum Vorschein kommt unveränderliches, und nicht etwas, was seinen
historisch-epochalen Platz (Topos)
einnimmt und in den Grenzen einer
bestimmten Zeit erscheint und auflebt.4 Die Frage nach Gott im Rahmen der Metaphysik ist eigentlich die
Frage nach dem Sinn und der Haltbarkeit der Metaphysik überhaupt.
Deshalb bedeutet von Gott reden seit
den Anfängen der Philosophie, über
die Grenzen der Beziehung zwischen
dem Sein, dem Göttlichen und dem
Weltlichen im Verhältnis zum historischen Ort und der historischen
Zeit des Manschen zu reden. Dass
durch Sprache auf die Existenz jenes Wesens, als des höchsten, nichterschaffenen, vollkommenen Einen
– in der Tradition der scholastischen
Ontologie des ens perfestissimum als
ens increatum – hingewiesen werden
kann, bestätigt Heideggers Gedanken aus der Schrift / der Vorlesung
Was ist Metaphysik?, demzufolge metaphysische Fragen dem Menschen
angeboren sind.5
81
Das Rätselhafte im Rätsel der historischen Beziehung zwischen dem
Göttlichen und dem Menschlichen
scheint nichts anderes zu sein, als dass
sich die Sprache, durch die das Göttliche benannt wird, historisch ihrer
metaphysischen Ansprüche entleert
und auf bloße kulturelle, ideologische, weltanschauliche und Wertausdrücke „verfällt“. Als gedanklicher Rahmen der Aufbewahrung des
Christentums in der Situation seines
Verschließens in trockenen Text und
das tote Grab des Glaubens, legt die
gesamte christliche Theologie des 20.
Jahrhunderts Zeugnis darüber ab,
was bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit Nietzsche als das Zeitalter
des europäischen Nihilismus diagnostiziert wurde.6 Die Religion und
die Theologie, die bestrebt ist, ihr in
der Welt der Wissenschaft, der Philosophie und der Kunst, die autonom auftreten und sich nicht mehr
auf die Glaubwürdigkeit der Offenbarung berufen, eine metaphysische
Berechtigung zu geben, stehen nicht
außerhalb des Nihilismus der historischen Welt. Seit beginn der Neuzeit
bestimmt der Nihilismus den Sinn
des menschlichen Seins.7
Sind Religion und Theologie, die ihr
das Fundament des Glaubens liefert,
unabhängig davon, ob es sich um das
Christentum, den Islam, oder den
Judaismus, als führende monotheistische Religionen und der globalen Welt handelt, tief in ihren Fundamenten nihilistisch, wie es auch
In der theologischen Variante des christlichen Existenzialismus, nach dem das Sein Gottes als Existenz seine Essenz bestimmt, wurde dies
in Gabriel Marcels Buch Sein und Haben: Ein metaphysisches Tagebuch (1928-1933), Bibl. Logos, Veselin Masleša, Sarajevo 1989, aus dem
Französischen von Marin Cvijović, am radikalsten vollzogen. Aber Marcel versteht das Sein als Anwesenheit im Horizont der Zeit als Ewigkeit/Endlosigkeit und den Menschen als Existenz, die in Berührung mit Gott notwendigerweise die Welt des materiellen und physischen
Besitzens von Dingen auflösen muss. Daher ist für ihn Sein ontologisch vorrangig vor jenem, was in der physischen Welt als Haben/Besitz
des Menschen über seine Umwelt erschient.
Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie – Vom Ereignis, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1989.
Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, Gesamtausgabe, Bd. 5, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1977.
Martin Heidegger, „Was ist Metaphysik“, in: Wegmarken, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1976.
Als Darstellung der teleologischen Wenden und programmatischen Thesen im Verhältnis zur Philosophie, den doktrinierten Quellen des
Glaubens und des institutionalisierten Zustand, wie etwas der Vatikanischen Konzile der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist das Buch:
Rosino Gibellini, Theologie des XX Jahrhunderts, Kršćanska sadašnjost, Zagreb, 1999 (aus dem Italienischen von Darko Grden und Josip
Krpeljević) instruktiv.
Siehe dazu: Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005.
82
RELA
Dossier: @arko Pai}
mit der Metaphysik im Zeitalter des
wissenschaftlich-technischen Weltbilds der Fall ist, stellt sich die berechtigte Frage, warum am Ende der
Modernität, in unserem posthistorischen Zeitalter, erneut von der Rückkehr der Religion gesprochen wird
und nicht von der Rückkehr Gottes
in eine „Welt“ nach dem Ende der
Geschichte? Einer der Gründe für
das Ersetzen Gottes durch die gesellschaftliche Macht der Religion
in Zeitalter des Verschwindens der
Gesellschaftlichkeit überhaupt und
ihrer Verwandlung in Kommunikationsverbindungen zwischen den
Menschen, liegt gewiss in der Unmöglichkeit, die Idee Gottes noch
immer auf den alten metaphysischen
Grundlagen aufrecht zu erhalten.
Es genügt, darauf hinzuweisen, dass
Papst Johannes Paul II Zeit seines
Pontifikats andauernd das Verhältnis
zwischen Gott und dem Menschen in
der modernen Geschichte renoviert
hatte. Einmal wurde die Hölle zum
symbolischen Ort des Jenseits und
nicht mehr zur real-räumlichen Strafe für Sünder erklärt; ein andermal erlebte selbst die göttliche „Kommunikation“ mit dem Menschen ihre dramatische Umkehr, beinahe vergleichbar mit jenem, dem sich der Theologe Karol Woytila widersetzt hatte:
nämlich, Nietzsches Lehre vom Tode
Gottes. Als Befürworter von Schellers materieller Wertethik, musste
Woytila, bzw. Papst Johannes Paul II
die Macht des ursprünglichen Glaubens jenseits der Zeitlichkeit annehmen, nicht aber die Art und Weise
der außer Frage stehenden Kommunikation Gottes und des Menschen
nach der Erfahrung der totalitären
Ordnungen, des Holocaust und der
Massenvernichtungen der Menschheit im Namen eines Ersatzes für
Gott oder von Gott selbst. In einer
Homilie kurz vor seinem Tod sagte er,
Gott würde sich nicht mehr an den
Menschen wenden, er habe auf die
Welt verzichtet und sich von dieser
abgekehrt. Der Rest ist Schweigen:
das Schweigen der Theologie und
das Schweigen über den Sinn seiner
Homilie.
Kann eine derartige Behauptung als
etwas völlig Zufälliges außer Acht
gelassen werden, als sei es bloß in
einem Zustand der Enttäuschung
wegen der Unmöglichkeit, im globalen Zeitalter die Weltsituation zu
ändern, gesagt worden? Die Antwort
ist negativ. Gottes Verzicht auf den
Menschen führt uns auf radikalste
Weise in das abgeschlossene Ereignis des Weltnihilismus ein. Danach
bleibt lediglich die Möglichkeit der
Umkehr des gesamten historischmetaphysischen Abenteuers seit Urzeiten bis hin zum Ende der Geschichte übrig. Nach dem verschwinden der messianischen Verzückung,
bleibt nur noch der Schritt nach
außerhalb des postmetaphysischen
Glaubens übrig – die Eröffnung der
Möglichkeit des Ereignens eines Gottes ohne Religion. Im Unterschied
zum Buddhismus als Religion ohne
Gott, in der es weder Heilige, noch
Hölle, noch Paradies, einen Messias
oder Eschatologie gibt, sondern nur
die Erweckung des Bewusstseins (des
Geistes) des Menschen als Person,
die der kosmischen Leere der Welt
gleichgesetzt ist, wir hier versucht,
nach dem Ende der Geschichte den
Weg für ein völlig anderes Ereignis zu
eröffnen. Ein derartiges Ereignis ist
das Unerhörteste und Rätselhafteste. Kann denn ein Gott ohne Religion noch überhaupt die Möglichkeit
„haben“, der kommende „lebendige
Gott“ zu sein, der durch Liebe den
Sinn der Freiheit als Abgrund des
menschlichen Seins erschließt?
Um philosophisch glaubwürdig durchdenken zu können, warum weder
Religion noch Philosophie Einsicht
in das Rätsel des Endes des historischen Zeitalters des Nihilismus gewähren, aus dem heraus einzig noch
das massenhafte Flehen nach Rettung und die massenhafte globale
TIONS
Religiosität als Erlebnis der entgötterten Hysterie des Glaubens in der
Gestalt von Kultur / Ideologie verstanden werden können, ist es notwendig, zunächst die radikale Frage
zu stellen: hat denn Gott in seiner
historisch-epochalen Auferstehung,
der Erlebnis des Glaubens und seinem Rückzug aus der Welt Religion
als menschliche, allzu menschliche
Spur von Verasammlung und Gemeinschaft überhaupt nötig? Oder
ist im Wesen der Religion bereits jene Art ursprünglicher Verknüpfung
zwischen dem Menschen und dem
Transzendenten enthalten, die auf
der Verabsolutisierung bestehender
gesellschaftlich-kultureller Verhältnisse in der Welt beruht, denen zufolge die Macht in der gesellschaftlichen Hierarchie das legitime Recht
beansprucht, das Göttliche und dessen Attribute zu benennen?
Mit anderen Worten, ist die gesellschaftliche Ordnung seit Urzeiten
patriarchal, blutrünstig primitiv und
unerhört reduktiv, da sie die Anderen
(vor allem die Frauen) aus dem Kreis
der Benennung und dem Bestimmen
über das Gesetz der Gemeinschaft
ausschließt, ist das Religiöse von seinem Wesen her etwas historisch entziehendes. Das Wesen der Religion
ist nur aus dem Wesen des göttlichmenschlichen Verhältnisses innerhalb der Geschichte bestimmbar, als
Verhältnisses des Eröffnens und der
Zurücknahme der Liebe, des Guten, des Wahren und des Schönen.
Die gebotene Schenkung oder die
im Gegenzug zu erfolgende Ermöglichung eines derartigen Verhältnisses kann niemals die Reduzierung der
menschlichen Freiheit sein. Daher ist
die Religion historisch an etwas ihr
weit mehr Zugehöriges gebunden,
als jegliche Verbindung zum Transzendenten. Religion ist die macht der
Reduktion des primären Verbindung
des Menschen als universalen Wesens
der Freiheit mit dem Göttlichen, solange das Göttliche aus der mensch-
RELA
TIONS
lich begrenzten historischen Freiheit
abgeleitet wird.
Religion ist stets die unbegründete Antwort auf die Frage nach der
Möglichkeit der Rettung des Menschen und seiner Welt. In allen historischen Situationen, vor allem aber
in der Gegenüberstellung des Menschen mit seiner endgültigen Grenze
– dem Tode – erscheint die Religion
als Antwort. Was bedeutet, Religion
sei Antwort? Antwort worauf? Jacques Derrida behauptete in seiner
1994 anlässlich eines Symposiums
auf Capri gehaltenen Vortrags „Der
Glaube und das Wissen: Die beiden
Quellen der Religion in den Grenzen
der gewöhnlichen Vernunft“: „Religion? Antwort: Religion ist Antwort.“8
In allen neueren Erörterungen der
sog. „Rückkehr der Religion“ in gegenwärtige westliche Gesellschaften
nach der ersten Versuchung der globalen Weltpolitik liberaler Demokratien durch gegen Amerika gerichtete
terroristische Drohungen zu Beginn
es 21. Jahrhunderts wiederholt sich
so gut wie jedes Mal dieselbe Aussage: „Religion ist die Antwort... auf
die Krise der westlichen Rationalität,
der Demokratie, des Liberalismus,
der materialistischen Natur des globalen Kapitalismus, des konsumorientierten Lebensstils, des eigentümerischen Charakters des Individualismus, der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit, des Narzissmus usw.“
Ist Religion die Antwort auf etwas in
erster Linie gesellschaftliches und in
der Welt faktisch verfügbares, dann
ist noch immer von etwas die Rede,
das mit Gott primär nichts zu tun
hat. Eine gesellschaftliche Antwort
auf eine gesellschaftliche Krise kann
etwas sein, das die Möglichkeit neu8
9
10
11
Dossier: @arko Pai}
er gesellschaftlicher Verhältnisse erst
zu erstellen hat. Der Sinn der Religion als gesellschaftlichen Verhältnisses liegt gerade darin, dass die gesellschaftliche Veränderung von der
Konversion des Menschen als gesellschaftlichen Wesens ausgeht, das
seine Gesellschaftlichkeit aus seiner
primären Religiosität bezieht. Geistige Erneuerung oder die Rückkehr
zu den Quellen des Glaubens lautet
die richtige Übersetzung des gegenwärtigen religiösen Fundamentalismus. Solange ein solches Religionsverständnis aus der Veränderung der
gesellschaftlichen Bedingungen der
Modernität mit Betonung auf den
heiligen Quellen der Tradition abgeleitet wird, ist jede Rückkehr der Religion nichts Anderes, als diese oder
jene Variante eines religiösen Fundamentalismus.9 Die Fundamente
werden nicht hinterfragt. Sie werden
nicht angezweifelt. Dadurch wird
die Geschichtlichkeit der religiösen
Erfahrung verewigt. Darauf hatte
bereits Schelling in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie kritisch hingewiesen. Die Entstehung des Monotheismus stellt den
ersten und entscheidenden Moment
eines radikalen theomachischen Bilderstreits dar. Ein Gott verdrängt die
alten Götter, so wie die Religion den
Mythos aus dem gesellschaftlichen
Rahmen der menschlichen Existenz
verdrängt.
Wie soll dann verstanden werden,
dass die Rückkehr der Religion nicht
die Rückkehr zu Polytheismus der
vormonotheistischen Welt bezeichnet? Ausnahme ist nur die pseudokulturelle Wende der neuen europäischen metapolitischen Rechten
hin zu den Göttern der alten Grie-
83
chen. Dies geschieht aber nur als Kritik der Schwäche des postmodernen
Christentums, das den Kult des Lebens gegen die Liebe nicht als seine
ursprüngliche Macht, die tragische
Zweiheit des Dyonisos gegen den
Gekreuzigten zu überwinden, emporhebt. Jede Rückkehr der Religion zeigt sich letztendlich als Erneuerung von etwas wesentlich unerneuerbarem. Am Ende der Geschichte
scheint es, die einzige therapeutische
Macht der Religion liege in einer
Art „Nostalgie nach dem Absoluten“
(Georg Steiner).10
In einer äußerst umstrittenen Interpretation des heutigen islamischen
Fundamentalismus nannte der französische „neue Philosoph“ André
Glucksmann die Selbstmordterroristen moderne religiöse Nihilisten.11
Analog zu den russischen anarchistischen Attentätern vor der Oktoberrevolution, wurden die islamischen
Terroristen durch einen Begriff bezeichnet, der auf keinen Fall in einer
profanen Aussage zu gebrauchen ist.
Massenmorde an Anderen wegen der
Erfüllung eines „heiligen Ziels“ durch
Terror als Mittel / Zweck totaler Mobilisierung des islamischen Glaubens
gegen den „gottlosen“ Westen, können auf nicht als nihilistisch bezeichnet werden, weil aus dem Wesen des
Nihilismus eine allgemeine Herabwürdigung der Existenz von Werten
(Glaube, Kultur, Nation, Staat, Gesellschaft, Wellt) hervorgeht.
Dennoch wurde in diesem ungeschlachten und unangemessenen Begriff etwas intuitiv getroffen. Es geht
darum, dass Nihilismus und Religion
im gegenwärtigen wissenschaftlichtechnischen Zeitalter des Endes der
Geschichte einander aus jenem ablei-
Jacques Derrida, „Glaube und Wissen: Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: Jacques Derrida / Gianni
Vattino, Die Religion, Suhrkamp, 2001, S. 46.
Siehe dazu: Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religion: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, C. H. Beck, München 2001,
2. Auflage.
Georg Steiner, Nostaliga for the Absolute, Anansi, Toronto, 2004.
André Glucksmann, La troisiéme mort de Dieu, NIL, Paris, 2000.
84
ten, das ihnen die Macht der gesellschaftlichen Legitimation verleiht.
Die Entwürdigung des ursprünglichen Sinnes der Religion durch ihre Rückkehr in Gestalt von Kultur /
Ideologie – Christentum, Islam, Judaismus usw. – wird stets durch gesellschaftliche Gründe der Knüpfung
neuer Verbindungen zwischen den
Menschen gerechtfertigt. Im postmodernen Zeitalter ist Religion nicht
mehr auf den Raum Europas, Amerikas oder eines anderen Kontinents
beschränkt. Die Religion ist in ihrer
universellen Mission der Konversion Anderer oder der Tolerierung des
Anderen global geworden. Deshalb
ist die Einzige religiöse Antwort auf
die Krise der gegenwärtigen Welt der
Versuch, einen globalen oder Weltethos (Hans Küng), oder aber die neue
globale Instantreligion des New Age
zu etablieren.
Ist es aber nicht eigenartig, dass Religion ins Wesen des Nihilismus eingeordnet wird? Von Dostojewskij bis
heute wird Nihilismus stets als der
Tod Gottes und die Entstehung offener Räume für das Zeitalter der
Ideologien bestimmt. Dostojewskijs
oft missbrauchte Aussage: „Gibt es
keinen Gott, dann ist alles erlaubt“
ist jedoch keine Antwort auf den
Nihilismus der gegenwärtigen Welt,
sondern in erster Linie eine lapidare religiöse These über das, was geschieht, wenn die Welt ihr Verhältnis
zum Göttlichen verliert. Das Problem liegt darin, dass sich die Religion als gesellschaftliche Antwort
auf die Krise der Selbstverständlichkeit der Welt stets ideologischer Interpretationen dessen bedient, was
Gott traditionell „ist“ und wie er
sich dem Menschen gegenüber verhält. Die Unantastbarkeit der göttlichen Offenbarung in den mono12
13
RELA
Dossier: @arko Pai}
theistischen Religionen wird auf die
gesellschaftliche Ebene der Säkularisierung der gegenwärtigen Gesellschaften übertragen. Auf diese Weise
wird das Geschichtliche, das inmitten einer ursprünglichen patriarchalen Stammeskultur entstanden ist,
bedingungslos auf eine völlig andere
Epoche übertragen.
Tradition ist nichts versteinertes oder
totes. Sie ist lebendig, wenn sie „diese“ Zeit durch universelle Botschaften
der Liebe, der Wahrheit, des Guten
und der Sinnhaftigkeit des Lebens inspiriert. Die letzte große Philosophie
der Religion und der Kunst war jene
Schellings. Das Kommen Gottes in
eine ausgeleerte Geschichte war nicht
auf die Weise heutiger vulgärer Interpretationen der Rückkehr der Religion gedacht. Im Gegenteil, Schelling
musste annehmen, dass die Zeit des
„lebendigen Gottes“ als Mission Jesu Christi im Zeitalter der vergangenen mythischen und religiösen Kunst
einzig dann eine kommende werden kann, wenn sich das Göttliche
aufs neue im wirklichen Menschen
als dessen metaphysisches Bedürfnis
und dessen metaphysischer Modus
vivendi verkörpert.12 Alles andere ist
vergebliches Wiederholen von etwas,
das aus der toten geschichtlichen
Welt längst verschwunden ist.
Wird jedoch das Wesen der Religion
aus Hegels Geschichtsphilosophie
gedacht, dann ist offensichtlich, dass
der Fortschritt im Freiheitsbewusstsein ein notweniger Schritt in Richtung Aufklärung des Religiösen innerhalb der Religion selbst ist. Die
Religion hatte aus seinem System
des absoluten Geistes heraus zwar
keine Apokalypse erlebt, wie etwa
die Kunst, die sich auf einem niedrigeren Erscheinungsgrad des Absoluten befindet. Es wäre aber durch-
TIONS
aus logisch, dass Gott im Zeitalter
der wissenschaftlichen Erscheinung
des Absoluten auf ein Kunstwerk /
Kunstereignis im einer Welt des totalen Nihilismus reduziert wird. Die
Philosophie der Religion, wie sie von
Hegel gedacht wurde, ist nicht nur als
solche und auf diesen Spuren nicht
mehr möglich, vielmehr ist mit dem
Ende der Geschichte die Religion
selbst an ihrem Ende angelangt, da
sie in der Welt über keine substantielle Einheit mehr verfügt.
Marx kam in seiner Feuerbach-Kritik zum Schlusspunkt der modernen
Religionskritik als gesellschaftlichhistorischer Kritik der menschlichen
Entfremdung. Die anthropologische
Kritik der Metaphysik musste daher notwendigerweise eine derartige Kritik der Angeschlagenheit der
ganzheitlichen menschlichen Natur
zu ihrem Gegenstand machen. Heutzutage muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass es sinnlos ist,
Marx diesen vulgären Atheismus als
Ideologie der Berechtigung zur Unterdrückung von Religion in totalitären realsozialistischen Regimes des
20. Jahrhunderts vorzuhalten. Das
Problem ist weit komplizierter und
kann durch dogmatische Argumente
von links und von rechts nicht gelöst
werden. Auch Marx’ Religionskritik
gehört zum Nihilismus der gegenwärtigen Zeit, genauso wie alle ihr
entgegengesetzten Versuche der gegenwärtigen Rückführung der Religion in die postsäkularen Gesellschaften des Westens.13
Das sind nur zwei Seiten ein und
desselben Zauberkreises. Dasselbe
gilt für den vulgären Gebrauch der
Wörter Theist und Atheist. Beides
sind nur weltanschauliche Positionen. Und Weltanschauung ist stets
ein subjektiver Zugang zu einer Welt
F. W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, Bd. I, Erstes Buch: Monotheismus, zweites Buch: Mythologie, Demetra, Zagreb, 1997, aus
dem Deutschen von Damir Barbarić.
Siehe dazu: Giorgio Agamben, „Time and History: Critique of the Instant and the Continuum“, in: Infancy and History: On the Destruction of Expirience, Verso, London – New York, 2007, S. 97-116.
RELA
TIONS
als etwas Objektivem. Aus dem eigenen, begrenzten Standpunkt heraus wird bewertend, also ideologisch
oder kulturell, was ein und dasselbe
ist, über den Standpunkt des Anderen geurteilt. Der rücksichtslose,
sektenhafte Atheismus ist gleichbedeutend mit seinem Anderen. Der
atheistische Gläubige und der theistische Ungläubige, der glaubt, Gott
würde ihn bewegen, so wie der Atheist verneint, er würde in Einklang
mit einer „höheren Gewalt“ in der
Geschichte handeln, sind nichts anderes als symbolische Figuren heiliger
/ profaner Krieger, die um die Macht
der eigenen Weltanschauung kämpfen. Die Frage des metaphysischen
Glauben an Gott geht über den vulgären Theismus und Atheismus hinaus. Es ist nicht die Frage, ob Gott
existiert oder nicht, sondern, ob dem
Göttlichen im historisch-epochalen
Geschick des Nihilismus, der alles
beherrscht, was überhaupt existiert,
ein Platz zukommt. Besteht die Möglichkeit der Überwindung dieses Geschicks durch ein neues Verhältnis
zwischen dem Göttlichen und dem
Menschlichen?
Als Nihilismus ist der historische Abschluss der Epoche der Herrschaft des
wissenschaftlich-technischen Zeitalters zu bezeichnen. Alles hat in einer
derartigen Zeit den Charakter des
Nichtigen und Entwürdigten. Alles
in einer solchen Welt ist entweltlicht
und entgöttert, ja sogar die Idee und
die Existenz von Gott selbst. Das Problem, das uns in unserer modernen
Existenz auf Schritt und Tritt einholt,
ist nicht das Problem oder die Frage der Belebung des Göttlichen auf
den gleichen Grundlagen des Nihilismus der gegenwärtigen Zeit, sondern
das Problem der Verschmerzung und
Verkraftung einer Welt, in der weder
Philosophie noch Religion mehr substantielle Bedeutung für die Zukunft
haben. Die Philosophie und die Reli14
Dossier: @arko Pai}
gion der Zukunft sind keine zukünftige Philosophie und Religion. Über
die Zukunft ihrer möglichen Beziehung entscheidet nichts mehr, außer
der Möglichkeit eines neuen epochalen Ereignisses. Was sich als einzig wichtig zeigt, geht aus dem Sinn
der Antwort auf die Frage hervor, ob
sich die Welt in ihrer Weltlichkeit auf
den Grundlagen der veralteten metaphysischen Idee der Ewigkeit, Unabänderbarkeit und Beständigkeit
des Einen, als Quelle der allgemeinen Erkenntnis, der Werte und der
ethischen Bedingungslosigkeit des
menschlichen Handelns in Einklang
mit diesen traditionellen Begriffen
noch weiterentwickeln kann.
Es gibt zahlreiche Bestätigungen für
die Annahme, dies sei unmöglich.
Biogenetische Forschungen stellen
in den modernen Wissenschaften die
Idee der Trennung von Natur und
Kultur, des Menschen und seiner
technischen Umgebung, radikal in
Frage. Die Bioethik ist ein Symptom
des gegenwärtigen wissenschaftliche,
kulturellen und technologischen Nihilismus, gerade weil sie die Möglichkeit der Bremsung der Entwicklung
des (Un)Menschlichen durch traditionelle Verbote voraussetzt, die aus
Metaphysik und Glauben hervorgehen. In wessen Namen sollte reproduktives Klonen nicht zugelassen werden? In wessen Namen sollte
das Recht auf kontrollierte künstliche Befruchtung nicht zugelassen
werden? In wessen Namen sollte die
Abtreibung als Recht der Frau, über
ihren eigenen Körper zu entscheiden,
verboten werden?
In allen außerordentlich komplexen
theologisch-ethischen Antworten auf
diese Fragen tauchst Gott als letzte
Instanz des Verbots auf. Dabei geht
es nicht einmal um die Trennung des
Göttlichen und Heiligen, im Sinne
der Nichtreduzierbarkeit des Heiligen auf das Höhere, vom bloß leben-
Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, S. 338.
85
digen, gesellschaftlichen, kulturellen
und ethischen Wesen. Das Heilige ist
kein säkularer Ersatz für das Göttliche. Der Ort des Heiligen ist jener
Ort, von dem Man auf Gott zugeht,
jenseits aller religiös-sittlichen Grenzen der historischen Menschheit. Das
Heilige ist die lebendige Offenbarung der Freiheit für den Zugang zu
jenem, das in der allgemeinen Offenheit der Ereignisse versagt und leer
geblieben ist. Von Rudolf Otto bis
Max Scheler und Martin Heidegger,
versuchte man in der Philosophie des
20. Jahrhunderts, Freiheit für einen
möglichen Zugang zum Göttlichen
zu schaffen, aber auch für die mögliche Eröffnung eines neuen Verhältnisses zwischen dem Menschen und
dem Göttlichen:
“Ob und wie der Gott und
die Götter sich versagen und die
Nacht bleibt, ob und wie der Tag
des Heiligen dämmert, ob und
wie im Anfang des Heiligen ein
Erscheinen des Gottes und der
Götter neu beginnen kann?“14
2. Der postmetaphysische Glaube
Der Übergang aus der Vielzahl von
Gottheiten (Polytheismus) in die
Existenz eines Gottes (Monotheismus) scheint nicht mehr, ein selbstverständliches Ereignis in der Geschichte zu sein. Alle Erklärungen,
von Schelling bis zu den postmodernen Versuchen, eine Art neuen
postmetaphysischen Glauben zu errichten (Gianni Vattimo) zeugen von
einer Wende, die für das vernünftige
Bewusstsein ungeheuer unerreichbar
ist. Ein Gott entspricht formal und
materiell dem globalen Weltzeitalter
der Einheit der Unterschiede am Ende der Geschichte. Die Weltreligionen bemühen sich heute mehr mit
Worten als wirklich um die Möglichkeit einer Zusammenkunft und eines
Dialogs über die künftige Einheit des
86
Glaubens. Während die Unmittelbarkeit ein Merkmal des Polytheismus
war, erscheint der Monotheismus als
notwendiger Schritt in der Erschließung eines Raumes für die Vermittlung dieses Bewusstseins – des hegelianischen absoluten Geistes – durch
ursprüngliche Heilige, Gesandte und
göttliche Vermittler: Jesus Christus,
Mohammed. Die philosophischen
Theorien über den Sinn der Religion
sind zum Zeitpunkt ihrer triumphalen Rückkehr auf die globale gesellschaftliche Bühne nicht mehr maßgebend, dieses Phänomen von einem
absolut gewonnenen Standpunkt aus
zu beurteilen. Es kann sogar behauptet werden, dass jeglicher neue Versuch einer Religionsphilosophie auf
den Spuren Schellings oder Hegels
unglaubwürdig bleiben würde. Alles, was sich scheinbar pragmatisch
sinnvoll zeigt, sind die Beschreibung
und die Analyse sog. gesellschaftlicher und kultureller Phänomene
der Religiosität und der Religion im
gegenwärtigen Zeitalter. Was für die
Philosophie gilt, trifft auf gleiche
Weise auch für die zeitgenössischen
theologischen Reflexionen über Gott
und die Religion zu.
Zwei grundlegende philosophische
Methoden und Orientierungen sind
im zeitgenössischen Denken für das
Verständnis dieses neuen Verhältnisses gegenüber der Frage des Göttlichen und der Geschichte von wesentlicher Bedeutung. Die eine ist
Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie, die andere Derridas Dekonstruktion des Logozentrismus der westlichen Metaphysik.
Aus ersterer ging die These von der
ontologischen Differenz zwischen
Sein und Wesen hervor, aus letzterer
15
16
17
18
RELA
Dossier: @arko Pai}
die ontisch-ontologische Differänz
(différance) zwischen Sein und Wesen. Differenz und Differänz sind
keine unterschiedlichen Ausdrücke
für ein und dasselbe. Während Heidegger die Offenheit des Ereignens
von Sein und Zeit in der Geschichte
denkt, versucht Derrida, die Idee des
Fundaments selbst, im Sinne eines
geschichtlich sich versagenden Ausdrucks für das Fundamentlose, zu
zerlegen. So orten sich auch die theologischen Überlegungen über Gott
im 20. Jahrhundert zur einen oder
zur anderen Orientierung, obwohl
aufgrund der traditionellen Auffassung der Metaphysik das Göttliche
notwendigerweise als das Fundament
des Glaubens vor dem Horizont des
Überzeitlichen und Übergeschichtlichen verstanden wird.15
Die Schwierigkeiten im Denken des
Göttlichen am Ende der Geschichte gehen aus den Schwierigkeiten
im Verständnis von Gott, der Metaphysik und der Geschichte hervor.16
Von Bultmanns dialektischer Theologie bis zu Tillichs neuem eschatologischen Zugang zum Göttlichen in
der Geschichte, stoßen wir auf Spuren von Heideggers Gedanken über
die Offenheit des Ereignens des kommenden (Gottes und der Götter) in
einer Welt ohne ursprüngliche Verbindung (Religion) und ursprünglichen Bezug zum Denkabern und
Sagbaren (Philosophie). Am Ende
des 20. Jahrhunderts läuft die Dekonstruktion der westlichen Metaphysik vor Derridas Denkhorizont
in einem gänzlichen neuen Versuch
zusammen, einen postmetaphysischen, dem gegenwärtigen Zeitalter entsprechenden Glauben zu „begründen“.
TIONS
Wozu überhaupt das Bedürfnis nach
einem neuen, postmetaphysischen
Glauben? Liegt in seiner Forderung
nicht bloß eine Art Zeitgeist der allgemeinen Zerstreutheit und Nichtgesammeltheit des Denkens über das
Wesentliche in der gegenwärtigen
„Nostalgie nach dem Christentum“,
nach dem nihilistischen Tode Gottes? Auf diese Weise erklärte der slowenische Philosoph Tine Hribar die
Wende der Dekonstruktion der Metaphysik als Dekonstruktion monotheistischer Religion im postmodernen Zeitalter. Natürlich bezieht sich
das alles nur auf den Versuch Gianni
Vattimos und seines „schwachen Gedankens“ (pensiero debole), die Möglichkeit eines atheistischen Christentums ohne metaphysische Fundamente oder jenseits der geschichtlich
institutionellen göttlichen Offenbarung zu eröffnen.17
Die andere Richtung derselben Nostalgie nach dem Christentum ist laut
Hribar in der neomarxistischen Erneuerung der Figur des heiligen Paulus in den theoretischen Schriften
Alain Badious und Slavoj Žižeks anwesend.18 Die Gründe für eine derartige Nostalgie liegen nicht nur im
Verlust des Heiligen im Nihilismus
der Welt, und auch nicht nur im
Fehlen von Mysterien und Mystik
in den materialistischen Geschichtstheorien. Vielmehr gehen sie aus dem
allgemeinen Verlust des Sinns der
Geschichte nach dem Abschluss der
Metaphysik hervor. Bevor ich zeige,
worin der Sinn und die offensichtliche Schwäche der „Begründung“
eines postmetaphysischen Glaubens
für das gegenwärtige Zeitalter im Sinne Vattimos liegen, wobei dasselbe
in einer anderen Art der Interpreta-
Siehe dazu: Tine Hribar, Evangelium nach Nietzsche, Zbirka PHAINOMENA, Nova revija, Ljubljana 2002.
Aldo Giorgio Gargani, „Die religiöse Erfahrung: Ereignis und Interpretation“, in: Jacques Derrida / Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001, S. 144-171.
Tine Hribar, ebenda, S. 216-303.
Alaine Badiou, Der Heilige Paulus: Die Begründung des Universalismus, Naklada Ljevak, Zagreb, 2006, aus dem Französischen von Leonardo Kovačević, Slavoj Žižek: Über den Glauben: Gnadenlose Liebe, aus dem Englischen von Marin Miladinov, Algoritam, Zagreb, 2005.
RELA
TIONS
tion auch die Belebung des heiligen
Paulus in Badious und Žižeks Wende zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens ohne offenbarten
Gott des institutionellen Christentums betrifft, ist es notwenig, noch
präziser zu zeigen, warum die Religion die leer gewordene Stelle der Geschichtsmetaphysik im Zeitalter des
Nihilismus einnimmt. Warum wurde, also, nach Nietzsche und Hegel
der Gedanke vom Ende der Religion schlechthin nicht entschlossen
ausgesprochen, nachdem Heidegger
der Philosophie und der Kunst im
Rahmen des Endes der Metaphysik
überhaupt das Todesurteil ausgesprochen hat?
Das Wesen der Religion liegt in der
Antwort auf den Sinn der menschlichen Geschichte als Geschichte des
Heils. Gemeinschaft und barmherzige Liebe (agape und caritas) nahmen im Christentum in allen historischen Epochen, seit der Entstehung des Christentums bis heute die
Stelle des Mit-Seins in der Überwindung der endgültigen Existenz des
Menschen als selbständigen Wesens
der universalen Bedrückung ein. Die
Antwort liegt also jenseits des historischen Zerfalls jeglicher gesellschaftlicher Bindungen im Zeitalter des
Nihilismus der Welt als solcher. Die
Religion überlebt ihren metaphysischen Tod, nur wenn es ihr gelingt,
die voneinander getrennten Gebiete der Wirkung des Göttlichen und
des Menschlichen in der Geschichte abermals zu vereinen. Die Idee
der Gemeinschaft ohne Liebe ist, als
Grundidee der Verbindung zwischen
Mensch und Gott, auch unter der
Voraussetzung der Reduzierung von
Liebe auf die Wahrheit des Erhalts
der Gemeinschaft unter der Ägide
der Gerechtigkeit (Islam).
19
20
Dossier: @arko Pai}
Ohne ursprüngliche Begründung im
Ereignis der göttlichen Liebe und der
menschlichen Gemeinschaft, geht
die Religion insofern über ihre historische Mission hinaus, als sie entweder das Kommen des „lebendigen
Gottes“ erwartet (Messianismus), oder
sich als diesseitiges Gesetz der Gemeinschaft für die jenseitige Welt
konstituiert. Der Tod und die Überwindung der endgültigen Grenze erhält die Religion auch nach dem Tode Gottes im Nihilismus der wissenschaftlich-technischen Welt am Leben. Wie es auch bei Philosophie und
Kunst der Fall ist, sind ihre Grundlagen zerstört. Die Welt, innerhalb
derer sie wirkt, entspricht nicht mehr
den ursprünglichen Grundsätzen des
Glaubens. Daher wird das Ende der
Religion, zusammen mit dem Ende
der Metaphysik, als „Nostalgie nach
dem Absoluten“ verstanden, unter allen Aspekten des historischen Erscheinens von Christentum, Islam, Judaismus und anderen Weltreligionen.
Es ist keineswegs verwunderlich, warum die Fundamente des postmetaphysischen Glaubens von einem Zustand ausgehen, den Vattimo als das
Zeitalter des postchristlichen Todes
Gottes bezeichnet und nicht als Antichristentum der Grundstimmung.
Die Religion wirkt nur in den gesellschaftlichen Bedingungen einer universalen Heilsgeschichte. Die europäische Säkularisierung, die mit der
Aufklärung beginnt, wird zur Hauptnorm gegenwärtiger theologischer
Diskurse. Das ist die Voraussetzung
jeglichen zukünftigen Glaubens und
jeder möglichen Rückkehr der Religion.19 Die neue, postreligiöse Kultur
erfordert laut Rorty und Vattimo eine
neue Art der Interpretation des Endes
der Metaphysik, die Dekonstruktion
der westlichen Ontologie und ein
87
neues Denkparadigma für eine mögliche Zukunft der Religion.
Ist die Säkularisierung Voraussetzung
des theologischen Diskurses der Gegenwart, dann ist es auch nicht mehr
das Problem, wie in den kulturell pluralistischen Gesellschaften liberaler
Demokratien einen Dialog zu erreichen wäre, sondern wie das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und
dem Menschlichen in der Situation
des Todes Gottes und des Todes des
Menschen als metaphysischer historischer Konstruktionen gedacht werden soll. An dieser Stelle sollte daran erinnert werden, dass der Streit
über die konstitutiven Bestimmungen dieses Dialogs im heutigen Europa durch eine radikale säkulare Stellungnahme bestimmt ist: Gott und
die christlichen Ursprünge Europas
sind nicht die Fundamente der neuen
europäischen Gemeinschaft. Daher
ist durchaus zu erwarten, dass sich
das institutionelle Christentum, insbesondere die katholische Kirche, gegen eine derartige programmatische
Stellungnahme ausspricht. Sie empfindet sie als Hauptgrund des moralischen Nihilismus und Relativismus
des gegenwärtigen Europa.20
Die Frage, die gestellt werden muss,
bevor die „Grundlagen“ eines postmetaphysischen Glaubens für das gegenwärtige Zeitalter erörtert werden,
ist zugleich auch die Frage, die aus
der Natur der Dekonstruktion der
westlichen Ontologie als Metaphysik
hervorgeht. Von was für einem und
welchen Gott sprechen wir, wenn
von seinem Tod im Zeitalter des Nihilismus der wissenschaftlich-technischen Welt die Rede ist? Ist es ein kanonisierter und theologisch fundierter Gott der institutionellen Religion
oder ist es ein anderer Gott? Handelt
es sich, also, um den Gott der insti-
Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005.
Siehe dazu: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion, Herder, Freiburg-Basel-Wien,
2005, 6. Ausgabe, und: Jürgen Hagbermas, Glauben und Wissen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.
M. 2001.
88
tutionellen monotheistischen Religionen oder vielleicht um einen „Gott
der Philosophen“ (Walter Schulz).21
Die Frage bezieht sich auf das Wesen
des Streits um den Charakter und
die Natur der Säkularisierung als
Voraussetzung eines methodischen
Atheismus der westlichen Geschichte
in ihren konstitutionell-politischen
Grundlagen der Demokratie. Marx
hatte bereits 1843 in seinem Aufsatz Zur Judenfrage gezeigt, dass die
eigentliche Voraussetzung für den
Ausgang aus einer theokratisch-politischen Ordnung der Abhängigkeit
des Menschen von Gott die Errichtung einer neuen „politischen Theologie“ ist. Um sich der Sprache der
modernen Säkularisierung zu bedienen, kann gesagt werden, Gott müsse demokratisiert werden. Er muss
„diese“ Welt verlassen, weil die Religion paradoxerweise zum Hindernis
für die eigentliche Freiheit des Menschen geworden ist.
Die Religion hat die Voraussetzungen der freien Welt nicht ermöglicht,
sonder ist in ihrer institutionellen
Form eine Legitimierung der Macht
ohne Liebe und Wahrheit. Der historische Tod der Religion und ihre
Rückkehr oder Erneuerung (Revival)
bezieht sich auf das Ereignis der Säkularisierung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften. Daher ist selbstverständlich, dass von der Rückkehr
der Religion zu reden nicht zugleich
von der Rückkehr Gottes zu reden
bedeutet. Niemand kann mehr das
Recht für sich beanspruchen, über
seine Rückkehr in die gegenwärtige Welt zu sprechen. Die Situation
ist hermeneutisch als geistige Leere
und ein Ereignis der Offenheit verfügbar. In dieser Kluft der Erwartung eines kommenden Gottes ohne Religion entsteht die „kleine Erzählung“ der Postmoderne über die
21
22
RELA
Dossier: @arko Pai}
neuen „Grundlagen“ des postmetaphysischen Glaubens.
Gianni Vattimo versteht die Hermeneutik am Ende des 20. Jahrhunderts
als etwas weit mehrbedeutenderes als
das griechische Wort koiné. Die humanistische Kultur und die humanistische Wissenschaft schlechthin
bilden die „Ontologie der Aktualität“, bzw. die Philosophie der spätmodernen Welt, in der die Welt als
ein Spiel von Interpretationen verstanden wird.22 Für Vattimo wird
daher das Wort Dekonstruktion auf
die gesamte metaphysische Tradition
angewandt. Von Nietzsche über Heidegger bis hin zu Derrida hat die Interpretation der Geschichte der Ontologie einen dekonstruktiven Charakter. Die Gleichsetzung von Sein
und Wesen führt dazu, dass Gott im
Laufe der gesamten westlichen Metaphysik als höchstes Wesen verstanden wird, während das Sein auf diese
Weise in seinem Wesen zur Wesentlichkeit der Wesen zerlegt wird und
dadurch sine ursprüngliche Offenheit einbüßt.
Gott in ontologischer Unterscheidung zum Sein zu denken setzt die
Dekonstruktion der Metaphysik voraus. Am Ende der Modernität, bzw.
der spätmodernen Welt führt uns
Nietzsches These über den Tod Gottes in die radikale Dekonstruktion der
Metaphysik ein. Die Geschichtlichkeit ist von Ausgangspunkt der metaphysischen Idee der Ewigkeit und
Unabänderbarkeit aus nicht mehr zu
besehen. Historisch erscheint Gott
im Ereignis einzigartiger Offenheit
von Sein und Zeit, und zieht sich in
diesem auch zurück. Daher befindet
sich die Grundlage des einzig möglichen postmetaphysischen Glaubens
für Vattimo in der Kluft zwischen
den Welten: jener, die am Nihilismus der planetaren Technik zerfallen
TIONS
ist und jener, die sich im Intermezzo des Nihilismus als postmodernes
Zeitalter ankündigt.
Was für Vattimos Verhältnis zur Religion in ihrer christlichen Gestalt als
Paradigma der westlichen Metaphysik wesentlich ist, ist die Tatsache,
dass sich das Sein als Grundlage nicht
aus sich selbst heraus versteht, und
auch nicht aus seinem Verhältnis gegenüber Gott. Für ihn ist Gott nicht
Sein, denn das würde gerade dasselbe
bedeuten, was die Dekonstruktion
der Idee der Grundlagen im Logos
von Nietzsche über Heidegger bis hin
zu Derrida zu zerlegen sucht. Auf diese Weise hat Gott in seiner Idee und
Existenz jene Art Anwesenheit, die
zugleich Abwesenheit und daher stets
ein gewisser Mangel an Fülle ist. Ein
solcher Gott ist nicht der allmächtige
und weltgeschichtlich alles könnende Gott, wie Jahve es im Alten Testament gewesen ist, sondern ein Gott
der Entfernung und des Vertrauens.
Vattimo interpretiert das Göttliche
als jenes, das sich mit Liebe und Demut dem Menschen gegenüber verhält. Schon die Interpretation selbst
eröffnet – als Dialog im Sinne einer
Hermeneutik und Dekonstruktion
der Idee der Grundlagen – das Problem der Sinnhaftigkeit des Sprechens.
Diese ist die Erfahrung der Spur und
der Differenz. Auf dieser Spur und
der Differenz zum allmächtigen Gott
der negativen Theologie wird das
„schwache Denken“ und sein postmetaphysischer Glaube aufgebaut.
Statt nach den Grundlagen (arché)
zu suchen, ist es notwenig, den ursprünglichen christlichen Gedanken
der Gemeinschaft der barmherzigen
Liebe (agape) zu beleben.
Das endgültige Resultat dieses postmetaphysischen Interpretationsspiels
mit dem Geist des ursprünglichen
Christentums liegt für Vattimo dar-
Walter Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Matica hrvatska, Zagreb, 1996, aus dem Deutschen von Damir Barbarić.
Gianni Vattimo, „Gadamer and the Problem of Ontology“, in: Gadamers Century: Essays in Honor of Hans-Georg Gadamer, (Hrsg.) J. Malpas, U. Arnswald und J. Kertcher, The MIT Press, Cambridge, Massachusetts, London-New York, 2002, S. 305-306.
RELA
TIONS
in, dass mit Hilfe der Barmherzigkeit
(caritas) als ursprünglicher Frömmigkeit (pietas) die historisch-metaphysische Grundlage des institutionellen Glaubens des Christentums von
„Grund auf“ dekonstruiert wird.23
Das Christentum ist nicht verworfen. Es ist nicht überwunden, im
Sinne der Entstehung einer globalen Instantreligion. Im Gegenteil, es
wurde durch den Versuch bestätigt,
seine metaphysischen Grundlagen
im Zeitalter des Nihilismus zu verschmerzen. Statt der buddhistischen
Religion ohne Gott, zielt der postmetaphysische Glaube auf eine Art
Erwartung Gottes ohne metaphysische Religion. Der postmetaphysische Glaube ist in der gegenwärtigen
philosophischen Debatte über Gott
und die Rückkehr der Religion die
einzig „neue“ Position, die versucht,
die Erfahrung des Denkens im Zeitalter des Endes der Metaphysik und
die Religion im Zeitalter des Nihilismus miteinander zu versöhnen. Ist
dieser Versuch glaubwürdig?
Der Schlüsselgedanke dieser paradoxen Verteidigung, Kritik und Belebung des Christentums zu anderen
Zwecken ist eine neue Interpretation der Erlösungsgeschichte. Für
Vattimo bezeichnet die Erlosungsgeschichte auf keinen Fall eine Steigerung oder Glorifizierung der Macht
Gottes. Gemäß der Dekonstruktion der Macht überhaupt, die ihre
Grundlagen in der wissenschaftlichtechnischen Aufwerfung des Seins
in der Neuzeit hat, muss Macht so
dekonstruiert werden, dass die Geschichte ihrer Reduktion in politische und gesellschaftliche Macht,
sowie die Struktur der Macht als
Macht der Strukturen dekonstruiert werden. Ist nämlich die Macht
zur strukturellen Gewalt der Politik
reduziert, die ihre Legitimierung in
der Religion als Kultur / Ideologie
findet, befinden wir uns im Zauber23
Dossier: @arko Pai}
kreis einer Geschichte ohne Erlösung. Das gegenwärtige Zeitalter ist
gerade durch strukturelle Gewalt als
Macht der globalen imperialen Politik des Westens bestimmt. Kriege im
Namen Gottes und die Rückkehr der
Religion als Fundamentalismus, bestätigen den Zweifel an der Fortsetzung einer metaphysischen Struktur
der Geschichte, auf der monotheistische Religionen wie das Christentum gründen.
Daher wendet sich Vattimo aus zwei
Gründen eine Neuinterpretation der
Erlösung zu: (1) um die institutionelle Variante des christlichen Verständnisses der Heilsgeschichte als
Steigerung der Macht Gottes zu dekonstruieren und (2) um die neue
Grundlage für einer vertrauensvolleren, gemilderten, frommeren Version des postmetaphysischen Glaubens ohne eigene feste „Grundlagen“
aufzudecken. Der hermeneutische
Weg zum Verständnis der Heilsgeschichte führt durch die Rückkehr
zum ursprünglichen Sinn der Religion als Offenheit des Ereignisses.
Der lebendige Gott ist nicht jener,
der aus der historischen Vergangenheit kommt, sondern der kommende Gott der Liebe, der Frömmigkeit
und der Heiterkeit. Der postmetaphysische Glaube hat keine anderen
Grundlagen, außer in der Entmachtung der Idee der Macht als Grundlage für die strukturelle Gewalt der
Geschichte in Form der ungeheueren
Macht der Institutionen. Warum ist
der Glaube in seiner postmetaphysischen Gestalt der Un-Macht und
der Nicht-Begründung immer noch
Glaube? In einem Buch, das davon
ausgeht, einer neuen Art der Ausführung und Deutung des Glaubens eine demütige „Grundlage“ zu geben,
ist es in erster Linie notwenig, einen
gedanklichen Raum dafür zu schaffen, dass es dem Menschen möglich
ist zu glauben, dass er glaubt.
Gianni Vattimo, Credere di credere, Garzanti, Mailand, 1996, S. 124-125.
89
Es handelt sich offensichtlich um eine der Möglichkeiten, den Glauben
im Zeitalter des Verschwindens oder
des Endes der Metaphysik zu denken,
die im Laufe der Geschichte, bis hin
zum Zeitalter der Säkularisierung, in
erster Linie das Christentum geformt
hat. Es wäre falsch, anzunehmen, es
handle sich hier um einen atheistischen Anhang an die Konversion
zum Christentum, wovon auch in
Vattimos Texten die Rede ist. Genauso unangemessen wäre es auch,
diesen Versuch, Gott im postmodernen Zeitalter zu denken, als eine
Art skeptischen (A)Gnostizismus zu
bezeichnen. Ein Zugang zu Gott ist
weder auf philosophische, noch auf
religiöse Weise mehr möglich, da wir
nach dem Ende der Metaphysik mit
dem „schwachen Denken“ und den
„kleinen Erzählungen“ der Belebung
des Subjekts des Denkens und des
Glaubens konfrontieren.
3. Aussichten für die Zukunft?
Die Einheit der historischen Erfahrung und des Erlebens Gottes als
Idee, Begriff und Existenz im Sinne
einer göttlich-menschlichen Person
ist durch eine andere Art der Bildung
der Wirklichkeit der Weltgeschichte unwiderruflich zerstört worden.
Gott wendet sich im Umfeld der
großen, monotheistischen Religionen nicht mehr durch seine Stellvertreter oder authentischen Zeugen
des Glaubens an die Menschheit.
Darüber, ob, wann und unter welchen historischen Umständen ein
Zeitalter durch allgemeine göttliche
Attribute ausgezeichnet wird, entscheidet nicht die Religiosität des
Menschen als Einzelnen oder Teils
der Gemeinschaft. Der Konflikt zwischen dem Theisten und dem Atheisten ist dabei ein weltanschaulicher,
kulturell/ideologischer Konflikt, um
etwas, was weder mit Gott im Sin-
90
ne seiner Existenz oder Nichtexistenz, noch mit dem grundlegenden
Sinn der Ontologie als Metaphysik
zu tun hat.
Man kann weder Theist noch Atheist sein, sondern nur bereit für einen
Dialog mit dem möglichen Ereignis
des ursprünglichen Glaubens und
dem realen Ereignis des Verschwinden oder des Todes Gottes, seines
Entgleitens aus der beendeten Geschichte. Konflikte sind stets durch
etwas äußeres bestimmt. Daher sind
sie destruktive Beweise für die strukturelle Gewalt der Zeit. Der islamische Fundamentalismus trägt heute
auf radikalste Weise diesen kulturell/
ideologischen Kampf gegen die Säkularisierung der Welt, bzw. gegen
die eigene Leere und geistige Ohnmacht aus. Die katholische Kirche
24
RELA
Dossier: @arko Pai}
setzt als Paradigma der Weltreligion auf denselben Grundlagen des
Ökumenismus ohne Dialog dieselbe
metaphysische Geschichte über die
Grundlagen des Glaubens, der über
Verstand und Vernunft hinausgeht,
fort.24 In allen aktuellen Fällen fällt
die Freiheit der Person, als nichtreduzierbaren „Subjekts“ des Ereignisses
des Glaubens in den Hintergrund.
Der theologische Machtdiskurs lässt
keinen Zweifel an jenem zu, was der
fragile postmetaphysische Glaube als
Grund seines eigenen Versuchs der
Verschmerzung der Geschichte im
Zeichen des Opferns von Freiheit
und Barmherzigkeit aufgestellt hat.
In einer Zeit, in der die mögliche
Ankunft eines Gottes ohne Religion das einzig sinnvolle Ereignis der
Offenheit darstellt, erscheint es ge-
TIONS
radezu notwendig, jenseits jeglichen
angeeigneten Rechts auf Göttliche
zu denken, wie es sich seit Anbeginn in verschiedenen monotheistischen Weltreligionen erhalten hat.
Die Möglichkeit haben, einen Zugang zum Göttlichen jenseits der
Metaphysik zu denken, bedeutet,
imstande sein, nicht zu glauben, der
Glaube sei die einzig akzeptable Antwort auf die Nichtigkeit und die
Leere des gegenwärtigen Zeitalters.
Der offenbarte Glaube erfordert Geschichte und Zeit als Horizont der
Zukunft. Hat ein Gott ohne Religion
denn noch eine Zukunft?
Aus dem Kroatischen von
Boris Perić
Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005, Gespräch zwischen Rorty, Vattimo
und Santiago Zambal, S. 55-81.
RELA
TIONS
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Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
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TIONS
Herrschaft des Genusses:
Inszenierung des Lebens als sozialen Erlebnisses
Žarko Paić
1. Vom Zentralpark
zum Rummelplatz
W
ie hat alles begonnen und wann?
Es ist niemals möglich, den
Wandel des herrschenden „Zeitgeists“
mit historiographischer Präzision festzulegen. Lamentationen darüber, wie
unausstehlich es geworden ist, „berühmten Hohlköpfen“ (J. Epstein)
aller Tageszeitungen, Fernsehprogramme und Internetportale dabei
zuzusehen und zuzuhören, wie sie
vor uns ihre öffentlichen Laster und
privaten Lebenstraumata bekennen,
führen tatsächlich zu nichts. Ebenso
verfehlt ist es, unaufhörlich von Ideologiekritik, als jener Art und Weise zu
sprechen, auf die sich das Medienzeitalter, an dem wir alle teilnehmen,
als die Sprache unseres kollektiven
Unbewussten strukturiert. Im ersten Fall sind wir alle einer Meinung:
es ist tatsächlich unausstehlich, aber
wir sehen ihnen alle weiterhin zu,
auch wenn wir nicht zuhören, worüber sie reden. Aber das, worüber
sie reden, ist nur die Grundregel der
modernen Medien. Peter Sloterdijk
konnte dieselbe Medienmatrix auch
1
2
3
für sich selbst anwenden, obwohl er
in Die Kritik der zynischen Vernunft
offensichtlich nicht so selbstironisch
gewesen ist.1
Ist aber die Bühne oder Szene des
„Subjekts in der Welt“ einmal betreten, um den Massennutzern die
Wahrheit über das Wesen unserer
Zeit als Medienzeitalter zu enthüllen, gilt sowohl für Intellektuelle,
als auch führ „berühmte Hohlköpfe“
ein und dasselbe Modell. Sloterdijk
paraphrasierend, müssen Intellektuelle Schausteller werden, Schausteller hingegen Intellektuelle, denn die
Logik der Medien ist ein „sowohl, als
auch“, eine Reihe, die die Ideen von
Enzyklopädie und Zirkus miteinander verbindet.2
Im zweiten Fall, wenn die Herrschaft
des Genusses in all ihren Verwandlungen das Bedürfnis nach der Freiheit des Aufgebens auferlegter Genussregeln der modernen Gesellschaft
völlig aus dem Bewusstsein verdrängt
hat, ist die Trennung zwischen Narzissmus und Voyeurismus, bzw. zwischen dem Subjekt und dem Objekt
des Verlangens vollzogen.3 Die „Ikonen“ der Medienwelt artikulieren
nicht mehr, wie einst Marilyn Monroe, die süßen Sehnsüchte eines massenhaft narkotisierten Publikums.
Das Melodrama ist nicht mehr „in
Mode“. Es bedarf etwas größeren
und „morbideren“: dass die „Ikonen“
abermals sakralisiert werden und der
Prozess der Aufklärung der Unaufgeklärten beginnt. Wenn uns Madonna
siegreich enthüllt, wie fasziniert sie in
ihrer „neuen Phase“ von der hebräischen Kabbala ist, zeigt die Perversion der Spektakelgesellschaft ihr wahres Gesicht. Die kulturelle Leere der
Berühmtheiten wird durch Faszination mit uralten religiösen Quellen,
exotischem Animismus und gesellschaftlichem Engagement zugunsten
politisch und kulturell unterdrückter
Völker außerhalb des Westens (Tibeter, Aborigines, usw.) ersetzt.
Die totale Abnahme jeglicher Vergoldung von den Figuren der Verehrung und der Faszination ist von
Anfang an in die Struktur dieses „kulturellen Strippens“ hineingeschrieben. Im ersten, die Wende bezeichnenden literarischen Werk zu diesem
Phänomen, mit dem Hollywood die
Welt zum Produkt kultureller Indus-
Zum Wandel des öffentlichen Intellektuellen zum „Entertainer“ und „Star“, siehe: Lewis Coser: „Der Intellektuelle als berühmte Persönlichkeit“, im Rahmen des Themenschwerpunkts „Dossier: Intellektuelle“, Europski glasnik, 11/2006, S. 249-262, aus dem Englischen von
Mirjana Paić Jurinić; sowie extensiv über das Verhältnis zwischen Intellektuellen, Medien und Politik: Žarko Paić, Die Macht der Unbeugsamkeit: Der Intellektuelle und die Biopolitik, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2006.
„Die Massenmedien erst haben eine Kapazität entwickelt wie sie keine rationalistische Enzyklopädie, kein Kunstwerk und keine Lebensphilosophie in diesem Ausmaße gekannt haben: mit unermesslicher Fassungskraft steuern sie auf das zu, wovon die große Philosophie.
Christopher Lasch, Narzisstische Kultur: Das amerikanische Leben im Zeitalter reduzierter Erwartungen, Naprijed, Zagreb, 1986, aus dem
Englischen von Višnja Špiljak.
RELA
TIONS
trie bezwungen hat, formal in Klaus
Manns Autobiographie Wendepunkt,
tatsächlich aber in der Anbahnung
eines Genres, das Literatur und Leben übertrifft, um in eine skandalöse Chronik seiner Zeit überzugehen,
beschreibt der Autor des Mephisto,
als radikalter Kritik der Ideologie der
Kunst im Dienste einer totalitären
Gesellschaft, verschiedene „Events“
aus dem L. A. der späten zwanziger Jahre im Umfeld des entstehenden Glamours und der Geburt von
„Stars“ und „Berühmtheiten“.4 Marlene Dietrich und Greta Garbo opferten den hohen Geschmack des europäischen Modernismus, das Theater
des bürgerlichen Individualismus,
zugunsten des Kults des Neuen – der
Popularisierung der Kunst durch den
Film. Aber bereits dieser Wandel war
ein Wendepunkt. Mehr Beachtung
schenkt Klaus Mann der gesamten
parallelen Welt der Erschaffung neuer Idole. Sogenannte gesellschaftliche
Ereignisse, Massengelage, Partys im
Anschluss an Filmprojektionen, SexLife und Affären, Klatsch und die mediale Formung der „Stars“, zeigen sich
bereits am Anfang von Hollywood als
„Traumfabrik“ als negative Verwirklichung gewisser Thesen aus Hegels
Die Phänomenologie des Geistes.
In der Dialektik des Verhältnisses
zwischen Herr und Diener vollzieht
sich die historische Entwicklung. Das
Selbstbewusstsein der Freiheit durchwandelt die Reflexion von der Geburt des Subjekts aus den Ketten der
Geschichte. Der Diener übernimmt
die Formung der Geschichte im Zeichen befreiten Neids und Hasses gegenüber dem Herren und zwar so,
dass er all seine Laster als seine eigenen neuen Tugenden wiederholt.5 Im
Anderen und physiologische Funktionen und nicht geistige Merkmale
sehend, entsteht eine Literatur von
4
5
6
Dossier: @arko Pai}
Tagebucheinträgen des bislang vernachlässigten und notwendigerweise
ungebildeten Anderen. Ortega y Gasset bezeichnete das als den Aufruhr der
Massen im 20. Jahrhundert.
Der Wandel der Hochkultur zur Massenkultur ist gewiss nicht nur das Resultat des Verfalls des gewichtigen
Geistes zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“, um dieses rätselhafte
Syntagma aus Kunderas reflexivstem
Roman zu benutzen. Vor allem, worum geht es eigentlich, wenn heutzutage alle, nicht nur Philosophen,
Soziologen, Kulturologen und Zeitkritiker, von der pervertierten Medienwelt im Zeitalter einer die Illusion
echter Realität produzierenden Spektakelgesellschaft sprechen? Die Herrschaft des Genusses ist längst kein
Vorrecht des Westens mehr. Der globale korporative Kapitalismus hat die
Losungen der liberalen Demokratie in memoriale Museen verbannt.
Statt Freiheit, Menschenrechte und
Individualismus findet die Beherrschung der neuen Weltmärkte ihre
ideologische Berechtigung in einer
neuen diskursiv-visuellen Rhetorik.
Die Wende ist ungeheuerlich, weil
ab jetzt auf die Karte der abstrakten
Konkretheit gesetzt wird. „Wie bieten euch nicht nur die Freiheit der
Wahl, sondern auch Glück, Wohlstand und Konsumgenuss!“
Das Akzeptieren dieser Wahl ist ultimativ. Es gibt keine Alternative.
Oder, besser gesagt, jede Alternative
ist nur ein hartnäckiges Ablehnen
der Modernität als Fortschritt. Kann
denn die freie Wahl von „Glück“,
„Wohlstand“ und „Genuss“ abgelehnt werden? Eine vernünftige Antwort wäre hier negativ. Aber der Konflikt zwischen der westlichen Globalisierung und dem islamischen Fundamentalismus nach dem Fall der
Berliner Mauer 1989 war nicht nur
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ein ideologischer, keine bloße Frage verschiedener kultureller Modelle
der gesellschaftlichen Entwicklung.
Vielmehr liefert dieser Konflikt den
Beweiß, dass sich die Grundfrage der
Welt nicht mehr auf zu viel oder zu
wenig Freiheit und Demokratie bezieht, sondern auf die zu große oder
zu geringe Verteilung materieller Güter des verdinglichten Kapitals. Soziologische vergleichende Wertanalysen innerhalb der globalen Ordnung
nach den neunziger Jahren versuchten, diese Unausgeglichenheit der
Verteilung, sowie die Unterschiede
im Konzept der gesellschaftlichen
Entwicklung durch die Einführung
des Begriffs des sozialen und kulturellen Kapitals zu verdeutlichen, demzufolge die Werte als materialistische
und postmaterialistische bestimmt
werden können.6
Der kulturelle Determinismus war
dabei nur eine „neue“ Erklärung des
„alten“ soziologischen Konzepts, demzufolge der ökonomische und politische Fortschritt in gewissen Gesellschaften in der Geschichte kein Zufall ist. Max Weber bestimmte in Die
protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus die Grundlagen für ein
derartiges Verständnis. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den
Aufstieg der USA als Vollzieher der
kapitalistischen Modernisierung war,
wurde seit den achtziger Jahren Kraft
derselben historischen Logik auf Japan übertragen. Das kulturelle Kapital der Nation/des Staates ist entscheidend für die Beherrschung komplizierter globaler Machtkonfigurationen. Die Ökonomie ist demnach
keine blinde Macht, sondern eine
kulturell bestimmte Macht der globalen Verwaltung.
Paradox uns logisch zugleich ist der
Schluss, dass jene Werte, die von den
Menschen nach dem Heraustreten
Klaus Mann, Wendepunkt: Eine Biographie, GZH, Zagreb, 1987, aus dem Deutschen von Dragutin Horvat.
G. W. F. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Naklada Ljevak, Zagreb, 2000, aus dem Deutschen von Milan Kangrga.
Ronald Ingelhart, Culture Shift in Advanded Industrial Society, Preinceton University Press, Princeton, 1990, und Modernization and Postmodernization: Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies, Princeton University Press, Princeton 1997.
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aus einem langfristigen Laben in materiellem Notstand und politischer
Unfreiheit aufgenommen werden,
durch den Wunsch nach dem Besitz materieller Objekte des „Glücks“
und des „Wohlstand“ vermittelt werden. Der Genuss wird daher gesellschaftlich als materialistischer Hedonismus des Konsums verstanden.
Postmaterialistische Werte, wie etwas
das Investieren in eigene kreative Lebensführung, Bildung und Disziplinierung des Körpers im Einklang
mit den unter New Age verstandenen
holistischen Doktrinen eines gesunden geistigen Lebens, scheinen notwendigerweise erst dann auf, wenn
die postmoderne Gesellschaft an der
kritischen Schwelle der eigenen „Bewusstmachung“ über die Grenzen
des Konsums angelangt ist. Werte
werden gewonnen. Sie sind nicht im
Vorhinein garantiert.
Der gewohnte Unterschied zwischen
modernen und postmodernen Werten in den Analysen der modernen
Soziologie geht aus den Unterschieden im Verständnis dessen hervor,
was das Wesen von Moderne und
Postmoderne ausmacht. Es handelt
sich um das Gefüge und die Artikulation der Grundideen einer epochal
bestimmten Geschichte im Zeichen
des Fortschritts und der Entwicklung
von Gesellschaft, Kultur und Lebensweise. Die Moderne beruht auf der
Universalität der Ideen des historischen Fortschritts, die Postmoderne hingegen auf der Partikularität
der Ideen der Entwicklung. Identität und Unterschiede bestimmen die
Postmoderne, die Moderne hingegen
das Bewusstsein vom Ganzen und
Gleichbedeutenden der geschichtlichen Beherrschung der Welt.7 Im
Grunde handelt es sich jedoch um
dasselbe, das als Ausgangspunkt und
Bewusstsein vom Ende einer epo7
8
9
RELA
Dossier: @arko Pai}
chalen Weltkonstruktion verstanden
werden kann.
Dies geschieht mit Gesellschaft und
Kultur im Zeitalter des Übergangs in
Massenkommunikation und Technokultur, was in unserer Zeit auf
gleiche Weise auch alle anderen Lebenswelten betrifft.8 Die zeitgenössische Kunst ist dabei ein zuverlässiger Indikator des aus der Idee des
Fortschritts / der Entwicklung hervorgegangenen Unbehagens. Es ist
unmöglich, moderne und zeitgenössische Kunst radikal untereinander
zu unterscheiden. Malewitsch und
Duchamp sind als Vorreiter der historischen Avantgarde nicht durch einen Abgrund von den Werken/Ereignissen der Neoavantgarde der sechziger Jahre getrennt. Alle in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Begriffe für die Bestimmung
des Übergangs von Kunst in Lebenskonstruktion (Objekte, ready made,
Ästhetisierung des Lebens) sind noch
im Umlauf. Umso mehr zeigt die
Rückkehr zu den Ideen der Moderne
im Zeitpunkt der Erschöpfung durch
die unentwegte Forderung nach der
Erfüllung des Kults des Neuen in
welchem Maße der Zauberkreis des
Fortschritts / der Entwicklung nicht
nur ein Problem des Verständnisses
der Kompliziertheit von Gesellschaft
und Kultur in der globalen Weltordnung, sondern vielmehr ein Problem des Sinnhorizonts des von der
Zukunft Erwarteten darstellt. Wird
nicht mehr erwartet, als die Verwirklichung der Welt als kapitalistischer
globaler Korporation, so handelt es
sich um eines der wichtigsten Resultate des modernen/postmodernen
gesellschaftlichen Entwicklungsmodells in der Transformierung des humanistischen Kulturbegriffs.
Es wird nicht mehr erwartet, dass die
Kultur eine regulative Funktion der
TIONS
Führung eines guten Lebens in Einklang mit den Idealen der Aufklärung
erfüllt. Sie ist nur ein fluides, wandelbarer Stabilität unterliegendes Markenzeichen der wechselhaften Identität des modernen Menschen. Wenn
Kultur vor der Freiheit der Wahl des
Lebensstils verschwindet, ist die Epoche der historischen Begebenheiten
als geistiger Substanz des Menschen
beendet. Das Subjekt ist von der Substanz getrennt. Keines der beiden ist
mehr gerechtfertigt, weil beide äußerlich, medial konstituiert werden.
In seinen Historisch-philosophischen
Thesen setzt Walter Benjamin die
Idee der Fortschritts aufgrund einer Analyse von Klees Allegorie Angelus Novus mit einer Katastrophe
gleich.9 Hierbei handelt es sich jedoch um nichts anderes, als um die
Einsicht, dass sich die Unmöglichkeit
der Rückkehr ins Umfeld des „alten“
Weltkonzepts als Problem der (Un)
möglichkeit des Neubeginns einer anderen Geschichte eröffnet. Statt Benjamins Zentralpark als Widmung an
den hohen Modernismus schlechthin, mit Baudelaire an der Spitze der
geistigen Pyramide von Imagination
und Leben), kann das, womit wir uns
am Ende der Geschichte konfrontieren als die Verwandlung der Welt in
einen globalen Rummelplatz oder
das Spektakel der Kultur als Entertainment bezeichnet werden.
Unter diesem Phänomen bricht alles zusammen. Es verschwinden die
kritischen Orientierungspunkte. Es
erscheint, als sei es des Intellektuellen unwürdig, sich mit den Frivolitäten der Mode zu befassen, als
sei es schändlich, sich auf die Ebene von populistischem Kitsch herabzulassen. Die Wiederholung der
Kritik des Zeitgeists einer Epoche,
in der noch universelle Ideen der
Schönheit, der Wahrheit, des Sinns
Mike Featherstone, Consumer Culture and Postmodernism, SAGE, London-New York, 1991.
Žarko Paić, Visuelle Kommunikationen; Einführung, Centar za vizualne studije, Zagreb 2008, Debra Benita Shaw, TECHNOCULTURE:
The Key Concepts, Berg, Oxford – New York, 2008.
Walter Benjamin, Der neue Engel, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Snješka Knežević.
RELA
TIONS
und der Wertordnung herrschten, erscheint uns jedoch ebenso vergeblich.
Brochs Analysen des Wertzerfalls in
den Romanen und Essays über Moderne und Zeitgeist, können zum
Beispiel als letztes Aufflackern einer
Diagnose des Einstürzens einer metaphysischen Ordnung dienen, hinter
der nicht das Schlusswort der Apokalypse steht, sondern etwas zutiefst
perverses: das Hervorheben der Banalität in den Rang des Erhabenen.
Hat Broch in seinen Essays über die
Musealisierung von Wien als historizistischer Kitsch-Stadt, aus der die
Geschichte verschwunden ist, um
durch Illusion und historische Faszination ersetzt zu werden, das nicht
aufs Treffendste beschrieben?10
Wer verstehen will, warum die Entertainment- und Celebrity-Kultur
heutzutage zum unumgänglichen
Phänomen der modernen Spektakelgesellschaft geworden ist, darf nicht
von der im Vorhinein gebildeten Vorstellung ausgehen, die Moderne sei
in ihrem Wesen ein ganzheitliches
Projekt der Selbstverwaltung höherer
Werte, während das, was nach dem
Ende der Postmoderne folgt, eine
vulgäre Verwirklichung der Tyrannei
der Lebensstile währe. Eine derartige
Überlegungsweise ist eine Einbahnstraße. Der Kulturpessimismus verachtet in seiner vulgären Form die
populäre Kultur im Namen der „alten“ Werte des Stils, des Geschmacks
und des geistigen Lebens als Ganzem.
Andererseits greifen die Befürworter
von jenem, was jetzt aktuell, neu,
im Trend ist, stets die Elitekultur als
nostalgischen Konservativismus des
hohen Modernismus.
Dieser Konflikt zwischen den „Neuen“ und den „Alten“ war in Frankreich im 19. Jahrhundert an die Frage
der Ästhetik und der Kunst gebunden. Es handelt sich aber in erster Li10
11
12
Dossier: @arko Pai}
nie um einen Konflikt im innersten
Wesen der epochal bestimmten Idee
der Neuzeit als Weltbilds, das sich aus
der Idee der Aktualität konstruiert.
Die Neuheit des Neuen bestimmt im
Akt der augenblicklichen Veraltung
das, was die Gesellschaft, die Kultur
und die Welt des menschlichen Lebens darstellt. Bereits Baudelaire und
Rimbaud hatten angekündigt, auf
welche Weise die Richtung der Imagination und der Reflexion über das
Neue die bezaubernden Kammern der
modernen Besessenheit vom neuen
Mythos, in dem „verrückte Jungfrauen“ und „Prostituierte“ an die Stelle
der zerstörten Ideale einer theokratischen Geschichtsordnung treten,
durchläuft. Der Eintritt der Massen
und der Stadt in das ästhetische Imaginarium der Moderne stellt den Ausgleich von hoher und Massenkultur
dar. Aber die ereignet sich nach wie
vor im Zeichen der Durchdrungenheit des Einen mit dem Anderen.11
Die Wende tritt zu jenem Zeitpunkt
ein, wenn sich die Wirklichkeit selbst
radikal medial als Bild und Szene
des Ereignisses der gesellschaftlichen
Transparenz konstruiert.
Daher ist grundlegende Voraussetzung, dass es sich bei allen soziologischen Analysen der modernen Spektakelgesellschaft und der kulturellen
Kritik des konsumorientierten Kapitalismus um einen Versuch handelt,
die Widersprüche des Prozesses des
historischen Zerfalls der Gesellschaft
in Kommunikationsnetze der Beziehungen und der Kultur in Fragmente der Lebensstile zu verstehen.
Wenn sich Bild (Image) und Szene
ins Zentrum des Lebens des befreiten Einzelnen stellen, der sein Dasein
durch den Kauf fremder Identitäten
bestreitet, betreten wir, statt der großen Geschichten der Moderne über
gesellschaftlichen Fortschritt / Ent-
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wicklung, Klassenkonflikte und politische Ideologien, das Labyrinth der
Beichten, die „Orgien der Intimität“,
sowie das Bedürfnis nach dem Eingeständnis, Emotionalität und Erlebnis
seien die einzigen Überbleibsel des
beklemmend gespaltenen zwischen
seiner Eigentlichkeit und der Suche
nach einer neuen Identität gespaltenen Subjekts.
Christopher Lasch nennt dieses Phänomen in seiner Analyse der amerikanischen Kultur der sechziger und
siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts
den neuen Narzissmus.12 Wie wird
Narzissmus bestimmt? Es handelt
sich weder um ein bloßes psychologisches Phänomen, noch um eine
„Krankheit“ in der modernen Spektakelgesellschaft. Von Narzissmus wird
hier nicht als von der ausdrücklichen
Selbstverliebtheit des Einzelnen und
seinem Mangel an Solidarität mit
anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gesprochen. Damit Narzissmus zur psychosozialen Grundlage
der Kultur werden kann, ist vielmehr
die gegenseitige Wirkung zwischen
dem Einzelnen und dem System,
der Kultur und der Gesellschaft in
ihrem Zustand der Entropie nötig.
Das Bedürfnis nach dem Anderen
spiegelt sich im ständigen Zustand
der Inszenierung eines Ereignisses,
das die Kultur in Unterhaltung und
Spektakel verwandelt. Der Spiegel
ist die symbolische Repräsentierung
der Person. Diese konstituiert sich
durch den Blick. Dies ereignet sich
jedoch erst, wenn andere in den Blick
miteinbezogen sind. Lacan hatte die
Identität der Person in ihrer Entwicklung als den Ausgang aus der narzisstischen Phase der Selbstreflexion
in die Konstituierung des Anderen
bestimmt. Der Blick des Anderen
ermöglicht der Selbstreflexion den
Gegenstand der Erfahrung und des
Hermann Broch, Zeit und Zeitgeist: Essays über die Kultur der Moderne, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2007, aus dem Deutschen von
Nikica Petrak.
Walter Benjamin, The Arcades Project, Harward University Press, Harward, 1999.
Christopher Lasch, a. a. O., S. 18.
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Erlebens.13 Es ist paradox, dass das
Phänomen des Narzissmus in der
modernen Spektakelgesellschaft die
Individualität nicht in die höchsten
Höhen des Selbstseins erhebt. Individualität ist die Illusion der postmodernen menschlichen Identität. Der
Mensch erhält sich selbst erst in der
Ersatzfunktion des Spielers eines der
Lebensstile (Lifestyles).14
Da sich seit den neunziger Jahren des
20. Jahrhunderts die gesamte Welt
durch Globalisierung unter der Maske der einzig dominanten Ideologie
des Endes der Geschichte – des Neoliberalismus – in eine Szenenbühne für
das Konsumspektakels verwandelt
hat, haben wir es nun mit der Universalisierung des neuen Narzissmus
auf alle gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte überhaupt zu tun. Das
andere Paradox des Narzissmus ist,
dass sich die Identität auf der Suche
nach Eigentlichkeit genau auf dieselbe Weise konstituiert, auf die Hegels
Diener sich selbst im Spiegel der Geschichte sieht. Die Öffnung der Pandorabüchse der Emotionen, Erlebnisse und offenen Wunden der Psychogeschichte des Subjekts ist nötig,
damit die Person in einer medial vermittelten Gesellschaft die Unterstützung und das Vertrauen des Anderen
erhalten kann. Unter der Haut sind
wir alle gleich. Es existieren weder
höhere ideale Lieben noch mythisch
erhabene Wesen. Aber die „Stars“
und „Berühmtheiten“ sind dadurch
nicht in der Masse der Durchschnittlichen verschwunden. Im Gegenteil, die Celebrity-Kultur beruht auf
der Idee der postmodernen Demokratisierung des Ruhmes. Mit der
neoavantgardistischen Kunstbewegung des Pop-Art und Andy Warhol
13
14
15
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RELA
Dossier: @arko Pai}
ist der Prozess der Vermassung der
Kulturüberhaupt errichtet und zugleich abgeschlossen worden. Sein
oft zitierter Satz – „Jeder wird mindestens 15 Minuten berühmt sein“
– verwirklichte sich in der Inszenierung der Welt als Reality-Show.
Zwischen der Anonymität und der
öffentliches Figurierung des Lebensstils des Medienstars besteht scheinbar kein Unterschied mehr. Das Problem ist jedoch anderenorts anzutreffen. Damit es überhaupt zu einer derartigen Verwandlung oder Demokratisierung der Celebrity-Kultur kommen konnte, war die Aufhebung des
Unterschieds zwischen der privaten
und der öffentlichen Sphäre des gesellschaftlichen Daseins in den westlichen bürgerlichen Gesellschaften
nötig. Am höchsten Gipfel des neuen Narzissmus angelangt, wurde der
Individualismus zu einem veralteten
Konzept des modernen Bewusstseins
von der Identität der Person. Doch
wer oder was ist überhaupt eine Person? Die mediale Welt der als Unterhaltung begriffenen Kultur hat dieses
rasende Verlangen nach der verlorenen Eigentlichkeit längst erkannt.
Stars und Berühmtheiten können in
keiner Form ihres öffentlichen Wirkens Stars oder Berühmtheiten sein,
wenn sie keine Personalities (Persönlichkeiten) sind. Aber die postmoderne Identität ist nicht die geistige
Einheit der ganzheitlichen Person.
Es handelt sich um die Fragmentierung der Identität, ein Mosaik aus
verschiedenen Figuren, die einander
ausschließen und auf diese Weise
die hybride Identität der zerstörten
Persönlichkeit der modernen Erlebnisgesellschaft bilden. Der deutsche
Soziologe Gerhard Schulze führt in
TIONS
seiner gleichnamigen einflussreichen
Studie daher mit Recht neue soziologische Begriffe für diesen Prozess
der kulturellen Vermassung und die
narzisstische Natur der Medienspektakel ein, die unser gesamtes gesellschaftliches System formen – Szene,
gesellschaftliche Landschaft, Lebensstile, soziale Segmentierung, Ästhetisierung des Alltags.15
2. Die Performativität
des symbolischen / kulturellen
Kapitals
Die Verbindungen zwischen Kultur als Unterhaltung und den gesellschaftlichen Figuren berühmter Persönlichkeiten (Celebrities) sind untrennbar. Ist die Kultur die profanierte Substanz der Gesellschaft, dann
sind ihre „Stars“ die Subjekte der
Konstituierung postmoderner Identität. Sie sind keine wirklichen Personen, sondern Figuren und „Ikonen“
einer artifiziellen Welt. Es gibt kein
Entertainment ohne dessen Akteure.
Die Unterscheidung zwischen den
Szenenfiguren und dem Publikum
entspricht dabei noch der Unterscheidung in der Repräsentation der
gesellschaftlichen Klassen, Schichten
und Status. Bis hin zur avantgardistischen Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft beruhte das Theater auf derartigen sozial-kulturellen Voraussetzungen. Zum radikalen
Schnitt kommt es, wenn die Szene
in die gesellschaftliche Konstruktion
des Lebens selbst übertragen wird.
Die Stadt wird zum Theater, die Straße zum Spielraum für das moderne
Drama, während die Szene selbst zur
Inszenierung des Lebens als realer Illusion menschlicher Massenexistenz
derealisiert wird.16
Jacques Lacan, Ecrits, W.W. Norton & Company, London-New York, 1996.
„Trotz gelegentlicher Illusionen der eigenen Allmacht, benötigt der Narziss andere, um Selbstachtung zu erleben. Er kann nicht ohne das
Publikum leben, dass ihn bewundert. Seine augenscheinliche Freiheit von familiären Bindungen und institutionellen Zwängen gibt ihm
nicht die Freiheit, allein und auf seine Individualität stolz zu sein.“ – Christopher Lasch, a. a. O., S. 11.
Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag, Frankfurt a. M. – New York, 2005, 2. Auflage.
Siehe dazu: Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1974, Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hrsg.), Ästhetik
der Inszenierung, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001.
RELA
TIONS
Seit Beginn der Rückkopplung der
Kultur als Unterhaltung und der gesellschaftlichen Funktion berühmter
Persönlichkeiten in der Entlastung
des leidenvollen Lebens im Werkbetrieb, die tatsächlich mit dem Film,
als dem Paradigma der modernen
Kunst einsetzt, kann gesehen werden, wie sehr die Kulturindustrie als
Sektor ideologisch auf die Unterdrückung jeglicher subversiver Veränderungen des kapitalistischen Systems
der Lebensreproduktion ausgerichtet ist. Brechts propagandistisches
und aktivistisches Theater ist das
beste Beispiel einer Reflexion über
diese „neue Ideologie“, die Kultur
ins Zentrum einer neuen Verzauberung der Massen stellt. Davon zeugt
die Karriere des Kulturbegriffs im
20. Jahrhundert. Anthropologische
Untersuchungen traditioneller Gesellschaften und Völker zielten in
den amerikanischen gesellschaftlichhumanistischen Wissenschaften unter dem Begriff Kultur (culture) auf
eine allumfassende Lebensweise (religiöse Rituale, Alltag, Gebräuche,
symbolische Ordnung). Der humanistische Begriff der Kultur im Sinne
künstlerischer Produktion war in der
amerikanischen soziologischen Tradition nicht verwurzelt. Den Grund
dafür liefert die Tatsache, dass es sich
bei der amerikanischen Gesellschaft
von Anfang an um eine moderne
Gesellschaft handelt. Seine Tradition ist politisch errichtete Modernität. Daher trifft der Übergang in das
Umfeld der Massengesellschaft mit
den Tendenzen der Populärkultur,
die vor allem unterhalten will, überein.17 Warum ist Hollywood mehr
als bloße Metapher des Schicksals
der Kultur vom 20. Jahrhundert bis
heute? Indirekt ist dies auch die Beantwortung der Frage, warum das
amerikanische Modell der Kultur als
Unterhaltung (Entertainment) eine
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Dossier: @arko Pai}
ideologische Vorherrschaft über allen anderen Formen des hohen Stils
und Geschmacks der europäischen
Moderne erreichen konnte.
Kehret man noch einmal zu den Aufzeichnungen aus Klaus Manns Wendepunkt zurück, fällt auf, dass er einer
der ersten europäischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist, die ohne jeglichen Anfall von Kulturpessimismus,
den grundlegenden Wechsel des Kulturparadigmas im 20. Jahrhundert
erkannt haben. Amerika hatte die
sozial-kulturellen Unterschiede im
Zugang zur Produktion des symbolischen Lebenssinns aufgehoben, indem der Grundsatz der politischen
Konstruktion von Demokratie zugleich zum Grundsatz der Kultur gemacht wurde. Die Freiheit verwirklicht sich auf dem Markt der Lebenschancen. Die Kultur beruht auf der
Aufhebung aller Hierarchien. Der
Massengesellschaft entspricht Massenunterhaltung. Diese entlastet die
Grenzen des Kapitalismus und der
liberalen Demokratie, statt sie zu
transzendieren. Im Gegensatz zum
radikalsten Kritiker dieses Konzepts
der Verwandlung von Kultur in Unterhaltung, sah Klaus Mann in den
populistischen Formen der neuen
Kunst nicht, wie Theodor W. Adorno, ein Ereignis unausweichlicher
Dekadenz, wie etwa im Fall der Entstehung des Jazz – eines Musikstils
von unten.18
Die ästhetische Funktion der als Unterhaltung begriffenen Massenkultur
liegt, also, nicht in der transzendierung der realen Welt, sondern in deren Entlastung und Katharsis. Der
Katharsis kommt jedoch nicht mehr
die symbolische Funktion der Überwindung der Beschränkungen des
Massendaseins des Einzelnen zu. Unterhaltung ist „nützlich“, weil sie von
den Sorgen des Alltags entlastet. Sie
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ersetzt den geistigen Genuss durch
körperlichen. Durch diesen Wechsel
werden alle Dränge und alles Verlangen nach dem (Un)möglichen in den
Grenzen des moralisch Zulässigen
gewonnen. Die Unterhaltung dient
ausschließlich dazu, das Publikum
von den Sorgen des Alltags abzulenken, nicht aber, es zur Wahrheit der
Kunst im Sinne der Überwindung
der Welt überhaupt zu erheben. Diese Wende oder „Wendepunkt“ ereignete sich in ihrer paradigmatischen
Form mit dem Film als neuem Medium. Die Kultur als Unterhaltung war
von Anfang an medial konstruiert.
Der symbolische Wertüberschuss einer derartigen Kultur zeigt sich und
wird gedeutet als realer Profit, ausgedrückt in Einschaltquoten, Gewinn
und medialem Echo.
Worin besteht aber der grundlegende Unterschied zwischen der europäischen Theatralisierung hoher Kultur
und der amerikanischen Ästhetisierung der Massenkultur? Im ersten
Fall handelt es sich immer noch um
Kunst, die nur Auserlesene begeistert. Diese gehören Gemeinschaften von traditionell geprägtem Geschmack und Lebensstilen an, die
mit der dynamischen Bewegung moderner Tendenzen – z.B. von Expressionismus bis Surrealismus – in
Einklang stehen. Durch die Kunst
der europäischen Avantgarde inspirierte Filme, wie etwa Bunuel/Dalis
Ein andalusischer Hund eröffnete den
neuen Medien experimentelle Wege.
Im zweiten Fall hat die amerikanische Massenkultur durch den Film
einen neuen Mythos als diesseitige
Ruhmes- und Erfolgsbühne konstruiert und die Kunst dadurch in allgemein angepasstes Entertainment
verwandelt. Die Verehrung und Vergötterung der Stars seitens des Publikums wird erst dann möglich, wenn
sich das szenisch Dargestellte formal
Warren Susman, Kultur als Geschichte: Die Verwandlung der amerikanischen Gesellschaft im XX Jahrhundert, Rad, Belgrad, 1987. Aus dem
Englischen von Maja Danon.
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1970.
98
und inhaltlich mit den Anforderungen des Massenpublikums deckt. Der
Unterschied zwischen Ein andalusischer Hund und Königin Christina mit Greta Garbo in der Hauptrolle ist der Unterschied zwischen
der Theatralisierung des Schocks im
Film und der Ästhetisierung der als
Spektakel aufgefassten Geschichte.
Für die europäische Kunst war Film
nur eine Fortsetzung des Theaters
mit anderen Mitteln. Für die amerikanische Populärkultur ist Film ein
neues Medium, der sich des Theaters
nur bis zur Grenze seiner kathartischen Funktion bedient.
Unterhaltung, Stars, bzw. berühmte
Persönlichkeiten und das anonyme
Publikum, das als Teilnehmer am
Ereignis an der Inszenierung des
Spektakels beteiligt ist, sind die drei
Teile der formalen Struktur des gesellschaftlichen Verhältnisses der Performativität des symbolischen / kulturellen Kapitals in der modernen Welt.
Unterhaltung ist das inszenierte Ereignis der Verwandlung von Freizeit
in Kulturindustrie. Stars oder berühmte Persönlichkeiten sind die Subjekte
/ Akteure des Spektakels. In diesem
erhält der Mensch, statt seiner gesellschaftlichen Rollen (Beruf, Status,
Funktion) den Charakter einer Figur
/ Ikone konstruierter Wirklichkeit.
Auf diese Weise wird er zum Träger
eines wünschenswerten Lebensstils.19
Das Publikum ist das Objekt der Projektion der gesamten Vorstellung, das
aus passiven Zuschauern in interaktive Teilnehmer an der Führung von
Lebensstilen nach bereits bestehenden Modellen übergeht. Dies ereignet
sich, wenn es zur technisch-technologischen Verwandlung des Medi19
20
21
22
23
24
RELA
Dossier: @arko Pai}
ums zum lebendigen Bild (imago) des
Lebens selbst kommt.
Seit der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts entsteht die Celebrity-Kultur durch das zusammenfließen von
Film und Fernsehen. Die Massenmedien übertragen ihren Nutzern nur
eine einzige Botschaft: es gibt keine
Realität außerhalb der Medien.20 Das
Leben befindet sich nicht außerhalb
dieses Labyrinths der Zeichen der
Medienkultur, die sich wiederum auf
andere Zeichen beziehen. Das Leben
ist mediale Realität und nichts anderes. Durch die Digitalisierung der
Medien in den neunziger Jahren des
20. Jahrhunderts wurde ermöglicht,
dass sich das passive Objekt (das anonyme Publikum) von der Verehrung
und Vergötterung des Anderen als
interaktives Subjekt in den Ereignisraum der Massenkultur verschiebt.21
Das Endresultat dieses Prozesses der
Demokratisierung der „Götter“ und
der Entsakralisierung des durch die
Erscheinung des Films in Hollywood
entstandenen modernen Mythos ist
die Massenverbreitung der sog. Reality-Show. Das Leben als reale Fiktion
hat ermöglicht, dass sich die Illusion
des medialen Ruhmes in einer Fiktion von Realität verwirklicht, die von
anonymen „Stars“ konstruiert wird.
Diese sind aber nur Ersatzhelden,
Halbgötter und „Ikonen“ medial erschaffener Mythen.22
Die Performativität des symbolischen
/ kulturellen Kapitals ist keine Abschrift des neoavantgardistischen Eintretens der Kunst in die Sphären der
gesellschaftlichen Teilnahme. Es ist
nämlich bekannt, dass sich in den
sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts
der letzte große Übergang der Kultur
TIONS
in die gesellschaftliche Konstruktion
des Lebens selbst ereignet hat. Das ist
war Zeitalter der medialen Implosion der Informationsgesellschaft. Das
Fernsehen brachte in das Leben der
westlichen Gesellschaften eine neue
Form visueller Kommunikation. Die
Kunst wurde zum Bild und zur Inszenierung des Ereignens des Lebens als
Kunst und nicht mehr der Kunstwerke. Die Performativität wurde zum
wesentlichen Merkmal der zeitgenössischen Kunst. Das Theater befreiter
Körper ohne Identität tritt in den
Mittelpunkt des Geschehens.23
Von Jackson Pollocks abstraktem Expressionismus bis hin zur FluxusGruppe und den experimentellen
Filmen des Theoretikers der situationistischen Bewegung in Frankreich
und Autors des berühmten Buchs
Die Gesellschaft des Spektakels 24 Guy
Debord, zeigt sich, wie dieselbe Logik der Ereignisse völlig unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Phänomene bestimmt. Die Unterschiede sind, natürlich, evident.
Aber ohne die Verwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Kommunikationsnetze und des Kapitals
in das bloße Bild des spektakulären
Verhältnisses des Tauschs symbolischer Objekte / Waren ist es nicht
möglich, zu verstehen, warum gerade die Massenkultur ein medial erzeugtes Bild der Ereignisse ist. Die
Kritik der Gesellschaft des Spektakels setzt die totale Transparenz aller gesellschaftlicher Verhältnisse in
Form von Information – Kommunikation voraus. Die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eröffneten
die Möglichkeit einer paradoxen gegenseitigen Abhängigkeit von Me-
Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag, Frankfurt a. M. – New York, 2005, 2. Auflage.
Ellis Cashmore, Celebrity/Culture, Routledge, London – New York, 2006.
Douglas Kellner, Media Culture, Routledge, London – New York, 2003.
Siehe dazu: Steven Best (Douglas Kellner, The Postmodern Adventure: Science, Technology, and Cultural Studies at the Third Millennium,
The Guilford Press, New York – London, 2001.
Dieter Mersch, Ereignis und Aura: Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2002.
Guy Debord, Complete Cinematic Works, Scripts, Stills, Documents, AK Press, Oakland-Edinburg, 2003, Društvo spektakla, ARKZIN, Zagreb,
1999. Aus dem Französischen von Goran Vujasinović.
RELA
TIONS
dien, Spektakel und Unterhaltung,
in der auch die Kritik von Medien, Spektakel und Unterhaltung als
der „subversive“ Andere desselben
Ereignisses funktioniert. Wenn der
neoavantgardistische Künstler Joseph Beuys in seiner Performance
vor dem Fernsehgerät sitzt und auf
dem Bildschirm zwischen Programmen schaltet, in denen sein Bild zum
Vorschein kommt, dann ist diese
Art der Selbstrepräsentation eine ironisch-kritische Abrechnung mit den
Möglichkeiten der Überwindung der
Kunst und des Lebens selbst. Der
Soziologe Ellis Cashmore zeigt, dass
die eigentliche Celebrity-Kultur der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gerade zu jenem Zeitpunkt geboren
wurde, als in Hollywood 1962 das
historische Spektakel Kleopatra mit
Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen produziert
wurde.25 Das Bedürfnis nach neuen
Ikonen der Verehrung und Vergötterung wurde zugleich durch folgende
Forderungen vermittelt:
1) nach ständigem Inszenieren von
Skandalen hinter der Szene (Fremdgehen, Ehebrüche, üble Nachrede,
fremde Eifersucht, Transgression
genehmigter moralischer Normen),
die den medialen Pomp bis zur
Erhitzung in die Höhe treiben;
2) nach der Bildung von artifiziellen
Figuren, die mit der konservativen Ordnung der traditionellen
Kultur in Einklang stehen und
durch ihre privaten Laster diese
Ordnung stören, nur damit sie
sich in ihrer konfliktlosen Form
aufs neue etablieren kann;
3) nach dem Verwischen der Grenzen zwischen Privatsphäre und öffentlichem Handeln, unter dem
25
26
Dossier: @arko Pai}
Vorwand, das Publikum wünsche,
Einsicht in das „geheime Leben“
der Subjekte / Akteure der gesellschaftlichen Szene zu bekommen.
Letztere Bestimmung zeigt sich maßgebend für den aktuellen Zerfall der
Gesellschaft in kulturelle Fragmente
als medial gebildete Kommunikationsnetze. Was anfangs eine exklusive Erscheinung zu sein schien, nämlich das Verlangen der Öffentlichkeit
nach Einsicht in das geheime Leben
der Stars aus der Welt des Films, der
Mode und der populären Musik,
wird zum wichtigsten Beweggrund
der Verwandlung aller Gesellschaft
und Kultur in ein Syndrom narzisstisch-voyeuristischen Genießens. Politiker, Manager, Sportstars, Professoren, Priester, Ärzte – alle sind sie
Gegenstand des medialen Hungers
nach Skandalen.
Dieser ist nicht mehr ausschließlich
für die Klatschpresse kennzeichnend.
Wenn Kultur inszeniert wird, tritt sie
in eine neue Form ihrer massenhaften Sinnentleerung über. Seit kurzem
wird in zahlreichen Internet-Ausgaben sogar führender internationaler
Zeitungen der Begriff des kulturellen
Ereignisses durch jene des Lebensstils
und der Szene ersetzt oder diesen
beigefügt. Die „neue freiwillige Versklavung“ durch den Ruhm wurde
zugleich zum Sieg der abstrakt-konkreten Macht der als Spektakel begriffenen Medien über ihre Subjekte
und Objekte.
Es sind nicht die Stars und das Publikum, die das Spektakel als Bild
beherrschen, vielmehr ist es das Bild
selbst, das als im Spektakel verdinglichtes Kapital die Welt beherrscht.
Die Gesellschaft zerfällt daher notwendigerweise in eine Figuration von
99
Lebensstilen. Die Individualisierung
mach eine bedrückende Ausnüchterung durch, indem sie sich jedes
Mal aufs neue aus der Quellen der
medialen Nachfrage nach Skandalen
„berauscht“. Person sein und Identität besitzen bedeutet, als Figur die
Szene betreten, die sich nicht mehr
durch ihr Wissen, ihre Fertigkeiten
oder moralischen Werte verwirklicht.
Identität besitzen bedeutet jemand
anders sein, als Erscheinung, Bild
oder reine Abstraktion der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es ist nicht
wichtig, wer du bist, sondern was du
durch dein Bild / Aussehen repräsentierst. In einem Interview drückte
das internationale Top-Modell Naomi Campbell mit diesen Worten das
„Wesen“ der postmodernen Theatralisierung / Karnevalisierung der
Identität aus.
Die Logik der Mode als gesellschaftlicher form des globalen Kapitalismus
beherrscht alle Sphären der Kultur.
Nichts bleibt ausgenommen. Niemand ist in diesem medialen „Totalitarismus“ der Szene eine Insel. Daher konnte Baudrillard zum Teil mit
Recht behaupten, die Botschaft der
modernen Massenmedien sei eine totalitäre geworden.26
Dabei muss aber betont werden, dass
die Massenmedien, die die banale und vulgäre Unterhaltungskultur
in den Rang einer Enzyklopädie oder
eines Faust erheben, nichts Anderes
tun, als das, was das Wesen der modernen Gesellschaft der Fragmentierung von Identitäten ausmacht.
Massenmedien sind nicht zur Übermittlung erhabener Botschaften und
öffentliche Wissens geschaffen, sondern damit visuelle Kommunikationen die Welt umkreisen können. Die
Zeichen der medialen Kultur sind
Ellis Cashmore, a. a. O., S. 17-38.
„Die Wahrheit der Massenmedien ist also folgende: ihre Funktion ist, den erlebten, einheitlichen Ereignischarakter der Welt zu neutralisieren und an dessen Stelle ein komplexes Universum der Medien zu setzen, die einander gegenüber als solche homogen sind, die einander bedeuten und aufeinander hinweisen. Schließlich werden sie einander zum reziproken Inhalt – darin liegt die totalitäre Botschaft der
Konsumgesellschaft.“ – Jean Baudrillard, „Über wahr und unwahr“, Europski glasnik, 10/2005, S. 191. Aus dem Französischen von Maja
Zorica.
100
ohne Botschaft. Ihr einziger Sinn
liegt in der „Sinnlosigkeit“ der Informationsimplosion. Wenn das Bild
als transzendentale Form des Mediums über Sinn und Inhalt des Ereignisses der Realität entscheidet, dann
ist es offensichtlich, dass die formale
Struktur der modernen Spektakelgesellschaft eine Ideologie der Unterhaltung ist, eine 24stündige Produktion von Müßiggang, die sich vom
Arbeitsbetrieb nicht mehr trennen
lässt. Der als mediale Unterhaltungskultur begriffene Kultursektor ist das
ästhetisierte Leben der modernen
globalen Ökonomie. Der Dualismus
von Arbeit und Muße, ernsthafter
Produktion und konsumorientierter Ekstase, existiert nicht mehr. Alles ist eine einheitliche und uniforme
Welt von Arbeit-Freiheit, Produktion-Konsum, Natur-Kultur, KunstUnterhaltung, der sich in derartigen
Phänomenen des imperativen Hedonismus unserer Zeit zeigt, wie es
das „Karaoke des Kapitalismus“ oder
die „Happy Hour“ des Ereignens einer kontrollierten Genussherrschaft
sind.27
3. Kontrollgesellschaft
und Genuss ohne Glück
Die Suche nach Glück als Seeligkeit
im Müßiggang ist durch die Grade
ökonomischen Wohlstands begrenzt.
Wir haben bereits gesehen, wie sich
die moderne Soziologie mit dem fluiden Begriff des Glücks auseinandersetzt. Ein gewisser posthistorischer
Stoizismus zeigt dabei seine beiden
Gesichter: ein materialistisches und
ein postmaterialistisches. Das erste Gesicht entspricht den Modellen
der gesellschaftlichen Entwicklung
der Moderne, das zweite der Postmoderne. Das erste Gesicht ist vom rasenden Trieb ergriffen, Kapital über
27
28
RELA
Dossier: @arko Pai}
alle Grenzen von Natur und Kultur
hinaus zu erringen, ebenso von Hyperkonsum, der die Grenzen der Bedürfnisse überschreitet und zu dem
wird, was Veblen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem für die Theorie
der Mode, der Lebensstile und des
Geists des Kapitalismus paradigmatischen Werk Theorie der feinen Leute
als „verschwenderischen Konsum“28
bezeichnet hat. Das zweite Gesicht ist
scheinbar bescheiden, gefügig in seiner Rückkehr zu den „neuen“ Werten
des alternativen Konsums, wie Lipovetsky ihn nennt, der sich vor allem
auf einen asketischen Hedonismus
ohne Substanz bezieht. Konsum ist
unausweichlich. Der Genuss aber
liegt nicht mehr im rücksichtslosen
Anhäufen materieller Werte, sondern in der gleichmäßigen Entwicklung von symbolischem / kulturellem
Kapital (Bildung, Kultivierung des
Geistes, Bereisen exotischer Landschaften, Energiesparen, Spaziergänge in der Natur, Verzicht auf die Laster der modernen Zivilisation – Rauchen, Alkohol, Überschuss an Kalorien – zu Gunsten der Disziplinierung
des Körpers / Geistes). Was anfangs
als Wende in der Lebensweise der
westlichen Gesellschaften erscheint,
ist nichts anderes als eine kollektive
Form der „neuen Werte“.
Als Ende der sechziger Jahre des 20.
Jahrhunderts die als New Age bekannte holistische Doktrin der neuen
Geistigkeit versuchte, das untereinander Unverbindbare miteinander zu
verbinden – nämlich, den östlichen
Mystizismus mit der westlichen Rationalität – war dies eine kontrakulturelle Bewegung, angepasst an die
amerikanische hybride Kultur liberaler Permissivität. Der Zutritt zum
„Göttlichen“ ist seit damals nicht
mehr durch den Glauben an den institutionell verkündeten Gott mo-
TIONS
notheistischer Religionen bestimmt,
sondern durch die individuelle Suche nach geistiger Ruhe. Die Wende
oder die Möglichkeit einer radikalen
Änderung der Lebensweise (Kultur)
war seit damals in erster Linie eine
individuelle Tat der Bejahung einer
neuen Form der Gemeinsamkeit. Die
Pluralität der Wahl des Glaubens
entsprach der Möglichkeit der Wahl
eines eigenen Lebensstils. Dieser Begriff hat seine ursprüngliche Macht
der Bennennung von Freiheit bei der
Wahl der Kultur als Wert verloren.
Mit Lebensstil wird heute beinahe
alles gedeckt, vor allem bezieht er
sich aber auf die Trivialität bei der
Wahl von Mode, Subkultur oder
populärem musikalischem Stil. Die
Profanisierung des Lebensstils zeigt
in ihrer paradoxen Sicht sogar, dass
das Wesen der modernen Religion
als Ideologie in der Gesellschaft des
Spektakels ein Lebensstil ist.
In ihrer anthropologischen Bedeutung reduziert sich Kultur auf die
Möglichkeit der Wahl des Lebensstils. Als sei sie ein heiliges Recht
und als Freiheit des Individualismus
unbegrenzt und absolut. Dich gerade dies ist eine ideologische Illusion.
Die Wahl ist im Vorhinein gewählt
worden. In modernen Gesellschaften, in Zeiten der Globalisierung
von Ökonomie, Politik und Kultur,
ist Lebensstil nur die Universalisierung desselben unter der Maske unausgleichbarer Unterschiede. Worin
liegt heutzutage überhaupt der Unterschied zwischen dem Leben der
höheren Mittelklasse in New York,
Moskau, Paris oder Mumbai? Er ist
beinahe zu vernachlässigen, sollte
er sich überhaupt feststellen lassen.
All das weist darauf hin, dass die
Globalisierung, unabhängig davon,
in welcher Sicht der einheitlichen
historischen Entwicklung des glo-
Gilles Lipovetsky, Das paradoxe Glück: Versuch über die Hyperkonsumgesellschaft, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Französischen von Jagoda Milinković.
Zu Veblens klassischer Soziologie der Mode siehe: Žarko Paić, „Thorsten Veblen: die feinen Leute und der konsumorientierte Kapitalismus“, in: Schwindel in der Mode: Für eine visuelle Semiotik der Körper, Altagama, Zagreb, 2007, S. 34-46.
RELA
TIONS
balen Kapitalismus, die Herrschaft
des Konsumgenusses darstellt, beziehungsweise den Imperativ von etwas,
was über die Subjekte / Akteure der
Gesellschaft allein und deren Illusion
der Eigentlichkeit, die durch immer
neue Konstruktionen der Identität
gewonnen wird, hinausgeht.29
Ist das „erhabene Objekt“ der als
Unterhaltung verstandenen Kultur
gerade der Genuss selbst, kann man
nicht anders, als diesen zugleich so
nahen und so weit entfernten Punkt
des soziokulturellen Raumes des modernen Menschen erobern zu wollen.
Genuss ist demnach kein Ideal. Genuss ist auch nicht jenes transzendente Gebiet, das in der traditionalen Metaphysik von der Idee Gottes
eingenommen wurde. Genuss ist das
immanente (oder diesseitige) Gebiet
materialistisch / postmaterialistischer
Werte, die im System des globalen
Kapitalismus aus seinem gesellschaftlichen Wandel aus dem Zeitalter der
Askese und der Sparsamkeit in das
Zeitalter des Hedonismus und der
Verschwendung hervorgehen. Sind
die Gesichter nicht mehr klar auseinander zu halten, oder wenn es zum
Übergang aus dem einen ins andere und umgekehrt kommt, befinden wir uns im Zaubertheater gesellschaftlicher Masken. Die Theatralisierung der modernen Kultur wurde
durch die Ästhetisierung postmoderner Lebensstile ersetzt. Die Schönheit war zu jenem Zeitpunkt aus
der Kunst verschwunden, als das Leben selbst als gesellschaftliche Konstruktion zur neuen Kultur der Gestaltung von Objekten des Massenkonsums geworden ist. Dasselbe geschieht auch mit dem Prozess der Individualisierung des Menschen. Der
Genuss benötigt in seiner hyperverbraucherischen Form die Dynamik
des Lebens bis zum Grad der Hyper29
30
31
Dossier: @arko Pai}
produktion kultureller Ereignisse als
Kulissen oder Ornamente der Unterhaltung.30 Festivals, Modeereignisse,
Pop-Konzerte, Kfz-, Kosmetik- und
Buchmessen verwandeln das ganze
Jahr hindurch die Welt in eine totale Mobilisierung des Genusses am
Konsum. Als Unterhaltung begriffene Kultur ist die mobile Bühne des
„Glücks“. Sie funktioniert nach den
Grundsätzen des Kults des Neuen.
Daher ist die Mode nicht Ausnahme, sondern das „Wesen“ der Gesellschaft des Spektakels als Gesellschaft
des Erlebens.
Das Glück, das jedoch in den metaphysischen Grundlagen des liberaldemokratischen Westens als Bestrebung und Ziel des Staates steht, der
seinen Sinn in der Ermöglichung eines glücklichen Lebens für alle Mitglieder der Gemeinschaft und nicht
nur für die Gesellschaft sieht – und
dies war z.B. die nicht hinterfragte
Voraussetzung der amerikanischen
Verfassung aus der Zeit der föderalistischen Schriften der Gründungsväter der liberalen Idee der Freiheit
– will sich niemals hedonistisch definiert wissen, sondern durch geistiges
Gleichgewicht von Freiheit, Gerechtigkeit und materiellem Wohlstand.
Einige der charakteristischen soziologischen Umfragen unserer Zeit versuchen, die geographisch-kulturelle
Verteilung von „Glück“ zu ergründen und auf die anfängliche Voraussetzung derartiger im Vorhinein
verfehlter Untersuchungen hinzuweisen. Aus dem Paradigma des kulturellen Determinismus hinaus, befinden sich nämlich, wenn vom Entwicklungsstand des symbolischen /
kulturellen Kapitals die Rede ist, die
sog. glücklichen Völker stets im Norden und die unglücklichen im Süden. Kehrt man das Konzept um
und setzt das Glück mit dem Genuss
101
von Müßiggang, Liebe oder harmonischem Leben nach traditionellen
Sitten gleich, verschieben sich die
geographischen Pole. Dasselbe gilt
für die sexuellen Gewohnheiten der
Völker und Regionen. Aber derartige Stereotype sind in jeglicher ernsthaften Betrachtung zu vermeiden.
Sie funktionieren vielleicht noch in
der Literatur, als Abschrift der Theorie von der Mentalität der Völker,
aber nur als literarische Figur der
Ironie und des Zynismus, wie es in
Michael Houellebecques Romanen
der Fall ist.
Gilles Deleuze / Felix Guattari haben
in ihren Anti-Ödipus den begrifflichen Rahmen für die zeitgenössische Schizophrenie des Genusses in
der Kontrollgesellschaft des Endes
der Geschichte vorgegeben.31 Der
Wunsch nach Eigentlichkeit ist in
kulturell begrenzten Welten in den
Räumen der Intimität ohne sozialisierte unbewusste Artikulation des
Anderen nicht möglich. Die Maschinen des Verlangens erfordern das
Überwinden jeglicher räumlicher und
zeitlicher Grenzen. Die Landschaften
sind entterritorialisiert. Der moderne Mensch ist daher ein Nomade in
der Herrschaft des Genusses, ein Reisender durch seine sich überschneidenden Landschaften, in denen jedes
Objekt des Konsums zum ästhetisierten Wirkungsfeld des narzisstischen Subjekts wird. Unterhaltung
ist daher nichts Monströses und der
Kultur gegenüber Fremdes. Von den
dionysischen Festen in alten Griechenland bis hin zu allen neuzeitlichen Festivals, die dem Einzelnen
Genuss, Spiel und Zeitvertreib als
Ersatz für das längst verlorene „geistige Glück“ bieten, ersetzen Zeichen
imaginärer Realitätskonstruktionen
die verschwundenen symbolischen
Funktionen der Kultur.
Siehe dazu: Žarko Paić, Politik der Identität: Kultur als neue Ideologie, Izdanja Antibarbarus, Zagreb 2005.
Gerhard Schulze, Die Sünde: Das schöne Leben und seine Feinde, C. Hanser, München, 2006.
Gilles Deleuze / Felix Guattari, L’Anti-Œdipe, Les Éditions de Minuit, Paris, 1972.
102
Der Kult des Neuen wurde nicht
von den Massenmedien erfunden.
Diese haben lediglich etwas realisiert, was in den vorangegangenen
historischen Epochen – und das ist
wahrhaft das Wesen der Neuzeit –
latent gewesen ist: dass die Leere
der menschlichen Existenz in Kontrollgesellschaften durch Geschwindigkeit und Neuheit der Ereignisse
aufgefüllt wird. Das Inszenieren von
Kultur als Unterhaltung erlebt seinen
apokalyptischen Höhepunkt in der
Erwartung eines unausweichlichen
Unglücks planetarer Ausmaße. Wie
bei den Millenaristen, die im Mittelalter das Kommen der Apokalypse
erwartet hatten, erschöpft sich auch
das Phänomen der Ästhetisierung
des Lebens als gesellschaftlichem Ereignis in seinem negativen Projekt:
der Erwartung eines „glücklichen
Todes“ in den Mühlen eines streng
kontrollierten Genusses. Die grenzen des globalen Kapitalismus sind
die Grenzen der postmodernen Kultur der Unterhaltung und des Spektakels. Das ist die Metasprache der
Medien, der alles, was existiert, als
Erlebnisgegenstand für die Reflexion
eines anonymen Zuschauers konstruiert, der interaktiv an einer globalen Reality-Show teilnimmt, mit der
pervertierten Wahrheit unserer Zeit,
es gäbe nichts anderes, außer der Illusion der Realität.
Die letzte Szene aus dem Film Der
Sinn des Lebens der britischen Komikertruppe Monty Python ist wahrscheinlich die letzte radikale Botschaft eines Mediums ohne Botschaft.
Das Paradies ist als erotisches Kabarett inszeniert, in dem das Glück
mit dem narzisstisch-voyeuristischen
Genuss des Blicks des Anderen und
des Blicks zum Anderen gleichgesetzt
wird. Es steckt nichts „dahinter“ und
nichts „höheres“ darüber. Hölle und
Vorhölle aus Dantes Allegorie sind
32
RELA
Dossier: @arko Pai}
nur geschichtlich gespielte Episoden
aus einer Zeit, als die Kunst durch
Religion die Welt transzendierte. Das
ästhetisierte Leben der globalen Ordnung einer Ökonomie des Verlangens beruht auf anderen Grundlagen.
Diese sind brüchig, da die Struktur
des globalen Kapitalismus selbst chaotisch ist. Die Dekadenz der Welt,
die mit der Erlebnisgesellschaft ihre
Tür vor den Möglichkeiten des inneren Zerfalls verschließt, beginnt stets
mit der Privatisierung des Genusses
im Luxus für die Bedürfnisse der Eigentlichkeit. In Joris-Karl Huysmans
Roman Gegen den Strich ist es gerade
der Schluss, der eine hyperverbraucherische Zivilisation des Wunsches
nach „Glück“ in der Inszenierung
der Welt als Spektakel als Einziger
radikal zur Strecke bringen kann: die
Verallgemeinerung der individuellen
Revolte, ein bewusster Entschluss,
nicht mehr nach den alten und neuen
Regeln zu spielen, ein nihilistischer
Akt der Revolte des Selbst gegen die
Tyrannei der Kultur in ihrem letzten
Wertstadium.
Es war die große Galeere Amerikas, die nach Europa verschlagen
war. Es war die ungeheure und
unerhörte Anmaßung des Geldmenschen und Emporkömmlings, die
wie eine gemeine Sonne über die
götzendienerische Stadt strahlte,
die im Staube vor dem ruchlosen
Tabernakel der Bankhäuser zotige
Gesänge ausstößt.
„Stürze doch zusammen, Gesellschaft! Stirb doch, alte Welt!“ rief
der Herzog empört über das gemeine
Schauspiel, das er heraufbeschwor;
dieser Schrei brach den Alp, der ihn
bedrückte.
„Ach!“ seufzte er, „und sich sagen
zu müssen, dass dies alles kein Traum
ist! Dass ich wieder in das schändlich
gemeine Gewühl des Jahrhunderts
hineingeworfen werde“! 32
TIONS
Aber das Jahrhundert dessen, was
„gegen den Strich“ geht ist noch
nicht beendet, sondern wird vielmehr fortgesetzt. Unter der Herrschaft des Genusses wird der Genuss
selbst bis zu jenem Maße demokratisiert, in dem niemand mehr dem
Götzendienst des Kults des Neuen
und den glänzenden Kulissen des
Glücks widerstehen kann. Wenn das
Erlebnis zum gesellschaftlichen Phänomen wird, der Imperativ des Genusses und des Glücks aber eine neue
Art universellen Verbots, verwirklicht sich die Kultur endlich in der
Leere des Lebens als ewigem Frühling
ein und desselben Kommunikationsmodells zwischen verschiedenen
Welten. Das Problem liegt darin, dass
die Gesellschaft des Spektakels in all
ihren Versionen der Spiegel des universellen Bildes des globalen Kapitalismus ist, und nicht nur seines Spiegelbilds, in dem sich die Persönlichkeit als jemand anders erkennen lässt
– als reicher Mensch, Berühmtheit,
Star. Die Herrschaft des Genusses ist
eine Kontrollordnung die ihre Untertanen für das Nichtausführen ihrer Befehle durch Bedrückung, Einsamkeit und Verlassenheit bestraft.
Die Wahrheit des Narzissmus liegt
einzig darin, dass für Leiden wie für
Intimität andere benötigt werden.
Aber jeder hat selbst zu entscheiden,
ob er seine Eigentlichkeit im Namen
des Ruhmes und des Erfolgs opfern
will. Ob er die Wahrheit durch eine
Illusion ersetzen will, nämlich jene
der Verehrung auf der inszenierten
Bühne einer im Verschwinden begriffenen Welt. Das ist die letzte übriggebliebene Wahl der Freiheit.
Aus dem Kroatischen von
Boris Perić
Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Roman, Litteris, Zagreb, 2005. Aus dem Französischen von Ana Buljan.
RELA
TIONS
103
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
104
Literarische Produktion
RELA
TIONS
DRAGO ŠTAMBUK wurde am 20. September 1950 in Selca auf der Insel Brač
(Kroatien) geboren. Nach dem Abitur in Split studierte er in Zagreb Medizin
(Fachgebiete: Gastroenterologie und Hepatologie).
Von 1983 bis 1994 lebte und arbeitete er in London, wo er sich mit der
Forschung von Lebererkrankungen und experimenteller Therapie von AIDS
und der Fürsorge um die Erkrankten befasste.
Von 1991 bis 1995 war er Lobbyist der Republik Kroatien in Großbritannien,
von 1995 bis 1998 Botschafter Kroatiens in Indien und Sri Lanka, von 1998
bis 2000 Botschafter in Ägypten und der Mehrzahl der arabischen Länder.
An der Harvard Universität war er von 2001 bis 2002 tätig. Seit 2005 ist er
Botschafter in Japan und Korea.
Drago Štambuk veröffentlichte mehr als 20 Gedichtsammlungen und
erhielt angesehene Literatur-Preise. Seine Poesie wurde ins Englische,
Französische, Spanische und Japanische übersetzt.
RELA
TIONS
105
Orpheus mit dem Skalpell
eines Steinmetzen
Vesna Parun
S
ollte es einmal geschehen, dass
dich eine Gedichtsammlung in
solchem Maße verzaubert, dass du
schließlich ganz in ihrer solar-infernalischen Umlaufbahn gefangen bist,
gleichst du einem Fischer, der – mit
noch nassen Hosenbeinen vom Einholen der eigenen Netze – von ganzem Herzen dem Fischkutter in seiner Nähe hilft, dessen funkelnden
Fang aufs Deck auszuschütten. Als
mir im September dieses Jahres Drago Štambuk sein neuestes Buch CROATIAM AETERNAM schenkte, blätterte ich einige Nächte lang darin,
durchwanderte es und irrte in ihm
umher, begegnete mir wohlbekannten Dämonen des Meeres und der
Nacht, der Klippen, Stürme und wütend rauchender Wachskerzen ... Vom
Meer umtosten Landzungen und zu
ihnen führenden steilen Pfaden, wo
dir immer ein nackter Felsbrocken
den Weg versperrt, ein Ginsterbusch,
der sich hier ein unruhiges Fleckchen
zum Blühen aussuchte, ein vorgeschichtliches Meerestürchen, das nirgendwohin führt.
Ich vergrub das Buch in den sandigen Teppichen meines Zimmers, auf
den Augenblick hoffend, an dem ich
es wiederfinden und mit Leichtigkeit
öffnen werde, während mir seine bis
dahin melancholisch gereifte Perle – sobald ich sie zwischen meinen
Fingern reibe – ihr ungewöhnliches
Märchen enthüllt. Die Zeit des Rei-
fens ist verflossen – genauso wie es
mit dem Most, mit den Oliven, dem
Honig geschieht – und Štambuks Gedichtband fand sich in diesen Tagen
auf geheimnisvolle Weise in meiner
Hand. Und wieder war es das gleiche
Erlebnis wie beim ersten Mal, nur
tönte der Jammerschrei der Abenddämmerung in seinen „schaumgekrönten Wellen“ noch grabesdunkler, sein Split mit dem „gespenstischen ockerfarbenen Hafenamt“ war
noch tiefer in die Jahrhunderte versunken, war noch unwirklicher und
unbeugsamer. SPALATUM. Jene faszinierende Ansicht der Stadt, in der
wir einst jung und voller Schwung,
narzisstisch, mit dem Rücken dem
finsteren Palast des Diokletian zugekehrt standen, gerät ins Wanken bei
des Dichters kaum ausgesprochener
Frage: „Und dort vorne, o weh, war
das das Meer?“. Jener orpheussche
Ruf an ein lieb gewonnenes Trugbild
zerriss mir wieder das Herz, denn ich
erkannte, was alles in der Magie der
Zeit verschwand, während es in der
räumlichen Vielschichtigkeit noch
andauert und glitzert und uns in seinen Wirbel lockt.
Wer jemals durch die sattgrünen Vorhänge des Hafens unter dem Mosor und durch die Fäulnis der aufschäumenden Jugo-Wellen im kleinen
Dampfer durch die schroffe Meeresstraße zwischen Šolta und Brač hin
und her schwankte – vorbei an der al-
tertümlichen Klippeninsel Mrduje –
dem wurde das Dasein von dem gleichen scharfen Bewusstseins-Dolch
in zwei bittere Wahrheiten geteilt:
in alles, was sich hinter uns und alles, was sich vor uns befindet. In dieser unentwirrbaren Zweiheit, dem
Hexenspiegel der Bipolarität alles
Seienden, besteht die Besonderheit
von Štambuks, wie am Rande der
Welt hervorgekeimten Buches. Diesen Gedichtband kann man nicht in
einem Atemzug lesen, auch nicht im
wachen Zustand des rationalen Alltags. Man muss ihn von irgendwoher überfallen, überraschen. Manche sagen, diese Art der Poesie wirke
verwirrend. Andere wiederum – sie
wäre unverständlich. Manche übergehen sie einfach schweigend. Gerade deshalb reizt es mich, ohne Kritiker sein zu wollen, mich mit dem
Phänomen der in das EWIGE KROATIEN verwebten Art des Schreibens
öffentlich zu befassen.
Worin besteht deren Paradox? Darin, dass sie, obwohl sich im Titel
der Name des Staates brüstet, eigentlich ein völlig unpolitisches Lesen
verlangt. Im Filigrangewebe ihres Inhalts gibt es keinen Deut Staatsverherrlichung. Die Sammlung konzentriert sich ganz auf ein Meer und eine
einzige Insel darin, mit all ihren Toten unter der Erde und ihren Seelen
in den steinernen Brunnen, mit den
Schritten und Stimmen und Gedan-
106
Literarische Produktion
ken, die aus jenem Boden seit Urzeiten hervorquellen und mit mathematischer Genauigkeit den Umriss des
Insulaners formen mit seiner charakteristischen Sprache, seiner höchst
eigenen Natur, mit nur seinem Karneval und seinem Aschermittwoch,
der Verrücktheit seiner Gene und
der Einsamkeit seiner Feuerstellen.
So wie für Tadijanović sein Rastušje
das ganze slawonische Flachland bedeutet, ja das ganze Kroatien, so sind
für Štambuk Brač und Selca darauf
der Mittelpunkt nicht nur Kroatiens
sondern auch das Herz der Welt.
Voller geografisch-geschichtlicher Reminiszenzen, abgelöschter Glut, Ausgrabungen, Fossilien und Narben
ist dieser Gedichtband ein Geflecht
nicht zu enträtselnder Karstflüsse
der Zeit – Kaleidoskop und Museum, geschütztes Treibhaus der Worte, Zuchtstätte der Geister unter altertümlicher Draperie der Sterne.
Ihre Senkrechte ist nicht das ICH
des Autors – die erste Person scheint
es nirgendwo zu geben – sondern es
ist ein anthropologisch existierendes
und aus der Realität der Vielfalt des
Lebens herausgepresstes ICHSEIN,
das eher Selbstverleugnung als persönliches Bekenntnis ist, eher im Enden ALLER als in der Dauer EINES
besteht. Indem er in Štambuks Poesie
vergeblich nach dem ICH sucht – ohne welches all unsere und der Welt Poesie tot wäre – kann der Leser dennoch
nicht leugnen, dass gerade in dem
immer aufmerksameren Suchen es
mehr Verlockung und Erregung gibt,
als uns die Poesie an sich bieten kann.
Die Poesie weckt Emotionen, aber sie
bedeutet auch eine Herausforderung
für den Verstand. Štambuk zwingt
uns jedoch, nur stumme Beobachter wie er selbst zu sein und Ohr und
Auge auf die mit Liebe aus schwarzen
Truhen sorgfältig gewählten Worte
zu richten, bis in ihnen allmählich
die Skelette von Dingen und Menschen, Nervenknäuel und Atemströme deutlich sichtbar werden.
Štambuk ist so andersartig, dass er
vielleicht überhaupt kein Dichter
sondern ein Mühlstein ist, der knirschend und tosend gemahlene Ideen, Symbole und Abstraktionen aus
sich hinauswirft, und – wie eine Art
irrsinnig gewordener Magier – sie
gnadenlos zurück in die Materie, in
den Schmutz schickt. Er zwang verschimmelte Grundbücher und Karteien, alle zugeschütteten Grundstücke und Grenzsteine auszuspucken,
sodass er auf der Jagd nach dem
Raubtier Historie zu dessen luziden
Höhlen unter den Wurzeln des Johannisbrotbaums und der Pinie, unter dem phosphorigen Schädel des
Vorfahren gelangte. Mit dem Meißel behaut er die Vergangenheit wie
einen Stein, und den Stein öffnet er
mit dem Skalpell wie eine Leiche. Er
arbeitet begeistert aber auch verantwortungsvoll, denn das Schicksal des
Menschen steht auf dem Spiel: Brač,
als kleines Muster dieses Schicksals,
weist mit seinem Wechsel von Licht
und Dunkel auf Dauer und Vergehen
der Heimat hin. Als Gegenantwort
auf nationalromantische Mythenverehrung – ist die Heimatliebe in
diesem Buch, dem AMEN im Gebetbuch gleich, ein fromm geflüsterter
Refrain wie ein Hauch des Eros’ aus
dem Jenseits, wodurch der düstere
Kontext des Titels gerechtfertigt wird,
in dem nicht schwer das Echo des Requiems PAX AETERNA zu erkennen
ist. Die Leere. Es erinnert ein wenig
an Ovids Klagelied vom Schwarzen
Meer: ULTIMA NOX IN ROMA ...
Ein Zyniker könnte sagen, der Autor dieses Buches ist ein sehr gewissenhafter Leichenbeschauer, der danach lechzt, zum hundertsten Mal
den Leichnam umzudrehen, da er
ahnt, was die pragmatischen Totengräber nicht wissen: dass nicht alles
den Würmern gehört auf dieser vom
Meer mit Salz überschütteten Insel.
Das Wort bedeutet diesem „Zauberpriester“ alles; aber seine Geisterbeschwörung reicht bis hinter und un-
RELA
TIONS
ter das Wort, bis zur Schale, aus der
es herausgepellt wurde, bis zur uranfänglichen Energie der Bewegung,
die die Ganglien des Gehirns, aus denen der Schmerz aufblitzte, schuf. Es
scheint, als schriebe er kein Gedicht,
sondern teile sich auf in brennende
Sprachfasern, in den Blutkreislauf
eines Baumstamms, in eine Orgel,
um die herum Ziegen der Insel Brač
knabbern, und die Esel – ihre Hufe an Dornen schärfend – eine Verschwörung aushecken. Was ist eine
Insel anderes als eine wilde Verschwörung des Meeres gegen die Selbstgefälligkeit des Festlands, gegen dessen
ewig gegenwärtige tektonische Möglichkeiten eines Verrats. Die Schläge des eigenen Pulses bedeuten für
Štambuk Geräusch einer geheimen
Uhr, vermischt mit Glockengeläut
und dem Klingen der Hämmer aus
den mehlweißen Steinbrüchen. Aus
dem Kranz der untergegangenen dalmatinischen Bergmassive, von denen
es bis zum Big Ben nur eine Spanne
Zivilisations-Urwald ist, den wir verspätet Europa nennen.
CROATIA: eine prächtige Galeere aus
dem Osten, ein Antiquitätenladen aus
den Gettos des Westens, das kajkawische Čakovec im Norden und das
Vakuum des tschakawischen Bračs
im Süden. Štambuk hat die Heimat
in ein Messbuch verwandelt, illuminierte es lebendig, hauchte ihm das
Alter Gottes ein. Kirchliche mittelalterliche Mysterienspiele, Glut und
Pech der Scheiterhaufen, Humanisten
und Latinisten, Judita und Fischfang
und Plaudereien der Fischer („Ribanje
i ribarsko prigovaranje“) und weiter
noch bis zum Heidnischen, bis zum
Irrationalen – all das erahnt man auf
dem tiefsten Grund dieser Gedichtsammlung. Blicken wir hier nicht
durch den Spalt eines angelehnten
Fensterchens in eine antropologisch
exaktere Ästhetik, durch Verwandlung einer politischen Tatsache in einen Traum der Seele, einen Schrei des
Meeres und der Insel, eine Träne?
RELA
TIONS
In diesen mit Düften und Farben des
Meeres gesättigten Buchseiten blendet dich manchmal die Glut sonnenbestrahlter Dächer des Malers Ignjat
Job, dann wird das Licht verhaltener,
erlischt allmählich, und alles wird
dunkel. Ja, da irrt mit der schwermütigen Laterne unterhalb des Marjan-Hügels Emanuel Vidović, uralt,
umher, das WINTERLICHE DALMATIEN suchend. Und darin den frierenden Winzer, T. P. Marović, den
Dichter jenseits des finsteren Palastes, einen aus der Reihe der Schatten
im marmornen Säulengang der Heimat Štambuks. Du findest auch den
achtsilbigen Rhythmus Garcia Lorcas in jenem sprudelnden mediterranen Kesselchen – ohne sinnliches
Glitzern, ohne Kolorit, voller asketischer Insel-Leidenschaft:
In meinen Armen hielt ich dich,
wir waren tot seit eh und je,
Tränen habe ich vergossen,
benetzten kalt sie deine Stirn.
Das ist die PIETA. Brač, immer noch
ein wenig matriarchal, flüstert dem
Dichter hier und da die Gestalt der
Mutter als Vorbild ein, die Gestalt der
Großmutter Jerolima, der Muttergottes der sieben Schmerzen, mit der
er sich, dem geliebten Freund nachtrauernd, identifiziert. Bei Ujević
finden wir als einzige Frauengestalt
die Madonna, bei Štambuk CROATIA, Frau und Geliebte, Ideal und
Sehnsucht. Allerdings, da ist auch das
Meer – aber es ist nur bei den Galliern weiblichen Geschlechts. Dieser
Dichter gleicht einer jungen Nonne:
er besingt nicht die Heimat, sondern
schmückt ihre Altäre. In seinem früheren Leben war er gewiss ein Seefahrer – Marco Polo vielleicht; denn
in dem Gedicht DAS VERBRENNEN
DER ERINNERUNGEN ruft er in Panik geraten aus:
Ich decke mich mit der Welt zu,
mit der Landkarte der Welt.
Im EXODUS, geschrieben einige Jahre
vor dem wirklichen kroatischen Exo-
Drago [tambuk
dus, fährt das Volk übers Meer „wie
das Volk des Weißen Sonntags“. Hier
hören wir auch von den alten und
neuen Argonauten. Die Adria gleicht
dem Marathon ... „Und die kroatische Seele hisst die Segel ...“. LUX
AETERNA. „Der kroatische lichte
Tod“. Das letzte Gedicht, geschrieben 1987 in London, ist der Muttergottes und Kroatien gewidmet und
enthält – in Form einer Weissagung
– auch die Botschaft der ganzen Gedichtsammlung:
Auserwählt am Zeitenende,
wenn Völker und Sterne erlöschen,
die Gnade ist größer als erstgeboren
zu sein.
Völker und Sterne erlöschen, der
Planet Erde stirbt langsam – sagen
die Wissenschaftler. Der Dichter jedoch, bebend vor Glück, hält hier
sein Kroatien fest in den Armen und
überlässt sich dem Rausch der Liebe,
und die Muttergottes – STELLA MARIS – ist nur anwesend, um mit milchigen Mandelblüten seine Fantasie
zu entzünden. Das ist die Katharsis dieses Sammelbandes, der Höhepunkt der Ergriffenheit, ein geistiger
Orgasmus.
Poesie und Medizin – wie passt das
zusammen? Ich kenne einen Meister, der genauso virtuos ein Gedicht
über die Operation einer Luftröhre
schrieb, wie auch das berühmte Poem
über den Herbst: das ist der zeitgenössische bulgarische Dichter Valerij Petrov. Was die Patienten betrifft,
als einen solchen bezeichnete sich im
Jahre 1938 in der Weihnachtsausgabe der Zagreber Zeitung NOVOSTI
Tin Ujević mit einer längeren chaotisch komponierten Romanze Die
Neurastheniker betrachten das Meer.
So manche Stelle aus Štambuks Kroatien erinnert mich daran. Einsamkeit und Illusion, Hoffnungslosigkeit. Der Schrei der Seele, die frenetisch einen Ausgang aus sich selbst
sucht. Dieser Sammelband ist ein
Mosaik, einige der Gedichte sind nur
107
Bruchstücke, rätselhafte Andeutungen, Chiffren, einem ärztlichen Rezept ähnelnd, unleserlich und schwer
verständlich. Moderne Forscher der
menschlichen Hand und ihrer Finger behaupten, dass allzu glatte, abgerundete und am Ende schmaler
werdende Finger nicht fähig sind,
das Durchfließen der kosmischen
Strahlen aufzuhalten – des Pranas auf
dem Weg zum Gehirn und zurück
– damit das logische Denken Raum
für sich gewinnt. Solche Finger sind
charakteristisch für spontane Schöpfer, Künstler und Träumer, während
der analytische Verstand wenigstens
ein knotiges Gelenk an jedem Finger braucht. Ich weiß nicht, ob unser Autor in solche Hypothesen eingeweiht ist, aber als ich ihn im Spaß
frage, ob er absichtlich hin und wieder unverständliche Verse schreibt,
ähnelt seine Antwort sehr dem erwähnten Axiom der Chiromantie. Es
wäre zu einfach – so etwa drückt er
sich aus – wenn die Verse allzu glatt
und schnell aus der Feder flössen.
Um tiefer einzudringen, ist hier und
da ein Hindernis, eine Unebenheit,
eine Unterweisung nötig.
Es handelt sich hier um eine der seltenen Gedichtsammlungen, in der
sich nicht der Schicksalspendel des
Autors offenbart. Das Individuelle
ist auf besondere Weise – und dabei
seine ganze Freiheit auslebend – im
Voraus versiegelt und von dem Kollektiven, beziehungsweise Nationalen verletzt worden. Vielleicht ist das
ein Zeichen für die kommende Zeit,
in der der Einzelne immer unwichtiger wird für Gott, der sich – wie am
Weltenanfang – von neuem um die
Völker im Exil kümmern muss, um
die neuen Nomaden und umherirrenden Herden ohne Hirten. Bei
Štambuk quillt Kroatien von überall her, aus Vertiefungen im Meer,
aus Ameisenhaufen und Bienenkörben, aus dem Geblöke der Schafe auf
dem Vidovica-Berg und aus dem Todesröcheln derer, deren Mütter sich
108
Literarische Produktion
morgen für immer in Schwarz kleiden werden. [...]
Štambuks Poesie scheint auf einer
festen Verbindung zwischen Realität und Illusion aufgebaut zu sein,
mit einem anderen lexikalischen und
gedanklichen Potenzial als dem herkömmlichen. Ohne l’art pour l’art
ist sie eine spezifische Windrose, eine
Wegkreuzung. Unser Insel-„Brevier“,
stolze Schatzkammer der Kreuze. Falls
je ein Gedichtband Neugier weckte
auf den nächsten, dann kann man das
von diesem sagen. Wie soll man weiter dichten? Wie kann man aus dem
EWIGEN zurück ins VERNÜNFTIGE? Dieser verlorene Sohn wird gewiss auch dafür eine Lösung finden.
Ihn Orpheus zu nennen, obwohl es
banal ist, dient zu einer passenden
Allegorie. Der mythische Sänger Orpheus stieg, wie wir wissen, mit seinem Musikinstrument in die Unterwelt, seine Liebste zu holen. Auch
der Dichter, von dem wir sprechen,
steigt in die Unterwelt wegen seiner
einzigen Liebe, um sie – dem Willen
Gottes entsprechend – aus dem Hades zu führen. Orpheus machte einen
Fehler, und sein Unterfangen trug
keine Früchte. Er kehrte allein und
trostlos zurück in die obere Welt. Der
heutige jedoch, unser Dichter, hat
mehr Glück: seine Eurydike, KROATIEN, schreckte auf und schritt ans
Licht. Die historisch ins Leben zurückgerufene Eurydike wird von ihrem kroatischen Orpheus mit weit
aufgerissenen Augen angeblickt. Das
Musikinstrument fällt ihm aus den
Händen, und in Trance folgt er ihr.
Aber der uralte Mythos verwirrt ihn,
und er steigt noch tiefer hinab in den
Hades. Sie schreitet historisch voran,
seine Beine werden zu Stein. Wurde
des Orpheus’ Gesang zu teuer im Er-
wachen der jungen Marktwirtschaft?
Die platonische Liebe in jenem Augenblick, als der Gewehrlauf umarmt
wird und vergewaltigte Frauenschenkel nach Rache schreien? INSULARITÄT. O, ja. Ist nicht auch die Poesie
nur ein Inselchen, einsam und verlassen, inmitten der Wellen? PALAZZO
STAMBUCCO. Fledermäuse.
Das Gedicht DER TEUFEL enthält
als einziges ein moralisches SchuldDilemma:
Alles teilen wir mit allen,
auch dann, wenn die Wahl
eindeutig zu sein scheint.
Hier finden wir keine Spur von Hedonismus, von Rubens’ rundlichen
Knien und Gesäßen. Fra Angelico,
der heilige Alojzije, das Brač des
Eselsgeschreis und der wilden Erdbeerbäume. Nein, das ist nicht Granada mit seinen Arabesken, der rote Umhang der Toreadoren und die
pechschwarze Stierhaut, ausgebreitet
bei Volksfeiertagen. Hier herrschen
Verschämtheit, Selbstkontrolle, Ordnung. Dort bringt die Heimat ihren
Dichter um, der nicht weniger in sie
verliebt ist – in ihren ewigen Himmel, in ihr VERDE. Štambuks Werkstatt ist ein Fegefeuer für verirrte
Kinder der irdischen Liebe. Ein Labyrinth, in dem Schlangen und Spinnen des wollüstigen Puritanismus’
ausgebrütet werden. Die Anatomie
einer Landschaft, Meeresbuchten,
ein gespaltener Glockenturm, das
erste kindliche Erlebnis des Überragens der Insel. Verse wie eine bizarre
Aufstellung realistischer Bilder. Lyrischer Naturalismus – könnte man sagen – hier und da nahe an einer kulturgeschichtlichen Notiz. Derjenige,
der durch die Gänge menschlicher
Organe spazierte, erlebt den Flug
eines Flugzeugs und die Fahrt durch
RELA
TIONS
einen dunklen Tunnel anders als die
übrige Menschheit. Er umgibt die
Realität mit einer Aureole des Mystischen und verwandelt danach das
Mystische in Historisches. Die Historie berührt daraufhin einen Stein,
eine Welle, einen Feigenbaum, einen
trockenen Baumstumpf. So wird der
Dichter zum Philosophen, zu einem
Teilchen der verwandelnden Energie
des Seins.
Štambuk ist ein Kosmopolit von Brač.
Jene Insel siedelte schon seit langem
glücklich nach Chile über; Chile ist
also die Heimat Bračs, genauso viel
wie Kroatien. Wegen ihrer geteilten
Liebe ist deshalb für Brač ein solcher Dichter als Verbindungsglied
unentbehrlich. Damit er einen Balg
zusammennäht, Öl aus dem steinernen Gefäß in die Lampe der Urgroßmutter gießt. Und so wie Brač eigenständig und anders als alle anderen
Inseln ist, so ist auch dieser Dichter
einsam wie ein Musiker, der auf einer ganz anderen Tonleiter komponiert, und es wäre vergeblich, ihn in
irgendeine verwandtschaftlich-astrale Dichtergemeinschaft einzuordnen. Keineswegs aggressiv sondern
philanthropisch, ganz durchdrungen von der positiven Energie seiner
Heimat, wird er ewig tödlich in sie
verliebt sein, wird er sich – ich ahne
es – in einen sich in den Wellen ausweinenden Fels verwandeln, an dem
König Tomislavs Seeleute einmal in
ferner Zukunft ihr Weltraumschiff
vertäuen.
Zagreb, Dezember 1992
[veröffentlicht in „Večernji list“
vom 3. 1. 1993]
Aus dem Kroatischen von
Hedi Blech-Vidulić
RELA
TIONS
109
Ein Dichter
des Metaphysischen
Sead Begović
D
er Titel eines der Gedichte Štambuks im Buch „Staklena šuma“
(„Der gläserne Wald“) lautet „Struja morska“ („Meeresströmung“), in
dem uns der Dichter mit allen Sinnen
das Rauschen der Wellen spüren lässt
und uns damit an das Uranfängliche,
das Menschliche erinnert.
Aber in einer Zeit, in der wir über das
Ende der Historie sprechen, über ein
egoistisches Gen, über Unmenschlichkeit, über Politik als Berufung,
über das Leugnen des Holocaust,
über Virtualität und Queer-Theorie,
über Postfeminismus, über den Krieg
und seine Transformation, über Fundamentalismus und Postmoderne,
über den Verstand Gottes – gibt es
noch so manchen Zweifler, der diese
Dichtkunst, die sich für die alte natürliche Welt liberaler Demokratie
und des Humanismus einsetzt, mit
„unverständlich ausgedrückte Engelsphären“, bezeichnet, und den
Dichter selbst einen altmodischen
lyrischen Protagonisten nennt.
Mit solchen Schlüssen sind wir, die
wir begeisterte Leser der Poesie sind,
keineswegs einverstanden. Denn Štambuk, Facharzt und kroatischer Dip-
lomat, betont in jedem seiner gelungenen Gedichte, die sich immer mehr
ausbreitende Unmenschlichkeit, die
sich auch in unseren Alltag eingeschlichen hat. Seine Gedichte bedeuten
Befreiung von ideologischer Sklaverei,
nicht aber „unverständlich und polemisch ausgedrückten Patriotismus“.
Štambuk ist nie theatralisch, seine
Fantasie ist Stimulator des Herzens,
und sie sagt ihm, wie es einer Mutter ähneln würde, dass es unmöglich
ist, nur mit der Unmenschlichkeit
zu leben. Mit seinem originellen und
immer interessanten Stil überzeugt er
uns ständig von der Macht malerischen Ausdrucks und der Harmonie
dichterischer Schönheit.
Seine figurative Ausdrucksweise enthält immer Tragik, Liebe und Schönheit des Lebens:
Meine Augen sind die letzten,
die dich vor dem Tode sahen.
Du gingst in die Nacht, wo es keine
Augen gibt
und keinen Weg, geliebtes Wesen.
Ich sehe das Sprudeln
der Quelle deiner Liebe,
du unermüdlicher Wanderer.
Drago Štambuk ist ein Dichter des
Metaphysischen, das die persönliche
Illusion des Alltags leugnet, weshalb
er manchmal ein aus der Mode gekommener Dichter zu sein scheint,
aber der Wert und das unantastbare
Mysterium der ontischen Wirklichkeit des Lebens (hier und da auch
mit religiösen Andeutungen), macht
diesen Dichter zum größten Fürsprecher des schwachen Wesens Mensch
in der kroatischen Literatur.
Štambuk bleibt seiner Freundin, der
Poesie, treu, und mit ihren nachdrücklichen innerlichen Botschaften
erinnert er uns an die ethischen und
humanistischen Inspirationen, die wir
leider verloren haben. Und was wichtig zu erwähnen ist: Štambuk bekräftigt das mit seinem eigenen Opfer.
Nach all dem hier Gesagten ist es nicht
verwunderlich, dass Drago Štambuk der diesjährige erste Preisträger des Literaturpreises „Dragutin
Tadijanović“ ist.
[„Vjesnik“ , 2. 9. 2008]
Aus dem Kroatischen von
Hedi Blech-Vidulić
110
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Poesie
Drago Štambuk
Dalmatien, lichtes Dalmatien
Wer kennt besser als wir, aufgewachsen in deinem Park, entsprungen kühler Karstquelle, als
wir, deren Füße und Flügel auf felsigen Ziegenpfaden und im Inselinneren umherschwirrten
– Wesen und Bedeutung der Nacht, das betäubende Strudeln des Meeres, den Duftrausch
trockener Pflanzen?
Wer weiß besser als wir, die wir vergebliche Netze auswarfen, Fischleiber schuppten und den
Ziegen an den Haaren zupften, den Eicheln die Käppchen abzogen, Ginsterblüten ausrupften
– was es bedeutet, besorgt zu sein und sich um das Erbe zu kümmern?
Wer ist empfindsamer dem Schmerz des Steinbruchs und der Wehmut der Kalkgrube gegenüber als wir, in namenlose Bereiche uns erhebend, niederlegten in der Kalksteinhütte mit
zerbrochenen Fenstern und wärmenden Worten?
Wer weiß besser Bescheid über Feuer und Brände als wir, die wir zur Zeit der Seuche Nester
der Seidenraupe anzündeten und am Heiligen Abend Steineichenklötze und Brombeergestrüpp im Winter?
Wer empfindet die Kälte stärker als wir Frierlinge, bei Bora – inmitten blank gefegter Plätze?
Wer kennt besser als die Sammler von Fenchel und Kapern, von Bärenklau und den Früchten des Erdbeerbaums, von wildem Spargel und Johannisbrot, wer kennt genauer als der
Schöpfer des Brombeerrosenkranzes – mit trockener hilfreicher Träne der Muttergottes an
der Spitze der abgeklaubten Rispe – Rosen und Engel, Kräuter ewigen Geschmacks und der
Anwesenheit Gottes voll?
Wer die Schönheit stärker wahrnimmt als die Menschen unserer Herkunft, der steinige Radonja und Juraj, deren auch kleinste Werke Kathedralen gleichen. Er werfe alle unsere namenlosen Vorfahren in den Abgrund, wenn er sich mehr plagte als unsere Väter, die die Erde wie
Schmuckkästchen bestellten. Und aus dem mageren Boden Steine klaubend spärliche Felder
anlegten und mit steinernen Anhäufungen auch die Ränder ebenso eifrig befestigten.
112
RELA
Literarische Produktion
TIONS
Wer weiß mehr vom Leben als wir, die wir die Linie und die Sprache des Meeres tagtäglich
wie ein Messer in unseren bläulichen Herzmuskel stießen – über dem, wie die Flügel eines
kleinen Falken, zwei im Gebet zu Stein erstarrte Hände wachen?
Wer nicht mit Pinien- und Kiefernzapfen Seeschlachten führte, wer keine flachen Kiesel flitschen ließ und ihre Sprünge auf der ruhigen Oberfläche unserer kindlichen Seelen zählte und
nach dem Meerohr tauchte, ach, der hat kein Gespür für Unterseehöhlen, in denen Feen und
Ungeheuer ihren Wohnsitz haben, vielarmige Tintenfische und bewachsene Krebse.
Wer nicht zurück und im Kreis ruderte und sein gebrochenes Herz auf flacher Hand in die
Bucht erster Verliebtheit und unerklärlicher Schiffbrüche trug, zitternd auf Charons Kahn,
der weiß nicht genug über das Meer und das Sterben, über den Tod in den Tiefen und den
sich kräuselnden kreisförmigen Umhang des Neptun-Sohnes.
Wer nie in Öl gereiften Käse, hart wie Marmor und durstig wie heißeste Sommerglut aß, der
kennt nicht der Sonne Sehnsucht, nicht das silbrige Rauschen des Olivenhains.
Der Drache des Vidovica-Berges ist Hüter der von Jahrhunderten schweren, von Wind und
Wellen gepeitschten Bundeslade, in der es funkelt und niederdrückt: das Zeichen des Königreichs: die kroatische Smaragdkrone mit ins Oval eingravierten geheimen Worten göttlichen
Trostes. Und einem Holzsplitter vom Kreuz in ihrem Stirnauge. Des Christus treueste Krone,
in der Flügel des Raumes rauschen und Jahrhunderte versinken. Hier bewegt sich der kosmische Wille der Heimat, hier wird die Achse des Ursprungs und der Qualen angehalten, wird
der Leib zum Astralen geformt – das Tosen von Äonen und der Gesang der Wellen.
O, Dalmatien, Flugdatenschreiben unseres Schicksals. Mit deinem sanften Licht forme uns
Bett und Grab, an des Sternen-Meeres Ufer lege die müden Delphinkadaver und übergib sie
dem ewigen Frieden. In die Furchen der Handfläche Gottes sende Samen des heimatlichen
Meeres und der Berge, auf dass der Schmerz der Ruderer gestillt werde und das gebrochene
Herz sich ergebe.
London, Lenz 1994
Nacht-Stein
Wie ein Felsen unbeweglich – in Sturm und Hagel,
unter Schneedecke und Regengüssen. In sich versunken.
Von der Sonne durchglüht, und vom Eis erstarrt. Ein hinabgestürzter Stein
in einem Berg von Laub.
Wie dieser Stein. Genau wie er, von seinem Schicksal gezeichnet,
losgelöst und unansehnlich, schwer, teuflisch schwer, grau zerkratzt
meines Lebens Stein. In ihm bebt, in seinen Adern fließt
und in seinem Mark pulsiert – mein Atem. Kompakt, jedoch aufrecht.
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Seiden und doch fest. Seine Zier: Flechte und Moos;
Brombeere und Wegerich seine Wegzehrung, Eidechsen und Asseln,
Tausendfüßler und Würmer seine Nachbarn und Gäste. Unter ihm ein Knäuel
Dunkelheit, blasse Geschöpfe, Käfer und Keime, Halme und nicht zu unterscheidendes
Wurzelwerk. Immer die gleiche, jedoch sich ändernde Szene, ein Wirrwarr im Schatten.
Eine Familie und ein Gedanke von der Erde Schwere und der Leichtigkeit des Alls.
Die Nacht ist da um der Glühwürmchen willen.
Auftrieb
Was hält den Schoner auf dem Wasser,
den Adler in der Luft, lehrt die Rose das Wachsen?
Meinen zerbrechlichen Arm, derweil
zu Dir er eilt, was hält ihn?
Macchia auf Brač
Wie niedrig’ Strauchwerk brenne ich,
die Asche wärmet mir das Herz,
schwache Arme, eis’ge Knochen.
Fliege, leichter Vogel, fliege,
kleines Meerohr lasse schweben
auf des Mondscheins leisen Schwingen.
Meerohr wird lieb’ Schwester finden
in des Marmorhofes Mitte,
weiß, dass immer ich sie liebe.
Öffne weit die Fensterläden,
Neva, wie vor langen Zeiten;
lass herein den wirren Seewind
aus Otrantos blauen Träumen,
soll die Blumenkrone wiegen
zarter Arm des Mondenscheines.
London, 13. Februar 1988
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RELA
Literarische Produktion
TIONS
Greeneyes
Du stellst dir die Wellen der Nordsee vor,
die dich ins Land des Vergessens tragen,
unsichtbare Arme kreuzt du auf der Brust,
einen Eiswürfel schiebst du im Mund hin und her.
Du hütest dich vor Zärtlichkeit am Ufer mit
glitzerndem Sand und Büscheln weißen Strandhafers.
Welchem nordischen Gott gelobst du
dein angeschwärztes Herz, während die schmutzige Stadt
dich mit Staub bedeckt? Versuche nicht,
hoffe nicht, in ihr Spuren deiner Städte
zu finden. Vergiss das Meer, den
Ginster und den Friedhof auf Okladine.
Newcastle upon Tyne, 30. August 1984
Skarabäus
Wenn die Anzahl deiner Jahre
die Größe deiner Sandalen überschreitet
– steht das Alter vor der Tür.
Honigfarbener Schnee
fällt auf Kairo
– und wer anklopft,
dem wird aufgetan,
und wer nicht öffnet,
dem wird er die Tür zuschütten,
alle Öffnungen verstopfen
– der süße Honig
aus den Schluchten des Sinai
und den Bienenstöcken der Eremiten.
Wespen
reißen, wie die mageren Jahre,
Stückchen vom Hammelfleisch
und drängeln sich mit den Fliegen,
während die Bienen Gottes
den Samenstaub von Taten
und von der Liebe austragen.
O Mensch,
halte an vor der Sphinx
und beantworte demütig
die Frage nach dem Ziel.
Von den Bienenbeinchen
handelt die Antwort,
nicht von den Kiefern der Wespen,
auch nicht von den Rüsseln kleiner Fliegen.
Gott hat uns alle erschaffen,
aber nur wenige
machte er sehend und bestimmte ihren Weg.
O Mensch,
halte nicht an vor der Sphinx,
zum sternenbesäten Himmel
über der Wüste blicke auf
und überlasse dich
dem himmlischen Schwarm,
taumle, fliege,
vereine dich ganz mit den Sternen.
Giseh, 2. September 2000
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Der baufällige Palast
Du ruhst in meinem Herzen,
darin, Vater, ist dein Grab gefügt.
Jetzt, da du nicht mehr bist, was soll ich tun
mit deinem Hammer, der Wasserwaage, der Kreissäge,
der hellen?
Wie sollen wir ohne deine goldenen Hände unser
baufälliges Heim erneuern? Im düsteren Raum,
ohne deiner Schritte Echo und dem Licht deiner Worte,
das Vaterunser sprechen ohne an dich zu denken
und ohne zu sehen, wie der Mandelbaum wächst,
unter dem du einst saßest – wie ein König der Inseln,
wie ein Weiser, gekommen aus des Meeres Wald,
wie jemand, der die Schlüssel aller Welten kennt
und die dunklen Geheimnisse der Ruderschläge von Charons Kahn.
Mein Herz ist dein ewiges Heim,
und die Zypressen, die dort wachsen,
preisen dich auch dann,
wenn ich dich vergesse.
Während die Sonne, dein goldenes Sägeblatt,
jeden Morgen aus meinem marmornen Herzen aufgeht
und bis zum Gebirge steigt, danach hinabtaucht
ins Meer, deiner letzten Wohnstätte, leuchtend
im Glanz ewigen Gedenkens, und das Gold der Liebe
verstreuend – regnet deine Güte auf die trockene
Vegetation der Insel, kräftigt das Laub des Olivenbaums,
sättigt sein Grün.
Der Kranz, den dein Schüler dem Sieger
in Selca flocht, nahm dieses Jahr Farbe und Gestalt
deiner Liebe an, den Tau deiner Fürsorglichkeit.
Ihn auf den Kopf der auserwählten Dichterin setzend,
dachte ich an dich und deine Großmut,
an alles, was dieser kleine geliebte Ort
auf deine Weise feiert.
König der Inseln, Feigenbaum, gesprossen aus dem Mauerwerk
des niedergebrannten Palastes; Friedensstifter, Segnender.
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RELA
Literarische Produktion
TIONS
Auf der Brandstätte errichtest du neue Mauern aus weißem Stein
und baust ein ewiges Haus des Gebens. Ein Haus,
das über dich hinauswächst, von der Nacht dich trennt,
vom Tag und seinem ewigen Feuer erlöst.
Mein Körper ist dein Sarkophag.
Rette ich dich nun
vor dem Rost der Zeit
oder vor dir selbst?
Gnade
Es ist an der Zeit, den Anker
zu lichten aus blauen Tiefen,
die Barke zur letzten Reise
zu lenken ins Blau des Himmels,
Gott zu suchen, Sohn und Vater,
dem ewigen Ruf zu folgen.
Es ist an der Zeit, wie sehr ich
dich liebe zu sagen, mehr als
das Meer sich in Räume der Angst
zurückziehen könnte, wenn der
glückliche Westwind mit Fingern
in den Haaren dir scherzhaft zaust.
Es ist an der Zeit, den Anker
zu lichten, das Seil zu lösen
und die Liebe mit himmlischen
Glocken zu rüsten. Zum weißen
Heimatwinter zu reisen, das
Ohr im Auge, das Auge im Traum.
Und wenn schnell wie ein Rappe der
Sommer kommt, mit Zweigen dich süß
umhalset, wird Gottes Liebe
den Schnee verwehen und lauer
Regen Geschenk deines Himmels
dir senden.
Selca auf Brač, 16. Juli 1994
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Meine Radogna-Bucht
Du küssest mich, bringst heimlich mich zu Bett,
zurück in meine Kindertage, raunst mir ins Ohr
von goldnen Gipfeln, von silbern klingendem
Wehlaut leidender Inseln. Amors Pfeile beschwörend,
verwandelst du in eines Drachen Maul die Grotte.
Gezacktes Riff, Vaterunser im Rosenkranz, die Trauer
kroatischen Omens. Auf lodern die Flammen in den
Böen des Jugo, der die Zypressen sich neigen lässt.
Immer näher das Heim, und wie soll man mit dem
Atem des Meeres klagen: Nie werden wir vergessen dich.
Mein kauernd Herz an deinem Grab blickt durch geheime
Fuge in der Toten gleißende Welt. Sollen die Lebenden
die Lebendigen begraben. Schweigsam, in blaues Licht
gehüllt, schwebst Vater du über den weißen Klippeninseln.
In knarrendem Boot, mitten auf hoher, mit Wellen besäter,
von Inseln umrahmter See, bist du der Kapitän, der sicher
weiß, wo seine Heimat sich befindet. Wie könnte ich
vergessen dich, geliebter Vater, da ohne Unterlass ich an
der Schwester Brust dich wiege. Nives und ich, wir halten
an den Händen uns, als ständen wir vor einem Heiligtum,
die Lippen bewegend, prägen deinen Namen wir ein
in diese laue Luft des frühen Sommerabends. Wir
möchten deine Seele streicheln und lösen uns von
starrer Mole. Wir werden tanzen dann zu dritt,
geschmeidig wie Delfine über Wellenkämmen.
Osiris
Die Bienen aus dem Leib der Pyramiden
schwärmen des Nachts und nisten
im Sonnenschiff –
neben dem Steuer, auf dem Bug
und bei den Dollen.
Die Schatten der Ruderer und der goldene
Pharao in der Mitte
begleiten mit synchronen Seufzern
die Ruderschläge und fahren
über den himmlischen Nil dem
Orion entgegen, dem Orion entgegen.
Der Sand hat sich in Gold verwandelt,
das Wasser in Blut und der Honig
aus den Waben der Pyramidenspitze
– worin hat er sich verwandelt?
In Nahrung für unsere Seelen,
unsere seufzenden, stillen Seelen;
worin hat sich der Honig verwandelt,
den wir mit kleinen Löffeln essen?
Worin hat er sich verwandelt, worin?
117
118
RELA
Literarische Produktion
Dem Sohn Gottes
Ich gebe Dir Netz
und Welle, Dir, den ich liebe.
Mein Kuss,
flüchtiger als Luft,
leichter als Licht.
Du wirst mich fragen:
War da überhaupt ein Kuss?
Meine Antwort,
müde vom Anbruch des Tages,
wird sein:
TIONS
ohne
einen einzigen Menschen
an Deck.
Im Gedächtnis haftet
der Duft
von Eis und Meer,
der Glanz
eines gefrorenen Delphins
im Unterdeck.
New Delhi, 18. Juni 1998
Heute Morgen
kam ein mit Schnee
überladenes Schiff
***
Die Menschen fürchten sich vor Dornen,
mich aber verletzten Blüten.
Ivan, der im Sommer Geborene
„das kriegen wir schon hin“ pflegte der Vater zu sagen
dann aber prasselte wie zum Trotz
ein bitterer Regen auf sein graues Haupt
und sein Mund wurde bitter
der Bart härter
grau sein Gesicht, wie die Worte eines verletzten Vogels
und es war nicht leicht
weder für die Mutter noch für mich noch für die Schwester
auch nicht für die mit einem Regenbogen am Blitzableiter befestigten Wolken
der Vater überspielte den Gram der an ihm nagte
wir verstummten, spürten die Glut der heißen Kalkgrube
und winselnd wehrten wir uns
ich und die Schwester wie zwei Hündchen
wenn er uns auf dem Schoße hielt
und seinen scharfen Bart
an unseren blassen Gesichtchen rieb
bis das Blut seines Blutes
zu prickeln begann
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Der Thron
Dem Geborenen
vor der Ewigkeit
Sicherheit des Herzens,
Großzügigkeit des Geistes.
Sein Gewand
ein sanfter Zephir,
Aus seinen Händen
trinkt der Fremde Wasser.
Wärme der Liebkosung.
Nichts besitzt ihn.
Mit den Fingern
kämmt er das Haar.
Unermüdlicher Kläger,
sanfter Bettler,
Nicht nötig hat er
Glas und Kamm.
Gott schuf ihn
mit seinen Händen.
Nichts hat er nötig
für diese Welt.
Harvard, 1. September 2001
Gewicht
Ein Esel. Übergewicht des Tragsattels auf
einer Seite. Soll man das Gleichgewicht
wiederherstellen, indem man von der sich neigenden
Seite etwas fortnimmt oder zu der Last auf der
anderen Seite etwas hinzufügt? Gleichgewicht,
Schwere der Wahl.
Verteilung des Gewichts und Schwere der Entscheidung.
Ein Tier, das sich eine Last aufbürdet
und Steine der Illusion trägt und zum Umfallen
müde ist, sinkt von einer auf die andere Seite
und kann sich nicht entschließen zu brüllen:
Hier bin ich, meiner Last entledigt und frei
wie ein irdisches Geschöpf aus dem bitteren
Paradies der Küste. Lastesel, Traurigkeit des
unbeständigen Gleichgewichts.
Geweiht und geliebt sind diejenigen, denen Gott –
einen Gewichtsstein hinzufügend –
zum Gleichgewicht verhilft.
Das Kreuz, Gewichtsstein des Schicksals. Gewicht der Zeit.
Zagreb, 10. Juni 2004
119
120
RELA
Literarische Produktion
TIONS
Hand der Freude
Du gabst mir
alles,
was ich brauchte.
Wärme, Sicherheit,
Kraft und Liebe.
Ich gab dir
alles, was du brauchtest,
du Hand der Freude.
Meine Schwäche,
Unsicherheit,
Eis und Kälte.
Meine beiden
traurigen Hände.
Kalki
Als das grüne Delta des Nils
ich im Schnellzug durchquerte,
erblickte ich einen Bauern
auf weißem Esel,
der über Reisfelder stapfte.
Der Mann in langem weißen
Gewand, Verkünder einstiger
oder zukünftiger Verkörperungen
auf der Erde.
Es hätte Joseph sein können
oder sein erwachsener Pflegesohn,
vielleicht aber auch Kalki,
die letzte Inkarnation
des indischen Gottes aus dem
dreieinigen Bild.
Was bedeutet mir
der Ägypter in weißer
Galabiya, auf weißem
Eselchen, seitlich
aufsitzend?
All das, was ich sagte vom Advent,
zwischen vorher und nachher,
hauptsächlich jedoch das, was es ist:
ein Bauer auf einem Eselchen,
viel Weiß auf Grün.
Ein weißer Fleck
auf Grün.
Alexandria-Kairo, 20. November 1999
Lapis
So wie an der Nordseite
der Felsschlucht Moos
wächst, blühen an den
südlichen Hängen
Asphodille, recken
Schlingpflanzen sich empor.
Der übers Meer kommende salzige Wind
bringt Samen von Pinien
und Kiefern mit sich,
das Blau der Gräber
und ein Lied der Matrosen.
Majoran, dich will ich pflücken,
sollst meiner Liebsten Busen schmücken.
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Der Ackersmann
Pflug Gottes,
der du die karge Erde der Seele
lockerst
Lasse die Früchte
klein und schrumplig sein,
bittersüßen Geschmacks.
und Steinbrocken ausklaubst
mit scharfer Pflugschar,
Die Geister des Tisches und der Berge
sollen ungesäuertes Brot
auf den Lichtungen brechen.
hauche ein den steinernen Anhäufungen
und den Feldern Bračs
das Salz der Fortdauer.
Säe Drachensamen,
pflanze kleine Engelsflügel.
Was sprießt,
soll langsam heranwachsen
ins durstige Auge der Träume,
in den Kristall des Schnees.
Wie vom Ölbaum
umarmter Gneis –
ein Kuss zwischen zwei Mündern.
So wie das Meer
die Insel küsst,
allmählich, beständig,
so werden auch wir,
Kinder der Vorsehung Gottes,
uns von neuem lieb gewinnen.
Spalatum
Ein gebrochener Lichtstrahl versinkt im Grün,
und jene Stadt, die am fernen Ufer verharrt,
unbeugsam und unwirklich, lässt die Erinnerung schmelzen
und sinkt immer tiefer in finstere Keller.
Ausgewischt sind die Zahlen glücklicher Jahre,
derweil Schmerz und Zärtlichkeit – in einer einzigen Hand
Platz finden, mit einigen Namen, dem einen oder anderen Platz
und dem Gestank des Hafens.
Das gespenstische ockerfarbene Hafenamt
schwebt müde in den Raum der Jahrhunderte.
Als wäre ich nie dort gewesen,
winzig, verloren unter alten Palmen,
alle möglichen Katastrophen und heiklen Tode ahnend,
mit dem Rücken dem dunklen Palast zugewandt.
Und dort vorne, o weh, war das das Meer?
Hampstead Heath, 2. Juni 1984
121
122
RELA
Literarische Produktion
Der Sklave, der ein König war
Die Dinge, die dir gehören, nie werden sie von dir gehen;
auch wenn du sie fortwürfest, wie die Wellen ein Riff überrollen,
sie verlassen dich nicht; ständig kehren sie zurück,
wie das Meer zum Riff zurückkehrt. Was dir jedoch nicht gehört,
wird von dir gehen wie ewige Ebbe; es wird dir
weder Muscheln noch Algen zurücklassen,
sondern nur wertlosen Sand und die Leere einer Klippe.
Sklave, vergiss, dass du ein König warst,
wenn das Schicksal dir Ketten auferlegt.
Der verwaiste Elefant
Zimtgärten
ausgebreitet
über das wilde Gebirge.
der Krieger über die Barmherzigkeit,
der Dichter über die Götter
und den Tod,
Wir nahmen Abschied vom Meer,
und die sich spiegelnde See
ward geboren
in unseren Herzen.
und von dem
stillen Bettler
und von dir, verwaistem Elefäntchen,
was lernte ich
außer dem,
was ich schon wusste?
Mit einem einzigen Blick
nahmen wir alles wahr
und flochten
in einen Zauberteppich
unsere und fremde Herzen.
Wir ließen uns
auf den Wolken
zu den Bergvölkern
ins Gebirge tragen
und in einen überwucherten
Tempel niederlegen.
Der Fischer belehrte uns
über die Schönheit des Meeres,
der Arzt über das Mitleid,
Mich vor dem Bettler
verneigend,
vor dem kleinen Elefanten
auf die Knie fallend –
beendete ich meinen Dienst in Indien.
Von meinen Schultern ließ ich
die Tunika gleiten
und wandte mich
nicht um nach ihr.
Ich überließ sie dem Staub,
der Sonne, der Straße
und Gottes unbekannten Gästen.
TIONS
RELA
TIONS
123
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
124
RELA
Literarische Produktion
TIONS
Nadir
Auf schwinge ich mich zu dem lichten Nachen,
der festgebunden an Sternen liegt.
Und ich segle hinab mit den leichten Wellen,
die auf des Windes Flügeln sich brechen.
Das Seil zerschneid ich mit zaghaftem Messer
aus zu Kohle geronnenem uraltem Wald.
In Gold eingespannt das wilde Blau,
sink in die Tiefe des Meeres ich.
Brandstifter himmlischer Feuer
altkroatisches Lied
Erkennst du mich, derweil mit nassem Finger
ich über deine Stirn dir streiche, stechenden Schmerz
zu lindern? Scharf wie der Rand zerbrochenen Glases,
flammend wie Kroatiens Feuer. Ein Geschöpf bin ich,
das hinter dem Steinbruch des heiligen Mikula kauert,
im Felsgeröll, zwischen Schösslingen von Steineiche und Fichte,
das sich versteckt in der feuchten, uralten Kirche Apsis.
Ich schwebe in des Lavendels Duft, und zur Ruhe
begebe ich mich mit den Fledermäusen im Dämmerlicht.
Kinder und Jünglinge nur nehmen mich wahr in Nebelschwaden.
Engel des Zwielichts, Geist der Finsternis und des Unterscheidens,
Sohn des Uneindeutigen und allumfassender Barmherzigkeit
nennen die Insulaner mich. An meinen Flügeln haftet
Blütenstaub des Träumens und Schwaden früher Sterne.
Flüchtiger Gedanke, Knospe weißer Nachthyazinthe
im betäubenden Duft des Štambuk-Palastes. Leichte Brise
von Westen mit einer Herde flockiger Wolken an der Leine,
blühendes Mandelbaumzweiglein neben der Bordsteinkante.
Ruf der Eule im Palazzo und der baufällige, nackte Schornstein.
Rufst du mich an in der Nacht, breite sogleich meine Flügel
ich aus über steinerner Wunde, fliege hinab wie ein verliebter Soldat.
Mit den Augen verjage die wilden Tiere ich, vertreibe
die Raubvögel mit geräuschlosen Flügeln. Nenne mich,
wie du magst, ein Gedanke bin ich aus einem bedeutend
größeren Käfig, Gesang aus dem allernächsten Herzen.
Ich bin der Schatten deines Schattens, Wurzelwerk ins Haar
verkehrt, Schwere des Leichnams, geschaffen ganz zum leichten Flug.
Mit Adjektiven wie mit Federn schmuckvoll besetzt, verdopple ich
mit meiner Vielfalt die Kraft zum Anlauf, Sprung, Beisammensein
am abendlichen Feuer. Ich habe dich seit eh und je geliebt
und muss, ich Schweigsame, im Wasserhaus der Eumeniden sitzen.
RELA
TIONS
Drago [tambuk
125
Varanasi
Auf den Lippen der Finsternis
ist mein Wohnsitz,
auf den Wellen der Unendlichkeit
wiege ich mich,
ich klopfe an die Tür
meines Chaos’,
warum sollte ich sie öffnen?
Harmonie
Im Einklang mit dem Stein,
wie ein echter Bewohner Bračs,
lebt die Blaumerle –
vertraut mit der kalten Wärme der Felswand.
Atman ist mein Name,
unter dem Schnee Indiens
wurde ich begraben und zum Schweigen gebracht.
In meinem Körper kreisen
die Atome des heiligen Bharatt,
und nie werde ich mich
in den gleichen Körper inkarnieren.
Beobachter bin ich, beobachtet werde ich,
mein eigener Traum bin ich –
Jäger und Reh.
Pietas
Mögen sie uns nicht vergessen,
uns zerbrechliche Seelen inmitten der Asphodillen.
[Seferis, Mythistorema]
In meinen Armen hielt ich dich
und weinte stumm vor deinem Grab,
wusste doch, dass jeder Kuss ein
Stück von unseren Herzen nahm.
In meinen Armen hielt ich dich,
Falten von der Stirn dir streichend,
doch umsonst – sie mehrten sich wie
wildes Unkraut nach dem Sommer.
In meinen Armen hielt ich dich,
Todesworte im Krampf schreibend,
ach, dein Körper leblos war er,
und ich küsste einen Toten.
In meinen Armen hielt ich dich,
wie einst sie den toten Christus.
Ende nur und Stille sah ich
hinter kahlen, blauen Bergen.
In meinen Armen hielt ich dich,
glaubte, Regen müsse stürzen
bald herab aus schwarzem Himmel,
letzte Rosen mit sich reißend.
In meinen Armen hielt ich dich,
wir waren tot seit eh und je,
Tränen habe ich vergossen,
netzten kalt sie deine Stirne.
Hampstead, 28. Dezember 1985
126
RELA
Literarische Produktion
TIONS
***
Schnee auf dem Vidovica-Berg.
Eine Flocke im Auge des Zyklopen.
Über der Adria Gottes Träne.
Split
Die Weite der Zeit lässt entstehen dich und vergehen.
Eine Spur Honig und ein Tropfen Wermut.
Dämmerlicht und Meeresleuchten.
Delfin und Schwalbe.
Sterne in der Höhe und Gräber in der Tiefe.
Dazwischen – Nuancen der Trauer.
Wohin entschwand die Freude?
In welches verborgene Nest der Zypresse
legt die Blaumerle ihres Todes Ei?
Zagreb, Ostermontag, 28. März 2005
Die Insel
Das umgekehrte Meer ist dieser Berg
von Luft umgeben statt vom Festland
Das reinste Blau ist dieser Berg
ist es ein Berg oder das Meer
Im Meer betrachtet sich der Berg
es spiegelt sich im Berg das Meer
Ich stehe auf des Berges Gipfel
und glaube fast es ist das Meer
und fühl mich wie ein Uferfischchen
Unmöglich dass dies kleine Haus kein Schiffchen ist
die Wolken keine Küstenfelsen
Unmöglich dass das Meer dort unten
kein Berg der auf dem Kopf steht ist
Aus dem Kroatischen von
Hedi Blech-Vidulić
RELA
TIONS
127
Brač, Auge des Zyklopen
Drago Štambuk
enn wir glauben, dass durch
die Scheidung der Erde vom
Himmel die Welt erschaffen wurde,
dann entstand durch die Trennung
der Inseln vom Festland ein Raum,
den wir als insular bezeichnen. Der
Inselraum liegt in einem horizontalen Parallelogramm. Wenn aber
ein vertikales Parallelogramm hinzugefügt, eingefügt wird, bestehend
aus ungenügend vom Himmel geschiedener Erde, mit eingezeichneten
Verwachsungen oder Verbindungen,
dann bekommen wir ein Spatium,
das sowohl spirituell als auch real
ist, senkrecht wie waagerecht, durch
das Meer eben, aufrecht durch die
Gebirge.
W
Brač ist ein punctum, ein materieller
Punkt in dem gerade auf diese Weise
überkreuz schraffierten vielschichtigen Raum. Gott liebte es so sehr, dass
er ihm in seiner Schöpfungsbegeisterung kaum erlaubte, sich durch Trennung von Ihm zu entfernen. Daher
die besondere Aura, eine andere Bezeichnung für genius loci und die vergeistigte Energie des Raums, die jeder nur einigermaßen empfindsame
Besucher spürt, ganz besonders aber
die Bewohner Bračs. Die Insel, eine
ellipsoide Form, gekrönt vom Berg
Vidova gora, auf gleicher Ebene mit
dem Meer und verbunden mit seinem nahen Festlandbruder, dem Gebirgsmassiv Biokovo. Mit karstiger
dinarischer Erde, die den tiefblauen
Himmel trägt und einem Himmel,
der die Erde widerspiegelt, ist Brač
auch ein himmlisches Volumen, gestützt auf den Karst, mit vom Meer
getränktem Saum.
Hoch über Brač, über dem Vidovica-Berg (Vidovica ist eine andere Bezeichnung für Vidova gora; Anm. d.
Übers.) steht ein Schweifstern, der
mit Feenhaaren des Lichts die Insel
hinaufzieht, mit einem Bernsteinund Sonnengespann allmählich aus
dem Meer hebt und sie vielleicht eines Tages für immer wie einen Edelstein emporhebt, in das Metall des
sich verdichtenden Himmels einfügt
und durch eine solche Einfassung
bewahrt, sie hinüberträgt in die Unendlichkeit – als ein Gebäude von
ewiger Dauer.
Während ich als Junge in meinem
Heimatort Selca auf Brač lebte, geschah es manchmal, dass ich, erregt von der Schönheit der Insel,
beim Schein der Petroleumlampe des
Nachts Landkarten einer imaginären Welt zeichnete. Alles war erfunden außer Brač. Meine Insel war der
einzige feste geografische und geistige
Punkt, real wie die Blüte des Mandelbaums im Frühling, Mittelpunkt alles Bekannten und Unbekannten. An
ihre südlichen und nördlichen Ufer
zeichnete ich Festländer und Kontinente, setzte sie an ihrer westlichen
Einbuchtung fort, fügte neue Inseln
und Inselchen, Eilande und Klippen
hinzu. Staaten und Königreiche.
Selca war omphalos, umbilicus, die
Nabel-Stadt. Brač die nächste Größe,
von der aus ich die Welt beherrschte. Kämpfe führte mit Flotten und
Armeen. Und nie geschah es, trotz
aller Schwierigkeiten, dass ein fremdes Heer die Insel eroberte. Brač einzunehmen war einfach unmöglich,
unmöglich wie den eigenen Mund
zu küssen. Brač eroberte immer die
anderen. In meiner kindlichen Fantasie war es der goldene Hebel, der
mich die Länder durchschreiten und
mir zu eigen machen ließ. Axis mundi, die zuverlässigste Stütze und das
Postament meines Lebens und meiner Fantasie. Die Grundlage meines
Daseins ist im Wappen der Gemeinde Selca zu sehen, der östlichsten Gemeinde Bračs. Hacke und Keilhammer. Das erste Werkzeug bearbeitet
die Erde, das zweite den Stein. Das
erste lockert die Erde auf und wirft
die Steine hinaus, um danach steinerne Anhäufungen zu schaffen, eine
Geometrie des Herzens. Das zweite
gibt den Steinblöcken und den behauenen Steinen für den Hausbau ihre Gestalt, und verschiedene feinere
Werkzeuge formen Gesichter, Arme,
Kanten. Es lässt Schotter entstehen
und weißes Steinmehl, die Speise
hungriger Engel.
Jenes Handwerkszeug prägte mich
und machte mich wie jeden Bewohner Bračs – zum Feldarbeiter und
Steinmetzen, gewöhnt an ein ewiges
Ringen mit dem weicheren und lo-
128
Literarische Produktion
ckeren Element Erde, und mit dem
harten Element, dem Stein. Es lehrte uns den Wettstreit untereinander
und des einen im anderen. Danach
auch, die meist karge Erde zu vermehren und zu bewässern, den Stein
zu bearbeiten und aufzuschichten zu
Trockenmauer, Schutzhütte, steinerner Anhäufung und schließlich zu Palästen von erstaunlicher Einfachheit,
wie jene der Familien Štambuk und
Didolić in Selca. Bei der 1869 beendeten Errichtung des Palastes meiner
Steinmetz- und Baumeisterfamilie
wurde jeder einzelne Stein meisterhaft und liebevoll an Ort und Stelle
bearbeitet, und die Kunstfertigkeit
und Präzision durch den „Kuss“ –
einer Vielfalt metaphorischer Küsse
der Ausführungsarbeiten – veredelt.
Bei einer solchen geistigen Bearbeitung küssen sich die Steine eng aneinander geschmiegt, wodurch die
so genannte mörtellose blinde Fuge
entsteht. Am Palast Štambuk küsst
jeder Stein den anderen, und das Bindemittel, dauerhafter als jede andere
Legierung, ist die Liebe. Meine Baumeister-Vorfahren waren Geliebte
des Steins. Von der Zärtlichkeit und
Schönheit jenes vollkommenen Kusses und seiner Ewigkeit zeugt die Berührung der sich liebkosenden Steine
des Palastes meiner Jugend, erbaut im
Herzen Selcas, neben der schneeweißen Kirche des Allerheiligsten Herzens Jesu, die ebenfalls ein Werk der
gleichen Meister und der höchste
Orientierungspunkt im Ort ist.
Zu unserem großen Unglück zündete am 9. August 1943 die italienische Besatzungsmacht zur Vergeltung mein Heimatdorf an, und alles verbrannte in einem dreitägigen
Feuer, von dem Selca sich nie mehr
erholte. Deshalb ragen auch heute
noch mehr als fünfzig Ruinen, unter
ihnen auch die des Palastes Štambuk,
in den Himmel, und ihre schwer begreifliche Schönheit verwundete und
kennzeichnete mich wie der glühen-
de Stempel, der den Flanken des
Viehs aufgedrückt wird. Ich erinnere mich, wie mein großmütiger Vater, der damalige Gemeindevorsteher,
schmerzerfüllt davon erzählte, wie
schrecklich jenes Ereignis war und
wie es ihm trotz übermenschlicher
Anstrengung, das Dorf zu retten, nur
gelang, die Menschen zu retten, die
aus der Ferne, von einer Anhöhe aus,
ihre Heimstätten in apokalyptischen
Flammen brennen sahen.
Das mühselige Umgraben der mit
Steinen vermischten Erde und ihr
mühsames Vermehren lehrten mich
Beharrlichkeit im Ergründen von
Wachstum und Verwandlung – auf
dem Weg vom Schössling und Samen bis zur Frucht und ihren edlen
Nachkommen: dem Wein, dem Öl,
dem Sauerkirsch-Sirup ...
Der Stein und seine Bearbeitung
lehrten mich Fantasiereichtum bei
der Wahl und der Kraft des Schlages,
beim Abwägen eines gezielten Entzweibrechens des Steins, bei der Berechnung genau des Punktes, der sich
beim Auftreffen des Schlages perfekt vervielfacht. Sie lehrten mich
das Abgrenzen und Umranden eines Raumes, lehrten mich Stein an
Stein zu lehnen, das Gleichgewicht
der Mauer zu wahren, das Dach zu
stützen; Festigkeit und Härte, Massivität und Eleganz, Ethik und Prinzipientreue. Eine Eigenschaft des Menschen von Brač ist Gerechtigkeitssinn, und sie geht Hand in Hand
mit seinen Überlegungen. Mit jenen
Überlegungen, mit denen er Lebensräume mauert.
Die See als drittes kontextuelles Element lehrte mich mit ihrem wogenden, silbrigen Meeresspiegel das
Wasser zu befahren, mich nach Fernen zu sehnen, Tiefen und Höhen
zu erahnen, mich nach unbekannten
Ländern und dem Sternenhimmel zu
sehnen. Nach dem Reich der Fische
RELA
TIONS
und dem Meeresgrund. Sie lehrte
uns, in die Realität Nuancen des Irrealen einzuflechten.
Alle drei Elemente – die spärliche
Erde, der üppige Stein und das funkelnde Meer prägten tief in mir die
Liebe für mein Dasein, das so innerlich und nah, und wiederum fern
und unzugänglich ist, kaum brauchbar in den Strudeln des Lebens. Aber
allein die Erkenntnis, dass ich mich
auf den Duft eines Veilchens verlassen kann, den Geschmack eines vor
langer Zeit gegessenen Steinpilzes,
auf das Beben der Blätter an Vaters
Ölbaum, dass ich das Gold des Öls
und die violette Farbe der Smutica
(ein Getränk der Insel Brač, zusammengesetzt aus drei Teilen frischer
Ziegenmilch und einem Teil puren
Rotweins) wahrnehmen kann, macht
mich andersartig und so viel stärker
als jemanden, dem die geheimen
Schönheiten Bračs und die tödlich
berauschende Aussicht vom Berg Vidovica unbekannt sind.
Aus der Liebe zu seinem Dasein ging
auch die Liebe des Menschen von
Brač zur Welt und zum Kosmos hervor. Zu ihnen führte mich vor allem
das Meer. Jedes Mal, wenn sich eine
Welle über die Klippen ergoss, wurde
sie von einem Seufzer begleitet, und
eine Seele aus ferner Welt erreichte
meine Insel; und obwohl dünn besiedelt und fast leer, durch häufiges Aussiedeln allmählich verkleinert, war sie
in meiner Fantasie der dichtest besiedelte jungfräuliche Abschnitt der
Welt. Weil es eine Insel ist, ist Brač
eine Welt für sich. Alles gibt es auf ihr,
alles geht aus ihr hervor und kehrt zu
ihr zurück. Ein parthenogenetisches
Geschöpf, und mit Neugier ausgerüstet wie eine Haselmaus nach Mitternacht. Wenn ich mich auch keinen
einzigen Schritt von ihren Ufern entfernt hätte, so würde mir der Aufenthalt auf der Insel doch vollkommen
genügen für alle Entdeckungen und
RELA
TIONS
Drago [tambuk
Reisen, die ich im Leben zu unternehmen beabsichtigte.
le sich mir öffnenden Ausblicke und
Landschaften verdanke.
Mystisch auf felsiger Höhe die Einsiedelei Blaca mit ihrer Gebets- und
Arbeitsteilung (ora et labora), ihren
sternkundlich-observatorischen Quellen. Die Insel kämpferisch im Norden, sinnlich und poetisch an ihren
südlichen Stränden und Hängen. So
auch griechisch und römisch, der
Sprache nach slawisch und lateinisch,
den Genen nach illyrisch, meine geliebte kroatische Insel, Wiege und
Schwelle, Altar und Grab, der ich al-
Denn ich bin Brač und seine Verankerung. Vor meinem geistigen Auge
ruft es die Erinnerung hervor an das
blaue und mächtige Biokovo-Gebirge, das blau-graue Meer, kristallklare
Morgen, die scharfen Umrisse von
Hvar, Korčula, Vis, den Bergkamm
von Pelješac, den Berg Vidova gora –
von dem aus der Insulaner die Schönheit mit seinen Blicken genießt, die
Welt wie auf der flachen Hand vor
sich haltend kontrolliert. Eine Insel
129
ist alles, was der Mensch des Mittelmeers und des Weltalls braucht. Eine
glühende Senkrechte und das Auge
des Zyklopen.
Ohne Brač gäbe es die Welt nicht,
denn die Welt könnte sich ohne Brač
nicht sehen.
Tokyo, 12. November 2005
Aus dem Kroatischen von
Hedi Blech-Vidulić
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
130
Branislav Glumac
RELA
TIONS
BRANISLAV GLUMAC, geboren am 10. 6. 1938 in Smederevo. Gymnasium
in Virovitica, Studium der jugoslawischen Literaturen an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Lebt seit 1958 als professioneller Schriftsteller
in Zagreb. Erste Lyrikveröffentlichungen 1953 in der Zeitung „Virovitički
list“. Schreibt Erzählungen, Novellen, Romane, Dramen, sowie Literaturund Kunstkritiken in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (Krugovi,
Prisutnost, Književnik, Polet, Vidik, Delo, Književne novine, Forum, Kolo,
Republika, Suvremenik, Telegram, 15 dana, Polja, Revija, Književna republika usw.) über drei Jahrzehnte lang befasst er sich mit der zeitgenössischen
kroatischen bildenden Kunst. 1980 schenkte er der Stadt Virovitica hundert
Bilder und fünfundzwanzig Skulpturen verschiedener Autoren (von Gecan
und den Brüdern Hegedušić bis zur jüngsten Generation), die als „Donation von Branislav Glumac“ seither im Schloss Pejačević ausgestellt sind.
Seine Gedichte und Erzählungen wurden ins Bulgarische, Französische,
Mazedonische, Polnische, Slowakische, Slowenische und Italienische
übersetzt. Das Buch Zagrepčanka wurde 1997 ins Deutsche übersetzt, das
Buch Ljubavna režanja ins Englische und Französische.
Veröffentlichungen:
Pjesme (mit Zvonimir Majdak und Alojz Majetić), Lykos, Zagreb 1960; Otok, Ćirpanov, Novi Sad 1960; Posljednji živi
mrtvac, Zora, Zagreb 1965; Pohvatajte male lisice, Naprijed, Zagreb 1966; Unutrašnji pejsaži, Mladost, Zagreb 1966;
Sjećanje, Fernsehdrama, Zagreb, 1966; Negdje na kraju, Fernsehdrama, Zagreb, 1967; Prepušteni, Fernsehdrama,
1971 – verboten; Zagreb, 1995 – uraufgeführt; Zagrepčanka, Roman, Zagreb, 1974 – bis 1994 12 Auflagen; Theateradaptation: Klub HNK, Zagreb 1976; Albanische Übersetzung Zagrebasja von Naim Siqani, Shtepia Grafike V.I. Print
Mitrovice, 2010; Moja prva ljubavna pjesma, Anthologie, Mladost, Zagreb, (drei Auflagen), 1973; Ljubavna režanja,
August Cesarec, Zagreb 1976; Žut pra konj, Zagreb 1976; Antologija suvremene makedonske poezije, (mit P. Kepeski),
August Cesarec, Zagreb, 1979; Bjegunac, Fernsehdrama, Zagreb, 1978; Naopako, Monodrama, Teatar &TD, Zagreb
1979; Pasji praznik, Roman, Mladost, Zagreb 1980; 10 priča o ljubavi, za ljubav, i protiv ljubavi, Iros, Zagreb 1981;
Kritika hrvatske „književne kritike“, polemische Texte, August Cesarec, Zagreb, 1982; Deset priča o ljubavi, za ljubav
i protiv ljubavi, Zagreb 1986; Svi moji ljudi (Erinnerungen und Gespräche mit Zeitgenossen), Mladost, Zagreb 1987;
Pokusni čovjek, Roman, Mladost, 1991; Za dom spremni, Jazavac, Zagreb 1994; Brijeg hijena, Roman, VBZ, Zagreb
1998; Tko je tko u Hrvatskoj, Drama, Theater Vidra, Zagreb 1998; Jezičina, Drama, Tvornica, Zagreb 2002; 62 pjesme
i jedna radosna, VBZ, Zagreb 2002; Završna dionica, VBZ, Zagreb 2003; Razgovori sa slikarima (Oko, ruka, kist), VBZ,
Zagreb 2005; Ljekarna od vremena, Gedichte, VBZ, Zagreb 2006; 145 sjećanja na ljude. (o)smijeh.hranu.alkohole.
duhan..., Nachwort Tonko Maroević; VBZ, Zagreb 2008; Kazaljke oko očiju, Gedichte, VBZ, Zagreb 2010
RELA
TIONS
131
Die Prosa des Branislav Glumac
Marijan Matković
D
ie Prosa des Branislav Glumac,
jene bis jetzt veröffentlichte und
die in dem Buch vor uns, ist auf privaten Lebensmotiven aufgebaut. Das
heißt: Glumac bearbeitet jeden seiner Helden, jede Situation, in der
sich jener Held befindet, gemäß den
Umständen, die er selbst sowohl als
Mensch wie auch als Künstler erlebt.
Wenn die Biographie irgendeines
kroatischen Schriftstellers irgendetwas aussagt über sein Werk, dann
sagt die von Glumac am meisten
aus. Die Tatsache, dass er in der Ebene aufgewachsen ist, in einer freien
Landschaft, zwischen Menschen, die
an die Erde gebunden sind, aus der
sie wuchern, vergisst dieser talentierte Erzähler niemals noch kann er es
vergessen, weil gerade das der Fundus
ist, aus dem er die Kraft schöpft, dem
Ansturm des scheinbar entfremdeten
Lebens in der Stadt – dem Ameisenhaufen zu widerstehen, sich zu behaupten. Besessen von seiner Kindheit, und wir erwähnten, wo diese
Kindheit verlief, urteilt Glumac niemals leichtfertig über die Menschen,
die er heute trifft, über seine Reisegefährten und Schicksalsgenossen in
einer Mitte diametrisch entgegengesetzt jener, aus der er entsprang, niemals schildert er sie in ihrem Scheinbilde, in nackter Erscheinung, sondern forsch nach, sucht im Menschen
den Grund, seinen wahren menschlichen Ausgangspunkt, den versteckten Funken der Menschlichkeit. Es
ist also klar, dass die Prosa dieses
Schriftstellers notwendig zwei entgegengesetzte Lebenstatsachen enthält: jene lyrische, mitgebracht aus
der Kindheit und diese grobe alltägliche. Der Zwiespalt dieser Eigenarten ist in jedem seiner Helden anwesend und daher alle jene Überraschungen, mit denen uns der Autor
in seinen Untersuchungen geradezu
überschüttet: der Mensch ist niemals
so entmenscht, dass wir nicht in ihm
einen Funken fänden, aus dem immer wieder seine verdeckte Menschlichkeit auflodern kann.
Diese Novellen, klar geschrieben, in
Standardsprache, psychologisch motiviert und kommunikativ erzählend,
bestätigen einen modernen und exzellenten Prosa-Schriftsteller.
Aus dem Kroatischen von
Boris Perić
132
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
TIONS
RELA
TIONS
133
13 Kurzgeschichten,
die vierzehnte kommt per EU-Post
Branislav Glumac
Der Sturm
D
as Haus, in dem meine Frau
und ich diesen Sommer gewohnt hatten, war einem Wald zugekehrt, der Nachts zu singen begann; in der Tat, der Wind, der vom
Meer kam, wehte durch die Baumkronen und spielte mit ihnen, sodass
die klänge dieses Spiels, des Waldes
und des Windes, in voller Reinheit
in unser Zimmer drangen, um dort
abzuklingen.
Es war ein schauriges Spiel und wunderschön zugleich.
An diesem Abend kehrten wir früh
vom Baden zurück, das Meer rief
verführerisch nach meinem Körper,
meinen Armen und meinem Haar,
meine Frau und ich hatten an diesem
Tag aber gestritten und wie es sich
in solchen Situationen eben ergibt,
ließen wir das Meer Meer sein und
gingen in unser Zimmer, um unseren
Streit fortzusetzen. Der Charakter
dieses Streits war ein derartiger, dass
es sich nicht lohnt, ihn näher zu beschreiben. Wir stritten, wie die meisten Leute, um Kleinigkeiten.
Wie ich bereits gesagt habe, kehrten
wir schweigend aus unserer Bucht
zurück. Ich blickte zu Boden und
vergnügte mich damit, mit dem Fuß
gegen Steinchen zu treten: was mir
besonderes Vergnügen bereitete, war
jenes weiche und sanfte Geräusch,
als die Steinchen ins fielen Meer –
plumps, plumps, plumps.
Meine Frau ist milde und sanft, wenn
wir aber Streit haben, bekommt sie
das Gesicht eines kleinen Tierchens.
Und ich muss zugeben, dass ihr dieses Gesicht eines kleinen Tierchens in
solchen Augenblicken sehr gut steht,
obwohl mir das ganz und gar nicht
gefällt, denn ich mag das sanfte, kindliche Gesicht meiner Frau.
Das Meer wurde matter, gerade als
wir vor unserem Haus angelangt waren: dunkel schwoll es an, die Kronen
der Wellen waren weiß.
Während wir das Haus betraten, drehte ich mich um, um Pjotr zu grüßen,
einen kleinen, hinkenden Jungen,
meinen Freund.
– Ciao, Pjotr.
– Ciao, Kater.
Er nannte mich Kater, ich weiß nicht
genau, warum er das tat. Ich bin zwar
von solider Statur, zumindest nimmt
mein Einbildungsvermögen so etwas
an – ich bin weder mickerig, noch
dick, noch bin ich einer von jenen,
die mit ihren Muskeln protzen würden, eher eine Art Mischung aus diesen Typen, ziemlich behaart, mit
leicht nach vorne gestreckter Brust,
weil mir das zusagt. Ob Kater oder
nicht, mir gefiel dieser Pjotr, mit dem
ich Abends Feigen stehlen ging, mit
dem ich mich ängstigte, während
der Wind über die Hügel rauschte
und wir dalagen und zitternd vor
Angst Feigen aßen. Wir ängstigten
uns tatsächlich.
In diesem Moment hätte ich gerne
mit Pjotr getauscht, wäre gerne ein
kleiner Junge gewesen, während er
mit meiner Frau gestritten hätte. Das
wäre ein herrliches Erlebnis, denn
Pjotr, das muss ich ihnen sagen, gab
gerne deftige Schimpfwörter von sich
und hätte sie bestimmt an einen herrlichen Ort gewünscht.
Wir waren schon an der letzten Stufe
angelangt, vor dem Eingang zu unserem Zimmer, das Rauschen des Meeres schlich jedoch unaufhaltsam meinen Fersen hinterher und die Wellen
dröhnten nach wie vor in meinen
Ohren – uuuum, uuuuuuum.
Meine Frau trat als erste ein und
warf ihre Sachen mit einer derartigen Heftigkeit auf den Boden, dass
ich dachte, sie würden, wären sie Lebewesen, nun bestimmt Eingeweide und Seele ausspeien. Aber auch
Dinge haben ihre Seele und mir tat
es leid, dass sie sie mit solcher Wucht
hingeschmissen hatte: die Karten flogen in die Ecke, die Luftmatratze
streckte traurig alle Viere von sich,
das Badetuch blieb irgendwo hängen
und so weiter.
Ich blickte durchs Fenster, auf die
bläulichen Hügel und danach auf die
schäbigen Dächer der Nachbarhäu-
134
RELA
Branislav Glumac
ser. Ich wartete auf den Kampf und
bereitete mich auf eine lange und zähe Verteidigung vor.
Seltsamerweise schwieg meine Frau
aber. Bevor sie sich aufs Bett legte,
spuckte sie kräftig und widerlich wie
ein Mann. Nie zuvor hatte ich meine
Frau spucken sehen. In diesem Augenblick schämte ich mich meiner
Frau, weil mich mit dem Anblick ihres Speichels das gesamte weibliche
Geschlecht plötzlich anekelte. Ihres
Speichels, der das Fenster getroffen
hatte und dort noch eine Weile kleben blieb: was weiter mit ihm passierte, interessierte mich nicht mehr.
Ich weiß nur, dass von diesem Augenblick an dieser Speichel an meinem Gehirn und meiner Gedächtnis
kleben blieb.
Langsam ging ich aufs Bett zu und
legte mich hin. Ich war wütend, und
so spuckte ich ebenfalls, nur aus liegender Stellung; der Speichel flog
wie ein Pfeil aus meinem Mund und
machte erst am Nachbarsdach halt,
denn die Häuser steht am Meer so
dicht aneinander, zusammengedrängt
wie Schwestern, als wären sie alle von
ein und derselben Fantasie und ein
und derselben Hand gebaut worden.
Meine Frau sah mich an und sagte
mit fürchterlicher Stimme: Pfui!
Ich war außer mir. Pfui! dachte ich.
Und dein Speichel? wollte ich sagen.
Meinst du, du wärst besser dran, nur
weil sein Umfang geringer war? führte ich den Gedanken fort, den ich
schließlich doch nicht in die Tat umsetzte: in einen sehr ärgerlichen Satz.
Ich blickte weiterhin durchs Fenster und spürte, wie sich der wohltuende Abend in meinen Augen breit
macht. Für mich ist das ein besonderes Vergnügen: die Augen dem
Schwall der Dunkelheit entgegenzuhalten, sie dann langsam zu schließen und wieder zu öffnen, an schöne Dinge zu denken, die es auf dieser Welt gibt, an Kontinente, die ich
gerne besuchen würde, um von dort
nicht mehr zurückzukehren. Min-
destens hundert Jahre lang. (Das ist
ein schöner Gedanke: Verreisen und
nicht mehr zurückkehren.)
Ein schöner, entzückender Abend
steigt von den Hügeln hinab und
reizt meine Fantasie. Meine Frau
schläft nicht. Ich spüre ihre schönen,
aschefarbenen offenen Augen und
verspüre den unstillbaren Wunsch,
ihr von meinen nicht begangenen
Reisen zu erzählen, davon, wie schön
es wären, zu Fuß bis ans Ende der
Welt zu gehen. Würde ich ihr das
aber sagen, würde sie schweigen und
meine Romantik würde eine Niederlage erleiden. Deshalb trotze ich ihr
und schweige, und werde alleine verreisen, irgendwann, und nicht mehr
zurückkehren, mindestens hundert
Jahre lang. Aus Trotz.
Jetzt sind wir Feinde, zwei Fremde
und an diesem Abend ist uns nichts
mehr gemeinsam. Wahrscheinlich
hassen wir uns auch schon ein wenig (denn zwei Wesen hassen einander gerade, wenn sie schweigen)
und ich würde sie in diesem Augenblick um keinen Preis der Welt küssen wollen.
Sie kehrt mir jetzt demonstrativ den
Rücken zu, ihren Hintern, und ich
würde ihr diesem am liebsten versohlen. Wäre ich ein richtiger Mann,
würde ich das auch tun, aber ich achte diesen Teil des weiblichen Körpers
und meine Hände sind ruhig.
Die Zeit vergeht, die Wanduhr zählt
die Sekunden, wie ein kleines Nagetier.
Die Nacht ist nicht mehr mild: ich
spüre, dass das Meer irgendwie sonderbar zu brausen beginnt und dass
mir eine besondere Nacht bevorsteht.
Vielleicht eine Nacht mit Sturm und
Wind.
Es ist das erste Mal, dass ich längere
Zeit am Meer verbringe. Bisher habe
ich noch keinen richtigen Sturm erlebt, deshalb wünsche ich ihn mir so
heftig und abenteuerlustig herbei.
Tatsächlich, als gehorche es meinem
Wunsch, rauscht das Meer immer
TIONS
heftiger, der Wind fegt blitzartig von
allen Seiten her, die kleinen, zugeflickten Fenster beben, die Lampen
schaukeln und spielen sich gegenseitig in eine unheimliche Stimmung
hinein: die gesamte Natur ist in Aufruhr, unruhig und voller Zorn.
Das Meer und der Wind übertreffen
einander an Kraft und Wildheit.
Der Wald, der unserem Zimmer gegenüber ausgelassen tobt, sieht aus
wie ein schreckliches, schwarzes, erregtes Ungeheuer: das Haar dieses
Ungeheuers ist wirr, zerzaust, dann
beruhigt und entspannt es sich, um
sich darauf wieder mit dem Wind
und dem Meer solidarisch zu zeigen. Und dieser Wald ist nun unser
gemeinsamer Feind, obwohl er uns
so viele Male seinen kühlen Schatten, seine Tannennadeln und was
weiß ich was noch alles als Bett angeboten hatte.
Mein Körper zittert, meine Nerven
beben, schreien: Millionen von Ameisen und kleinen Käfern laufen meine
Haut auf und ab und ich möchte,
dass alles um mich herum still ist,
dass meine Frau dicht bei mir liegt,
das wir uns aneinander schmiegen,
eins werden und uns so der aufgereizten Natur widersetzen.
Meine Frau hat sich etwas bewegt,
was mir Freude bereitet, da ich in dieser Geste ihre Angst erahne. Ich versuche, so ruhig wie möglich zu bleiben, um den tatsächlichen Zustand
meiner Seele nicht preiszugeben: soll
sie denken, ich genieße das Wetter,
diesen entsetzlichen Sturm.
Aber eine unterschwellige Angst staut
sich in mir an und ich spüre, dass ich
an diesem Abend um mich herum
so viele Feinde habe: meine Frau,
das Meer, den Wind, den Wald, die
Natur, die Wolken und so viele andere winzige, boshafte, gut getarnte
Feinde.
Es ist ein richtiges Spiel: ich bin der
Feind meiner Frau, sie der meinige, zusammen sind wir die Feinde
des Meeres, des Windes, des Wal-
RELA
TIONS
Branislav Glumac
des, während sie unsere Feinde sind,
und alle spielen wir stumm; einmal
sehen wir aus wie Sieger, einmal wie
Deserteure, ein andermal wieder wie
Feinde.
Jetzt kämpfen meine Frau und ich
stumm gegen die Natur; der Sturm
treibt uns ins gleiche Lager.
Noch immer schweigen wir, aber
unsere Körper bewegen sich aufeinander zu und beginnen, sich zu berühren: unsere gegenseitige Abneigung geht in Wärme über, ihre glatten Beine befinden sich zwischen
meinen, nur unser Bewusstsein, unsere Köpfe und Arme, leisten noch
Widerstand.
In diesem Augenblick stößt der Wind
mit Gewalt gegen ein Dach, von
dem etwas abbricht und hinunterfällt: ich hatte Angst, aufzustehen
und nachzusehen, was es war, ich
hatte aber auch Angst, das Fenster
zu schließen.
Der Sturm war nun in unser Zimmer eingetreten: zuerst der Wind,
dann das Rauschen des Meeres und
schließlich der Wald, der sich ganz
in Bewegung gesetzt und seinen Ort
gewechselt hat. Nun lebten wir zwischen Bäumen, um uns herum tobte das Meer. Wir lebten schweigend
und verängstigt. Unsere Hände, die
ihrigen und die meinigen, fanden
im Dunkel zueinander: fest schlossen wir sie zu einem Blumenstrauß
zusammen. Wir waren nicht zugedeckt, waren nackt (denn am Meer
Alles ist so unsicher
I
ch glaube, es war das Haustor,
ich glaube, an diesem Nachmittag
sprühte ein feiner, fettiger Regen, ich
glaube, die Straßen waren leer und
traurig. Ja, die Straßen waren leer und
traurig, es sprühte ein feiner, fettiger
Regen und ich stand im Haustor. Wie
in einer Vertiefung in der Zeit, unter
einem Deckel aus Beton, über dem
die Menschen ihre Zellen gebaut haben. Vielleicht dachte ich damals gerade daran, wie sich an solchen Nachmittagen die linke Halbkugel der Erde in einen riesengroßen Schlaf- und
Schnarchraum verwandelt, während
die rechte Halbkugel gerade erwacht,
mit dem schwarzen Schleim der Bitternis im Mund. Vielleicht, sage ich,
denn an verregneten Nachmittagen
sind die Gedanken unsicher, brüchig
und zerrissen. Gut, soll es eben sein.
Rechts vom Haustor befand sich eine Buchhandlung. Ihre Auslage: eine Kartothek und eine Geschichte
des menschlichen Denkens, von der
Hand des Buchhändlers in dichten
Reihen aufgestellt. Der Mensch wird
unwillkürlich kleinmütig, wenn er an
all die menschliche Mühsal denkt,
die da aufgeschrieben und in den
bunten Abteilungen der Regale zusammengepfercht ist. Da läuft es einem kalt den Rücken runter. Gibt
es denn überhaupt noch etwas neues
zu sagen, bei all den Bergen von Büchern? Das ist sowohl der Sockel, als
auch die Spitze der Menschheit! Die
Weisen! Alles haben sie bereits gesagt,
alles erkannt, alles, allein bei diesem
Gedanken bekommt man schon eine Gänsehaut. Durch die Luft aber,
durch die grauen, fettigen Regenfasern stieg mir von irgendwoher so
verlockend der Duft von Rindfleisch
in die Nase und beruhigte damit meinen Hunger, der erwacht war, wie ein
verschlafenes Tier. Es war gut, dass
die Verkäuferin in der Buchhandlung gerade in diesem Augenblick
Probeplatten aufgelegt hatte, zuerst
135
schlafen die Menschen Nachts immer nackt) und uns war kalt. Aber
wir durften uns nicht bewegen: der
Sturm und die Angst hatten uns in
ihren Bann gezogen.
Wir atmeten nur, wie zwei erschrockene Tiere, pressten uns aneinander und wurden eins: jetzt liebte ich
meine Frau sehr und wollte ihr etwas
liebevolles sagen.
Der Sturm tobte nach wie vor und
dauerte bis zum Morgengrauen an.
Als alles ruhig, still und zahm geworden war, nahmen unsere Körper
langsam voneinander Abstand und
wurden kalt.
Wieder waren wir Feinde.
Zwei stumme Wesen im Spiel der
Natur.
Mendelssohn, dann Gershwin, weil
einem Käufer Gershwin offenbar viel
besser gefiel als Mendelssohn. Die
Schallplatte von Gershwin ist auch
doppelt so billig wie jene von Mendelssohn! Die Klänge bohrten mit
ihren diamantenen Kraken Löcher
ins Fensterglas, ich schloss die Augen und dachte bei mir: es ist immer
noch besser, im Haustor zu stehen,
als dort zu sein, im Schwarzengetto;
diese Erinnerung an Hunger kann
dich immer noch einmal mit Energie erfüllen; einmal, in jener traurigen Lebensetappe, in der du alles hast
und alt bist, wird die Erinnerung an
Hunger zur heiligen Erinnerung. Zur
erhabenen. Es gefiel mir ganz und gar
nicht, dass ich einmal alt sein muss
und vielleicht den Augenblick erlebe,
wo es keinen Hunger mehr gibt und
in der Luft kein Verlangen nach gutem altem Rindfleisch. Da hörte ich
neben mir Schritte: scheppernd zogen sie in meinen Gedanken ein, zerschlugen ihn zu winzigen Scherben
irgendwelcher sonderbarer rahmenloser Bilder, und als ich die Augen
136
RELA
Branislav Glumac
aufschlug, stand wenig weiter eine
junge Frau, ein Mädchen, mit bereits
regennassem Haar und langen Wimpern, auf denen fette Regentröpfchen
saßen, wie Spatzen auf den Drähten.
Ich bin nicht sicher, dies sei der beste Vergleich, aber was soll ich tun,
wenn sich an solchen schmutzigen,
fettigen Nachmittagen das Gehirn zu
einer schweren Semmel abgestumpfter, fantasieloser Nerven zusammenklumpt!
Sie sah mich nicht an. Sie lief ins
Haustor hinein, als sei es ihr eigener Graben, etwas was seit jeher nur
ihr gehörte und wo sie sich demzufolge benehmen konnte, wie es ihr
beliebte. Sie strich sich sogleich mit
den Fingern durchs Haar, schüttelte
den Kopf und die Tröpfchen prasselten auf den schmutzigen, narbigen Betonboden. Dann zog sie aus
ihrer kleinen orangefarbenen Tasche
– mit der Aufschrift „Made in Trieste“ – ihr Toilettenzubehör, bestehend aus Spiegel, Schminke und Taschentuch, hervor. Zuerst strich sie
mit dem Papiertaschentuch über ihr
Gesicht, machte mit dem Mund eine leichte Grimasse und ich erblickte im Silber des Spiegels einen Holraum und weiße, weiße Zähne. (Sie
wirkten, als seien sie noch nie mit
Nahrung in Berührung gekommen,
als handle es sich um Zähne, die sie
abends in einer Porzellanvitrine abstellte, um sie morgens an ihren alten
Platz zurückzugeben, so weiß, weiß
waren sie und bereits der Gedanke, diese Zähne könnten etwas zermalmen schien so gut wie abwegig!)
Auf ihre vollen, straffen Lippen trug
sie Schminke auf und alles war bald
wieder an seinem Platz: der Mund
vollkommen ruhig, eingeschnitten
in ihr längliches Gesicht von feinster italienischer Puderfarbe. Die Augen des Mädchens waren groß und
leichtfertig, beziehungsweise, nur das
rechte, denn ich blickte sie von der
Seite an und konnte das linke nicht
sehen, nahm aber an, es sei genauso
wie das rechte und hatte daher das
recht, Augen zu sagen. Ihr feuchtes
Haar war schlaff geworden und ich
muss sagen, so schlaff wie es war, passte es ausgezeichnet zu ihrem blauen Maxi-Mantel. (Ob sie wohl gute
Beinchen hat?). Noch einmal griff sie
darauf in ihre Tasche und entnahm
ihr Zigaretten und einen Kaugummi. Nicht einmal da hatte sie mich
bemerkt, oder sie hatte es doch getan, dachte aber, das Haustor gehöre
ihr und ich sei nur ein gewöhnlicher,
aufdringlicher Fremdling in ihrem
Revier. Das Haustor gehört mir! Ich
war als erster da! Irgendwo in weiter
Ferne, zwischen dem Sockel und der
Spitze des menschlichen Gedankens,
dort, neben jenen Regalen, zwischen
denen die Silhouette der Verkäuferin
in blauer Kutte geschickt hin- und
herbalancierte, dort erzählte der alte
Joe noch immer vom Schwarzengetto: ob der Klang der Trompete dabei
nicht stärker hervortrat als er eigentlich sollte?
Wie alt mochte sie wohl sein? Zwanzig, einundzwanzig, neunzehn, sechzehn? Da die Gedanken an fettigen,
verregneten Nachmittagen aber unsicher sind, nahm ich mit einer dieser
Möglichkeiten Vorlieb. Eins war sicher: Sie war Zagreberin, denn sie kaute an ihrem Kaugummi und rauchte
gleichzeitig „King size Amor“, während an ihrem rechten Ärmel ein
Wappen der Stadt Zagreb angenäht
war. Aber was tat sie zu dieser Stunde an diesem Ort? War sie von zu
Hause ausgerissen oder wartete sie
auf jemanden? Vielleicht hatte sie
Streit mit ihren Eltern, falls sie Eltern hatte? Vielleicht mochte sie Regen, vielleicht mochte sie Haustore,
vielleicht trieb sie sich nur herum,
vielleicht war sie ein Junkie aus jener Clique, die sich jeden Tag gegen Mittag im Café „Corso“ versammelt und dort auf ein geheimes Mitglied wartet, vielleicht war sie auch...?
Ach, dieses wurmstichige und scharfe
„Vielleicht“, das eigentlich die einzi-
TIONS
ge Antwort auf alle Fragen ist, weil
jenes sichere „Ja“, das die Menschen
mit so viel Sicherheit aussprechen,
eigentlich gar nicht existiert. „Vielleicht“ beinhaltet die Möglichkeit
der Wahl, die Möglichkeit einer unsicheren Sicherheit in unser sicher
unsicheren Welt. Wir müssten sie,
also, fragen, was sie hier zu suchen
hat, zu dieser verregneten Stunde, in
diesem, meinem Haustor. Auf diese
Weise würde ich zumindest ihr Gesicht sehen können. Und jenes schöne, große Auge, das genauso aussehen
muss, wie das rechte. Das gierige Auge einer Auerhenne.
Ich räusperte mich, obwohl ich das
sonst nie tue. Nichts. Abermals räusperte ich mich. Sie zuckte unbemerkbar, blieb mir aber nach wie vor aus
dem Profil zugewandt, als würde sie
lauschen: vielleicht meinte sie, im
Haustor hätte eine Ratte gehustet,
oder es handle sich um das Schaben
eines Insekts an der rauen Wand, an
der noch immer mit Kreide geschrieben steht: Koka ist ein toller Käfer.
Das Mädchen mit dem rechten Auge und der rechten Gesichtshälfte
hatte wirklich etwas wichtigem gelauscht. Inzwischen waren zwei „Fiat
750“ vorbeigerast, einer war, glaube
ich, gelb wie ein Osterei, der andere blau, wie ein Ei zu einem anderen Ostern, und das der Gelbe ein
„Abarth“ war, weil er einen unerhörten Lärm verursacht hatte. Dessen bin ich mir auch nicht sicher, da
die Tatsachen, ja sogar der Blick in
den fettigen, verregneten Nachmittag unsicher sind. Vielleicht stand das
Mädchen ja gar nicht neben mir im
Haustor. Es konnte sich ja um einen
Schatten handeln, wie er sich dem
müden Auge manchmal zeigt. Und
mein Auge war mit der Zeit wirklich
müde geworden.
Wie viel Zeit mochte nur verflossen
sein, ohne dass sich in der Situation zwischen dem Mädchen und mir
auch nur das Geringste geändert hatte? Alles zwischen uns war genauso
RELA
TIONS
wie vorher. Nichts war da, und doch
war etwas da: das Atmen, das Menschen zur Gemeinschaft verbindet,
jene mystische Strahlung, die als unsichtbarer Dampf zwischen Feinden
entsteht, die einander nicht sehen
können. So etwas gibt es auch in der
Erde, tief unten, zwischen den verschiedenen Mineralien, deren gegenseitige Anzugskraft einmal den
Gesetzen der Trägheit, das andere
Mal aber den Gesetzen des genauen Gegenteils gehorcht. Das ist die
Kraft der Ausstrahlung, die Kraft jenes Urfluids, das der Motor alles Lebendigen ist. So etwas gibt es auch
zwischen den Pflanzen und Insekten,
die Luft ist einfach übervoll von solchen Strahlungsneutronen und das
ist nur ein weiterer Beweis, dass wir
alle – ob Tiere, Pflanzen oder Menschen – zu einem teuflischen Molekül zusammengepfercht sind, zu einer teuflischen Spannung, die Leben
heißt, und dass wir im Gewebe dieses Moleküls, im Verhältnis zueinander, manchmal wirklich existieren,
manchmal aber auch nicht. Wirklichkeit und Fiktion. Linse – Vergrößerung – Blick, aus dem, wie aus einem
Projektor, auf einmal die ersten Bilder der Welt herausflitzen. Bitte, wer
kann mir mit Sicherheit sagen, wie
viel Zeit tatsächlich zwischen mir und
dem Mädchen vergangen ist? Und
ist das überhaupt dasselbe Mädchen,
das vor rund einer halben Stunde ins
Haustor eingetreten war? Vor einer
halben Stunde? Vielleicht ist eine
ganze Ewigkeit an uns vorbeigeflogen? Eine gekrümmte Ewigkeit.
Gershwin war nicht mehr zu hören.
War er das überhaupt gewesen? Sicher war wieder einmal nur dieses:
dass die Verkäuferin jetzt, dort drüben, stumpf auf die Straße blickte, dass sie saß und dass sie sehr
nervös an ihrem nachmittäglichen
Sandwich herumkaute. Das Glas des
Schaufensters (schlecht, wahrscheinlich nach dem Krieg geschliffen) verzerrte ihr das Gesicht, zerschnitt es in
Branislav Glumac
Massen von unregelmäßigem Volumen: sagen wir, dass ihre Nase einmal
an eine gefüllte Paprikaschote erinnerte, dann aber an eine zähe Kugel
aus Teig, sagen wir, dass ihre Wangen
einmal wie samtene Bälle aussahen,
dann aber waren sie tatsächlich das,
was sie waren, je nachdem, wie nervös sie gerade an ihrem Sandwicht
kaute, der Membrane des schlecht
geschliffenen Fensterglases immer
näher kam oder sich von ihr entfernte. Das Mädchen im Haustor rauchte
ihre ich-weiß-nicht-mehr-wievielte
Zigarette. Sie stand verdammt am
gleichen Ort verankert da, ich kann
mich nicht einmal erinnern, dass sie
ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert oder eine größere, bedeutendere Bewegung gemacht hätte.
Und dann, auf einmal, gerade als sie
(mit einem Gasfeuerzeug) diese ichweiß-nicht-mehr-wievielte Zigarette anzündete, sah sie sich schlagartig
nach mir um. Sie blickte mich an, als
sei ich etwas totes, entferntes und unwirkliches und schob mir schnell wieder ihr Profil unter. Es handelte sich
um eine Sekunde, aber als geschickter
Jäger schaffte ich es, in dieser Sekunde ihr ganzes Gesicht einzufangen
und abzuschießen. Dann versenkte
ich es in der Säure meines Gehirns,
dieses Negativ, ließ es einen Augenblick lang nass werden, nahm es dann
mit der scharfen Pinzette meiner Erinnerung wieder heraus und ließ es
trocknen. Das Negativ wurde zum
Bild. Ich hatte schon die ersten Konturen und das genügte mir, um mich
meiner eigentlichen Arbeit, dem Suchen zu widmen. Nein, das genügte
mir nicht zur Gänze, sodass ich das
Negativ abermals in die Lösung des
Gehirns eintauchte und wieder herauszog, weil ich Angst hatte, die Säure würde es allzu sehr zerfressen und
zu einem anderen Gesicht verzerren,
zu einer anderen Fotografie. Aus diesem Spiel des Formens und Schaffens
musste ich als Sieger, keinesfalls als
Verlierer hervorgehen.
137
Das Foto trocknete langsam, und als
ich es schließlich noch unter die Walze des Laufs der Dinge legte, bekam
ich, was ich wollte: ein Gesicht. Natürlich, auch einen Hintergrund mit
vergangener Zeit und einem Raum,
durch den der graue, beklemmende
Strich einer Straße mit Obsthandlungen hindurchging. In einem dieser Geschäfte mit südlichem Obst,
irgendwo zwischen den Orangenbergen und den Bananenflechten,
befand sich jenes Gesicht. Alles war
noch immer tot auf diesem Foto
und so hauchte ich ihm etwas Leben und Bewegung ein. Durch die
Stoppelfelder meiner überspannten
Nerven brachen Lichter verschiedener Farben herein: gelbe, grüne, lilafarbene. In den Zentralen meiner
Gehirnrinde brummten Stromleitungen und trugen diese Emulsion
des Lichts, das durch seine zerstörerische Kraft Funken zu Kugeln, Details
und Kristalle zu einheitlichen Mosaiken presste, von Zelle zu Zelle. Das
Foto wurde zu einem beweglichen
Bild: dieses Mädchen, verloren zwischen den Orangenbergen und den
Bananenflechten, zwischen kleinen,
pyramidal an den Wänden aufeinandergestapelten Holzkästen, an denen
zusammen mit den Kästen aus dem
rötlichen Afrika angekommene Plakate angeklebt waren, verloren zwischen den wurmstichigen und ekelig
schleimigen Schalen, die Kinder sogleich vor Ort wegzuwerfen pflegten,
zwischen den sommerlichen Fliegen
(schwarzen, dicken) und den Mäusen, die es in den Wänden sicherlich
gab – wovon auch die Löcher in den
Ecken zeugen, die man mit Glas und
Papier zustopfte – wirkte dieses Mädchen mit den aschegrauen Locken,
den mandelförmigen, großen Augen darunter und dem so lieben und
weißen Gesicht einfach engelhaft.
Ich weiß nicht, wie ich es entdeckt
hatte: es scheint, diese Entdeckung
war die Frucht meines Herumtreibertriebs. Und da ich zu dieser Zeit
138
RELA
Branislav Glumac
in einem modrigen, kalten Dachgeschoss wohnte, blieb mir auch nichts
anderes übrig, als die Zagreber Straßen mit dem Sand meines Herumtreibens zu bestreuen, Nase und Augen in Schaufenster, Menschen und
Gänge zu stecken und jenes verfluchte Etwas zu suchen, das stets in der
Luft zu hängen schien, tatsächlich
aber gar nicht existierte. Dieses Etwas war mehr als Vitamine, mehr als
die Freiheit selbst, es sammelte sich
in meinen Nasenlöchern als jener
verführerische Duft, dem Jagdhunde folgen. Es grenzte an Inspiration,
an die Komprimierung sogenannter
Lebensfakten zum – Extrakt. Diese
Etwas hatte ich, dank meinem Trieb,
zwischen den goldenen Orangenbergen entdeckt. Durch das schmierige
Glas der Auslage erblickte ich zuerst ihre Augen. In gleichen Augenblick dachte ich: kann denn jemand
mit derart großen, engelhaften Augen hinter verschmiertem Fensterglas
glücklich sein? Diese Frage plagte
mich die ganze Zeit, als das Mädchen
dort war. In dieser Frage hatte ich
plötzlich ein Bedürfnis gefunden, ein
richtiges Bedürfnis, das genügte, um
mich von all jener Lava des Kummers
und der Leere zu erlösen, die sich die
Jahre hindurch an den Kreuzwegen
meiner Eingeweide verhärtete.
Niemals hatte ich ihre Stimme vernommen. Es handelte sich um meine
stumme, tierische Zuneigung. Umso mehr gab ich mich ihr hin. Alles,
was mit ihr zu tun hatte, geschah auf
Distanz, in einem Zwischenraum,
dem ich die Grenzen, sie aber denn
Sinn verliehen hatte. Ich war immer
auf dieser Seite, auf der Straße, habe
die Schwelle des Geschäfts nie überschritten, in der Absicht, die Vollkommenheit des Spiels zu bewahren. Wenn sich mehrere Käufer im
Geschäft aufhielten, ging ich mutiger an das Schaufenster heran und
betrachtete sie: was für eine Harmonie steckte doch in ihren Bewegungen! Musik! War das Geschäft jedoch
leer, versteckte ich mich hinter dem
nächstbesten Baum – als hätte die
Natur gnädig vorgesorgt, und ihn
gerade an dieser Stelle wachsen lassen – mit einer Zeitung oder einem
Buch in der Hand, nur so, um etwas
zu tun, das nur mit mir, der Zeitung
und dem Baum zu tun hat. Manchmal regnete es und ich wurde nass bis
auf die Knochen, aber das war ein süßes Opfer, eines der süßesten unter
jenen illegalen Opfern, die sich nur
selten wiederholen. Ich kann mich
auch nicht erinnern, dass ich jemals
wieder die Herbheit dieser Süße erlebt hätte!
Es gab Tage, an denen sie nicht im
Geschäft auftauchte und an diesen
Tagen dachte ich an das Schlimmste:
irgendein betrunkener Fahrer habe
sie überfahren, sie sei unter die Straßenbahn geraten und jene schweren, abgenutzten Räder hätten ihr
die Beine unter sich zermalmt. Es
handelte sich vermutlich um einfache Erkältungen, die in Übergangszeiten heimtückisch zerbrechliche
Körper befallen, aber ich hatte nicht
die Kraft, an etwas derart harmloses
zu denken und so dachte ich an den
Tod. Erst, als sie ein Paar Tage später wieder erschien und ihr Gesicht
bleicher war als sonst, wusste ich, es
handelte sich um eine Verkühlung
und litt rückwärts: meine ganze Seele war dann verkühlt und fiebrig.
Erst nachdem ihre Augen jenen alten Glanz zurückerlangt hatten, genas auch meine Seele. Mein Körper
war in ihrem Körper, mein Gedanke
in ihrem Gedanken. Genauso war es
auch während jener schaurig kalten
Winter: ich sah sie zittern, zusammengekauert neben ihrem schmutzigen elektrischen Heizkörper Marke „Elra“, in billigen Astra-Stiefelchen auf der Stelle tappen und in
diesem Augenblick begannen eisige
Froststrahlen durch meine Adern zu
schnellen, Knochenschmerzen und
Schüttelfrost verursachend. Die Passanten warfen mir mitleidsvolle Bli-
TIONS
cke zu, sodass ich wusste, worum es
ging: ich klapperte mit den Zähnen.
Es war dies aber jene falsche Art Mitleid: eingehüllt in den Pelz ihres eigenen Wohlbefindens, in diese warme,
haarige, gleichgültige Haut sattgegessener Bürger, ließen sie mich in ihren Blicken keinerlei Wärme erkennen, außer diesem bitteren, saueren
Mitleid. Und gerade dies erniedrigte
mich am meisten, am schamlosesten,
denn diese Blicke schienen nur eins
sagen zu wollen: mir, dem Bürger, ist
es warm! Es waren nicht diese Blicke,
die mich erregten: ich hatte meine
innere Glut, tief in mir drinnen, in
meinen Gedanken wärmte ich sogar meine erfrorenen Finger daran.
Und diese Glut stand dort, neben
dem elektrischen Heizkörper Marke
„Elra“, ja, einmal, nur einmal hatte
ich gesehen, wie eine Maus zwischen
ihren Beinen hindurchlief und sich
hinter jenen Kästen versteckte. Sie
sprang verängstigt auf und hätte gerade in diesem Augenblick nicht ein
Käufer das Geschäft betreten, ich
hätte es wahrscheinlich getan. Und
so hätte ich meinen größten Fehler
begangen. Gut, dass jener Mensch
Lust auf goldene Orangen verspürt
hatte!
O ja, wir haben – habe ich überhaupt das Recht, wir zu sagen? – allerlei Szenen erlebt. Zum Beispiel:
eines Tages betrat ein frisch rasierter
alter Mann das Geschäft. Mit einer
neuen, sehr modernen Krawatte unterm Kinn, die er dort in der Langen
Gasse gekauft hatte (ich habe später
solche Krawatten auf Reklameprospekten gesehen). Der Alte trat leise
ein. Als sei sein ganzes Leben so verlaufen: ohne Sturm, ohne Erschütterungen, an allem hatte er genug,
stets hielt er in der linken Hand die
Gabel und in der rechten den Löffel,
nie begann er als erster zu essen, er
schlürfte nicht, als er Suppe aß und
warf die abgenagten Knochen stets
auf einen anderen, sauberen Teller. Er
lebte in einer vollkommenen, engen
RELA
TIONS
Ordnung, die funktionierte wie eine
Schweizerische Omega-Uhr, solange
jene winzigen Zahnräder und Federn
funktionierten, die seine Drüsen, seine Därme und seine Libido bedeuteten. An dann, als das Alter daran
zu nagen begann, als seien Energie
auf ein Minimum geschrumpft war,
bekam der Alte auf einmal Lust auf
Bananen. Und noch dazu im Wonnemonat April. Er kaufte eine ganze
Flechte, es wird wohl ein ganzes Kilogramm gewesen sein, stellte sich
mitten im Geschäft auf – wie ein
Heerführer mitten im Schlachtfeld
– und begann, die Bananen derart
gierig und gefräßig zu schälen, dass
einem sogleich die Lust am eigenen
Leben verging, an der eigenen Geburt und allem, was auf dem Weg
zwischen Geburt und Tod wertvoll
sein konnte. Er fraß und spuckte auf
den Boden. Die ungekauten Stücke
schleuderte er mit Genuss aus sich
heraus: es sah aus, als würde er Gebisse und einzelne Teile des rötlichen Afrika ausspucken. Alle Bananen hatte er aufgefressen (vielleicht waren
es ja seine letzten), die Schalen um
sich auf den Boden geworfen und sie
noch dazu mit den Füßen zertreten,
dann rülpste er laut und verließ ruhig
und würdevoll das Geschäft. Auf der
Straße war er wieder jener alte Mann,
der ein stilles Leben führt. Und das
Mädchen? Das Mädchen sah ihm
die ganze Zeit ruhig und freudig zu:
es schien, als würde sie den Anblick
des Alten genießen, als würde sie instinktiv verstehen, was Leben bedeutet und was diese fürchterliche Alter!
Als hätte sie intuitiv erkannt, dass
solche Augenblicke im menschlichen
Leben jene letzten Unterwasserriffe
bedeuten, auf denen wir alle einmal
auflaufen werden. Ich sah den Glanz
der Vergebung in ihren Augen und
wollte dabei dem Alten nur gehörig
eine runterhauen! Ich, ein erwachsener Mann, der soviel Bosheit kennen gelernt hatte und eigentlich die
Menschen verstehen müsste, die vor
Branislav Glumac
den Toren des Todes stehen! Ruhig
griff sie nach einem großen Lappen,
wischte den Boden sauber und warf
die Schalen in den Müll. Während sie
das tat, bemerkte ich zum ersten Mal
ein Lächeln auf ihrem Gesicht: ein
Lächeln das von Verständnis zeugte, von Solidarität mit etwas, was sie
nicht verstand, es aber mit den Fühlern ihres Instinkts berührt hatte.
An den Tagen, an denen sie Nachmittagsschicht hatte und spät abends
nach Hause ging, ging ich ihr nach.
Während ich ihr folgte, hielt ich Abstand von ihr. Warum folgte ich ihr?
Aus Angst, es würde ihr etwas zustoßen? Vielleicht auch deshalb. Der
wahre Grund lag aber in jenem, das
wir das Nichtmaterielle, das Geistige nennen: sie war ein ideal geschaffenes Kind der Natur, in ihr begann
und endete die Welt der Freude, der
Reinheit. Ich folgte ihr – und genoss
dabei ihren leichten Schritt – bis zur
Straßenbahnhaltestelle, weiter traute
ich mich nicht. Auch wollte ich nicht
sehen, das sie ebenfalls in einem bestimmten Haus mit Hausnummer
wohnt. Ich beobachtete, wie sie geschickt die Straßenbahn betrat, den
Fahrschein löst und dann irgendwo
im Inneren des Wagens verschwindet.
Die Straßenbahn fuhr los, ich aber sah
ihr noch lange nach, bis die Dunkelheit sie nicht verschlungen hatte.
Zwei-drei Jahre ging das so weiter.
Dann aber – langer Rede kurzer Sinn –
war das Mädchen einfach verschwunden. Keine Spur blieb von ihr übrig.
So etwas kommt im Leben eben vor.
Natürlich war ich untröstlich, natürlich suchte ich alle Obstläden in Zagreb nach ihr ab. Ich habe sie nicht
gefunden. Auch das kommt vor. Und
schließlich, an einem Abend, sagt man
zu sich selbst: alles geht vorbei!
Alles ist jetzt hier, im Haustor. Sie
ist wieder in meiner Nähe, noch nie
war sie mir so nahe, und ich war so
verdammt leer und es reizte mich
nur der Duft von gutem altem Rindfleisch. Wie viele Jahre mögen seither
139
wohl verflossen sein? And die zehn
werden es wohl gewesen sein. Was
bedeutendes hatte sich in der Zwischenzeit in ihrem Leben geändert
und was in meinem? In meinem gar
nichts: ich treibe mich noch immer
von Haustor zu Haustor herum, reise von Straße zu Straße, wittere in
der Luft altes Rindfleisch und trage
ein und dieselbe Krawatte. Das hört
sich einfach niederschlagend an: dass
ich zehn Jahre lang ein und dieselbe
Krawatte trage! Ich könnte mich damit ja nicht einmal mehr erhängen!
Was hatte sich in ihrem Leben verändert? Wer kann das schon wissen?
Sie war einfach erwachsen geworden, ein gutes Weibchen, das geübt
an ihrem Kaugummi herumkaute.
Sie wuchs aus jenem ersten Wesen,
das ich gekannt hatte, einfach in ein
anderes über, das mir vollkommen
fremd und abstoßend war. (Sie hatte mich ja nicht einmal eines freundlichen Blickes gewürdigt.) In ihrem
Leben stieg sie scheinbar empor (wohin?), ich sank in meinem hingegen
immer tiefer und tiefer, immer aussichtsloser hinab. Und dennoch, der
Unterschied zwischen uns ist jetzt
geringer als damals. Vielleicht gibt es
ihn auch gar nicht mehr, und wenn
dem so sein sollte, kann ich ihr ja ruhig anbieten, sie ins Bett zu führen.
Oder nein: ich könnte ihr erzählen,
wie sie war, denn sie weiß mit Sicherheit nicht, wie sie war, auch ich
weiß nicht, wie ich war, und niemand
kann mit Sicherheit von sich behaupten, zu wissen, wie er einst gewesen
ist. Es wäre aber vollkommen sinnlos, ihr zu erzählen, wie sie einst gewesen ist. Mir sind – das ist nichts
neues – die Zigaretten ausgegangen
und ich würde sie so gerne um eine
bitten. Das will ich aber nicht. Ich
bückte mich nach einem (das mache
ich immer in Haustoren) größeren
Zigarettenstummel, den sie weggeworfen hatte. Während ich mit der
Hand danach griff, spürte ich, dass
ich zittere. Ich spürte ihren Blick
140
RELA
Branislav Glumac
auf meiner Hand. Etwas knackte
in meiner Wirbelsäule. Ein Kurzschluss irgendwo in den Trafostationen, dachte ich, um mich irgendwie vor mir selbst zu rechtfertigen.
Meine Finger waren jetzt ganz nahe
an der Kippe. Du musst, musst einfach die Kraft aufbringen, sagte ich
zu mir selbst: heb sie auf! Du musst
einfach! Die Nähe des narbigen, fettigen Betonbodens ließ Übelkeit in
mir aufkommen. Ich hob die Kippe
auf und faltete sie mit Mühe gerade.
Sie sah mich verachtungsvoll an und
kaute immer schneller. Was soll ich
tun? wollte ich sagen. In meinem Leben hat sich eben gar nichts verändert. Was soll ich tun? Ich gehe von
Haustor zu Haustor, es gibt aber auch
bessere Tage: Tage, an denen es nicht
regnet und an denen ich genügend
Zigaretten bei mir habe. Ich wollte
ihr das sagen, aber gerade in diesem
Augenblick hupte ein Alfa-Romeo
mit italienischem Kennzeichen. Irgendein männliches Gesicht schrie
aus diesem blechernen Tier:
– Mirjam... vieni... – oder etwas in
dieser Art.
Das Mädchen lief in den offenen
Wagen hinein. Bevor sie losrannte,
warf sie ihre zur Hälfte angezündete Zigarette weg. Ihre Glut berührte mein Gesicht. Was soll ich tun,
wo ich doch so ungeschickt bin und
nicht zur Seite getreten war?
Wieder waren wir allein, der fettige
Regen, ich und der Duft von altem
Rindfleisch in der Luft. Und das
Haustor voller Wasser. Noch etwas
Wie Šonja gestorben ist
M
ein Vater kannte viele Geschichten, unter anderem auch diese
über Šonja, den Schreiber von Todesanzeigen.
Er war ein alter Mann, hager und
hochgewachsen, mit einer Adlernase und Augen so lebendig und glänzend, wie die eines Jungen. Dieser
Šonja! Man sagte, diesen Glanz hätte ihn der Tod selbst verliehen, jene
schwarzen, dichten Buchstaben, die
er so abgestorben niederschrieb. Man
kann mit Recht behaupten, dieser
Mann sei dem Tod gegenüber völlig abgestumpft gewesen, ja wenn
in der Woche nicht mindestens zwei
Menschen starben wurde er unglücklich und erkrankte. So war Šonja!
Vielleicht nicht so sehr, weil er es
gern hatte, wenn Menschen starben,
sondern wahrscheinlich aus purer
Gewohnheit. In solchen „Dürrewochen“ spazierte er über den Friedhof,
allzu traurig, allzu finster, und rück-
te jene Buchstaben auf den Kreuzen
zurecht, die vom der Witterung niedergefegt wurden. Es war schwer, an
solchen Tagen ein Wort aus ihm herauszubekommen. Und dennoch, obwohl er in einer kleinen Stadt wohnte, gab es für Šonja Arbeit in Hülle und Fülle. Vor allem im Winter,
wenn alte Menschen von Erkältungen dahingerafft werden. Dann rieb
er seine Hände vor Freude. Wirklich
vor Freude? Ich würde das nicht so
sagen, aber soll es doch so bleiben,
wie es mir mein Vater erzählt hat, der
es von anderen Leuten gehört hatte.
Man nannte ihn Šonja, niemals bei
seinem richtigen Namen. Warum gerade Šonja? fragte ich meinen Vater
später, als ich bereits erwachsen war,
aber er konnte mir darauf nie eine
Antwort geben.
Šonja trug immer eine kleine Schnapsflasche bei sich und dazu eine nicht
ausgefüllte Todesanzeige. Obwohl
TIONS
war geblieben: die Möglichkeit, dass
eigentlich niemand neben mir stand,
dass es mein allzu müdes und gereiztes Auge gewesen war, dass sich den
ganzen Spuk eingebildet hatte. Wer
kann mir denn mit Sicherheit garantieren, dass jemand überhaupt neben
mir gestanden war? Wer? Vor allem
an einem derart fettigen, verregneten
Nachmittag, wo sogar die Kanten
der Häuser zweifache Konturen bekommen. Darum geht es eigentlich,
sodass ich das Bild wieder zum Foto
werden lasse und dann zum Negativ.
Eigentlich ist alles zweifach. Es geht
so, aber auch so. Nehmen sie es auf,
wie es ihnen gefällt.
Mir gefällt von allem am meisten
der Duft von altem Rindfleisch in
der Luft.
man ihn deshalb nicht selten zum
Besten zu halten pflegte, flößte Šonja
Respekt ein, weil er wusste, morgen,
wenn nicht sogar heute könnten du
oder ich bei ihm schon an die Reihe
kommen. Der Tod ging Šonja nichts
an und er überlebte viele Generationen. Da er spürte, dass die Menschen
Angst vor ihm hatten und sich der
Tatsache bewusst war, dass er von der
Zeit umgangen wird, machte Šonja
ihnen von Zeit zu Zeit auch selbst
Angst, indem er dem einen oder anderen sagte, „seine Leber sei schon
ein wenig angezehrt“, einem anderen wiederum „seine Lungen seien
verfault“ und er werde sich, „dem
heiligen Anton sei Dank“, in ein
Paar Tagen endlich in seinen Händen befinden.
Natürlich, es ist leicht, den Menschen mit den letzten Dingen Angst
zu machen, sowohl den klugen, als
auch den naiven. Trotzdem scheint
es, Šonja habe eine gewisse Weisheit
in sich getragen, die aus einem leichten Sarkasmus und seiner Sicherheit
RELA
TIONS
im Umgang mit anderen Menschen
bestand. Er pflegte nämlich vor niemandem und niemals über etwas
zu klagen. Seine wichtigste Krankheit schleppte er, in sich verankert,
mit sich herum. Ich glaube, dieser
Krankheit kann ich heute ruhig einen
Namen geben: es war dies die Angst
vor dem Tode. Jenen, die ihn gekannt
hatten, wäre so etwas nicht einmal im
Traum eingefallen. Für sie war Šonja
schon beinahe ein Teufel, denn – wie
mein Vater einmal sagte – wer mit
dem Tode spricht, muss etwas teuflisches in sich haben. Das mit diesem
Teufel war, natürlich, nicht von Belang, denn Šonja verdiente mit dem
Schreiben von Todesanzeigen einfach
sein täglich Brot, über vierzig Jahre
war das schon so gewesen. Ich glaube
nicht, es sei ihm selbst leicht gefallen, fremde Namen in die Todesanzeigen einzutragen und dabei nicht
ein einziges Mal an seinen eigenen
zu denken und an die Hände seines
Nachfolgers, der mit seinem Namen
dasselbe machen wird.
Šonja war des öfteren Gast in unserem Haus, weil mein Vater guten
Schnaps zu brennen pflegte, mit dem
stets auch Šonjas Name und seine
kleine Flasche in Verbindung standen. Ich war damals noch ein kleiner
Junge und fürchtete mich vor ihm;
ich hatte Angst, er würde mich zum
Friedhof tragen und mich zwischen
den Trauerweiden zurücklassen, die
dort so sonderbar murmeln und rauschen. Šonja besuchte uns meist gegen Abend, setzte sich sogleich an
den Tisch und zog seine Flasche aus
der Tasche: nur aus ihr wollte er trinken, nur zu ihr hatte er Vertrauen,
und bevor er den Heimweg antrat,
machte er sie jedes mal bei uns wieder voll. Es war geradezu undenkbar,
dass Šonja mit leerer Flasche nach
Hause geht. Šonja war ein groß gewachsener Mann von stattlicher Statur und ich kann mich noch gut erinnern, dass ihm unser Tisch bis an
den Bauch reichte. Wenn er trank,
Branislav Glumac
trank er schweigend und genoss jeden einzelnen Schluck. Darin war er
ein regelrechter Künstler. Er hob die
Flasche, wobei er ihre Öffnung nur
ganz sanft mit dem Rand seiner Unterlippe berührte, und kitzelte dann
mit dem kleinen Finger leicht ihren
Boden, sodass der Schluck von selbst
in seinen Hals rollte. Wie geschickt er
das nur tat! Leicht ließ er dabei auch
seinen Adamsapfel erzittern, was er
mit Absicht tat, weil man ihn dafür
bewunderte. Šonjas „Geschäft“ befand sich gleich hinter dem Friedhof.
Dort hinzugehen bedeutete für jedermann, ein Stück des eigenen Lebens
dort zu lassen. Aber die Toten müssen eine angemessene Todesanzeige bekommen und darin war Šonja
wahrhaftig ein Meister.
Seine Kalligraphie gab, genau wie die
Blockbuchstaben, klar und deutlich
zu wissen, dass es sich um ein selbstentwickeltes Talent handelte, das sich
in diesem mühevollen Schreiben zur
Gänze verbraucht und aufgelöst hatte. Schade, dass sich Šonja niemals
an der Malerei versucht hatte! Seine Fantasie, die er zweifellos besaß,
wäre dabei bestimmt zu voller Geltung gekommen. Šonja empfing seine „Kunden“ an seinem stets fettigen
„Pult“, als sei er ein Fleischhauer oder
etwas ähnliches. „Aha“, rief er dann,
„auch ihn hat er geholt... hm, hm...
ich habe es ja gespürt...“ Niemand
erhob ernsthaft Einspruch dagegen,
da Šonja seinem Gegenüber sogleich
mit dem Tod anzudrohen pflegte.
Und das waren schwerwiegende, unheilschwangere Drohungen, umso
mehr, da Šonja sogleich hinzuzufügen pflegte, er werde „höchstpersönlich, mit, sieh mal, dieser seiner
Hand, die Buchstaben in die Todesanzeige hineinschreiben.“
So begann Šonja allmählich unser
Städtchen zu beherrschen. Anfangs
war es ein stiller und unaufdringlicher Terror. Šonja war sich seiner
Übermacht wohl bewusst und so begann er, Fleischhauer aufzusuchen,
141
die ihm Pferdefleisch gaben (jedes
andere Fleisch war Šonja zuwider),
Molkereien, wo man speziell für ihn
wohlscheckende harte Käsesorten anfertigte, Schneider und Hutmacher,
die ihm Anfang jedes Monats eine
schwarze Schleife und einen Seidenhut schicken mussten. Natürlich waren auch alle anderen Berufe darunter. Der Höhepunkt von allem waren jedoch Šonjas Besuche bei den
Todkranken, oder jenen, denen der
Tod bereits aus den Augen hervorlugte. Šonja wusste genau, wer wann
sterben werde. Bei diesen Besuchen
ereignete sich jedoch etwas hoch interessantes, was Šonjas Gestalt einen
völlig neuen Charakterzug verlieh:
Šonja tröstete die Sterbenden. Er
sagte ihnen, es handle sich nur „um
eine vorübergehende Erkältung, eine
leichte Verkühlung, die vorübergehen werde, sobald im Frühling wieder die Sonne zu strahlen begänne“
usw. Šonja wusste, dass es sich dabei
um Lügen handelte, aber die Barmherzigkeit musste ja früher oder später einmal aus seiner derben Seele herausbrechen. Die Sterbenden hielten
seine Hand, sahen selig in seine Augen hinein und erwarteten von ihm
die Güte der Erlösung: schöne, gerade Buchstaben auf ihren Kreuzen.
Es war dies ein gegenseitiges Einverständnis, das die Lebenden nicht begreifen konnten. Die Lebenden hassten ihn, die Sterbenden hielten ihn
für einen Heiligen.
Und wie es bei lebenden Menschen
nun mal so ist, wenn sie die Übermacht des Stärkeren spüren, begann
man an Šonja Rache zu üben, wollte
ihn von seinem Thron stürzen, um
den eigenen ruhigen Schlaf wiederzuerlangen. Es wurden Gruppen und
Grüppchen gegründet, die heimlich
zusammentrafen, um Vorschläge zu
diskutieren, wie denn Šonja zu beseitigen, oder zumindest zu verschrecken sei. Verschiedene Ideen kamen
ihnen bei diesen Treffen in den Sinn,
aber keine von ihnen war tödlich ge-
142
RELA
Branislav Glumac
nug. Šonja, so schien es, würde etwas
davon ahnen, deshalb hielt er sich so
oft in der Nähe dieser Menschen auf
und wurde dabei auf einmal redselig,
fröhlich und mild. Vielleicht hatte
ihm ja auch jemand zugeflüstert, was
ihm blühte. Dann unternahm Šonja
einen großen taktischen Schritt. Acht
Tage lang war er nirgendwo zu sehen.
Man sorgte sich um ihn und schickte Boten aus, um sich zu erkundigen,
wie es um seine Gesundheit stünde.
Die Boten wollten natürlich hören,
Šonja gehe es nicht gut, kehrten aber
jedes Mal voller Enttäuschung zurück: Šonja ging es sehr gut.
Die Tage zogen dahin und nach wie
vor war keine Lösung in Sicht. Würde man ihn töten – würde man im
Zuchthaus landen. Schriebe man ihm
Drohbriefe – das wäre sinnlos. Unter
den Menschen findet sich aber immer wieder jemand, der die besten
Ideen hat. So ereignete es sich, dass
zu einem dieser Treffen ein Buckliger
erschien, der Stadtkrüppel, den alle
auslachten und verhöhnten, nicht so
sehr wegen seines Buckels, sondern
weil er so „verrückt“ war.
Ein Gezeichneter soll dem Teufel
eins auswischen? Was für eine Ironie!
Humor! Aber genau das folgte. Es
herrschte Stille, während der Bucklige sprach, denn die Menschen hören, wenn sie etwas brauchen, auch
jenen zu, die sie sonst verachten.
Nach der Ansprache des Buckligen
wurde Šonja noch in derselben Nacht
angeklagt und starb am nächsten
Morgen.
Der Mensch, den es nicht mehr gibt
I
mmer saß er am Fenster, dieser
Mensch, den es nicht mehr gibt.
Unaufhörlich las er Zeitung. Nur ab
und zu riss er sich zusammen und
blickte in die Ferne, zum Fluss hin,
der sich träge an unserem Viertel entlang zieht. Ich hatte damals das Gefühl, dieser Mensch würde sich auf
etwas großes vorbereiten, er würde,
zum Beispiel, eines Tages sein Haus
verlassen und für immer verreisen.
Wann immer ich so etwas dachte,
griff er, als würde er ahnen, dass ich
ihn beobachte und seine Gedanken
enthülle, schleunigst wieder zur Zeitung. Zuerst legte er eine dunkle
Brille auf, strich mit der Hand über
die Stirn, als wolle er etwas schweres, schmerzhaftes abwischen, und
tauchte dann voller Leidenschaft wieder in seine Buchstaben ein. Jahrelang machte er es so und jahrelang
wollte ich herausfinden, wer dieser
Mensch sei, warum er jeden Tag am
Fenster sitzt und Zeitung liest, warum er sich nicht ein einziges Mal in
die Welt hinausbegibt, in die Natur,
aber meine Absicht verzögerte sich
nur von Tag zu Tag; am Morgen vergaß ich sie und am Abend fiel sie mir
wieder ein. Erst als ich ihn eines Morgens nicht mehr im Fensterrahmen,
genauer gesagt, hinter diesem, sitzen
sah, entschloss ich mich, ins Haus gegenüber zu gehen und zu fragen warum er nicht dort sei; er fehlte mir,
ich war aber auch neugierig.
Dieser Mann, den es nicht mehr gibt,
und an den ich immer öfter denke,
als sei er mein Freund gewesen – ein
großer, guter Freund, obwohl wir
niemals ein Wort miteinander gewechselt haben – hatte ein einfaches,
ganz alltägliches Gesicht. Schütteres Haar, hohe Stirn, Schnabelnase
und kurzer, schwarzer Bart. Nur die
schwarze Brille, die er nie ablegte –
zumindest habe ich ihn das niemals
TIONS
Worum es sich wohl handelte? Der
Bucklige kam auf die Idee, an der
Tür von Šonjas „Geschäft“ eine Todesanzeige anbringen zu lassen, auf
der in großen, dicht geschriebenen
Buchstaben zu lesen steht:
Gestorben ist unser lieber Šonja.
Friede seiner Seele.
Möge er in Frieden ruhen.
Seine trauernden Mitbürger.
Die Todesanzeige wurde angebracht
und am Morgen fand man Šonja
tot, vor der eigenen Tür, mit dem
Rücken zur Erde, mit einem verschlossenen Auge und einem, dass
noch immer leicht schielte; als habe ihm das „möge“ in „möge er in
Frieden ruhen“ nicht besonders gefallen.
tun sehen – verlieh seinem Gesicht
einen ausgeprägteren, geheimnisvolleren Ausdruck. Was sein Äußerliche
betrifft, muss er sich schon im reifen
Alter befunden haben.
Dennoch kenne ich auch heute noch
jede seiner Bewegungen, jede Grimasse habe ich im Gedächtnis behalten, die er schnitt, bevor er zur
Zeitung griff und mit der Hand über
das kleine, trübe Fenster strich, und
heute ist mir viel klarer, warum er das
gerade auf diese Weise tat. Da ich von
Beruf Psychologe bin, hatte ich ausreichend Zeit, seine Erscheinung zu
erforschen. Umso mehr, da ich alleine lebte und da mir meine Einsamkeit unzählige Vergnügen bereitete.
Ich hatte den Eindruck, auch er lebe
alleine, da ich niemanden sah, der ihn
besuchen würde. So gesellte sich die
eine Einsamkeit zur anderen.
Dieser Mensch, den es nicht mehr
gibt, war am gleichen Tag hierher
gezogen wie ich; nämlich, als wir
unsere Wohnungen bekamen. Ich
weiß nur noch, dass ich ihn am ersten
RELA
TIONS
Morgen nach meiner Ankunft zum
ersten Mal gesehen habe. Er saß am
Fenster und las Zeitung. Ich dachte
damals: soll er doch Lesen, wenn er
Zeit dazu hat! Ich erinnere mich, es
war Frühling, als wir beide hierher
gezogen waren. Das Gras spross bereits auf den Feldern, die über unser
Blickfeld verstreut lagen. Hier und
da blitzten kleine Wasserlachen und
unser Fluss rauschte freudig. Er murmelte wie ein kleines Kind. Immer,
wenn ich mich an diesen Frühling
erinnere, besehen aus dem Zimmer,
in dem ich mich jetzt gerade befinde, überkommt mich eine angenehme Sinnlichkeit. Es war so ein anschmiegsamer Frühling, besprenkelt
mit blühenden Bäumen, Sternen am
blauen Himmel und meinen Illusionen, mein Leben werde noch einmal von vorne beginnen. Ich hatte
mich geirrt, wie jedes Mal, als ich
beschloss, etwas Starkes zu beginnen
oder zu ändern, und bald darauf traf
auch ein schwerer, schwüler Sommer
ein, auf den ein verregneter Herbst
folgte, der meinen Illusionen einfach
den letzten Hieb versetzte. Und hätte es diesen Menschen, den es nicht
mehr gibt, nicht gegeben, vielleicht
hätte ich Selbstmord begangen. So
sehr belastete nämlich die Erkenntnis, man könne nicht aus seiner Haut
und die Welt sei nicht im geringsten
zu ändern, meine Nerven.
Dieser Mensch, den es nicht mehr
gibt, saß, also, bereits am ersten Morgen unserer stummen Bekanntschaft
am Fenster und las Zeitung. An einem späteren Morgen, gerade als die
Frühlingssonne am stärksten schien,
bemerkte ich folgendes Detail: dieser Mensch, der meinen Träumen
gegenüber wohnte, hatte sich auf
einmal aus dem Fenster gelehnt und
Arme und Kopf der Sonne entgegengestreckt. Es war dies eine instinktive, dumpfe Bewegung und ich
hatte schon Angst, er würde aus dem
Fenster fallen, denn wir wohnten im
sechsten Stock. Ich wollte schreien,
Branislav Glumac
konnte es aber nicht. Als er wieder
seine ursprüngliche Stellung eingenommen hatte, spürte ich eine Erleichterung, jene Art von Erleichterung, die man verspürt, wenn man jemandem zusieht, der über ein hochgespanntes Seil geht und dieser jemand endlich vom Seil steigt und mit
dem Fuß auf den Boden aufschlägt.
Seit diesem Ereignis begann ich ihn
jeden Morgen zu beobachten, denn
ich fürchtete, er würde irgendeine
Dummheit begehen. Eine Ahnung
wurde in mir wach. Auch ich hätte in diesem Fall Verantwortung zu
tragen, nämlich vor mir selbst. Aber
derartige Szenen haben sich meines Wissens nicht mehr wiederholt.
Aber jenes Bild seiner sehnsuchtsvoll der Sonne entgegengestreckten
Arme band diesen Menschen unerwartet an mich. War es die Angst
um ihn oder etwas größeres? Habe
ich mir unbewusst gewünscht, dass
er vom Fenster fällt? Nein, letzteres
auf keinen Fall, stets wehrte ich mich
gegen diesen bösen Gedanken, der
mich zu vergiften begann. Ich unterdrückte diesen Gedanken, kaute an seinen Fingernägeln, er aber
wuchs und wuchs. Ich sah diesen
Menschen fallen, sah, wie das Hirn
aus seinem Schädel herausrinnt, wie
es spritzt und sich über das grüne
Gras ergießt... immer öfter sah ich
das im Film meines Unterbewusstseins und ekelte mich vor mir selbst.
Dafür überkam mich jeden Morgen
der Wunsch zu schreien: „Mensch,
tu das nie wieder! Ich habe Angst
um dich!“ Aber alles war vergebens:
das Bild entstand und verschwand
wieder, das Blut wechselte die Farbe, das Gras verdorrte an der Stelle,
an der er aufschlug... oh, in meinem
Kopf wurde es immer schwärzer und
schwärzer. Ich werde noch verrückt,
sagte ich zu mir selbst, wenn ich diesen hinterhältigen Gedanken nicht
von mir weise. Ich höre auf, an ihn
zu denken, was geht dieser Mensch
mich an, soll er sich hinabstürzen,
143
wenn er es so will, viele haben es bereits getan und die Kugel dreht sich
nach wie vor und niemanden stört
es, dass sie gestürzt sind, dass sich das
Blut in saftige Säfte der Muttererde
verwandelt hat, im Gegenteil, denn
es blieb viel mehr Raum für jemand
anderen übrig... oh, ich konnte diesen Andrang von Gespenstern wirklich nicht mehr ertragen.
Zwei Morgen habe ich ihn nicht gesehen. Ich steckte meinen Kopf ins
Kopfkissen und verband mir mit einem Strick die Beine. Es war widerlich, schmerzhaft, denn der Strick
schnitt sich unbarmherzig in meine
Haut ein, während mein Kopf voller
Geräusche war, voller Stimmen und
Schrie, die die Farbe der unbekannten Stimme jenes Menschen hatten.
Bevor ich meine Beine verbunden
und den Kopf ins Kissen gesteckt hatte, zog ich die schwarzen Vorhänge
an meinem Fenster zu. Ich wollte ihn
nicht mehr sehen, niemals. Ich werde
in die Küche gehen und die andere
Seite der Welt betrachten, dachte ich,
brachte aber nicht die Kraft auf, dies
auch tatsächlich zu tun. Die Angst
trat in mich ein, erfüllte mich wie
ein Eindringling. Ich lag im Dunkel
und draußen war Frühling, ein gelber Frühling, ein blauer Frühling,
durchdrungen vom gesunden Geschrei der Kinder, die ihre Kindheit
wachrüttelten. Es roch auf einmal
nach Veilchen. Safranduft drang in
mein Zimmer.
An diesem ersten Tag, so fest verschlossen meine Ohren auch waren,
hörte ich, wie ein Krankenwagen mit
heulender Sirene durch unser Viertel
raste. Ein schneidender Schrei, ein
deutlicher Schrei, scharf wie ein Bohrer. Es ist vorbei, vorbei, wiederholte ich. Er ist gefallen. Er wurde zerschmettert. Ich hatte aber nicht den
Mut, aufzustehen und nachzusehen.
Meine Beine wurden steif wie Holz
und vor meinen Augen tat sich ein
Abgrund auf, in dem der Kopf jenes
Menschen blühte. Eiskalte Schweiß-
144
RELA
Branislav Glumac
perlen drangen aus meiner Stirn.
Abermals heulte die Sirene auf und
verschwand gleich darauf. Es blieb
nur ihre Spur, eingeschnitten in das
Gewebe meiner Hirnmembrane. Die
Stille schloss sich. Ich lauschte angestrengt, aber von draußen war nichts
zu vernehmen. Später zwitscherten
die Vögel.
Am nächsten Tag lag ich im Fieber.
Ich erkrankte und es war mir, als gäbe es für mich keine Rettung mehr.
Die Stille wurde immer unheilvoller.
Durch den oberen Teil des Fensters
zog sich ein Sonnenstrahl hindurch
und erstreckte sich über die Wand an
der ich lag. Ein schlimmes Zeichen,
sagte ich zu mir selbst. Wieso war er
gestern nicht da, der Sonnenstrahl?
Gab es gestern denn keine Sonne?
War es denn finster? Mit ohnmächtigen, brennenden Augen betrachtete ich den Strahl. Licht! Werde ich
jemals dazu kommen, es zu sehen?
Mein Körper schmerzte, nichts war
mit ihn anzufangen. Er war zugestopft wie eine geölte Maschine. Der
Strick war tief ins Fleisch eingedrungen. Es brannte. Wenn mir doch nur
jemand ein Glas Wasser bringen würde! Diese verdammte Einsamkeit!
Mit großer Mühe schaffte ich es,
mich auf die Seite zu drehen, und glitt
dann auf den Boden hinab. Ich spürte
den leichten Schmerz des Schlages.
Ich kroch. Unten, in der Wohnung
unterhalb von meiner, hatte jemand
den Wasserhahn aufgedreht. Das Wasser floss und rauschte, dann war auch
dieses Rauschen verschwunden. Ich
brauchte nur einige Schritte bis zur
Küche, konnte sie aber nicht tun. Das
Wasser plätscherte in meinem Kopf,
unser Fluss floss in meinen Adern.
Sein Rauschen wurde zu Musik. Auf
einmal entdeckte ich ein Feld voller Gänseblümchen. Hügel aus meiner Kindheit. Es war Nachmittag.
Ich ging durch einen Wald, die Äste
knackten und stachen mich, aber ich
ging weiter. Blut tropfte aus meinen
Armen. Grüne Kreise, gelbe Kreise...
brennende Flughäfen... Birkenalleen
im Vorüberziehen, Vorüberziehen...
Vor Sonnenaufgang wachte ich auf.
Mein Kopf war schwer; eine weitere Birke zog rasch vorbei. Trotzdem
spürte ich, dass in meinem Körper
ein noch ein winziger Funken Kraft
übriggeblieben war. Das machte mir
Mut. Ich spürte auch etwas Freude
am Leben; alle Dinge traten durch
eine Nebelwand wieder in meine Augen ein. Der Strick fiel mir ein. Langsam begann ich, ihn zu lösen. Heute
muss ich den Menschen sehen, den
es nicht mehr gibt! Ich muss es, sonst
werde ich noch verrückt.
Langsam stand ich auf, wie ein Kranker; im selben Augenblick fiel ich
wieder zu Boden, weil das Blei in
meinen Beinen immer härter und
schwerer wurde. Ich versuchte es erneut. Beim zweiten Mal gelang es
mir, auf den Beinen zu bleiben. Bang
näherte ich mich dem Fenster, spürte
mein Herz wie einen kleinen Spatz in
meiner Kehle. Werde ich ihn sehen?
Hat ihn jener Krankenwagen denn
nicht aus dem Gras und vom Beton
aufgelesen?
Ich zog die Vorhänge auseinander:
eine dünne Rinde aus Dunkelheit
schwebte über der Erde. Ich wartete. Ich sah ihn nicht am Fenster. Es
ist noch früh, tröstete ich mich. Ich
hinkte zur Küche und trank ein Glas
Wasser. Das tat meinem trockenen
Körper gut.
Wieder stand ich über das Fenster
gebeugt da.
Der Morgen graute. Autos rasten die
Straße entlang, dann liefen ein Paar
Menschen vorbei, dann kam ein Säger mit seinem Sägefahrzeug und in
einem Zimmer wurde das Licht ausgeschaltet. Eine Hand zog langsam
Vorhänge auseinander. Mensch, danke, dass du erschienen bist! Mensch,
es ist so schön, dich zu sehen, wie du
wieder Zeitung liest und meiner Seele ihren Frieden zurückgibst. Du bist
nicht gestürzt, dich hat man nicht aus
den Gras und vom Beton aufgelesen
TIONS
und das ist das Wichtigste, obwohl
jener böse Gedanke von mir gerade
das gewollt hat.
An diesem Tag ging ich ruhig in
die Stadt. Ich kam spät zurück und
als ich das Zimmer betreten hatte,
schaute ich sofort hinüber: er war
da und las!
Es folgte ein Sommer voller drückender Schwüle. Die Berge in der Ferne
färbten sich Purpurrot. Die Sonne
kochte die Erde; der Lauf unseres
Flusses wurde immer enger. Aber
den Menschen, den es nicht mehr
gibt, störten weder die Sonne, noch
die Schwüle, noch die langen Tage, die kein Ende nehmen wollten.
Er las unermüdlich. Mein Tag wäre
geradezu undenkbar gewesen ohne
ihn. Nein, dieser Mensch bereitete
mir kein Vergnügen, dieser Mensch
wurde ein Teil von mir, ein wertvoller
Gast, der leise in mein Leben eintrat.
Immer wieder fürchte ich um ihn,
wenn ich in die Stadt gehe. Schnell
erledige ich meine Angelegenheiten
und eile zurück. Das ist keine Angst
mehr – es ist ein Albtraum. Und
daran bin ich alleine schuld. Auch
für die Leere, die eintrat, nachdem
er verschwunden war. Denn dieser
Mensch gab mir durch seine Anwesenheit Energie, um überhaupt etwas
zu tun, um nachzudenken, um mir
einzubilden, die alten Straßen würden mein Leben ändern. Mein faules
Leben, mein wankendes Leben. Die
Energie, mit der dieser Mensch an ein
und demselben Ort ausharrte machte mir Mut; seine Konzentration gab
mir die Kraft der Vernunft. Ich habe
gesagt, ich wollte verschieden Dinge von neuem beginnen. Mit ihm
wäre mir das auch gelungen, wäre er
noch ein Paar Jahre am Fenster sitzen geblieben. Ich verfehlte viele Ziele, wechselte so manchen Beruf und
blieb am Ende jedes mal besiegt: in
jeder neuen Arbeit stieß ich auf allzu
viel Trivialität und Sinnlosigkeit, um
sie danach noch mögen zu können.
Dieser Mensch, den es nicht mehr
RELA
TIONS
gab, war meine einzige Chance: ich
wollte eine Studie über ihn schreiben,
in der ich meine Erfahrungen mit der
gesamten Menschheit zusammenfassen würde. Ich wollte ihn zu meinem
Werk machen.
Und in diesem Sommer erschien
er eines Morgens nicht mehr am
Fenster. Ich spürte, das etwas passiert war, vielleicht war sogar etwas
Fürchterliches passiert, denn dieser
Mensch war immerhin mein Gewissen. Stumm starrte ich auf sein Fenster und wartete auf sein Erscheinen.
Branislav Glumac
Von meiner Hoffnung genarrt, stand
ich den ganzen Nachmittag so da,
aber er erschien nicht mehr.
Auch am darauffolgenden Tag nicht.
Auch nicht einen Tag später.
War es ihm zuwider geworden, sich
ans Fenster zu setzen? Hatte er das
Elend von allem was lebt gesehen,
als er mein Leben gegenüber des seinigen betrachtete? Hatte er die Sinnlosigkeit entdeckt? – Solche Fragen
plagten mich, während ich die Stufen
in seinem Stiegenhaus emporstieg.
Ich klingelte.
Ich schreibe eine Geschichte
von einem Tag voller Kleinigkeiten
D
as Laub fällt von den Bäumen,
der Sommer geht dem Ende zu
(ganz ehrlich) – das war das erste, was
ich festzustellen vermochte, nachdem ich meinen Oberkörper über
das Fensterbrett gelehnt und meine
Arme in die frische Luftmasse getaucht hatte. Es begann ein weiterer
später Oktobermorgen. Man erwartete den Herbst. Ich wohne gegenüber des Armeehauptgebäudes, in
einem heruntergekommenen vierstöckigen Wohnhaus, dessen Vorderseite verträumt auf einen winzigen
japanischen Park blickt, hinter dem
sich die gewölbte Linie des Ostens erstreckt, wo die Sonne ihre Weltreise
beginnt. So ist mein Zimmer schon
in der Frühe voller duftender orientalischer Gewächse und Sonnenschein
habe ich schon in den frühen Morgenstunden in Hülle und Fülle.
Die Nachtwache wird abgelöst. Im
festen Schritt der herankommenden
Soldaten spürt man die morgendliche Freude: im hämmernden Schritt
jener, die gehen, spürt man eine ganze lange Sternennacht, Müdigkeit
und Schlafentzug, die sich in den
vom Stehen angeschwollenen Gelenken angesammelt haben. Müllmänner tauchen auf. Träge und unwillig
ziehen sie sich dahin. Alte Weiber tragen kleine Körbe zum nahe gelegenen Markt: ihre Schritte sind winzig
und voller Eile, vielleicht denken sie
an Kartoffeln, vielleicht an Wassermelonen. Man kann deutlich hören,
wie unbarmherzig die Straßenbahnen durch die verschlafenen Straßen
dröhnen. Fabriksirenen bohren sich
in den Morgen hinein. In den Zimmern des Armeegebäudes beginnt
der Arbeitstag: die Offiziere setzen
sich an ihre Schreibtische, die Sekretärinnen sind bereits am Tippen.
Ich sage: Das Laub fällt von den Bäumen, der Sommer geht dem Ende zu,
Maschinen, dazu irgendein Ticken,
irgendwelche Hüte, Köpfe und verschiedenes mehr, was an meinen Augen vorbeischnellt.
All das ist nicht genüg für meine zukünftige Geschichte. Nicht einmal
für ihren Anfang. Das ist alles sehr,
sehr banal.
145
An seiner Tür war kein Namensschild
angebracht.
Ich klingelte erneut.
Aus der Nachbarswohnung trat eine
Frau und rief mich mit einer Handbewegung zu sich. Sie wollte mir von
ihm Erzählen, von seinem Ende. Ich
trat ein.
Vielleicht war dieser Mensch, den
es nicht mehr gibt, auch im Recht:
hatte es sich denn gelohnt, zu leben
und dabei das Leben nicht zu sehen?
Mit stets ein und derselben Zeitung
in der Hand.
Doch (hören sie) es geht gerade eine
junge Frau die Stiege unseres Hauses hinunter.
(Vielleicht sollte hier meine Geschichte ansetzen? Das ist nicht schlecht, so
wahr mir Gott helfe. Werde ich es
schaffen, den ersten, kräftigen, starken Satz niederzuschreiben?)
Ich kenne das Echo ihrer Schritte nur
allzu gut, denn diese junge Frau sehe
ich jeden Morgen (wenn ich mich so
wie jetzt über das Fensterbrett lehne), würdevoll, mit der Flasche in der
Hand, Milch holen gehen. So habe
ich ihre Schritte auswendig gelernt.
Niemand aus unserem Haus weiß genau, woher diese Frau kommt. Man
sagt, sie kam in einem kalten Winter, an einem Januartag, als herrliche Winterwolken über den Himmel hüpften. Angeblich kam sie aus
einem Provinzstädtchen im Nordosten des Landes. Außerdem meinen unsere Mieter, sie sei eine kleine
Schlampe, sie lasse sich mit Fremden
ein, verschlafe die Tage und „arbeite“ nachts. Dabei verzerren sich die
Münder jener, die das behaupten, zu
einem boshaften Lächeln. Aber mich
geht das nichts an, ich pfeife darauf,
was jene sagen, deren Augen blutig
und animalisch werden, wenn sie im
Stiegenhaus diese schöne, junge Frau
146
RELA
Branislav Glumac
erblicken. Sie hat den Gang einer
Gazelle. Immer, wenn ich sie erblicke, und das passiert nicht oft, nur
an solchen Morgen, wird in mir die
zärtliche Erinnerung an meine erste
Liebe wach, die dieselben Augen hatte, wie diese Frau.
Da ist sie, sie ist schon auf der Straße, gleich wird sie an meinem Fenster vorübergehen. In ihrem purpurfarbenen Haar nisten Sonnenstrahlen. Sie wird wie gewohnt ein wenig
halt machen (natürlich, ich errate
so etwas immer!) und die Tauben
vor unserem Haus mit Brotkrümeln
füttern (Gott, ist sie gut!). Ich gebe
diesen Tauben nichts und es scheint
mir, dass mich diese junge Frau dafür verachtet. Und eins sollte man
wissen: Diese Frau hat mich bisher
kein einziges Mal angesehen. Kein
einziges! Obwohl ich mir das jedes
Mal herbeisehne. Verachtet sie mich
denn wirklich wegen der Tauben? Bin
ich denn so hässlich?
Sie hat mit dem Füttern der Tauben
aufgehört, mit ihrer freien Hand eine
Locke weggewischt, die ihr über das
Gesicht gerutscht war und geht nun
an meinem Fenster vorbei. Sie schaut
nach vorne, ihr Blick verschwindet
in der Ferne. Sie muss eine kleine
Schlampe sein, beginne ich boshaft
nachzudenken, wenn sie immer nur
vor sich hin sieht. Die Mieter in unserem Haus werden doch wissen, dass es
so ist, das muss doch einen Grund haben! Aber ihre Erscheinung, die sich
noch immer durch mein Blickfeld
bewegt, belebt auch an diesem Morgen meine Erinnerung. Und nicht
nur das: diese Frau machte den Morgen und damit auch den Beginn meiner Geschichte irgendwie nervös und
beinahe lüstern. Ihr Körper zerriss
meine Stille und brachte mich zum
Träumen. Ich stelle mir vor, anstelle
des Armeegebäudes befinde sich eine
Wiese und wir beide liegen zwischen
den Gänseblümchen. Wie der Regen
rede ich zu ihr und sie hört mir zu,
wie ein Gänseblümchen.. ich...
AUFSTELLEN IN REIH UND GLIED,
dringt eine raue Stimme (des Wachdienstoffiziers) in unsere Wiese ein
und unsere Gänseblümchen fallen
tot neben uns nieder. Deshalb belasse ich es vorerst bei dieser Wiese, den
Gänseblümchen, und das Rauschen
eines imaginären Flusses sollte ebenfalls zu hören sein.
An dieser Stelle, in der Geschichte,
die ich später zu erzählen versuchen
werde, kommt ein Schornsteinfeger vor: – morgen, guten morgen,
wiedersehen, auf wiedersehen. Seine
Stimme ist weich, ein reiner Bariton,
und gehört mit Sicherheit zu einem
Chor: vielleicht ist der Schornsteinfeger die Stütze eines Kirchenchors
während der großen Sonntagsmesse?
Dann fallen die Mieter aus unseren
Haus heraus: die Arbeitselemente der
Gemeinschaft. Ihre Augen sind noch
verschlafen, von ihren Lidern hängen
Trauben unbeendeten Schlafs herab.
Jožek schimpft aus Gewohnheit über
das Leben, er schimpft auf diese verdammten Morgenstunden, die von
den Menschen erfunden wurden,
er schimpft auf jene, die den Kohlepreis in die Höhe getrieben haben
(denn der Sommer geht dem Ende
zu und der Herbst wird jeden Moment in der Stadt Einzug halten) und
schließlich, wie jeden Morgen, hustet er sich aus und spuckt ein paar
Mal auf den Boden, nachdem sein
Speichel bereits vom nahe gelegenen Baum hängt). „Ha, Nachbar“,
murmelt er und verschwindet, ohne
den Satz zu beenden, als hätte er mit
diesem „ha, Nachbar“ sagen wollen:
„Du langweiligst dich wohl, was? Du
kannst nicht pennen, hm? Und ich
muss arbeiten gehen, du verschlafener feiner Herr...“ Und Jožek geht,
auf seinen schiefen, dünnen Beinchen schaukelnd, mit seiner kleinen,
schmutzigen Tasche unter dem Arm,
in der sein geheiligtes Tischlerwerkzeug, seine Brotzeit und ein paar
warme, menschliche Träume ruhen.
Einen Augenblick lang tut mir unser
TIONS
armer Jožek Leid und ich beschließe
fest, an dieser Stelle in meine ungeschriebenen Geschichte, in der auch
seine Person leben wird, einen schönen Satz über ihn zu schreiben, in
dem ich seinen Lohn erhöhen, den
Kohlepreis senken und nicht zulassen werde, dass ihn die alte Lujza
jeden Sonntag mit dem Nudelholz
schlägt. Das lasse ich nicht zu, so
wahr mir Gott helfe! Und die Nacht
will ich ihm verlängern, um diese
Paar wertvollen Morgenstunden, in
denen es sich am glücklichsten und
sorglosesten träumen lässt und in denen sich das Leben und alle anderen
Dinge rosa färben. Und seinen verdammten Wecken will ich anhalten,
der sein Todfeind ist und hundsgemein alle Traumballons platzen lässt,
die in Jožeks Kopf herumfliegen. O,
wie schwer muss das sein, auf Befehl
einer einfachen Uhr aufstehen zu
müssen! Und es schien mir, ich würde Jožek deutlich vor mir sehen, wie
er schimpft und dabei seine gelben
Katzenaugen reibt, wie er wütend zu
Lujza hinüberblickt, die seelenruhig
in ihrem Nachthemd weiterschläft;
ich spüre Jožeks Gedanken, die sich
schneller drehen als der Sekundenzeiger und sie drehen sich alle darum das
schreckliche und beschissene Leben
in einem derart stickigen Zimmer
voller abscheulichen Gestanks und
Schnarchens, im ersten Halbdunkel
des Morgens, und wie auf dieser Welt
doch Ungerechtigkeit herrscht, sogar
was die Träume betrifft: während der
eine von etwas schönem träumt (sagen wir, von einer Wiese voller Gänseblümchen, einem blauen See und
einem Schloss auf dem Berg, meint
der Autor dieser Geschichte), spürt
er, Jožek, der Tischlergehilfe, wie eine bittere Flüssigkeit aus dem Mundwinkeln heraus sein Kinn hinabgleitet, dass seine Knochen nicht alle
am rechten Platz sind, und sucht im
Dunkel nach dem Täschchen, in das
seine Alter (die – pfui! – immer noch
schnarcht) noch gestern Abend seine
RELA
TIONS
bestimmt schon vergammelte Brotzeit eingepackt hat. Dabei denkt er,
es sei tatsächlich nicht gerecht, dass
er nicht noch etwas Zeit zum Schlafen hat, dass er seine Beine nicht gespreizt in die Luft heben und dabei
in aller Ruhe seine erste Zigarette
rauchen kann.
Ach, Jožek, armer Jožek, es gibt zu
viel verdammtes Unrecht auf dieser
Welt, aber wenigstens diesen morgendlichen Schlaf sollte die Menschheit besser und gerechter untereinander verteilen, nicht wahr? Bist du
meiner Meinung, Jožek? Ich setze
mich dafür ein!
Ich werde auf jeden Fall zusehen, dass
ich auch Jožek in meine Geschichte
mit einbeziehe, ich spüre aber, dass
das nicht so leicht sein wird, es sei
denn, ich widme ihm eine ziemlich
trübselige Passage. Denn Jožeks Leben ist eine traurige Prozession eintöniger Tage, die mit dem widerlichen
Speichel aus seinen Mundwinkeln
beginnen und mit fürchterlichen Flüchen enden: eine lange Kolonne solcher Morgen, die er hinter sich herzieht, wie schwere, graue Ketten; eine
Unmenge von Flüchen und tuberkulöser Spucke, zurückgelassen auf dem
Gehsteig unserer Straße. Der Leser
wiederum mag ohne Zweifel solche
trübseligen Passagen nicht, deshalb
wird es besser sein, statt auf Jožek auf
die Person jener schönen, jungen Frau
zurückzugreifen, die so gut ist (weil
sie die Tauben füttert) und zu so angenehmen Gedanken verleitet.
Und sieh da, es ist wahrhaftig ein
Wunder, da erscheint sie wieder! (Die
Morgensonne spiegelt sich in ihrer
Milchflasche.) Wieder sieht sie gerade vor sich hin und geht achtlos an
meinem Fenster vorüber. Ich hüstle,
säusle und mache winzige, versteckte Bewegungen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich hier
am Fenster stehe und sie ansehe.
Der jungen Frau ist es egal, was ich
mache: einen Augenblick macht sie
halt, bückt sich (ihr Körper macht
Branislav Glumac
einen verführerischen Bogen) und
hebt ein Kastanienblatt vom Gehsteig auf. Dann stehst sie ein wenig
still, sieht es an und lächelt. Ob sie
an jemanden denkt? Ob sie sich an
die vergangene Nacht erinnert, die
sie in einem Ausflugsort mitten in
einem Wald voller solcher Blätter
verbracht hat? Ob sie an ihrem Hals
die Berührungen von jemandes Lippen spürt? Was sie wohl sieht, in dieser kleinen, gewöhnlichen Blättchen,
das der Baum mürrische abgeschüttelt hat? Lüsterne Liebe? Vielleicht ist
es ja ein ganzes Leben, dass sich da in
den Äderchen dieser grünen Materie
verzweigt hat?
Und während ich mich mit derartigen Fragen abplage, zieht ein Lächeln
in ihr Gesicht ein, das plötzlich ernst
und melancholisch wird: die Lippen
werden zu einem Strich, die Augen
wässrig vor Traurigkeit. Sie zerknüllt
das Blatt und wirft es ärgerlich auf
den Gehsteig. Bald höre ich, wie
sie die Stufen emporsteigt und im
Schloss verschwindet.
Einen Augenblick lang ist die Straße
leer: sie ist der Raum, den meine Gedanken, Assoziationen und Erinnerungen durchlaufen. An langen Gedankenfäden schwebe ich wieder zur
Straße hinab und bin schon weit, weit
weg. Jetzt befinde ich mich schon in
meiner Heimat, im Hof unseres alten Hauses, in dem mein Vater Pflaumenschnaps brennt. Ich stehe neben
ihm, er bemerkt mich nicht einmal.
Ich bin gekommen, Alter, um dich
nach den Pflaumen zu fragen und
nach dem Weinberg, sage ich, nur
um die tiefe Stimme meines Vaters
zu hören. Er aber hört mich und
beschäftigt sich im gleichen Rhythmus weiter mit den Pflaumen, sodass mir nichts anderes übrigbleibt,
als in meine Straße zurückzukehren,
durchs Fenster in mein Zimmer zu
steigen und mich wieder hinauszulehnen. So.
In diesem Augenblick verlässt wieder
ein Nachbar das Haus.
147
Das ist ein neuer Satz meiner Geschichte und ich spüre, es ist nicht
mehr das, was sich so lange als die
Erfahrung dieses Morgens angesammelt hatte: eigentlich ist dieser Satz
nur ein Trost für den Geist, der in
die Höhe fliegen und dort wunderschöne Worte für meine künftige Geschichte finden wollte. Dieser Satz
klingt irgendwie trocken und leer,
obwohl er das Substantiv Nachbar
enthält, das sich auf einen Begriff
bezieht: Mensch, was wiederum ein
Leben beinhaltet, das hinter dem langen Tisch der Tischlerei „Henč“ stattfindet, von 7 bis 14 Uhr, mit 25.000
Gehalt, und für die Menschen außerordentlich gemütliche Couchs herstellt und Bänke, für alle, die fernsehen. Ferner befindet sich im Satz
das Verb verlässt, das eine Bewegung
bezeichnet, das Streben eines Menschen nach einem Ziel, und noch
vieles mehr: so geht aus dem Inhalt
dieser beiden Wörter hervor, dass
dieser Mensch mein Nachbar ist, der
gerade zur Arbeit geht und dessen
Augenlieder ebenfalls von Unausgeschlafenheit zeugen. Hinter sich
lässt er eine schwer verdaute Nacht,
in der ihm dieser verdammte Katarrh
zu schaffen machte und dieses hartgekochte Rindfleisch, das drei Tage
lang im Kühlschrank stand. Dann
stellt sich heraus, dass die Sonne und
dieser Morgen diesen Menschen froh
machen, denn er steht bereits seit
drei oder vier Minuten vor unserem
Haus, die geschlossenen Augen in
jene Richtung gewandt, aus der die
Sonne kommt. Und so weiter, denn
die Dialektik der Dinge könnte sich
ins Unermessliche entfalten und wir
würden am Ende zum Schluss kommen, dass dieser Mensch, der sich der
Sonne freut, einmal sterben wird, genau wie ich, dass man ihn in einen
Sarg der Tischlerei „Henč“ legen und
nach Mirogoj fahren wird, falls er eine Familiengruft besitzt; ansonsten
wird sein Grab auf einem Friedhof
am Stadtrand von Zagreb geschau-
148
RELA
Branislav Glumac
felt, wo das hohe grüne Gras so selbstzufrieden gedeiht und wo die Leiche
in Rekordzeit zerfällt und sich in duftende Säfte verwandelt, die durch die
Gänge von Muttererde wandern und
eines Tages an einem anderen Ort
als Ölstrahl hervorschießen, oder zu
Tau werden, der verdampft und sich
in Wolken verwandelt, die Wolken
in Regen und so weiter und so weiter in dieser endlosen Dialektik der
DINGE. Lassen wir deshalb unseren
Nachbarn in Frieden, der die Ursache all dieser Vermutungen war, und
überlassen wir ihn der Umarmung
seines Katarrhs, der früher oder später als endgültiger Sieger hervorgehen wird.
Was will diese Frau? Sie bietet mir
frischen Käse, frischen Rahm, frische
Eier und einen kleinen Hahn an.
– Danke – sage ich – ich bin unverheiratet (dabei lüge ich, das können
sie mir glauben).
Und die Alte geht wieder: sie verschwindet um die Ecke, während im
Korb plötzlich der Hahn zu schreien beginnt. Dieser Hahn, der sich so
lauter Kehle aus dem Korb gemeldet hat, weckt in mir ein kräftiges
Gefühl, etwas Ursprüngliches, den
gesamten Mechanismus der Schöpfung, so etwas wie das Erwachen
der Erde nach dem Regen, wie das
Wachsen des Grases und des Klees:
plötzlich ist mir klar geworden, dass
außerhalb dieser urbanisierten Gesetze ein leidenschaftliches Gesetz
der Natur besteht, das sich an diesem Morgen im Schreien des kleinen Hahnes zu Wort gemeldet hat,
sodass in meiner Fantasie das Bild einer gewaltigen Landschaft entsteht,
die sich aufbläht und in der der Mais
nach den Wolken greift. Mehr noch:
dieser arme Hahn, um dessen Beine
heute Mittag irgendwelche Kinder
zanken werden, brachte mir an diesem Morgen wundersame Bilder aus
meiner Kindheit, grüne Ebenen, die
ich abends mit ausgebreiteten Armen
entlang lief, Berghänge, an denen
verstreut die Weinberge lagen und
sanfte, weiße Kirchen, wo mich meine Mutter einst zu Ehren der Muttergottes zur Kirchweih führte. Ein
ganzes Panorama aus Bildern und Erinnerungen wurde wach und rüttelte
sich auf, und das allein im Schrei eines einfachen, erregten Hahnes. Das
mag vielleicht komisch, banal oder
sentimental klingen, aber zeigen sie
mir einen Menschen, der noch nie
gespürt hat, wie eine banale Kleinigkeit an seinem gesamten Wesen rüttelt. Zeigen sie mir den Menschen,
in dem eine alltägliche Kleinigkeit
nicht eine ganze Welt aus schlafenden Kindheitserinnerungen wachgerüttelt hat. Oder zumindest die sanfte Melodie eines frühen Abends, als
er neben einem Bach voller silberner
Forellen stand. Das Leben ist tatsächlich eine Collage aus Banalitäten und
Kleinigkeiten, deren Summe jedoch
auf einmal zu etwas erhabenem wird,
zu einer kleinen, vergangenen Welt,
deretwegen es sich lohnt, traurig zu
sein, einer kleinen Welt, der man
trotzdem nachtrauert, ja sogar nachweint. Das ist das Phänomen der Blume, zum Beispiel der Rose, die auf
einem Misthaufen Knospen schlägt
und blüht. Ja, gerade auf Misthäufen
wachsen diese göttlichen Blumen am
besten, die wir manchmal in den Taschen unserer Mäntel tragen oder sie
als Zeichen unserer besonderen Achtung Frauen schenken.
Aber gehen weiter, lassen wir die
Misthäufen und die Rosen hinter
uns, denn die Sonne ist auf der Leinwand des Himmels schon etwas höher gestiegen und ich habe noch
immer nicht genügend Material für
meine Geschichte. Auf meiner Uhr
ist es halb neun: ich lege sie ans Ohr
horche gespannt diesem feinen Vorübergehen und Vergehen der Zeit, dieser präzisen Mechanik eines in Tausende von Zeitpartikeln eingeteilten
Tages, von denen eine jede für den
Menschen eine Bewegung im Raum
bedeutet, einen verlorenen Augen-
TIONS
blick eines imaginären Glücks, das
wir vielleicht hätten besitzen können,
hätten wir nicht nur so dagestanden,
hier am Fenster, und auf die Straße
hinausgeschaut.
Die Straße aber ist jetzt voller Stimmen und Lärm: die Menschen hasten
in ausgewogenen Parallelen und Diagonalen umher. Sie zu beobachten
ist anstrengend, denn ihre Gesichter
wechseln ständig in meinem Blickfeld und keines davon kann man zur
Gänze festhalten, sondern nur in deformierten Ausschnitten, sodass man
sie unbewusst zu unterscheiden beginnt: es gibt schöne Gesichter, aber
auch hässliche, sympathische, melancholische oder nervöse. Man wird
zum unbewussten Richter über jedes
von ihnen und verfügte man in diesem Augenblick tatsächlich über eine
derartige Macht – viele Leute, fürchte
ich, hätten darunter zu leiden.
Meine Frau ist wach geworden. Auch
mein Sohn wird langsam wach.
Ich sage ihnen, sie sollen weiterschlafen, denn ich müsse ungestört am
Fenster stehen und Material für meine ungeschriebene Geschichte sammeln. Ich weiß, die beiden wollen
mein Morgenglück stehlen, sich des
Blickfelds bemächtigen, das sich vor
meinem Fenster erstreckt, aber ich
vollbringe Wunder und sage einen
Vers auf, den ich in einem kleinen
Lyrikband gelesen habe: „Schlaft,
die Nacht ist noch mild.“ Ich blicke
in diese beiden Augenpaare, die von
meinen Worten eigenartig zu glänzen begannen: das ist der Glanz des
Schlafens, der Glanz zweier lieber
Tierchen, die durch die Magie meiner Wunderworte in Schlaf versetzt
werden. Und die schlafen werden,
solange ich es will, bis ich diese verhaltene Kraft der Worte, die sich in
mir empor strecken und auf dem Papier, das auf meine Geschichte wartet, ihren Platz, ihr Leben und ihre
Ordnung finden wollen, nicht ausgepresst habe. Aber wie soll ich diesen Buchstaben und Szenen, die in
RELA
TIONS
meinem Kopf herumspringen, eine
Form geben, während ich dem sanften Atem meines Sohnes lausche?
Wie soll ich all diese trüben Bilder und
Landschaften beleben, die verzerrt in
meiner Gehirnrinde entstehen? Wie
soll ich diesem gewaltigen Echo eines in diesem Morgen angehaltenen
Lebens einen Sinn verleihen?
Und dennoch, ich traue mich, mich
an meinen Schreibtisch zu setzen und
versuche, den Morgen aufs Papier zu
schmuggeln. Ich setze mich also hin
und resümiere:
Zuerst fiel das Laub von den
Bäumen, dann kam die Nachtschicht, die Sekretärinnen hatten
sich gerade an ihre Schreibtische
gesetzt, eine schöne, junge Frau
trat aus unserem Haus heraus und
brachte mir Traurigkeit, ein imaginäres Feld voller Gänseblümchen; und dann kam Jožek, nach
ihm eine alter Frau mit einem
Hahn, darauf ein Mieter und dann,
und dann... was dann? Ach ja, die
Wörter rüttelten sich auf und du
dachtest an Blumen, die auf Misthäufen wachsen, wolltest um jeden Preis etwas Gescheites erfinden, jene beiden wurde aber wach,
dich hatte der Schrecken gepackt,
Angst, sie würden dich des Glücks
der Einsamkeit und des Beobachtens berauben und du sagtest zu
ihnen: „Schlaft, die Nacht ist noch
mild“... und?
Du kannst nicht weiter, du großer,
mächtiger Vollbringer von Wundern!
Du kannst keinen einzigen guten
Satz aussaugen! Du bist ein Elend,
ohne Blut und Fantasie! Aber sieh
doch, das Leben brodelt neben dir –
wie man das in Romanen so schön
zu sagen pflegt. Wichtig ist eine gute
Idee, du aber hast sie nicht – flüstert
jemand, der sich in dir versteckt hält.
Wichtig ist eine gute Fabel, pass auf
– meldet sich jemand anders. Nicht
doch, Stil, Rhythmus, das ist wichtig
– meint wiederum ein dritter und in
Branislav Glumac
dir, du bleiche Gestalt, dröhnt dieses
Gewirr aus Wörtern und Stimmen,
die allesamt nur der Architektur eines
Ganzen bedürfen, nur der Komposition, jenes Steins, von dem der große Michelangelo gesprochen hatte.
Geh, geh unter die Läute, tauche in
die Menge ein und suche – meldet
sich wieder jene verhaltene Stimme
– was starrst du wie ein Rindvieh in
diese weiße Blatt Papier? Geh raus aus
diesem Zimmer, das ja doch nichts
anderes ist, als eine offene Wunde,
neben der sich noch eine solche befindet, und noch viele von ihrer Art,
in denen die Menschen wie Insekten
aneinander nagen!
Du wirfst die Feder weg, hast genug,
zerknüllst das Papier und sieh da: aus
dem zerknüllten Papier fiel ein purpurfarbenes Haar jener jungen Frau
heraus! Du denkst: es ist nur meine krankhafte Fantasie, und wirfst
das Papier in den Aschenbecher. Du
bist wütend, weil dich nichts gelingen will und weil um dich herum
nur Trugbilder sind. Du greifst nach
deinem Mantel, ziehst dir hastig die
Hose an, läufst auf die Straße... Aber
nein, du bist ein achtsamer Ehemann
und ein sorgsamer Vater: du kehrst
zurück wie ein Dieb, gibst jedem von
ihnen einen andersartigen Kuss auf
die Stirn, bekommst eine Gänsehaut
und läufst wieder auf die Straße hinaus. Du spuckst.
ICH HABE eine Zeitung GEKAUFT.
Ich lese die letzte Seite: alles nur Morden im heißen Afrika. Tschombe legte einen Blumenkranz auf Lumumbas
Grab nieder – (was für eine widerwärtige, abscheuliche Ironie des Schicksals).
IN HARLEM KOCHT ES WEITER:
SUCHE NACH VIER ERMORDETEN
JUNGEN MÄNNERN IN DEN SÜMPFEN DES AMAZONAS OHNE ERFOLG
BEENDET; VIERZEHN FRANZÖSISCHE ALPINISTEN KAMEN UMS LEBEN – FRANKREICH IN TRAUER;
FÜNF TOTE IM BERGWERKSTOLLEN – ENDTÄUSCHUNG UNTER
149
DEN EINWOHNERN DES KLEINEN
BERGBAUSTÄDTCHENS...
Ich war starr vor Schreck: wie ruhig war das geschrieben und gesagt
worden: „Die übrigen fünf sterben
in den Stollen“. Ich spüre mein Blut
durch meine Adern schnellen und
plötzlich herrscht um mich herum
tiefste Dunkelheit. Du bist einer von
den fünf, denke ich bei mir, und du
hast nur noch wenig Sauerstoff übrig. Du atmest schwer, hustest, ringst
nach Luft, deine Zunge hängt heraus, deine Lunge ist ein Ballon, der
gleich explodieren wird. Du wühlst
in der rohen, feuchten Erde und versuchst zu schreien: aber dein Schrei
verwandelt sich in Zähneknirschen.
Es wird immer wärmer. Du erinnerst
dich, wie dich derartige Situationen,
ALS DU NOCH AM LEBEN WARST, an
Dampfbäder erinnert hatten. Heißer
Schweiß rinnt an dir hinunter, während du darüber nachdenkst, wie
es war, ALS DU NOCH AM LEBEN
WARST, und du wühlst wieder in
der Erde. Deine Kameraden weinen,
schreien, und du bemerkst den letzten Glanz in ihren Augen, wie bei
einer Petroleumlampe, in der der
letzte Tropfen Flüssigkeit gerade am
Verbrennen ist. Du versuchst dich
so weit wie möglich an dein Leben
zu erinnern. Du beginnst mit deiner
Kindheit und saugst mit den unverbrauchten Atomen deiner Kraft jeden Tropfen der Milch deiner Jugend ein. Der Rest des Lebens trinkst
du in hastigen, großen Schlücken,
denn die Finsternis wird immer dichter und der Sauerstoff immer weniger. Du denkst an deine Familie. An
deinen Sohn. An deine Tochter, der
das Abitur bevorsteht. An die Frau,
die oben wartet, über dem Eingang
in den Stollen, heiße Tränen fallen
auf deine Hände, aber du spürst sie
nicht, denn du bist im Kessel. Wieder
wühlst du in der Erde und schreist.
Auch deine Kameraden schreien. Einer sucht die Hand des anderen.
Fremde Fingernägel dringen dir ins
150
RELA
Branislav Glumac
Fleisch ein und du versuchst, sie herauszuzeihen: vergeblich, die Fingernägel, die Krallen deines Kameraden,
werden für immer in deinem siedend
heißen Fleisch bleiben. Es kommt dir
vor, du seist betrunken und alles sei
nur ein böser Albtraum. Du säuselst
eine wahnsinnige Melodie vor dich
hin. Unklare Stimmen dringen aus
dir heraus, im Dunkel werden sie
zu gelben, brennenden Kerzen. In
deinem Kopf erscheint eine glühende Sonne. Dann verschwindet sie in
Kreisen. Du schreist: die Stimmen
bedecken dich. Du leckst an der Erde. Schnaufst wie ein Hund. Jemandes Bein hast du ertastet, denkst
aber, es sei der Balken einer Tür, die
dich hinausführen wird und greifst
krampfhaft danach: jener neben dir
schreit auf. Wieder erscheint jene
Sonne. Und ein gelber Sandstrand,
alles auf den Kopf gestellt. Auf deinen Lippen spürst du ein Lächeln...
Finsternis. Sonne im Kopf. Gelbe
Kerzen. Nägel im Fleisch. Feuchte
Erde. Sonne. Wasser. Sonne-Wasser.
Kerzen-Sand. Und dann: deine Lungen explodieren.
Du stehst nach wie vor mit den Armen zur Sonne, während die Tränen
eine nach der anderen über dein Gesicht laufen. Dann senkst du die Arme, senkst den Blick, hebst sie wieder, blickst auf die Menschen und
meinst, es gäbe ein fürchterliches
Missverständnis zwischen dir und
ihnen, einen ganzen Abgrund, der
euch unüberbrückbar voneinander
trennt. Du möchtest ihnen etwas
darüber sagen, was du soeben erlebt
hast, aber das viel zu große Herz des
Lebens lässt deine Worte nicht heraus
und am Ende bleibt dir nichts anderes übrig, als ebenfalls über dich zu
lachen. Es ist ein bitteres Lachen, gemischt mit der Finsternis jenes Stollens, in dem ihr fünf gestorben seid.
Du zwängst dich durch die blutrünstige Menge, die keine Ahnung hat,
dass du an diesem Morgen gestorben
warst und soeben zu den Lebenden
zurückgekehrt bist.
Wieder schlage ich die Zeitung auf.
Die Sportseite.
Ich verstecke meinen Kopf zwischen
den Blättern und nur mein Rumpf
geht die Straße entlang.
ALPENVEILCHEN, ALPENVEILCHEN
... reißt dich die Stimme eines klei-
ICH GEHE an einem Café VORBEI.
nen Jungen aus dieser furchtbaren
Geschichte und du spürst das Blut
zu laut durch deine Adern klappern
und stehst da, unter fremden und
unbekannten Gesichtern. Dein Herz
schlägt heftig. Du möchtest weinen
und lachen, dass dich die gesamte Menschheit hört. Du möchtest
laut herausschreien, dass du dich
nicht mehr in jenem Stollen befindest, aber jener Tod nimmt dir das
Recht auf jegliche Freude, obwohl
du hastig und mit voller Lunge ganze Trauben frischer Luft einatmest.
Du hebst die Arme zur Sonne und
spürst eine Träne, die, ohne dass du
es wolltest, deine Wange hinabgleitet.
Die Menschen stehen um dich herum und lachen dich aus. EIN VERRÜCKTER, hörst du sie reden... EIN
IRRER... EIN SCHIZOPHRENIKER...
Kleine Oasen für vormittägliche Geliebte, Schmuggler, Hooligans und
durchgefallene Mediziner. Auf kleine, runden roten Tischen mit ColaFlaschen und Espresso-Tassen fällt
grün-gelbes Laub. Im Vorübergehen
bemerkte ich jemandes schöne grüne
Augen. Voller Glanz und Sehnsucht
blickten sie in die Ferne. Diese Augen gehören nicht in dieses schmutzige Café, dachte ich, diese Augen
gehören jenen grünen Räumen, deren Sehnsucht in ihnen brennt. Vielleicht irre ich mich, vielleicht werde
ich sentimental, vielleicht sind das
die Augen irgendeines Mädchens aus
der Provinz, das bald ihr Studium beginnen wird und jetzt in den letzten
Zuckungen seiner Nostalgie an seine Heimat zurückdenkt. Es erinnert
sich, wie es an einem solchen Vor-
TIONS
mittag barfuß über das nasse Graß
trottete oder über den Schotter an
den Geleisen entlang lief. Es schien
genau dieselbe Sonne. Es wehte eine
milde Brise. An einer Seite der Strecke wuchsen Akazien und murmelten vor sich hin. In der Ferne lagen
Kleewiesen und Maisfelder; Stoppelfelder, aus denen blauer Rauch aufstieg. An einer Stelle stellte sich ihr
plötzlich ein Bach in die Quere und
sie machte halt. Sie beugte sich über
den ruhigen Spiegel des Wassers und
erblickte ihre gestalt, ihr rotes Gesicht... Aber nein, nein! All das habe
ich gerade erfunden: denn all diese
Akazien, dieser Klee, die Stoppelfelder und der blaue Rauch, dieser
murmelnde Bach – all das gehört zu
meiner Heimat.
Und warum sollte ich jemandem meine Heimat borgen? Sagen sie mir das!
ICH BETRETE die Hauptarterie der
Stadt. Die Luft ist durchdrungen von
menschlichem Gemurmel, Anliegen,
Wünschen, Sehnsüchten, aber mir ist
an diesem Morgen, als habe das alles keinen Sinn. Dieses nervöse Aufeinanderprallen und fachmännische
Ausweichen von Körpern, die mit
unbeschreiblicher Routine, von ihren eigenen Wegleiterinnen geleitet,
umhereilen; diese frühmorgendliche
Jagd auf „unser täglich Brot“, in der
Menschen zu Jägern und untereinander scheinbar zu stillen Feinden
werden; dieses blitzschnelle Händeschütteln mit dem obligatorischem
Blitzen ihrer Gebisse, die nach unverdautem Fleisch riechen, nur damit das Gesicht am Ende einen strengen und mürrischen Ausdruck bekommt und irgendwo im Raum verloren geht, wie jener kleine Fleck,
der kurz auf der Leinwand des morgendlichen, jetzt wie Fischsuppe klaren Himmels aufgetaucht war; dieses Meer bedeckter und unbedeckter Häupter, die auf ihren kräftigen, dünnen, buckligen, alten und
jungen Rümpfen herumhüpfen, all
RELA
TIONS
das kommt mir vor wie ein Brei, der
von unbekannter Hand zusammengerührt und in diesen Engpass geworfen wurde, damit die Winde des
Schicksals ein wenig mit ihm herumspielen können. Und trotzdem,
zum Teufel, jede dieser Individuen
ist die Bewegung einer Möglichkeit
im Raum, ein vorgezeichneter Weg
im Abgrund der Zeit, der Sinn eines noch unentdeckten Ziels, nach
dem man sein Leben lang so hartnäckig sucht und der sich letztendlich
doch nicht eröffnet. Denn sie ist ja
so orgastisch, diese ewige Reise des
Lebens, die Fahrt durch Stürme und
Windstillen, die sich in eine stille,
alternde Hoffnung verwandelt, eine Täuschung und einen Trost, es
sei niemals zu spät, man müsse mit
allem aufs neue beginnen und es gäbe noch immer eine imaginäre Insel
des Glücks.
Ich bemerkte ein kleines, verschmiertes Mädchen, das vor dem Schaufenster eines Geschäfts stand. Sein
Gesicht war übersäht mit herrlichen
goldenen Sommersprossen, die aussahen, als habe man sie von der Sonne selbst gestohlen. Sein rotes Haar
fiel in Zöpfen auf ihren halbwegs
sauberen Hals, das fahle Kleidchen
umrahmte seinen zierlichen kleinen
Körper. Warum steht dieses kleine
Wesen in dieser Arena, umgeben von
versteinerten Gesichtern, routinemäßigen, rauen Jägern des menschlichen Glücks? Was sucht es vor dem
Schaufenster dieses Geschäfts? Wo
irren seine Gedanken umher? Das ist
auf jeden Fall eine interessante Frage,
deshalb sollten wir uns das Schaufenster einmal ansehen:
Dort befindet sich ein buntes Reich
stummer und eingesperrter Tiere.
Bärchen mit traurigen, gläsernen Augen sitzen in den Ecken, Hasen mit
langen Ohren scheinen laufen zu
wollen, ein grünes Hündchen, eine Wildente, ein Elefant, ein zottiger Hund, ein Reiher, ein langbeiniger Storch und noch viele, viele sol-
Branislav Glumac
che und ähnliche Nachahmungen
echter Wald- und Wasserbewohner.
Das Mädchen steht da, bohrt sein
Näschen in die milchige, schmierige
Glasscheibe und seine Augen funkeln mit traurigem Glanz. Vielleicht
träumt es, jener große Bär gehöre ihr?
Vielleicht reist es auf dem Rücken des
schlankbeinigen Storches irgendwohin? Vielleicht meint es, es sei doch
eine Ungerechtigkeit, dass es keines
von diesen Tierchen hat, während seine kleinen Nachbarinnen ganze Familien davon besitzen. Gerade während
ich diesen Fragen nachgehe, kommt
eine geschminkte Frau aus dem Laden. Sie besieht ihre neue Tasche, die
sie soeben gekauft hat und in der sich
die Sonne spiegelt. Nach langem besehen kommt es ihr in den Sinn, dass
das kleine Mädchen ihr gehört. Sie
kommt auf es zu und haut ihm eine runter („weil man die Nase nicht
an das Glas des Schaufensters halten
darf“). Dann fragt sie kühl: „Gefällt dir meine neue Tasche?“ „Gefällt
mir“, antwortet das weinende Kind,
dessen stumme Sommersprossen unter den feuchten Tränen jetzt noch
schöner wirken, beinahe, als seien sie
aus Gold. Ja, sie sind es auch!
UM ELF UHR sitze ich im Redakti-
onskollegium („man muss ja auch
ein wenig arbeiten“). Wir sitzen an
einem langen Tisch, wir neun verärgerte und reizbare Menschen, und
machen Sendungen für das abendliche Radioprogramm. Ich sitze mit
dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zum Fenster, in dem ein ausgeschnittenes Viereck des klaren Himmels schwimmt: nirgendwo auch nur
der kleinste Fleck, nur ein zitternder
Vorhang aus Luft vor meinen Augen. Ich möchte diesem verlockenden himmlischen Viereck entgegenfliegen und wie ein Fakir oben in der
Höhe ausruhen, wo alles so sauber ist,
doch da kneifen mich aus klebriger
Nähe kreischende und streitsüchtige
Stimmen an. Im Nu ist die Illusion
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verschwunden und ich falle wie aus
heiterem Himmel unter die fremden Gesichter, die die gestrigen Sendungen bewerten. Das ist unerhört
langweilig und für einen Kulturmenschen auch ein wenig beleidigend.
Doch die Richter sind unerbittlich:
sie zwingen einen zum Reden. Als sei
sein Wort von Wichtigkeit, als würde sich davon die Umlaufbahn der
Erde ändern und als sei es mehr, als
leeres Echo! Ich merke wie ein Kleingeld aus Wörtern aus meinem Mund
fließt und bekomme davon ein süßliches Gefühl zwischen den Zähnen:
ich rede aus purer Langeweile, aber
alle sind glücklich! Die Qual ist vorbei. Wir stehen auf. Manche schieben sich ihre Bleistifte hinters Ohr,
wie Kaufleute.
Es ist nach Mittag.
ICH GEHE den Weg, den ich am
Morgen gegangen war, ZURÜCK.
Ich habe die Hauptarterie der Stadt
schon hinter mir, ebenso das Café,
und befinde mich bereits an der Ecke
meiner Straße. Teller und Löffel machen klingende Geräusche. GUTEN
APPETIT, jemand sagt auch ZUM
WOHL. Jemand rülpst. DER SALAT
IST AUSGEZEICHNET. IN DER SUPPE IST EINE FLIEGE. PFUI! DIE KARTOFFELN SIND ZU SALZIG. EINE
OHRFEIGE SETZT EIN. KLATSCH!
DU HAST MEIN NEUES KLEID RUINIERT, DU GEMEINER MENSCH.
UND DIESE FLIEGE IN DER SUPPE
UND DIESE GRÄTE IM HALS UND
– ZUM WOHL – EBENFALLS – DANKE. MEINE FRAU, mein Sohn und
ein gedeckter Tisch warten schon
auf mich. Ein Kuss für die Frau, ein
Kuss für den Sohn. So. Danach rinnt
die Suppe blitzschnell die Kehle hinab. Und dein Enzynorm? – fragt
die Frau. Und deine Gastritis? Ich
schluckte eine bittere gelbe Pille, von
der mir die Galle dermaßen hochging, dass ich meine gesamte Straße
darin versenken konnte!
Fertig.
152
RELA
Branislav Glumac
AM NACHMITTAG lese ich ein wenig
und schlafe. Meine Frau und mein
Sohn schlafen ebenfalls.
ICH ERWACHE in der Dämmerung,
mit einem faden Geschmack im
Mund. Die erste Dunkelheit zieht
ein. Ich denke an den soeben vergangenen Tag und daran, wie ich
aus diesem Teil meines Lebens eine
Geschichte zu machen versuche. Eigentlich habe ich es schon versucht
und es ist mir nicht gelungen, weil
alles irgendwie blitzartig an mir vorbeigeflogen ist. In meinem Kopf ist
ein Album mit Bildern und Szenen.
Aber aus alldem wird nichts, sagt mir
eine Stimme: DAS WICHTIGSTE IST
DIR ENTGANGEN. Vielleicht auch
nicht: wird das Leben denn nicht mit
kleinen Gewichten gemessen? Auch
dieser Tag, der bald in eine frische
Spätsommernacht übergehen wird,
ist eigentlich unermesslich, und zwar
gerade wegen seiner Kleinigkeiten
und Einzelheiten, die gerade DAS JENIGE sind, in das man seine Fantasie und seine Feder eintauchen sollte.
Aber dieser Tag ist jetzt schon etwas
Ehemaliges, langsam wird er zur Vergangenheit und ich muss mich zurückerinnern, was ich alles gesehen
und erlebt habe. Ich weiß, dass alles
mit dem Fallen von Laub begonnen
hatte, mit einer jungen Frau aus unserem Haus, mit unseren Mitbewohnern, einem Café, der Hauptstraße,
einem ans Schaufenster gelehnten
Kindernäschen, meinem Kollegium,
dem Mittagessen, Ohrfeigen, und
jetzt endet alles im Bett. O, was für
eine Ironie!
Sieh mal einer an, es ist schon ganz
finster und die Straßenlampen gehen
langsam an. Aus irgendeiner Wohnung in unserem Haus kommt Musik, ich höre die Schritte der Nachtwache, stehe auf und stehe schon
wieder am Fenster, vor dem der Tag
ja auch begonnen hatte, genauso wie
meine zukünftige Geschichte, für
die mir nur noch ein erster, starker,
aussagekräftiger Satz fehlt. Sieh mal,
die späte Sommernacht. Sieh mal,
die Sterne! Sieh mal, Feldermäuse!
Sieh mal, die Luft riecht schon nach
Herbst.
Und was ist mit deiner Geschichte, wie
soll diese anfangen und enden, fragt ein
innerer Flüsterer.
Ich habe keine Ahnung, wo ich beginnen soll.
Schau, schau, jetzt will er sich rausreden, sagt die Stimme.
Nein, nein, auf keinen Fall, ich habe das alles eigentlich nur geträumt,
während ich an meinem Fester stand.
Auch den Klee?
Ja.
Und die Wiese mit den Gänseblümchen?
Ja.
Auch jene junge Frau, die nun jungfräulich rein in die Nacht eintritt?
Tatsächlich, sie steigt hinunter! Ich
höre ihre Schritte, das flatterige Rauschen ihres Kleides. Mein Herz schlägt
kräftig wie die Glocke einer Dorfkirche.
Die junge Frau hat das Haus verlassen und ist mit würdevollem Schritt
an meinem Fenster vorbeigegangen.
In meinen Nasenlöchern blieb der
Duft ihrer Lust. Die kleine Schlampe, denke ich boshaft. Sei still, du
böser Mensch, meldet sich jemand
in mir zu Wort. Du bist doch nur
eifersüchtig! Sieh doch, wie sanft sie
der Nacht entgegenfliegt, sieh doch,
wie sie vom Mondlicht geküsst wird,
wie silbern und rund ihre Schultern
sind!
Die junge Frau war im Dunkel der
Nacht verschwunden. Es befiel mich
eine eifersüchtige Wut wegen ihrem Verschwinden, wegen ihrer geheimen Liebe, die nachts erwacht
TIONS
und die irgendwelchen barbarischen
Händen gehört. Dann spürte ich,
wie sich eine gewaltige Leere in mir
geschlossen hatte und wie furchtbar
es ist, so allein am Fenster zu stehen,
in die Nacht zu schauen und sich eine ungeschriebene Geschichte auszudenken. Rasch lief ich zum Bücherregal, nahm einen dicken Band
heraus, schlug Seite 517 auf und
begann, übers Fensterbrett gelehnt,
laut zu lesen:
Er küsse mich mit dem Kusse
seines Mundes; denn deine Liebe ist
lieblicher als Wein.
Seht mich nicht an, dass ich so
schwarz bin; denn die Sonne hat
mich so verbrannt. Meiner Mutter
Kinder zürnen mit mir. Sie haben
mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen eigenen Weinberg
habe ich nicht behütet.
Des Nachts auf meinem Lager
suchte ich, den meine Seele liebt. Ich
suchte; aber ich fand ihn nicht.
Ich will aufstehen und in der
Stadt umgehen auf den Gassen und
Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand
ihn nicht.
ICH SUCHTE; ABER ICH FAND IHN
NICHT, wiederholte ich lauter und
von irgendwoher, aus der Tinte der
Dunkelheit, brachte mir der Hauch
des herumirrenden Nachtwinds stille, stille Stimmen ans Ohr, die an das
Weinen einer Frau erinnerten.
Habe ich nicht vielleicht auch das
nur geträumt, während ich so am
Fenster stand und in die seltsame,
poetische Nacht meiner Stadt hinausblickte?
Aus dem Kroatischen von
Boris Perić
RELA
TIONS
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Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
154
Poesie
Zvonko Maković
ZVONKO MAKOVIĆ, geboren 1947. Er studierte Kunstgeschichte und Komparatistik
an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb, wo er heute Professor für
moderne Kunst und visuelle Kommunikationen ist. Er hat zahlreiche Gedichtbände,
kunsthistorische Monographien und Essaybände veröffentlicht. 2001 wurde ihm
der größte kroatische Preis für das gesamte dichterische Werk „Goranov vijenac“
verliehen. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Preis der Kroatischen Sektion von AICA
für Kunstkritik ausgezeichnet. Er war Kurator zahlreicher Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und im Jahr 2001 Kurator für Kroatien bei der 49. Bienale in Venedig.
Er ist zuständig für die Auswahl der kroatischen Lyrik bei lyrikline.org in Berlin. Auf
Deutsch ist er in der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis
zu lesen.
Schöne Aussichten
allem anschein nach verstand er nicht richtig
als man ihm sagte: steh auf.
er be wegte seine hand und knirschte mit den zähnen und
sand beschädigte den zahnschmelz, so dass man ihm
wieder befahl aufzustehen, aber keine bewegung.
es war nicht notwendig zu wiederholen, sagt der eine,
aber, um sicher zu gehen, lösten sie
den strick, der das bündel roggen zusammenhielt und
warfen ihn hinter sich ohne zu schauen wohin
er fällt: besser so, denn er flog der lerche nach,
und sie traten wieder heran, danach bum-bum
und nichts. er bewegte sich nicht: er lag.
und sie: sie nahmen werkzeug und steine in ihren kleidersaum
nahmen diesen weg, wo die pfade schmaler sind,
ein seil, ein seil, was sonst, trillerte die lerche;
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
dann das foltern: sand in den mund, zähne und zunge
sind schon ganz verrenkt, wie ein gelenk,
während sie mit ihren armen wedelten um ihn herum,
der auf dem ufer liegt und mit den füßen kratzt
über die kieselsteine; sie setzten ihre befehle fort:
nein und nein, dann bum-bum und wieder
grinste die lerche: o, marul1, wer nahm dich,
ich bin nicht dein, ich bin ganz mein,
wie gewonnen, so zerronnen! bum-bum,
bum-bum: nur der kieselstein wurde schwarz vom schießpulver,
und das seil, das fliegende, kreiste darüber her
und es schien als wäre das der ausschnitt des „jüngsten gerichts“
aus padua, diese aureole über dem heiligen kieselstein –
dem wesen, das der gravitation trotzt. das
reicht um die fingernägel zu schneiden und sie in polynesien liegen zu lassen.
(Aus: Kometen, Kometen)
Beispiele
Einer,
den man erkannt hatte, trug
einen hut. sein leicht abgenutzter wintermantel
hatte angenähte taschen und
er fiel leicht unter den anderen auf.
über die anderen gab es keine daten.
Einer,
rief immer wieder „ich werde mich nicht ergeben“: er war
abgesondert von der menge und man hat ihm
applaudiert. etwas weiter diskutierte eine andere gruppe
über das fußballspiel und
1
Marul ist ein Kosename für Marko Marulić, einen Renaissancedichter.
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Poesie der Nachbarn
Einer,
der an ihnen vorbeiging, drehte den kopf
zur seite. man sagt, heute morgen ist es kalt geworden,
der schnee taut nicht und ist nicht mehr weiß. als ich
zum ersten mal den schnee erblickte, habe ich mich
nicht getraut ihn zu berühren,
einst sprach er in der mußestunde
Einer,
dessen koteletten lockig waren, nur
hier und da angegraut.
dann betrat
Einer,
nachdem, er die zeitung gekauft hatte, das kaffeehaus;
er setzte sich hin,
streichelte seinen bart, legte die beine übereinander,
rief den kellner, der gerade vorbeiging.
die zeitung war der corriere della sera.
er hatte eine ordentlich gebundene krawatte,
seinen hut hatte er auf den stuhl gelegt, und die manschetten
seines wintermantels waren direkt
an den rändern ein wenig abgenutzt.
(Aus: Die Tatsachen)
Dreistigkeit
manchmal spürte er, wie sie ihn beleidigen:
– „durch höfliche ansprache“
– „durch vermeidung der begrüßung“
– „durch verschweigen“
– „durch lautes herbeirufen“
– „durch aussprache des namens in falscher betonung“.
manchmal schlug er mit geballter faust auf seinen
schenkelknochen, um sich selbst zu bestrafen – für das falsche gefühl,
das ihn grundlos bedrückte.
manchmal, er ging
spazieren,
ohne gruß, mit tief,
tief,
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
unter die haut eingeprägten worten;
mit worten,
die er keinesfalls aussprechen konnte,
ohne scham zu verspüren, dass ihn ausgerechnet sie beschäftigen,
die worte,
mit welchen er andere beleidigen könnte,
mit denen er ihnen vielleicht
schmerz
wut
niedergeschlagenheit zufügen würde –
– „durch die mögliche höfliche ansprache“
– „durch die mögliche vermeidung der begrüßung“
– „durch das mögliche verschweigen“
– „durch das mögliche laute herbeirufen“
– „durch die mögliche aussprache des namens in falscher betonung“.
(Aus: Die Tatsachen)
Drei Abschnitte über eine Tatsache
1.
er fuhr die rolltreppe hinab in die unterführung an der oper; er blieb vor dem schaufenster
eines blumengeschäfts stehen, dann zog er seinen mantel aus, setzte sich hin, bestellte einen
kaffee und schlug das buch auf. an der theke machte ein kreole einem mädchen, das die gläser
spülte, den hof. es war elf uhr nachts. das buch, das er gerade las, war hesses peter camenzid.
der creole erklärte dem mädchen etwas, grinste und stützte sich dabei mit den ellenbogen auf
die polierte theke. „you are a poet“, said the girl after a moment. er wiederholte den satz, der
er schon vorher gesagt hatte und betonte einige worte darin besonders.
2.
jeder passant konnte von der einen auf die andere seite des opernrings gehen. es ist üblich,
mit der rolltreppe hinab zu fahren und zwischen einem café in der mitte der unterführung
und einem geschäft an der seite vorbei zu gehen. nicht jeder passant kehrte in dem café ein,
das übrigens zu dieser späten stunde ziemlich leer war. selten pflegte jemand, der eintrat, sich
an einen tisch zu setzen und ein buch aufzuschlagen. schwer zu sagen, ob jemand in diese bar
hereinkam und hesses roman peter camenzid in der bantam book ausgabe las. nur wenige bemerkten den creolen, der dem mädchen an der theke erklärte, dass er neben dem naschmarkt
wohne und dass er es langweilig finde, so allein zu sein. auf seite 105 des erwähnten buches
steht der satz: „you are a poet“, said the girl after a moment. jemand sagte einen satz und betonte
dabei vor allem den schluss. es schien, als wäre eine derartige betonung gerechtfertigt.
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RELA
Poesie der Nachbarn
TIONS
3.
der creole wiederholte ununterbrochen den satz „es ist nicht einmal 500 meter weit weg, glaub
mir“, dabei bleckte er die zähne und legte eine besondere bedeutung auf den letzten teil des
satzes. das mädchen, das sehr interessiert zuhörte, antwortete nichts. eine andere weibliche
stimme redete auf einen gesprächspartner ein und glaubte ihm damit zu schmeicheln, sie versuchte, ihn von etwas zu überzeugen, über das er eine sehr klare meinung hatte.
(Aus: Die Tatsachen)
Übungen
und das offene fenster?
– und das offene fenster.
und die dinge, die du durch das offene fenster siehst?
– und die dinge, die ich durch das offene fenster sehe.
und die dinge, die vor dem offenen fenster bleiben?
– und die dinge, die vor dem offenen fenster bleiben.
und die dinge, die nicht in den rahmen des offenen fensters treten?
– und die dinge, die nicht in den rahmen des offenen fensters treten.
und die dinge, die du berühren kannst, weil sie vor dem offenen fenster stehen?
– und die dinge, die ich berühren kann, weil sie vor dem offenen fenster stehen.
und die dinge, die ungreifbar sind, weil sie hinter dem offenen fenster stehen?
– und die dinge, die ungreifbar sind, weil sie hinter dem offenen fenster stehen.
und die dinge, die nah sind, und die dinge, die fern sind?
– und die dinge, die nah sind, und die dinge, die fern sind.
und das offene fenster?
– und das offene fenster.
und das fenster, das nicht offen ist, aber offen sein könnte?
– und das fenster, das nicht offen ist, aber offen sein könnte.
und das offene fenster?
– weder ist das fenster offen, noch könnte es offen sein.
und das fenster, das vor dir ist?
– weder ist das fenster vor mir, noch bin ich hinter dem fenster.
weder ist das fenster offen, noch habe ich ein offenes fenster gesehen.
noch habe ich irgendwelche dinge hinter dem offenen fenster gesehen
noch habe ich irgendwelche dinge berühren können
vor dem offenen fenster, denn das fenster war weder offen, noch ein fenster.
ich hatte eigentlich das offene fenster gar nicht erwähnen wollen.
und das offene fenster?
– und das offene fenster.
(Aus: Die Tatsachen)
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Ich erinnere mich
auf dem tisch vor mir sehe ich einen aschenbecher
und eine tasse tee. ich sehe das feuerzeug und die soeben geöffnete
schachtel zigaretten. etwas näher
sehe ich das papier in der schreibmaschine. ich sehe worte, geordnet
zu regelmäßigen waagerechten linien.
ich sehe, wie diese worte aus der schreibmaschine herauskommen
nachdem ich mit meinen fingern die tasten berührt habe.
ich sehe ganz deutlich, wie sich diese worte
von mir entfernen, wie sie dem aschenbecher und den zigaretten
vertraut werden, wie sie gemeinsam mit dem papier einen teil der tasse
verdecken, wie sie zu irgendwelchen geschriebenen worten werden,
die ich, wenn ich den wunsch verspüre, lesen werde, ich werde sie durchstreichen,
zerknüllen, aus meiner nähe entfernen.
ich spüre, dass ausgerechnet das die worte sein können,
welcher ich mich bedienen kann
die ich aussprechen und aufsagen kann.
die worte, geschrieben, die ich laut vorlesen kann, und
wenigstens für einen augenblick kann ich glauben,
dass das meine worte sind.
ich spreche sie aus und notiere,
trenne dabei absichtlich das eine wort vom anderen,
diese worte, die ich jetzt vor mir sehe.
ich erinnere mich,
einst habe ich geglaubt, dass ich kein einziges wort richtig verstehe
und es wurde mir bange von diesem gedanken.
während ich das ausspreche, glimmt die zigarette auf meinem tisch aus.
langsam bemächtige ich mich der stimmen, die ich höre
und der bedeutungen, die ich errate, so wie ich mich des tisches bemächtigt habe,
so wie ich mir den rauch der zigarette angeeignet habe,
die im aschenbecher liegen gelassen wurde.
ich erinnere mich,
wie ich heute früh der frau meinen rücken zugedreht habe, die mich
vor der haustür gefragt hat, ob das mein auto sei,
das direkt neben dem eingang stehengelassen wurde.
„nicht dass ich die lukrativen geschäfte auf den messen abschließen würde“,
das war ein satz, den ich einst gelesen hatte,
aufgeschrieben mit grüner tinte in einem heft.
ich konnte eindeutig sagen, dass das nicht
mein satz ist.
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Poesie der Nachbarn
ich erinnere mich,
dass ich bereits notiert, bereits ausgesprochen und bereits gehört habe,
wie ich gerade vor dem tisch sitze, wie ich vor mir
den aschenbecher und die tasse tee sehe. ich sehe das feuerzeug
und die soeben geöffnete schachtel zigaretten.
ich erinnere mich,
dass ich bereits notiert, ausgesprochen, gehört habe, wie meine zigarette
im aschenbecher ausglomm.
wie ich gewusst habe, dass ich sie angezündet hatte,
dass also der rauch mir gehört und dass ich ihn spüren kann.
als ich das zum ersten mal notiert hatte,
habe ich alles auch gespürt. jetzt jedoch, wenn ich
wieder dieselben worte notiere,
wiederhole ich sie, aber ich empfinde sie nicht als eigene worte.
ich empfinde den rauch nicht „als-etwas-eigenes“.
ich spüre die berührung der schreibmaschine
mit meinen fingern nicht als eigene berührung.
ich empfinde nicht –
ich erinnere mich.
(Aus: Die Angst)
Das Schreiben der Poesie
Er begann, ohne dass ihn jemand danach gefragt hätte,
über seine Unschuld zu sprechen,
über die falsche Strategie der Verteidigung.
Die Worte flossen kristallklar
und durchschnitten den Raum wie Laserstrahlen.
Das Publikum hörte interessiert zu,
jemand machte Notizen,
eine Frau hatte fest geschlossene
Augen und ihre Augenlider zitterten
ein wenig.
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Dann blieb er plötzlich stehen,
hob die Hand hoch und mit ausgestrecktem
Zeigefinger schlug er den Rhythmus
des früheren verbalen Beschusses.
Seine großen Augen waren weit aufgerissen,
und seine Pupillen folgten
den kurzen Zuckungen des Zeigefingers.
„Herrschaften, es ist an der Zeit zum Ende zu kommen“;
rief der Mann,
dem man gesagt hatte, er sei der Richter,
und stand auf. Danach standen auch andere auf,
da sie glaubten, dass das ein Teil des gewohnten Rituals sei.
Der, der zuvor gerufen hatte
(war das der Angeklagte?)
sagte ganz ruhig,
ohne sich nun an jemanden zu wenden,
es sei ihm übel,
er wolle sich übergeben,
er würde vor Erschöpfung zusammenbrechen.
Spät am Abend, als er
seine Mappe mit den Notizen öffnete,
sah er den durchgestrichenen Satz:
„Es handelt sich um ganz gewöhnliche Dinge“.
Und unter den Satz,
oder an seiner statt,
schrieb er mit etwas größeren Buchstaben:
„Er begann, ohne dass ihn jemand danach gefragt hätte“
und dann über das durchgestrichene „zu rufen“
schrieb er „zu sprechen“, und in derselben Zeile
„über seine Unschuld“.
(Aus: Die Angst)
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Poesie der Nachbarn
Ein Beitrag zur Geschichte der kroatischen Literatur
alles ist wie 1912 als
ernst ludwig kirchner
die kubikräume zerschlug
mit der emotionalen bombe,
als er mit den schwarzen spitzen figuren
das baldige zerfallen ankündigte
und als die dichter mit stockenden sätzen
etwas sicheres erzählten.
manch ein kroate sang damals
oh, daphne
manch anderer reihte ungeschickt lauwarme
hexameter aneinander,
andere wiederum lobpreisten blökend
die kraft des volkes.
es gab vielleicht zwei, vielleicht einen,
und vielleicht war auch er nur derjenige,
der wirklich kommen wird.
ich meine, vielleicht gab es auch niemanden,
der das alles begreifen und etwas in einfachen,
aber eigenen, sätzen sagen konnte.
von irgendwo roch es nach saurem wein,
die fontänen am zrinjevac rumorten still,
und die menschen liefen wie schafe herum
und begrüßten sich somnambul.
auf kirchners bild laufen frauen in schwarz.
auf dem mirogoj laufen frauen in schwarz
und die schwarzen hüte riechen nach „coty“.
das ist jenes gefühl, das niemand hier
im richtigen augenblick erfasste
und mit einigen so einfachen sätzen ausgesprochen hat.
wenn du schluchzst, dann kümmerst du dich nicht
um die interpunktion.
und die worte bröseln
und gleiten leicht ab.
und das ist dann gut.
(Aus: Die Angst)
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Poesie der Nachbarn
Aufzeichnungen
a)
Einige Mal habe ich ein zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier aus der Schreibmaschine gezogen. Das was ich darauf gelesen hatte, widerte mich an. Ich wurde wütend. Ich wollte etwas
so Einfaches sagen, etwas, was ich nur für einige Minuten im Auto gespürt hatte, während
ich von der Autobahn in einen kleineren Ort abbog und im Radio ein Teil eines Konzertes
von Ingrid Caven gesendet wurde. Sie sang das Chanson Acne vulgaris von Fassbinder und
Raben. Draußen schneite es, und es roch nach Feuchtigkeit.
Nachdem ich ein Auto überholt hatte, begann ich zu schreien. Ich erinnerte mich an die Straße,
die aus Osijek zur ungarischen Grenze führt. Ich erinnerte mich an den Herbst 1956. Es schien
mir, als würde ich den Geruch der frisch gefällten Tanne empfinden, die ein Mann zu Weihnachten in unser Heim gebracht hatte. Er sagte anstelle eines Grußes: „Es wird Krieg geben“.
Meine Mutter gab ihm Geld und sagte: „Sie haben sich sicher erkältet. Trinken Sie einen.“
Die Tanne wurde dann zum Weihnachtsbaum, und im Radio wurde „Oh Tannenbaum, oh
Tannenbaum“ gesungen – mit gelegentlichen Störungen in der Leitung.
Ich schrie jetzt „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“ und Ingrid Caven schrie „Im kleinen Leben
liegt der große Schmerz“.
Das Auto fuhr schnell, und es schneite:
Es war so angenehm, so angenehm.
Ich dachte, dass ich in einigen Minuten im Hotel sein und in die Badewanne steigen und
lange eindampfen würde.
Danach würde ich ins Restaurant hinab gehen und Wein trinken.
Das alte Fräulein Meier wird sagen: „Sie haben sich sicher erkältet“.
Ich werde jetzt, jetzt, jetzt schreien...
Ich werde nicht schreien.
Ich werde grob sein.
Ich werde sagen: „Auch den Seitenspiegel, bitte“, wie schon heute früh den beiden Jugoslawinnen, die mein Auto gewaschen haben.
Und ich werde anhalten.
Und Angst spüren.
Und all das in nur einigen Minuten, während ich von der Autobahn zu einem kleineren Ort
abbiege.
b)
Dann habe ich wieder ein Blatt Papier in die Schreibmaschine eingezogen und es angestarrt.
Ich habe mich daran erinnert, dass ich irgendwo den Vers gelesen habe:
Der Schnee rieselt, rieselt, rieselt leicht.
Einst habe ich folgende Verse gelesen:
In der Winternacht, wenn der Wind
nach Feuchtigkeit riecht, (...)
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Poesie der Nachbarn
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TIONS
Ich zog das Papier aus der Schreibmaschine, zerknitterte es und warf es unter den Tisch. Dann
nahm ich meine Jacke, zog mir die Stiefel an und ging nach draußen. Ich setzte mich ins Auto
und fuhr zum Westbahnhof. Dort holte ich den Koffer ab, der schon seit einigen Tagen bei
der Gepäckaufbewahrung lagerte. Es war zehn Uhr vormittags. Ich fuhr aus der Stadt heraus,
an einer Tankstelle tankte ich und setzte meine Fahrt auf der Autobahn fort. Es war kalt. Es
schneite. An der ersten Raststätte aß ich Toast mit Käse und trank heiße Melange. Ich merkte, dass ich meine Hände mit Indigopapier beschmiert hatte, und ging in die Toilette, die
im Keller lag. Dort roch es nach flüssiger Seife und Deo. Ich kaufte zwei Schachteln Zigaretten im Automaten und setzte mich ins Auto. Die Straße war beinahe leer. Ich bemerkte im
Rückspiegel ein französisches Auto und schaltete das Radio an. Als ich die ersten Takte der
melancholischen Serenade von Peter Tschaikowsky hörte, erinnerte ich mich an ein Konzert
im Cabaret Le Pigalle. Nach der melancholischen Serenade sprach jemand über Grillparzer.
Gerade überholte mich das französische Auto, in dem ein junges Paar saß. Sie waren schön
und lachten beide. Sie fuchtelte mit ihren Händen herum. Wenn ich beschleunige, kann ich
sie bis zur Kurve einholen, dort ist der Abzweig zu einem kleinen Ort, an dem ich neulich
das Wochenende verbracht habe. Im Hotel „Beim goldenen Engel“ kann ich immer ein Zimmer bekommen, dachte ich und raste an dem Straßenschild vorbei, das anzeigte, dass ich
mich dem Abzweig näherte. Im Radio sang jetzt eine bekannte Stimme das Chanson Acne
vulgaris. Ich überholte die Franzosen, die ihre Fahrt auf der Autobahn fortsetzten, und ich
fuhr in die Kurve.
(Aus: Die Angst)
Cardo & Decumanus
Als mir der Gedanke kam, dass sie mich beobachten,
drehten sie jählings ihre Köpfe,
so dass sich ihre Profile abzeichneten,
und dann, wie vereinbart, gingen sie los
im selben Augenblick. Ich sah,
aber jetzt bin ich mir nicht mehr ganz sicher,
wie sie bei dem ersten Schritt vorwärts plötzlich innehielten,
und das hat mich an einen Film
erinnert: da sind nämlich
Menschen plötzlich stehen geblieben, dann sind sie wieder
losgegangen, haben sich von der Stelle bewegt, dann sind sie wieder
alle stehen geblieben. Und so einige Male.
Eine Zeit habe ich nach psychischen Ursachen gesucht
für die ständigen Vergleiche, die mich bedrängen.
Nichts nämlich geschah von alleine.
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Alles hatte, wenn schon nicht ein Äquivalent, dann doch zumindest
eine Wurzel in einem früheren
Ereignis. Die wirkliche Welt war immer
nur der Film, das Buch, das Bild
oder der einst berühmte Satz,
all das, was sich abgelagert hat und was darauf wartete
wieder aufzutauchen.
Gestern Abend habe ich in dem Restaurant auf der Piazza Sforza Cesarini
osso buco bestellt. Lange danach hat mich
das Wort osso buco selbst beschäftigt,
da ich wusste, dass ich es schon einmal außerhalb einer Speisekarte
geschrieben gesehen habe.
Auf dem Teller wurde es so sehr zum
WORT, dass sich der Geschmack immer mehr
in den Geruch des Papiers verwandelte, sogar des Klebstoffs
bei der Buchbindung,
als ich mich erinnerte, dass ich bei Šalamun
auf eben dieses osso buco geraten war,
ich habe mich auch an das bei ihm anders geschriebene Wort
(ossa buca) erinnert.
Als ich einmal einen Bus auf
einer breiten und leeren Straße sah,
erinnerte ich mich sofort an einen
Film von Hitchcock und dieser Bus
war der Bus aus jenem Film.
Dann sah ich wieder, dass sie mich beobachten
und dieses Mal haben sie die Köpfe nicht weggedreht, sondern sie haben
beinahe unanständig in meine Richtung
gestarrt. Und das dauerte eine Weile,
von der ich nicht weiß, wie lang sie war.
Es war schon wieder nur ein Bild der angehaltenen
Bewegung. In einem Buch habe ich
eine Zeichnung der Mona Lisa mit zwei
Paar Händen gesehen,
die übereinander
gelegt waren.
An der Ecke Via del Babuino und Via dei Greci
sah ich gleich gekleidete Zwillingsschwestern,
die ungefähr sechs Jahre alt waren.
Einmal hatte ich gelesen, dass zwei Zwillingsschwestern aus England,
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Poesie der Nachbarn
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verheiratet mit zwei Zwillingsbrüdern, am selben Tag
je einen Jungen geboren hatten und dass sie die Kinder Harry und Richard tauften.
Harry hatte so denselben Namen wie
Harry Richmond, Richard wie
Richard Harris. Sie werden sicher
dieselbe Schule besuchen,
obwohl Harry Richmond auf keinen Fall
Richard Harris kennen konnte.
(Aus: Die Angst)
Nachmittag
(Freitag im Hotel)
Wie in einer Melodie, dachte sie, griff nach
der Zigarettenschachtel und zog mit zwei Fingern eine heraus.
Sie näherte sie ihren Lippen und, bevor sie sie anzündete,
sah sie auf die Uhr. Dann nahm sie den ersten Zug,
hielt den Rauch lange im Mund und suchte
nach der Rechtfertigung für die zehn Minuten, die sie
über die vereinbarte Zeit wartete.
Ich habe Angst, sagte sie zu sich selbst und trank einen Schluck
von dem mit geschmolzenem Eis verdünnten Drink.
Ein etwas fader Geschmack im Mund
übersetzte sie in ihr momentanes Gefühl.
Dann verging noch die eine oder andere Minute,
die sie nicht von der Uhr ablesen wollte.
Die Rechtfertigung lautete: Verkehr, ein Auftrag,
etwas Unbestimmtes. Die Rechtfertigung war eine Ausrede
für etwas viel Deutlicheres, für etwas, was man
Übersättigung nennt.
Jetzt ging eine Frau am Tisch vorbei
und ließ den scharfen Duft
des neuen Saint-Laurent Parfüms hinter sich zurück.
Sie setzte sich und musterte mit ihrem Blick die Gäste im Café.
Freitag im Hotel dachte sie und erinnerte sich an die Melodie.
Es waren schon fünfzehn Minuten vergangen,
jemand ließ die Zeitung auf den Boden fallen,
jemand lachte laut.
TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Die Tasche einsammeln, das Geld für den Drink auf dem Tablett liegen lassen,
hinter sich die Tür schließen, hinter sich die Tür schließen.
Dann sah sie durchs Fenster und erblickte ihn,
wie er mit großen Schritten die Straße überquert,
wie er auf die Uhr schaut und sich offensichtlich schnell
eine Rechtfertigung ausdenkt.
Wenn er hinein kommt, wird er sich hinsetzen und etwas sagen.
Dann werden sie sich beide anschauen,
danach schnell das Café verlassen,
dann beinahe rennend zur nächsten Ecke kommen,
dann den Mann an der Rezeption anlächeln,
dann den Schlüssel nehmen,
dann mit dem Aufzug nach oben fahren,
dann die Tür aufschließen,
dann die Tür verschließen und den Schlüssel im Schlüsselloch lassen,
dann sich wieder anschauen.
Man reagiert erst mit dem Körper und braucht nichts zu sagen.
Es ist besser, das, was man sagen möchte, zu verheimlichen
(„das kann man auch verschieben!“).
Sie haben nicht einmal eine volle Stunde vor sich und alles muss
schnell gemacht werden. Alles muss, alles muss.
Und die Körper reagieren wirklich schnell,
und die Haut zittert nervös, der Mund wird trocken,
und die Schamleisten werden erregt und das verkrampfte Anschmiegen empfindet man wie
Durst und das Reizen mit der Hand wird kurz zart-angenehm,
manchmal erinnert es an etwas, was man von früher kennt.
Und die Augen soll man nicht öffnen („und die Augen soll man nicht öffnen!“),
und die Augenlider soll man fest, fest zusammendrücken, damit sich alles,
aber wirklich alles zusammenzieht,
um es, um es...
Freitag im Hotel, denkt sie und rollt sich zusammen,
dann entscheidet sie sich, die Augen zu öffnen, und dann sieht sie vor sich selbst
zwei andere Augen mit starrem Blick,
und Nasenlöcher, die sich zusammenziehen,
und fest zusammengepresste Lippen, die sich in den Ecken verkrampfen.
Freitag im Hotel. Und dann schreit sie, aber sie schreit wirklich,
dann stummer Widerstand voller plötzlicher Wut
und offenen Hasses, der sich in jeden angespannten Muskel
hineingeschlichen hat,
in jeden Tropfen Schweiß,
in den Widerwillen, der gehässig zurückweist.
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Poesie der Nachbarn
Im Badezimmer sind die Handtücher unberührt
und die kleinen Seifen in Papierschachteln.
Sie sah sich im Spiegel an und das Erste, was sie merkte,
waren netzartig verteilte Falten um ihre Augen,
dann die dünn gewordene Haut am Hals, unter der die Adern
geschwollen waren und verräterisch auf vollendete
achtunddreißig Jahre verwiesen.
Im Nachbarzimmer schlug jemand mit der Tür.
Jemand rannte den Flur entlang.
Einmal hatte jemand im Schlaf geschrien
und sie sprach zu ihm leise und voller Mitgefühl.
Sie sprach über die Spannung, von der man sich befreien sollte.
Genau so, genau so...
Dann ließ sie das Wasser in die Badewanne laufen und sah verwundert
und mit einer Art Ekelgefühl
dem Wasserwirbel zu, der über dem Abfluss entstand.
Die zusammengeschnürte Kehle tat ihr bis zur Unerträglichkeit weh.
Die Schultern zuckten, und der Krampf brannte im Magen.
Sie sprach einmal zu jemandem über die Spannung,
von der man sich befreien solle.
Wie ein Schrei im Schlaf, dachte sie.
Der Schrei im Badezimmer wird zum stummen Schluchzer,
der nicht widerhallt. Und den man schlucken soll,
und der verschwinden soll.
(„wie das Wasser abfließt...“)
Und wenn alles vorbei ist, wird jeder seine Zigarette rauchen.
Dann Gespräch über etwas, der Blick auf die Uhr,
und in einer Woche, und getrenntes Verlassen des Hotels
und Stürzen ins Taxi,
und dann gehen acht Monate vorbei, die rhythmisch
sehr präzise angepasst sind.
Tik-tak, Tik-tak.
Freitag um 4.
Um fünf vor fünf wird der Aufzug hoch gerufen.
Und dann gehen acht Monate vorbei.
Als sie in das Zimmer zurückkam,
lag er auf der Seite, spielte mit der Hand mit seinem
Glied und sah vor sich hin, ganz abwesend.
Als sie zu ihm trat, zog er sie zu sich
und drückte sie sehr gekonnt an sich.
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Poesie der Nachbarn
Und ihre Haut zitterte,
und ihr Mund war voller Speichel,
und sie spürte jede seiner Bewegungen stark,
und kleine, winzige Krämpfe, die unter den Poren pulsierten,
und die Zunge, die mit kreisenden Bewegungen dem Rhythmus folgte,
den sie unten in sich spürte.
Die Augenlider hielt sie fest aneinandergepresst
um alles, aber wirklich alles
in sich zu behalten.
(Aus: Die Angst)
Voreilige Entscheidungen
In dem Augenblick, als ich wieder angefangen hatte
die Sachen zu durchstöbern, schien es mir, als würde ich
zuverlässig die Zeit kennen, den Namen, den Ursprung des Gegenstands,
den ich berührte.
In demselben Augenblick schien es mir,
als wären die Gegenstände unabhängig von mir geworden.
Doch im selben Augenblick spürte ich,
wie ich auch selbst
von der Vorstellung über mich selbst unabhängig werde.
Im plötzlich abgebrochenen Traum
bist du in den Aufzug getreten, der sich dann
abgekoppelt und zu gleiten begonnen hat.
Das sagte ein Bekannter und sprach dabei, ohne zu wissen warum,
in der zweiten Person, wobei er an den Traum dachte,
den er selbst gehabt hatte.
Jetzt habe ich diesen Traum nicht mehr,
dachte ich und vereinnahmte dabei den Traum.
Oder besser. Ich bin außerhalb des Aufzugs und es geht mich nichts an,
was mit jenem vergangenen geschieht.
Plötzlich erkenne ich die merkwürdige Art, mit der ich die Worte
von anderen Worten trenne, und ich sehe ein, dass ich mich dank der Intonation
zu unterscheiden beginne.
Dann, wenn ich den Satz erneut ausspreche,
taucht das Bedürfnis nach Unerreichbarem auf,
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Poesie der Nachbarn
nach eigentlich entfremdeten Dingen,
und die Art, die ich soeben als Unterschied bemerkt habe,
verschwindet, sie wird glitschig, nicht greifbar.
Einen Satz soll man von anderen trennen:
so bekommt er ein künstliches Gewicht,
den Anschein einer selbständigen Bedeutung.
Etwas weiter entfernt von mir bemerke ich eine Szene,
die man leicht so beschreiben kann:
eine Frau zündet sich eine Zigarette an,
während sie an der Ampel auf Grün wartet.
Aber aus der beschriebenen Szene ist Folgendes ausgeschlossen:
das Auto, in dem sich die Frau befindet,
die Art, mit der sich das Feuerzeug der Zigarette nähert,
das grau-rote „Missoni“ T-Shirt im grünen Auto.
Dann:
dieselben Farben, einst gesehen auf dem Bild
von Ernst Ludwig Kirchner.
Dann:
das Gesicht, das unwiderstehlich an das Gesicht
von Barbara Sukowa erinnert.
Dann:
der Fluss der Assoziationen, der in Maltes Aufzeichnungen
immer Bewunderung hervorruft.
Dann:
der Rhythmus, mit dem die veränderten Lichter auf der Ampel
Bewegungen auslösen – der Autos, der Fußgänger.
Dann:
die Dinge, die man einst als zuverlässig bezeichnete
und jetzt sind die Dinge für immer verlassen –
ohne das Gefühl von Verlust, ohne Mitleid.
Die stumpfe, ausdruckslose Bewegung, die die Zeit nicht verrückt.
Die Worte, die du von den Lippen zu lesen beginnst,
so wie es die Taubstummen tun.
Heute früh ist mir der Absatz vom rechten Schuh abgefallen,
sagte die Frau und das Geräusch, das ich beim Laufen
produziere, bringt mich zum Wahnsinn.
Die Schaufenster in der Maximilianstraße hören auf
wie Schaufenster auszusehen, dachte ich, als ich
den Gesichtsausdruck eines Passanten aufschnappte
und ihn jener in Weiß gekleideten Puppe im Schaufenster verlieh.
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Poesie der Nachbarn
Die Zukunft hat keine Dauer,
sie ähnelt nicht der äußeren Welt, die ich
in nur einem Bruchteil der Sekunde wahrnehme,
in dem ich den Blick nach unten richte, um die Pfütze voll beinahe
klaren Wassers zu umgehen.
Der Gedanke an die Zukunft, sowie der Schritt, mit dem man
die Bewegungsrichtung zu ändern bemüht ist,
nehmen die Eigenschaften der soeben Erworbenen an.
Soeben erworben, aber sicher.
Dem entgegengesetzt:
das Gespräch, dem ich gestern Abend
am benachbarten Tisch im Restaurant gelauscht habe,
von wo die kürzlich gelernten Phrasen in der Fremdsprache
hervorsprühten.
„Ich möchte sagen...“ Ein Teil des Satzes, mit dem
die Unsicherheit verdeckt werden soll.
Das unbekannte Spielzeug, das man nur betrachtet,
das man nicht mit beiden Händen fasst,
das man noch nicht als Gegenstand kennt,
als eine physische Tatsache.
Es handelt sich nur um das Angebliche,
es handelt sich um das noch nicht Erprobte.
Der Gedanke daran ruft eine Art Mitleid hervor.
Dinge, von denen ich mich so leicht befreit habe,
wie die Vorstellungen, die ich über mich selbst hatte,
rufen kein Mitgefühl hervor.
Aber dieser Verlust erweckt nicht einmal Neugierde.
Es wäre nützlich, folgende Inschrift aufzustellen:
„Achtung! Eilige Verständigung!
Unbedingt zu meiden!“
Im Schaufenster der Reiseagentur ein Plakat:
„DOLOMITEN.
Sonnenuntergang bei den Drei Zinnen.
Lavaredo. 3003 m“,
das an die Postkarte erinnert, die letzten Sommer aus
Santa Croce del Lago geschickt wurde,
auf der dasselbe Motiv abgebildet ist,
begleitet vom Text auf der Rückseite.
Ich beginne mich plötzlich als
die Person zu begreifen, an die die Postkarte geschickt wurde,
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Poesie der Nachbarn
aber ebenso als die Person, die soeben
das Plakat gesehen hat und in ihm etwas erkannt hat,
was seit langer Zeit bekannt war.
Die kleine Spaltung, die diese beiden Gesichter trennt,
nimmt die Eigenschaft des gerade Ausgewählten an,
des gerade Erworbenen.
Zwischen zwei Schritten schimpfte jemand
auf das Kind ein, das sich zum Eingang des Kaufhauses
begeben hatte.
Jemand, ein Anderer, holte seinen Kamm heraus
aus der oberen Sakkotasche und,
nachdem er sich dem Schaufenster genähert hatte,
begann er, seine längeren Koteletten zu pflegen.
Zwei banale Fragmente, die die Welt verändern.
: zwei Gegensätze, die sich nicht widersprechen:
: zwei Handlungen, welchen du die Eigenschaften der Verdorbenheit zufügst:
: zwei Teilchen einer tiefen Typisierung:
und zwei selbständige Kräfte, die dich
mit ihrer hohlen Bedeutungslosigkeit gebunden haben.
Dann nähert sich eine Hand dem Hals
und die Finger berühren leicht die Haut.
Eine Geste voller weichlicher Zärtlichkeit,
voller stummer erotischer Spannung, die geteilt werden möchte.
Die leicht geöffneten Lippen berühren jene Stelle,
die die Finger kürzlich gestreichelt haben
und die Spitze der feuchten Zunge ruft das Gefühl
einer unerwarteten Begierde hervor, die durch den ganzen Körper rauscht.
„COITO, ERGO SUM“
war ein Graffito, zitiert in einem Buch.
Die Leidenschaft, die gewaltigen Erinnerungen, die flüchtigen Zuckungen,
bisweilen das Geben ohne Hoffnung und Widerspruch,
bisweilen die Erinnerung voller Risse,
das glitschige Bewusstsein über die Anwesenheit, nie die vorgespielte Freude,
nie das angebliche Verlangen.
Der Zustand der Steifheit, mit kristall-klaren Bildern
in welchen ständig jemand anderes die Zeit misst,
wo zwischen dem einen und dem anderen Bild
wie im Kaleidoskop
eine klar wahrnehmbare Distanz herrscht.
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Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
174
Poesie der Nachbarn
Und die Dinge werden wirklich ehemalig.
Der ruhige Körper voller abwesender Befürchtung,
eine nicht erprobte Strategie, etwas was an das zerrissene Foto
erinnert, das wir verstohlen zusammensetzen –
ohne einer Vorstellung über den Ausgang.
Endlich, sage ich endlich...
Ohne einen anderen, tieferen Hintergedanken,
und dann das langsame, sehr langsame Senken der Augenlider
unter welchen die ungewöhnlich verdichteten, flüchtigen
Erinnerungen sich vermehren.
Danach wechseln sich rhythmisch regelmäßig die Zustände
der Beklommenheit, des Glaubens in irrsinnige Freude, die man
nur in der Literatur findet,
eingeklemmte Bewegungen,
Befürchtungen,
die Angst vor dem Unmittelbaren,
der tiefe Misserfolg, der an die Tür klopft,
die verkommene Fügsamkeit,
die gewaltige Trennung, die im Nu vorbeirauscht,
die krankhafte Abhängigkeit,
die panische Angst vor dem „jetzt und nie mehr“,
die angespannten Zustände, die zur Erfüllung von Verpflichtungen zwingen,
das unerwünschte Bewusstsein über die Zeit, die
mit der Herztätigkeit identifiziert wird,
die Andeutung, dass es irgendwo jemanden gibt,
der dich ersetzen wird, wenn die Stunde dafür geschlagen hat,
wenn die wahrscheinliche Möglichkeit zur ganz
untrüglichen Unmöglichkeit wird,
wenn die Summe der Irrtümer zum Allgemeinplatz wird,
wenn man das Negative und Positive willkürlich nimmt,
die Besonderheit zur verspielten Chance wird,
wenn man den aufgezwungenen Zustand erträgt
ohne den geringsten Wunsch nach Veränderung,
wenn die Gelüste mit der Not gleich gestellt werden,
Begehren mit Bräuchen,
wenn man im Gesprächspartner die eigenen Mängel
zu hassen beginnt,
wenn die Grausamkeit
zum erprobten Wert wird,
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Poesie der Nachbarn
wenn das Bewusstsein über sich selbst mit dem Fingernagel herausgestochert werde kann
wenn man den zufälligen Misserfolg als Strafe empfindet
wenn die persönliche Anschauung zur allgemeinen Norm wird
die Wirklichkeit zum Zustand der ewigen Bereitschaft,
und die Leidenschaft etwas, was man in den Malzeiten verschenkt.
Friedlich strömen die Sätze, etwa:
„Ruhig, meine Seele, ruhig...“
Oder: „Ich bin es.“
Oder: „Lass uns noch bleiben.“
Oder: „Man sollte.“
Das ruft Rührung hervor, eine Art Rührung
und erweckt eine entmutigende Art zu denken,
die häufig an stumpfe Vorträge grenzt,
an Erschöpfung, an aussichtsloser Bewegung,
in der nur die Wahrscheinlichkeit möglich und wirklich ist.
Dann wird die Ziellosigkeit aller früheren Beweggründe
entlarvt, der Versuch, den Stand der Dinge
in eine scheinbare Ordnung zu bringen,
sich dem Chaos zu entwinden,
heimlich das Gefühl der eigenen Dummheit zu verdecken.
Wenn man die Augen öffnet,
dann bekommen die Szenen ein neu entdecktes Gewicht,
und sie dröhnen, von der Erinnerung angezogen beginnen sie zu strahlen
ohne Reste wirken sie ungewöhnlich dauerhaft.
Die kleinen Lampen mit Funken bringen Ordnung,
klare Gelassenheit in undurchschaubare Öde.
Alles wird mit Verwunderung akzeptiert.
Das eigene Fortdauern ist aus der allgemeinen Bewegung ausgeschlossen.
Es gibt kein „immer“, es gibt kein „nie“.
Mit einer Bewegung werden die Unterschiede beruhigt
und werfen dann in aller Ruhe den Anker
sie werden sich zwischen Subjekt und Objekt in einem Satz zusammenkauern
sie werden einem Bindewort ähnlich,
einem nicht unbedingt unentbehrlichen Geflecht aus Irrtümern.
Derzeit kann mich keine andere Form befriedigen
wie diese, die ich unerwartet entdeckt habe.
Der Gedanke an die Verfehlung ist mir genauso fremd
wie der Wunsch nach Erfolg.
Diese akzeptierten Scherben geben meinem Fortdauern
einen ganz neuen Sinn:
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Poesie der Nachbarn
die Lebensfunktionen raffen zusammen mit einer Greifbewegung
alles was sie auch nur im Vorbeigehen streifen.
Die Sprache beginnt man zu spüren,
zu haben in den Augenblicken des steten Hervorquellens,
des Erwachens.
Die Sprache, die ungestört fließt,
die auf der Oberfläche gleitet.
Die den Raum ganz langsam erfasst,
die ohne jeden Widerstand die Zeit, die vorbeigeht, raubt.
Die alles ohne sichtbare Gewalt nimmt.
Die die Situation beherrscht.
(Aus: Der Name)
Der Titel: Ausgelassen
Dein schönes Schreiben geht mir langsam auf die Nerven, sagte er.
Der Satz schließt sich an den anderen Satz an
und die Worte beginnen der Heilsarmee zu ähneln.
Setze die Schönheit auf deine Knie.
Siehst du nicht ein, dass sie bitter ist?
Einst, ach einst!...
was für eine Trägheit inmitten dieser Fülle,
eine gewisse selbstsüchtige, beinahe niederträchtige Leichtigkeit
mit der man alles sagt, was man zu sagen beabsichtigt.
Plötzlicher Betrug, der Wunsch nach dem Rückzug,
wenn es in den Gedanken zufällig an Bildern zu wimmeln beginnt,
die noch in Aufruhr sind, wenn wir anfangen sie fiebrig auszusprechen
und sie erscheinen uns umständlich
und verursachen Juckreiz.
Ich blicke durch das Fenster und fasse mich an die Schulter
– (eine Geste voller Autoerotik) –
und diese Szene kann man nur schwer benennen.
Einen Zustand erfassen, einen Schnitt zwischen den Scheiben,
die vorbei gleiten,
und dieser Zustand,
das, was eigentlich bedeutet, das Ungreifbare zugänglich zu machen.
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Poesie der Nachbarn
Zugänglich für mich? Für dich, der du die Frage stellst?
Ich weiß nicht, das geht mich nichts an, sagst du,
und ich bemühe mich wenigstens dieses brüske Verneinen
für mich zu behalten,
ihm nicht zu entwischen erlauben.
Der Raum zwischen uns ist doch von Worten bewohnt,
auf die ich einen Rechtsanspruch erhebe.
Von Worten, die ich glänzen sehe.
Man braucht sie nur vom Horizont herab zu nehmen.
Worte, diese Worte...
Alles, was gleitet ist vom Wunsch nach Widerstand befreit,
von dem zumindest scheinbaren Wunsch,
alles, was um sich hilflos ist zur Seite zu stellen,
sich einfach der Anziehungskraft der Erde zu überlassen.
Auf der grünen Hochebene nur Hirten umgeben von der Herde.
Ein Bild wechselt das andere Bild ab,
ohne ein Geräusch, in der Stille, die dem plötzlichen Erwachen
zum frühen Morgen ähnelt.
Dieser Zustand des Bewusstseins, der
unbekannt lang andauert, dieser Zustand, der dazwischen ist.
Die Hand wird danach das Blatt umdrehen,
jemand wird sich zu erinnern beginnen.
Wie aus Angst gehe ich in die andere Zeit über:
das unzuverlässige Futur, das mich Worte entbehren lässt,
wie zum Beispiel das Wort „einst“.
Der unerprobte Zustand des Bewusstseins,
die Dinge im tauben Sturm,
der eine dümmliche Hoffnung bietet,
der ohne anzuhalten kommt.
Du drehst dich um und merkst die Entfernung
zwischen zwei Gegenständen.
Dann benennst du diese Entfernung mit der Zeit,
die vergeht.
Du möchtest dich hier einprägen, verankern,
eine kleine Zuflucht finden,
als wäre dieser verzerrte Trödel irgendein Pfand,
als würde dir irgendjemand einen heimlich ersehnten Schrecken garantieren.
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Poesie der Nachbarn
Jemand blieb vor der Tür stehen,
schwer atmend fasste er sich ans Herz.
Unter den Sohlen großer Schuhe
knirschte der Sand und du kannst dieses Geräusch,
falls er sich verstärkt, als die perfekte Grausamkeit erleben.
Jemand wirft flüssige Phrasen aus, mit welchen er versucht andere
zu täuschen, sich selbst das Gefühl der Sicherheit zu verschaffen;
„heute, also, heute kommt es durch!...
Ich erfülle die Verpflichtungen, die mir aufgezwungen wurden!“.
Das Bild ersetzt wieder ein anderes Bild:
auf der grünen Hochebene sind zwei Jungen.
Einer liegt gestützt auf seinen Ellenbogen, der andere sitzt hinter ihm
und starrt in die Ferne;
im Hintergrund strahlend weiße Gipfel
der klippenreichen Felsen –
„Ferien in Tirol!“
von Heinrich von Kralik-Meyerswalden.
Aber es war äußerst einfach dieses Bild mit dem Gesehenen gleichzusetzen:
zeitlos und vollständig,
man hört keinen Mucks.
Das ist eben der Zustand, den der tote Gegenstand
vor dem Auge einnimmt, und das Bild wird
zur flüssigen, schnellen, flüchtigen Erinnerung.
Und was dann? Und was danach?
Ich öffne den Mund, als wolle ich schreien.
Jemand flüstert: im Stummfilm gibt es keine Stimme.
Genauso wie im jählings unterbrochenen Traum.
Bloß Verwunderung, Grimassen, die die Worte ersetzen.
Und das dauert dann nur unwesentlich lang,
nur so lang, dass du nach dem einst gesehenen Bild greifen kannst,
das angeblich erschienen ist.
Das aber die Erinnerung spannt,
die Verdorbenheit in Tugend verwandelt,
die Langeweile in Neugierde.
(Aus: Der Name)
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Poesie der Nachbarn
„...die Erde“.
Im Körper halten die Geräusche immer wieder inne:
das Lachen, die knarrenden Worte,
der Hochmut, der das Herz nicht berührt.
Noch unentdeckte Freude,
noch unbekanntes Bangen.
Die Vertraulichkeit voller Zärtlichkeit,
die Wirklichkeit, die man einmal erobern muss.
Von Tag zu Tag
von Jahrhundert zu Jahrhundert
erstarrt das stille Blau.
Und erstarkt dann zu einem kaum möglichen Gleichgewicht.
Dann zu einem Körper –
getrennt und abgesondert,
zu einem Meer, das bald nur noch eine Andeutung ist,
nur eine kleine Bewegung des Nichts.
Die vollständige Unsicherheit,
der unbeständige Gang durch die Stille.
Ich sagte der Körper
und dachte dabei an die Erde
als durchfurchte Ebene in der Farbe des Schiefers,
zerschnitten durch geschmeidige Sturzbäche,
bedeckt mit noch trockenen Weinblättern und Moos.
Das ist Die Erde – Die Heimat,
das Herz angenagt von der Zeit,
ein beinahe luftiges Schamgefühl,
das die Kehle reizt.
Der Oberschenkel erfüllt von warmen Gedanken,
umhüllt von anmutigen Schichten der Befürchtungen
und des langsamen Schlafs.
Die Erde eingewoben in feine Netze, mit denen
merkwürdige Gedanken zusammengeschnürt werden.
Die Erde, die Abschnitte nicht genannter Anwesenheit.
Nur noch die Landschaft,
die Andeutung erfüllt von rührender Trägheit,
der Baum, der für einen Augenblick aus der Einsamkeit auftaucht
und sofort danach verschwindet, wie ein Vogel,
der den Horizont überfliegt.
Ich höre euch zu und lausche meinem Herzen.
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Poesie der Nachbarn
Es sind Dinge vergangener Tage.
Es sind Gefühle, die fehlen:
ein leichtes Lächeln,
ein kurz ausgesprochner Satz, der
nicht verpflichtet,
vorgespielte Zurückhaltung,
der Körper erfüllt von Begehren,
von menschlichen Schatten,
von schmerzhaften Gedanken der vergessenen Harmonie.
Ich bin meine Traurigkeit, mein Mittagsschatten.
Ich verstecke mich in den Landschaften
der noch unentdeckten Beklommenheit,
der vielleicht tiefen Langeweile,
und trage in mir die eigene Schwäche als das einzig
mögliche Pfand.
(Aus: Der Fluchtpunkt)
Wir haben uns
Der Geschmack des Brandes kommt
durch unsichtbare Risse.
Trockene Nadeln knistern
wie Schnee
auf den man ganz früh morgens tritt.
Habe ich dich erkannt?
Unsere Berührungen
schlossen keine Entbehrungen ein
und unser Schweigen keine Folgerichtigkeit.
Ich habe mir alles gemerkt.
Die Blutspuren
auf der Lederhaut
waren Zeichen für etwas anders:
die nicht gezeigte Wollust erkennt man
viel später auf dem Oberarm,
auf der Schulter,
die man in ein Laken wickelt
und dabei die Gründe erforscht
für die unverhoffte Begeisterung.
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Poesie der Nachbarn
Bin ich gewesen?
Habe ich irgendetwas gesagt?
Das Verhältnis zwischen Zeit und Schweigen wird nicht
an dem unpersönlichen Aneinanderreihen von Worten gemessen.
Mit dem Atmen
ziehe ich dich in den Raum hinein
den ich mit nur einer Geste umgekreist habe.
Feierlichkeit liegt deshalb immer
in der Nähe des Todes.
(Aus: Der Fluchtpunkt)
Die Anwesenheit des Körpers
Ich bleibe im Fenster stehen. Der fremde
Blick erreicht mich langsam. Immer noch rechne ich:
Anwesend-abwesend, hier-dort.
Ich löse mich nur in der Erinnerung auf,
wie ein Buch, wie ein auswendig
gelernter Zählreim. Ich berühre deine Schulter,
die glatte Rundung, unter der sich
die Erinnerungen erstrecken.
Als seiest du nicht deine Haut,
als wärest du die vergessene Puppe,
in einer Krippe liegen gelassen
und anfällig für verschiedene Anwendungen.
Ich lausche dir, indem ich meinem Traum
lausche. Auf dem verdunkelten Fensterglas
tauchen wie auf einem Bildschirm
unendliche Möglichkeiten auf.
Die Flucht ins eigene Herz
Bleibt immer der letzte Ausweg.
Deshalb versprichst du, dass du nicht einschlafen wirst.
Ich jedoch werde zwischen die Uhrzeiger schlüpfen
und dort wahrscheinlich
meine ideale Landschaft finden:
von Sternen übersät und endlich wie Arsenik.
(Aus: Der Staub)
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Poesie der Nachbarn
Das Leben ist ein Traum
Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen, Insekten...
all die anderen Verzierungen gezeichnet auf
der Unterlage einer schläfrigen Zeit.
Dann vertraute Gegenstände,
jemandes Stimme, jemandes warme Umarmung.
Dann die Verneinung, die schmerzt
bis zu den Knochen, dann ein zärtlicher Biss in die Schulter.
Dann, dann...
Wie viele Worte noch,
wie viele sehnsüchtige Blicke verschwinden
ohne eine einzige Spur?
Wir ziehen uns durch die Erinnerungen
wie ungeschickte Maulwürfe.
Mit einer Münze auf dem Augenlid,
mit den Händen am Herz.
Die Vertriebenen werden zu Seefahrern:
erfahren im Geben, widerstandsfähig gegenüber der Liebe des Nächsten.
Sie haben sich unbemerkt
in das Bild unserer Wirklichkeit eingeschlichen:
wie Vögel ins Nest,
wie Schmetterlinge in den Zweig des Flieders,
wie ein erstarrtes Eichhörnchen vor den Zaun.
Wir wärmen uns an ihrem Atem
und verdrängen sie von der Zunge
auf den Gaumen, vom Gaumen in die Nasehöhle.
Von dort in die Stimme. In das leise, leise Verleugnen.
(Aus: Der Staub)
Zwischen
Ich bleibe eingeschrieben in einem ausgehöhlten
Herzen ein ganzes menschliches Leben lang.
Würdevoll abgesondert
wie das Wort in einem Formular.
Zerbrechlich sind meine Hoffnungen.
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Poesie der Nachbarn
Ich drehe mich nach dem eigenen Schatten um
und ich werde doch fortfahren zu leben
keineswegs verwundert, wahrscheinlich nicht einmal
enttäuscht. Leere Geschichten,
ein Versteckspiel mit völlig Unbekannten,
das alles möge man sich merken
und in ein Handregister eintragen –
was würde all das nützen...
Der traurige, gelbliche Schlamm
ist die einzige Ruhestätte.
Oder nur eine Einbildung.
Nach unendlichen Gesprächen
stumpfte der Wunsch nach Vollkommenheit ab.
Oder gestern, oder morgen –
es wird völlig egal.
Wie zwischen zwei Seufzern.
(Aus: Der Staub)
Abschied
In einer fremden Biographie liegt immer
die Hoffnung, ein Teil meiner selbst darin zu verwahren. Dann
wache ich auf und existiere irgendwo anders:
weit fort, beinahe unhörbar, beinahe unsichtbar.
Einige Sekunden sind vergangen und mein Herz
hat nicht zu zittern begonnen. Es schwebt nur,
sucht, aber es fällt nicht. Es bebt nicht
vor kränklicher Einsamkeit.
Im fremden Herz nimmt mein Herz teil
an winzigen Teilungen. Ich habe es angelächelt.
Ich habe mich erkannt und versuche
noch einmal alles zu prüfen.
(Aus: Der Staub)
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RELA
Poesie der Nachbarn
Auf der anderen Seite
Er sagt, dass er keine Zeit mehr hat.
Die Blätter sind abgefallen, die Tage
fallen auseinander wie Hohnlächeln.
Bald wird jemand anreisen –
unerwartet, unerwünscht.
Ich kann mich erinnern:
Krawatte, Musik aus der Nachbarschaft,
ein gemähter Rasen, Katzen unter dem Fenster.
Dann wieder nichts.
Ständig, ununterbrochen.
Ich habe keine Zeit mehr,
sage ich und wische mit dem Handrücken über die trockene Stirn.
In den Häusern hallt die Abwesenheit.
Unter den Augenlidern wächst etwas Unfassbares.
Das sind Worte, die ich
wie Früchte auf dem Tisch ordne.
Ich werde zu Komma, Punkt, zum ausgelassenen Buchstaben.
Weder Satz, noch Erinnerung.
Also dann, auf Wiedersehen,
sage ich und zerschmelze wie Durst in der Spucke.
Aus dem Kroatischen von
Alida Bremer
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Branko Čegec
BRANKO ČEGEC, geboren 1957 in Kraljev Vrh/Kroatien. Er schloss an der Philosophischen Fakultät in Zagreb sein Studium der Jugoslawischen Sprachen und Literaturen
und der Komparatistik ab. Dichter, Verleger und Literaturkritiker. 1985 bis Ende 1989
war er Chefredakteur der Zeitschrift Quorum. Diese Zeitschrift und die Autoren, die
sich um sie versammelt haben (genannt „Quorumaši“) haben eine ästhetische Wende vollzogen, die die gesamte jugoslawische Literatur- und Kulturszene beeinflusst
hat. Im Jahre 1999 wurde er zum Vorsitzenden von „Goranovo proljeće“ gewählt,
der größten kroatischen Poesie-Veranstaltung, die er bis Herbst 2007 leitete. 2002
gründete er Das Zentrum für Buch, das er leitet, und die Zeitschrift für das Buch
„Thema“, deren Herausgeber er ist. Auf Deutsch ist er u.a. in der Zeitschrift Die
Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis vertreten.
Der Fahrer von Thomas Bernhard
1.
Abends, wenn ich mich wieder an die Schreibmaschine setze
und wenn zweifelsohne Oktober ist,
wie jedes Mal, wenn jemand „aus dem Leben“ scheidet,
wie der verzierte Diamantenhund
auf dem Podest des ersten Programms von Radio Zagreb,
also, wenn alles wie immer und monoton ist
wie Pornographie, begehrten die seidenen Finger der Disharmonie
die warme Berührung des Computers meines Freundes;
seine frigide Erinnerung in Fortsetzungen
und in den Wasserfällen der Großaufnahmen Bergmans,
die ich übrigens nie ertragen konnte
2.
Ich diktiere... Ich diktiere, und die Finger kriechen in die Sätze,
die lang, zu lang sind,
wie das bestellte Lachen im Fernsehen
in den Lücken der englischen Sendungen
und den regulären Sitzungen des Zentralkomitees
Foto: © Jasenko Rasol
Poesie
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RELA
Poesie der Nachbarn
3.
Ich würde gerne einen Satz auf den Bildschirm schreiben,
wenn der Mechanismus Gehorsamkeit bedeuten würde
und wenn der Bildschirm einen derart filigranen Slalom ertragen wollte,
entlang der Notenlinien, falls die Lektion aus dem Musikunterricht so heißt,
schon 1972 vergessen, bei der Rundfahrt durch die milchigen Landschaften
des Nordwestens. Als hätten die Dächer zu zittern begonnen
in der Kollision mit den forschen Atemzügen und der Mathematik,
die weder auf gestellte Fragen antwortet
noch auf die Treffen mit Freunden im Bistro
am Platz des Hl. Vlaho von Dubrovnik oder so ähnlich,
falls Plätze überhaupt einen Namen haben können,
wenn man sie sich schon nicht merken kann genauso wie Mathematik,
die die Hundeschnauze des namenlosen Professors
auf eine Reise nach Katmandu verschleppt hat,
in die seligen Gipfel des Himalajas, so wie die Sonnenuntergänge
tief in den Himmel. Als würde ich in dem zerbrochenen
inneren Spiegel zu mir selbst sagen: „Warum bin ich so statisch?
Diese Kathedrale ist schon längst gefallen!“ In Schwung gekommenen Reisenden
lächeln grüne Landschaftsszenen zu und
das automatische Gleis mit den verschwommenen breiten Schienen,
wie auf der kitschigen Postkarte, die vor zwei Tagen
in der Buchhandlung „Mladost“, Ilica 7, gekauft wurde.
4.
Wer kann noch die heiligen Sätze des Vergessens aufschreiben?
meine Herkunft aus Glas, meine „Scherben“
verhindern die Rückkehr des Reiches der Teekekse aus der Kindheit
und das malerische Moto-Cross von Marc Chagall.
Grün, rot, schwarz beherrscht den Raum
in der Spannbreite zwischen Paragraph und Gesetz,
deren Ränder noch gestern Abend
junge Männer aus den leidenschaftlichen Karawanken verspiesen haben,
und scheue asiatische Zöllner,
vergessen im Kofferraum der russischen Diplomaten,
die leger mit den Pfefferhänden der Revolution abwinken,
und all das deshalb, weil ich schwere Worte mag,
von denen sich die Eingeweide verkrampfen, und die Augen jaulen durch die Röte
aus der Brauerei in der Frankopanska
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
wie in jener Nacht, als die Dicke Berta
saure Gurken
in das tiefe Dekoltee der alltäglichen Freude und Angst gelegt hat.
5.
Oben, ganz hoch oben, gegenüber der blinden Schnur des Lachens
wachsen orgasmische Wolken aus haarigem Staub,
in die wie immer eine klassische Comic-Replik geschrieben wird:
„Zurück in die Steinzeit!“, denn dort liegen die Sätze
sehr nahe an der Realität;
dort sind die Worte nackt und breit,
aerodynamisch: ich würde gerne verrückt und freudig
in ihre Dachgeschosse hineinschlüpfen
und ins „Vorwärts!“ einfahren,
mindestens-tausend-km/h-zu-schnell
(1987/1992)
Getarnte Portraits von A. Warhol
1.
Erstens war Oktober und das Haar flog brutal gen Himmel;
dann schlugen sich Hunde und Igel zwischen den Säulen
der Brooklyn-Brücke; dann begannen die Schwarzen
aus der Metro zu singen.
Es gab Tote und Verwundete, die Zeitungen waren
Gefüllt mit riesigen Titeln
und meinen präparierten Fotos.
Am späten Nachmittag erheiterte ein Feuerwerk die blassen Gesichter.
zwischen Blechdosen und Wasserfällen, zwischen Stereo und Coca-Cola
glitt nur das Rauschen des Bildschirms befreit vom Bild.
Es gab keinen Regen, es gab keine Betäubungsmittel:
das Phantom der Freiheit kreuzte durch das unerreichbare Blau.
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Poesie der Nachbarn
RELA
2.
Kalifornien ist weit weg. Selten bin ich fort gegangen. Der Blick
auf Silikonbusen ist das einzige, was stimuliert.
Die Vignetten der künstlichen Welt sind melancholisch. Ich habe sie
in eine Kiste geordnet, den Strom eingeschaltet
und lange in die trockene Sommernacht gestarrt:
die Wellenreiter haben sich zu Ende gedreht, die Jungs von der Küste,
die zerstörten Singles, die ganze Epoche des filigranen Plastiks.
Bisweilen schmerzen von all dem die Augen. Dann zerfließe ich
in Tarnstoff und entfalte den Text, das Textil, die Telepathie...
Das schöne und traurige Mädchen in mir
wünscht mir nach all dem eine gute Nacht.
(1992)
Konzert für das Eis und den georgischen schwarzen Tee
Ich bin müde vom Regen, der nicht aufhört
und von dem „Terpentin“-Geruch im „Flash der Erinnerung“,
beim Blättern der glatten Oberfläche des Wörterbuchs der Stille,
das nun im Wilden Westen ist
und das sich durch das Fenster öffnet mit dem Blick aus der Platinmorgenröte der Alpen
und Handkes Meteorologie. Ich werde nie mehr
in Regenlaune geraten, wenn mir der Regen
Neutralität erlaubt. Kann man sie überhaupt erreichen?
Einmal werde ich mir eine eisige Sandbank wünschen.
Ich werde den freezer betreten und eine Vorstellung geben,
die glänzender sein wird als der Broadway und der Moskauer Zirkus.
Nur der Regen kann seine Macht neutralisieren.
Mein Kitsch, so sage ich, funktioniert
und mein Eis funktioniert jedes Mal, wenn ich
ein Junge aus Sibirien bin auf dem Kissen aus Sägemehl
und dem silbernen Haar des Polarbären,
der seine geerbten georgischen Augen nicht verbirgt,
obwohl es dort zu warm ist, obwohl dort
das Eis schnell schmilzt und es nach Tee duftet, Tee
den ich nie mögen lernen werde.
(1988)
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RELA
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Poesie der Nachbarn
Schwarz
auf kirchners bild laufen frauen
in schwarz ist ein vers aus dem gedicht von z. maković.
ich bin darauf in der radić straße getreten,
dreißig meter vor dem eingang in das steintor.
dort haben frauen in schwarz ihren
bußrosenkranz gebetet.
an der wand der pizzeria stand
mit schwarzem spray geschrieben: PUNK IS DEAD und
SID VICOUS IST EIN ARSCHLOCH.
die gang of four in schwarzen eng anliegenden windjacken
verkauften eintrittskarten aus stein
verpackt in schwarze plastiksäcke.
in meinem revolver waren keine kugeln.
aus meiner tasche fiel ein zettel heraus
mit einem unsichtbaren text
auf schwarzer grundlage. ich wusste es, dort stand:
SCHWARZ
(1986)
Himalaja
Hat Marko rote Augen?
Ja, Marko hat rote Augen!
So wurde es im Protokoll festgelegt,
ich erinnere mich, wir besuchten noch einen kurzen Kurs.
Jahre später,
bei der Rückkehr unserer dritten heroischen
Himalaja-Expedition
tranken wir lauwarmen Tee auf den zahmen Berghängen
irgendwo in Nepal.
Es war halbdunkel und Marko funkelte.
Ich sagte ihm berühmte Verse auf
Du leuchtest im Dunkel, und sein Laserstrahl
ergoss sich über die gedämpfte weiße Unterlage
wie ein verräterischer Faden auf dem Kissen im verbotenen Schlafgemach
oder eine Nadel im Heuschober, wenn wir sie nicht brauchen,
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Poesie der Nachbarn
TIONS
und schließlich wie der Leitstern, der Zeuge des Seins,
der Bote der Apokalypse.
Wir wiederholten unsere kleine mythologische Hommage,
die präzise dekodierte Wirklichkeit
von 45 bis heute,
über den Bosporus und die Dardanellen bis nach Osten,
über Gibraltar nach Westen,
wohin die reichen Sklavenhändler reisten
und Händler mit den schönsten Frauen der Welt.
„Scheiße!“ regte sich Marko auf,
„diese Dinge sind unvergleichbar!
Ich bin ein Kosmopolit! Ich bin Genosse Absolut!“
und ähnliches.
„Muss man mich in eine Granitbüste sperren,
in Bračer Stein und einen Kranz aus Buchsbaum?“
„Das auf jeden Fall“, dickköpfig klopfte ich
auf seine freundliche Schulter.
Danach tranken wir schweigend georgischen
schwarzen Instant-Tee.
Wenn da kein Nebel ist,
hat man eine wunderbare Aussicht vom Himalaja.
(1986)
Die kurze Geschichte der stummen Farben
Im vergangenen Sommer, vor der großen Manifestation, kamen die städtischen Graffitis ums
Leben. Danach wurden die Wände flächendeckend überwacht. Die Stadt lebte kurz unter
dieser sterilen Regie, mit Wänden, auf welchen der erhabene „Schmirgel“ glänzte, von denen
der sprachlose Kalk herabtropfte. Die Diversion ereignete sich in jenem Augenblick, in dem
der diensthabende Polizist zufällig seine lange nicht gesehene Freundin traf und die erste fliegende Kneipe betrat, an der Ecke des blauen Gebäudes gegenüber der Zagreber Messe. Die
Spraydosen der Grünschnäbel blitzten auf und die sterilisierte Unterführung in Siget sprach
den unglaublichen Satz aus:
BLUT IST KEIN KALK!
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Als sich der Polizist an seine Pflicht erinnerte, war es wirklich zu spät. Er kickte wütend seine
Dienstmütze fort, konfrontiert mit dieser Untat, und versuchte mit seinem ungehorsamen
Walkie-Talkie etwas Radikales zu tun. Aus seinem Schächtelchen brüllte ein erstaunliches
HONKY TONK WOMAN, als wäre das Schicksal für immer besiegelt. Dunkelheit fiel auf
die Stadt, angedeutet durch ein winziges Zeichen verhinderten Weiß. Einige Tage später erschienen in der Abenddämmerung Polizisten verkleidet als Anstreicher und gaben der Wand
die verlorene Unschuld zurück. Wie Alchemisten einer überreichlichen balkanischen Tradition. Die Stadt blitzt schon seit Tagen vollkommen blind mit ihren weißen Wänden und der
dekorativen Polizei. Einige Flächen wurden mit Schichten stummer Farben bedeckt, die, so
glaube ich, den Gehorsam akzeptiert haben.
(1987)
Sieben Brände im Hof der Gundulićeva Straße 24
Das erste Fenster
Ein grüne Rolle und Schuhe auf dem Brett. Die Flügel weit geöffnet. Zwischen ihnen vibriert
abgestandene Luft und Schweiß. Genau am Mittag, während zwischen den Wänden noch
der Kanonschuss von Grič hallt und der Sturm das Stückchen sichtbaren Himmels zerstreut,
nähert sich das Lachen des Mädchens und der nackte Körper des Mannes in Pantoffeln dem
Gestüt der Frauen mittleren Alters in der Apathie des benachbarten Treppenhauses.
Das zweite Fenster
Das Mädchen mit den langen übereinander gelegten Beinen auf dem altmodischen Kanapee
wandert gleichgültig durch die Seiten eines wieder gefundenen Buches. Ihr müder Geruch
verschmilzt vollständig mit der Feuchtigkeit des Raumes, aus dem ich die Ohnmacht und
die Begierde aufschreibe. Das Weiß des Körpers zittert auf dem bebenden Faden der erneuerten Lektüre und die Grenze zwischen Erinnerung und Entdeckung wird unsichtbar: nur
die Kolonne der Hausameisen und das bespritzte Glas erinnern an die abgenutzten Seiten der
Chronik, von der ich gerade hin abgestiegen bin in den Dienstag, den 7. Juli 1992.
Das dritte Fenster
Die Küche eines Angestellten im Fensterquadrat: Pipetten und Gewürze und die heiße Platte
des improvisierten kleinen Herdes, aus der ein klobiger Torso herauswächst, das Aufblitzen
der Glatze und die Hände voller Hunger: die Nahrung bekommt so Form und Ton, fern vom
Geschmack und von der Nostalgie des Geruchs, sedimentiert zwischen den Manuskripten
auf dem Tisch, in den überfüllten Schubladen der liederlichen Vergangenheit, die heute genau
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Poesie der Nachbarn
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TIONS
am Mittag ohnmächtig stirbt, wenn das Dunkel der Gardine am Hang der Öffnung herab fällt, mit dem weichen Lächeln der Hirtin, und sich in der Lithographie niederlässt. Die
Herrschaft der Melancholie und des Hungers ist so endlich erneuert.
Das vierte Fenster
(Das Tier der Makrobiotik)
Hier verlässt das Thema nicht die Quarantäne des Spiegels. Lippenstifte und Lippen, Frisuren
und Lidschatten: die Haarspange glänzt mit dem Lachen der verwahrlosten Frau, die mit den
anarchischen Fingern der Kosmetik von der eigenen traurigen Geschichte zeugt. Der süßliche Luzifer lenkt das Schiff auf dem Glas des Ozeans, er fegt New York mit einem Segelmast
fort, die Nacht ist mild, der Morgen ist das Frühstück, das von den Karnevalsträumen und
von den Modepisten in der Tiefe der Fünfziger verschämt übersprungen wird.
Das fünfte Fenster
Zuerst trug sie das Lachen auf dem Tablett aus Moos hinein, danach schrieb sie den Inhalt:
die Frische der gewaschenen Wäsche tropfte an ihren unzähmbaren Händen entlang: ein Teil
des feuchten Stoffes nach dem anderen wischte über die Schatten der Nostalgie und des jungen Körpers: der seidene Schrei des Kleides, die Handtücher aus Frottee, unerträgliche weiße
Hemden und Schlüpfer, kleine, scheue, luftige Schlüpfer aus Spitze in den freudvollen Fingern, auf dem Bildschirm des Fensters, mit den nervösen Fäden der Haare im Luftzug – wie
die Werbepathetik von Levi’s – ein warmes Lächeln, feuchte Lippen und unüberbrückbare
Ferne zwischen zwei gegenüberliegenden Fenstern.
Das sechste Fenster
Gebrüll, Schrei, Schluchzer, Freude, Tod: wenn das Ereignis unausweichlich wird und wenn
die Dynamik nicht erkennbar ist, schließe ich einfach die Augen und tauche in die Strudel
der Geräusche ab, halb in der Kakophonie, halb in den Kanonaden der Jugend und der Angst,
aus welchen ich nur Thanatos herauspresse, denn der jüngere Bruder ist sowieso gestorben,
so wie alle, indem er die leeren Seiten der Pflichtlektüre in die Ewigkeit herabstieg, die sich
wiederholt, nur für uns, wie die Szene im Film oder die Szene der Bitterkeit auf der Bühne
im Keller der Stadt ohne Menschen, ohne Gartenbeete, ohne Kalligraphie.
Das siebte Fenster
Und als ich endlich schon unerträglich langweilig und ganz am Rand den Korso der Sprengstofferinnerungen betrat, wurden die Fensterläden geschlossen. Nur das morsche, abgenutzte
Holz als Schutz vor dem Blick und die Geheimnisse in den Ritzen, die Umrisse der Oleander, der Gestank des Bahnhofs, aus dem unendliche Fäden von Reisen in die arktisch kalte
Nacht herauskriechen. Gute Nacht.
(1992)
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Shopping Therapy
ich kam in den laden mit unterwäsche und kramte ein
wunderschönes weinrotes dessous-set heraus: höschen und bh mit push up
konstruktion. die verkäuferin zeigte mir die freie
umkleidekabine und ich ging selbstbewusst hinein. als sich das türchen mit den flügeln
klappernd schloss und als ich mich umdrehte um
den riegel vorzuschieben, überkam mich ein klaustrophobischer schauder, denn entweder
war die kabine verdammt klein oder mein schöner runder hintern,
der immer zielscheibe aller blicke ist, hatte sich klammheimlich so verbreitert, dass
man die dimensionen der umkleidekabinen infrage stellen
musste: das ist nicht möglich! – sagte ich
erstaunt zu mir selbst als der besten gesprächspartnerin und erinnerte
mich an das allmorgendliche hin und her drehen vor dem spiegel: ist mein sommerkleid
zu durchsichtig? ist mein string-tanga zu dunkel für die weiße
leinenhose? werden die härchen auf meinen waden zu sehr stolzieren, die ich
nicht mehr entfernen konnte, da ich meinen wecker nicht gehört habe?
ist der bh hinreichend gepolstert für meine, so schien es mir,
offenbar zu kleinen, aber ansonsten festen titten? und jetzt noch diese kabine!
ich habe versucht mich auszuziehen, aber der geruch der füße,
die aus den schuhen herausgerissen wurden
hat mich zuverlässiger als ein abs gebremst, als hätte sich der ganze laden
mit der nase in die beschissene zu enge kabine gebohrt und als hätte sich
die horde der plumpen alten weiber verwundert in meinen arsch verguckt,
der herausragt, schön und einmalig, und sich in ihre riesige
eins gewordene nase bohrt, die den geruch der verschwitzten füße einsaugt,
die soeben aus den pastellblauen kickers turnschuhen gerutscht sind.
(23. 8. 2001)
Die Farbe der Bora, der Schwung der Haare
morris pflegte mit spray pyramiden zu zeichnen
er zog sein t-shirt aus, legte eine schutzmaske an
und legte los mit der farbe auf dem gezackten karton:
um ihn herum versammelten sich menschen und skandierten.
dann kamen üblicherweise die feuerschlucker und unruhige mädchen
in der abenddämmerung, wenn sich die bora auf der anderen seite der bucht hinabstürzte
und wenn die sonnenschirme in den himmel geflogen waren
zusammen mit den.betonfüßen und gästen auf der terrasse:
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Poesie der Nachbarn
RELA
yves und dabo saßen sich gegenüber wie am abend zuvor
dann setzte sich tanja anderswo hin, weil sie ihre haare nicht bändigen konnte.
so hat sie meine verhunzt, die frech in den mund hinein geflogen kamen,
in den bierschaum, der den blick zu den raren
bibbernden spaziergängerinnen auf dem korso abschnitt.
morris zeichnete auch weiterhin pyramiden mit spray
der wind trug das bunte nebelchen in die gesichter der betrachter
von dem schiff, das gezwungen wurde zu ankern,
ein gast bestellte auf der terrasse gegenüber
ein ožujsko-bier und vier valium-tabletten
eine glühbirne ging plötzlich aus.
tanja sagte: ich habe das getan;
ich schaffe es jedes mal, wenn ich es mir wirklich wünsche.
(12. 8. 2001)
Das Reisebuchschreiben
professor tabucchi reiste nach indien
er setzte auf die besten beispiele der portugiesischen literatur etwa pessoa,
aber dann nahmen die nutten in goa die sache in die hand
und so entstand ein neues kapitel,
von dem viele theoretiker auch heute noch kopfschmerzen bekommen.
professor tabucchi knabbert gerne an indischen plätzchen
während er pessoa übersetzt und sich immer neue tricks ausdenkt
für seine studenten an der universität in siena
die nie den heiligen indischen boden berührt haben
im hotel taj-mahal international in bombai
zeigen sie stolz das polaroid foto,
auf dem ein gepflegter italienischer schnauzbart lächelt
neben einer schönen frau in traditioneller kleidung,
denn die geschichte wiederholt sich dort selten
oder wenigstens erscheinen ihre protagonisten nie zweimal in derselben rolle
die großen geschichten, so sagt man, haben sich sowieso verdrückt
in irgendwelche anderen gegenden,
in andere indien, chinas, indonesien:
es blieb nur der genuss der reisebücher
und die gipfel des kilimandscharo, zu denen nichts menschliches vordringt,
nur der blick, der jungfräulich unentschlossen ist
(15. 8. 2001)
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Basketball
Ich ertrage keine Linken.
Ich ertrage keine Rechten.
Sichel, Hammer, Swastika und immer
lächelnde Gesichter in verflucht traurigen Bergwerken.
Ich ertrage keine Arschlöcher, die darauf warten,
dass ich mich von ihnen abwende, damit sie
ungehindert das Gespräch fortsetzen können.
Ich ertrage jene nicht, die sich betrunken
an ihre elektrostimulierten Herzen fassen,
und auch nicht jene, die mich aus dem kroatischen Fernsehen
„mit stolz erhobenem Haupt“ bedrängen.
Ich ertrage keine wohlgenährten Weisen
mit Augenringen aus Lehmerde,
und schon gar keine hysterischen, spindeldürren
Kriechtiere, die immer
eine blasse, schleimige Spur hinter sich lassen.
Ich ertrage keine Akquisiteure
der eigenen politischen Vergangenheit,
ich ertrage keine verdienstvollen und loyalen Bürger
„dieses, einzigen Landes“, die es nicht schaffen
Festzustellen um WAS FÜR EIN
EINZIGES LAND es sich eigentlich handelt.
Ich ertrage keine Medienimperien
der ehemaligen Parteibeamten,
in welchen alt gewordene Partisanen und
junge, wütende Faschisten
ihre bis zu den Ellenbogen blutigen Arme waschen.
Ich ertrage keine gescheiten Gewerkschafter,
die nach Knoblauch und Slibowitz stinken
und deren Gebisse verfault sind,
und deren Geruch der „Geruch des verblühten Imperiums“ ist.
Ich ertrage keine blasierten Anführer.
Ich ertrage keine Roller und keine Tretroller.
Ich ertrage keine Schleimer und keine Schlappschwänze,
die programmiert leger sind, mit lockeren Krawatten
unter ihrer entweder fetten oder ausgemergelten Gesichtern.
Ich ertrage keine Menge dazwischen,
in der Mitte und drum herum.
Ich ertrage keine europäischen Beamten
noch die einheimischen Großkopferten: glatzköpfig, behaart,
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Poesie der Nachbarn
RELA
mit üppigem Bart und all die anderen.
Ich ertrage nicht den Republikpräsidenten,
den Verteidigungsminister, den Premierminister und die ganze Regierung
mit dem dazugehörenden Gefolge.
Auch mich selbst ertrage ich nicht, denn ich sehe keine Unschuldigen,
nicht mal in meiner eigenen Haut.
Und ich bin mir gegenüber böse und gemein:
ich schieße jedes Mal ein krampfhaftes Eigentor,
in Situationen, in denen jeder normale Mensch drei Punkte
unter dem anderen Korb holen
und siegreich in die Ewigkeit entflattern würde,
mit den „Flügeln der Demokratie“, die aus Kunststoff sind.
(4. 11. 2001)
Nie in den Niederlanden
dann blieb er stehen und sah mir in die augen,
er wusste, dass er zum letzten mal in diese augen sieht.
welch ein gefühl der leere!
welch eine groteske!
du schaust und weißt, dass du es nie mehr tun wirst.
dann wurden die lippen an den ecken rissig.
dann tauchte der glanz in den augen ins unbestimmte ein.
dann hingen die arme ohnmächtig von den schultern herab...
der letzte galopp auf dem seitenweg.
die letzten widerscheine des mondes im glasigen auge.
das dann erloschen ist, es hat aufgehört botschaften zu senden
über satellitenverbindungen in richtung lebensende und gleichgültigkeit.
oh, welch eine verspottung der schönheit und der banalität!
der hoch- und der tiefebenen!
der tiefebenen von paraguay.
der tiefebenen von finnland.
der tiefebenen von kirgistan.
der tiefebenen von thailand.
die tiefebenen von wisconsin.
die tiefebenen der niederlande.
oh, welche geographie der asymetrie und des zellophans!
welch ein hartnäckiger wasserfall aus ritualen und mehltau!
es fließen eiter und wohlstand der jakobiner,
frühmorgendliches wetteifern vom pferd auf den esel:
TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
in die mitte getroffen!
ins nichts getroffen!
nur das donnern des wasserfalls vor den müden augen:
von wo hat sich der tod herangeschlichen?
wer verfasst die liste der gewalt und der megalomanie?
wie den fernseher ausschalten?
(27. 11. 2002) / (20. 4. 2003)
Regenschirm
zuerst hat es dreimal geblitzt.
dann riss der donner den himmel auf:
der regen stürzte schmerzhaft hervor.
alle touristen versteckten sich auf dem friedhof.
männer in unterhosen und mit strohhüten.
frauen in unterhosen, mit tüchern um den körper.
kinder ohne unterhosen, mit sandigen hintern.
der wind kämmte die olivenbäume
polierte unreife granatapfelfrüchte
drückte die gischt in die ufer.
ich senkte meinen blick durch das fenster
auf ein männerpaar, das die terrasse nie verlässt:
weder in der sonne, noch im regen,
noch in der hitze, noch wenn es wolkig ist.
der grauhaarige, der ältere, in unterhose,
liest ein amerikanisches buch auf italienisch.
der jüngere, schwarzhaarig, in unterhose,
zähmt ein großes kreurzworträtsel
in das sich der wind verheddert hat
und die angeschwemmten regentropfen, dick und saftig,
die entlang der dachziegel und regenrinnen fließen.
entlang der straßen und plätze, entlang der kerben und der einschnitte,
neben den steinmauern und den herausgeputzten brunnen.
in der stadt beli auf der insel cres,
in der stadt beli auf der insel cres,
in der stadt beli auf der insel cres.
(9. 8. 2004)
197
198
Poesie der Nachbarn
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TIONS
Die Landschaften der Sexualität und des Schlammes
kein hund war mehr auf den straßen:
die flugzeuge bombardierten die vororte, die gärten waren voll
von queckengräsern und butterblumen, den letzten überbleibseln der pädagogik,
aus der du hervortratst mit einem röckchen über den fußknöcheln, mit frisch depilierten waden,
und viele sätze über orangen und wladiwostok sagtest,
über den drachenkopf im wein und den staub vom balaton,
über gewagte liegestütze und die hochebenen des pazifiks,
oder eines anderen meeres, über blumenkohl, über barmherzige nonnen und über karlovačko bier.
mein gott, was für ein salat! – wiederholte ich im stillen immer denselben satz, mit dem blick
auf deine knie und die komischen zähne in ihrer barocken aufteilung.
grob und zugleich gerührt, wie in der jungend des künstlers, des philantropen
fuhr ich herab an dem riss am körper, an der erfahrung des überlebens.
mensch, es gibt nichts auf den straßen.
feuchtigkeit im mund, das rohe texas, eingepflanzt in die doppelflinte,
freude, die schläfrige stimme des hirten auf der symbolischen weide.
(14. 4. 2003) / (20.4. 2003)
Don Quijote
das eine million mal ausgesprochne wort rundete sich zur stummheit ab: der melancholische
hip-hopper, verirrt in der zeit, zerstört windmühlen und dulcinea, den treuen sancho und
die untreue rosinante: scheiß was auf den sex, den du wählst: er ist wie die nahrung, die du
auf deinem teller hin und her wendest, ohne farbe, ohne geschmack, er ist wir der lebenssinn von monty python: der zug, der in einer rohrleitung stecken geblieben ist, das wort, das
im hals vertrocknet ist, die raben auf den saiten der blasphemischen gitarre, von der sich der
ton losgerissen hat, und nun sucht er waldlichtungen und wasserfälle heim, von wo es keine
rückkehr gibt in die jungen morgen mit den lippen auf der brust und mit den füßen auf dem
schoß der mutter, des mädchens, des beflügelten pferdes, das stöhnt und sich aufbäumt auf
der titelseite eines magazins, magazins: was für eine stummheit! was für eine freude! was für
ein hundertjähriger rebell, der von den alten salzheringen und den alt gewordenen jünglingen
der partei, die jetzt dick und allmächtig geworden sind, gequält wird: der gestank der revolution dampft aus ihren mündern und bläst umher, unterwirft, terrorisiert das frühstück unter
dem wasserfall, den schönen morgen und das picknick mit nackten mädchen, schülerinnen
der dämmerung und der morgenröte, die im mund beben, während du sie aussprichst unter dem terror der staatsanwälte und ihrer mediensponsoren: was sind die mechanismen des
widerstandes? welche waffen sind wirksam? warum ins leere? wer schießt mit blindgängern?
wie viele kugeln? von wo kommt das echo? cho? ho?
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Kulturtreger
der bahnhof in virovitica: du kommst herein und erkundigst dich: nach wem? über was? der
sinn ist nicht symmetrie: vier nutten tauschen betäubungsmittel aus, der cocktail, der nicht
weh tut, wenn alles enthüllt ist bis zum schmerz und wenn rohes fleisch gesäuert wird im
bulimischen wind in der nase und im haar: die kisten mit gefrorenem fisch sind nahrung für
die kultur und für die kleptomanie, aus der du wie ein held hervorgehst: es empfangen dich
staatssekretäre und freundinnen des ministeriums, die chefanklägerin des haager tribunals
und ein friedensvermittler: welchen weg nehmen? du sagst dir selbst: nur ruhig, nur ruhig,
du einziger freund! die welt liest zeitungen und erfährt daraus vom montage-assortiment,
dass die strategie der kampagne angepasst ist, kam.pa.gne,k.a.m.p.a.g.n.e: die mörder kriechen auf den bäumen herum, die raupen in den mund voller kautschuk, voller chiropraktik
für multiple und osteo: du setzt dich dann ins auto, nimmst das rituelle gerät und verübst
selbstmord an deinen eigenen träumen und alles ist paletti: wie schön du sprichst! sagte sie
abwesend und verdrehte meinen arm bis ich einwilligte: sex ist ein mittel! sex ist gymnastik!
dir wird das ding eingeschoben. was für ein ding? von allen seiten! osten und westen und norden und süden. in alle löcher und in santa barbara: dann schreist du, wie im traum: wie das
glück, wie die gelassenheit, wie der tod auf dem highway: die sprache ist wieder im eigenen
saft ertrunken: du fügst gewürze hinzu, salz und essig: du fügst alles hinzu, was du abgenommen hast: die brutalität ist der maßstab, die schönheit ist die gewalt! es regnet ans fenster, es
soll hinab fließen, es ist kein eis: die worte werden nicht verkleben!
Kompass
es fehlte schon wieder an courage: sie gingen auf die straßen, mit schneeglöckchen und mit
einem schwarzen furunkel auf der ohrmuschel, aus dem ein bandwurm aus spermiziden und
einem symphonischen lied tröpfelte, schall und rauch und amors pfeil, der sich aus dem unkraut
aufbäumte zu einem hecheln, zu einer hyperbole: kamikaze krieger sind unsere nostalgie, das
verdrehte bild ohne wahre gelegenheit: wer wird sie mir geben? wie werde ich dich nehmen?
in missionarsstellung sammle ich nur jünger und trommeln auf mohnplantagen, egal wo im
osten oder in einer himmelsrichtung: ich weiche der mathematik und den hieroglyphen: ich
verlasse den brief für immer, in das vollendete, in die vergangenheit: den namen werde ich
vergessen: ich werde die welt umdrehen wie die matratze auf meinem fickpolygon: verreisen!
verreisen! sansibar und fukoyama. yamamoto und siracusa. kilometer in die meilen, meilen
in den horizont. karlovačko bier in amoniak. sisak in der rauchleitung. springbrunnen aus
würmern und blutwürsten. kraut. knoblauch. black code. banija.
199
200
Poesie der Nachbarn
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TIONS
Nadeschda und die Angst 1
am nachmittag habe ich einen brief geschrieben: hüter des staubs, schiefbeinige antistatiker
irrten durch das weiß und beschenkten sich mit flüchen: eine saftige bibliographie als einleitung, dann michelangelo, die plastik, die betrügt wie der glaube mit einem lächeln auf dem
markanten schnurrbart unter der zerschlagenen schnauze, aus der die fäulnis-die fäulnis hervorquillt. die blassen jungen männer streiften sich handschuhe und kondome über, die gesamte hierarchie der gummi- und der schuhindustrie, und vergewaltigten fünf personen: drei
junge männer und zwei junge frauen, dann noch schafe und hühner, all das, was nicht zählt,
da es nicht spricht: sie ließen unordnung zurück und eine baumschule in gummitüten: das ist
doch der stolz! sagte die wahrsagerin vor der tür und legte eine patience auf dem bildschirm:
die jahre vergehen einerlei! auch die zeit des schwanzes vergeht! die röte auf den wangen zeigt
zurückbleiben an und krankheit! die schande kommt nie allein! sei jung! sei schonungslos! scheiss
auf die gesundheitsinspektion und auf pilze mit eiern! nach dem ficken gibt es keine reue!2
Der Mann, der immer wieder verloren ging
die reise um die welt ist die einfachste von allen reisen: du gehst los und das ende wartet auf
dich am ausgangspunkt. er ging häufig los, aber er kehrte nie zurück: er sah keinen sinn. er
hatte seine syntax, seine sprache, die für andere unergründlich war, seine meerbrasse und seinen rotwein. auf einem der wege verlor er farben, auf dem anderen sein handy. dann wollte
er ficken: seine alte freundin ließ ihn nicht, also wandte er sich an die freundin eines freundes, mit dem er vier liter getrunken hatte, sechs packungen zigaretten und oliven mit paprika dazu: sie ließ ihn nicht, also wandte er sich an den freund: er pickte ihn mit seinem schief
stehenden schwanz durch die kleidung, versuchte ihn zu überreden, dass sie zusammen auf
die toilette gehen: aus dem ficken wird nichts! dann produzierte er einen vorfall, indem er
eine passantin an den hintern fasste: ein großesglatzköpfigesetwas in einem rosaroten hemd
entschuldigte sich bei ihm und wollte sich nicht schlagen: schon wieder ein blindgänger,
dachte er, wickelte den schwanz in den saum der tischdecke und versuchte ihn mit schnellen
bewegungen zu zähmen: das publikum skandierte, die einmachgläser zerbarsten, aber man
konnte die sache nicht zu ende bringen. er war rot im gesicht und seine augen waren ganz
verdunstet: das wasser sprudelte aus den höhlen hervor, ohne auf hindernisse zu stoßen: er
begab sich auf eine neue reise ohne rückkehr: die armee und die luftwaffe erhoben sich, das
hubschraubergeschwader und der bergrettungsdienst: er versank in den traum und träumteträumte: schon wieder wollte er ficken! neben ihm lagen ein brett, vier bojen und ein demolierter sonnenschirm. als er ein kind war, machte man ihm angst, dass auf seinen handinnenflächen haare wachsen würden, deshalb masturbierte er nicht. vielleicht sollte man doch
das risiko eingehen?
1
2
Anspielung auf die Autobiographie von Nadeschda Mandelstam, die auf Kroatisch Angst und Hoffnung heißt (Anm.d.Ü.)
Der letzte Satz reimt sich im Kroatischen. (Anm.d.Ü.)
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Fado
als der käfig nachgegeben hatte, rannten die tierchen in alle richtungen hin und her und starben dann vor hunger. sie nahm eine sandschaufel und grub gräber für sie, stellte kleine tafeln aus domino auf und klebte bildchen aus der sammelserie tierreich darauf, dann ging sie
als lektorin nach australien. dort hatte portugiesisch nie richtig wurzeln geschlagen. deshalb
machte sie fotos von den tieren und zeigte sie den studenten. sie sprachen die australischen
namen aus und klebten fotos auf die wandzeitung. unter die fotos schrieben sie verse und
bissige kommentare. einer hat über ihren hintern geschrieben, der andere war ein tölpel und
schwafelte etwas über ihre augen. eine studentin wollte den geruch ihrer haut ohne kleidung
spüren. ein chinese schrieb ein gedicht voller anspielungen. der japaner schrieb ein haiku,
das sie nicht verstanden. sie fotografierte alles, packte ihre sachen und reiste ab. sie besuchte
den friedhof der tiere. der regen hatte das tierreich ausgewaschen, und die dominos waren
umgefallen. sie setzte sich auf ihren koffer und weinte aus voller lunge. aus dem koffer hörte
sie geräusche: sie öffnete ihn, und heraus kamen verschiedene tiere: das kleine känguru, das
schnabeltier und so weiter. sie sprachen portugiesisch. ein tier schimpfte etwas! einem anderen hatte sich eine klette an den schwanz geheftet. sie setzte sich wieder auf ihren koffer und
weinte aus voller lunge. sie war so glücklich!
Maljčiki 1
er war allein in dem Raum ohne fenster und ohne hass: zwischen den füßen piepsten die mäuse, die katzen stolperten und schimpften, das horn hockte im sack, taubstumm und pathetisch wie ein händler mit fälschungen aus surinam: sie schlüpfte geräuschlos hinein, zwischen
mäuse und taubheit, rammte das horn auf die kerze, denn der docht ließ sich nicht anzünden, wenn sie den feuerstein schlug, da es zu feucht und kalt war in wladiwostok: du bläst in
das horn und du musst nie furzen? fragte er mit der stimme des postboten, dessen stunde geschlagen hat: sie lachte, lachte wie der chiropraktiker im parlament, blind und selbstgenügsam, ohne zunge im hals, ohne schmerz zwischen den beinen: er brach nur zusammen in das
polierte leder und brummelte in seinen bart und in die asymmetrie: ja frauen, ja alte leute, ja
arbeiter, ja kranke, ja homos, ja heteros, ja die priester, ja die prostitution, ja die leichten, ja
die schweren, ja das militär und die polizei: er machte sich etwas sorgen, denn der chiropraktiker aß die gestalt in der fünften zeile von oben, aber trotzdem verachtete er die öffentlichkeit, die meinungsforschung und die umfragen über sexuelle gewohnheiten: mit der schon
erwähnten stimme erinnerte er sie an das fehlen des lichts im raum und die notwendigkeit,
neue energiequellen zu entdecken, während die barrel-preise spinnen: sie stöhnte langsam:
du sollst jetzt nicht aufhören, da wir so nahe sind! und sie blies in das horn: die kerze wurde
angezündet: die ganze szene verschwaaaaand im nuuuuu in flaaaaameeeen.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
* Maljčiki auf Russisch Die Jungs.
201
202
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
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Poesie
Delimir Rešicki
DELIMIR REŠICKI, geboren 1960 in Osijek. Dort schloss er sein Studium der Kroatistik
ab. Poesie, Prosa, Literaturkritik und Medienpublizistik und -essayistik begann er
Anfang der achtziger Jahre in allen wichtigeren kroatischen Zeitschriften und anderen
Zeitungen zu veröffentlichen. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und beteiligte sich an einigen internationalen Multimedia- Projekten. Mit Gedicht-, Prosa- und
Essaytexten ist er in rund 30 Anthologien, Übersichten und Panoramen zeitgenössischer kroatischer Poesie, Prosa und Essyistik vertreten. Für seine literarische
Arbeit erhielt er bedeutende Literaturpreise. Er war Redakteur der Zeitungen und
Zeitschriften Ten, Osječki tjednik, Heroina nova und Književna revija. Heute arbeitet
er als Kulturredakteur bei der Tageszeitung Glas Slavonije. In deutscher Sprache
liegt eine Auswahl seiner Gedichte in den Zeitschriften Akzente, Manuskripte und
Die Horen vor (beide Frühjar 2008), sowie in der Anthologie Konzert für das Eis; sein
Gedichtband Arrhythmie ist beim Verlag Edition Korrespondenzen 2008 erschienen.
Im Juli 2008 wurde Rešicki der Hubert-Burda-Preis verliehen.
In jenen Tagen, eine nicht anmaßende Aufzeichnung
fünfzehn vormittage
sah ich das schulprogramm
bis mich die existenz
zum schnellen, mehrfach untebrochenen erbrechen zwang.
tiere fressen sich vorwiegend gegenseitig, gründlich und endlos
in der berührten natur.
ich bin ein humanist
aber ich habe keine phantasie
deshalb drehe ich immer durch
wenn ich den hund des nachbars sehe
wie er stundenlang regungslos die junge
hüfte des mondes anstarrt, sich erinnert und weint.
die millenien, so sagt man, existieren parallel. so esse ich manchmal
vor der vorstellung unbedingt kürbiskerne
204
Poesie der Nachbarn
singe leise kampfliedchen und aus meiner haut
sprießen dann getreidefelder
in weniger als einem jahr
die die heimatdichter so zärtlich liebkosen.
auf den lippen des meeres
ist silvija eingeschlafen, der star des soft-cores und sie träumt von mir
wenn das meer zu sprechen beginnt, wacht sie auf
und erinnert sich an nichts mehr.
ich habe keine meinung zu den vandalen,
die gestern nacht hier vor mir
dein archaisches und eitles küchentuch aufpumpten
so beginnt das dritte, aufregendste kapitel von emanuelle
ich werde sowieso alles allein beenden, was sie begonnen haben
wenn du mir morgen
in der küche
den rücken zudrehst.
nur deshalb bin ich zweimal in den flur zum rauchen gegangen
und, und ich sah an diesem tag
eine telefonzelle, wie sie leer da steht und vom regen nass wird
vom heißen sommerregen
der irgendwo in den dörfern auf die fahrbahn einschlug
und in den ersten augenblicken des fallens staubwölkchen aufwirbelte
und das war eine der schönsten dinge, die man sehen konnte
in jenen zeiten, sage ich wieder
sah ich die leere telefonzelle
mein verlassenes heim
in dem ich endgültig aphasisch wurde
die straße war schon wieder das vierte
atonale quartett von nichts
die menschen brachten sich in den hauseingängen in sicherheit und
lasen schnell von ihren handflächen,
solange diese noch feucht waren,
die astrologischen zeichen der erneuerung ab.
in der unterhaut der telefonschnur
strömten diese ganze zeit lang
meine besten gedichte
ich wusste
wenn ich jetzt den hörer abhebe
wird diese telefonzelle unten zerbersten, ich weiß
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TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
weil ich solche tricks sehr oft
in billigen Videoclips gesehen habe
o vienna this means nothing to me...
bald werden sie kommen und die abendliche stadt
mit wasserschläuchen reinigen
noch einmal werden die blätter tropfen trinken mit vernachlässigter ruhe
und die insekten werden die dürstenden stachel
in zermatschte beeren stechen
auf dem markt,
der wie ein leeres telefonsignal
stinkt.
Christa
alles was dir gehört,
dich einsame habe ich aufs spiel gesetzt
und jetzt warte ich ab, auf welche von den sechs
schlafenden würfelflächen der schnee mit seinen lippen fallen wird.
was und in welcher sprache wird der gott sprechen
während in seiner hand der hörer aus brüchigem elfenbein
schwitzen wird.
erinnere dich, in osijek haben wir dem besoffenen taxifahrer
die eingeweide geöffnet um unseren uralten hunger
wenigstens ein bisschen zu vertreiben, aber anstelle des herzens
haben wir auf dem marmorboden des observatoriums
nur einen schneeball gefunden,
der vom rand dieser fernen straße gepflückt wurde.
das taxometer funkelte unter deiner zunge
wie ein ferner planet, auf dem der staub
schlafende engel blind macht,
auf dem jungfrauen auf einen müllhaufen zeigen und sagen:
von hier wurde diese rippe geklaut, hier soll die kamera sterben.
die nacht ist ein zärtliches tonband
von dem man, wenn es lange, lange vom schnee
berührt wird,
leise deine stimme vernimmt.
in dem augenblick tritt das kind an dich heran und küsst dein haar
als würde es zum letzten mal das meer küssen.
205
206
Poesie der Nachbarn
Heilpflanzen
wo sind deine nächsten,
du salbei auf der schlafenden wiese?
das ist korrekt verfasst
wir tanzten alle dir zugewandt, schwester
auf dem thron, müde wie pferde
die für einen zuckerwürfel bis nach lepanto gerudert sind
was soll ich meinem vater sagen
wenn er mich fragen wird
nach dieser ganzen kohle
die bei deinen teeparties verschwunden war
in einem einzigen tropfen tau?
nein, nicht mehr auf dem makadam
wird er sagen, wenn ich ihm
die bilder der hautkrankheiten im medzinischen lexikon zeige.
und was ist denn das für ein gesetz
wenn jeder den schlüpfer der mandoline streicheln darf
der im reumütigen wind lacht.
was sind das für schlüssel
wenn ich dich jeden tag sehe
wie du aus meinen kranken augen die luft stiehlst?
Die Weissagung der Vergangenheit
ich habe mir einen kieferbaum in den mund gepflanzt.
dafür habe ich mindestens dreißig jahre gebraucht.
ich bin ebenso viele kilometer gelaufen
um einen winzigen knoten auf deinem busen herum.
dafür habe ich immer
eine weiche sommernacht, saubere wäsche und
das gehör gebraucht, dieses ruder aus staub, mit dem ich
entlang deiner haut voranschreite zu den unbekannten logarithmen des morgens.
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TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
eine ganze dichte schar von krähen
ist heute nacht aus meinem zimmer hinaus gestürzt
aufgeschrocken durch das flüstern von jemandem und
so kam dein morgen, kasiel, aber
du bist nicht da, ich kann nicht schwimmen
es wird mir nie klar sein
wie ich überhaupt gelernt habe fahrrad zu fahren
die luft war wahrscheinlich dunkelblau vor schrecken.
cicciolina badet im sonnendunst
der herabsteigt zum polierten florett des tibers
diesem alten blutigen staub
dessen lippen wir gegessen haben.
heute noch denke ich
dass die straße eine malaria-hostie ist
über die man laufen muss
bevor du
an den schnee denkst.
wir haben uns genommen
wir nehmen uns mit dem mund.
die geometer an der grenze
drücken mit ihren bäuchen bälge aus dem bauch
indem das dunkelblaue feuer auflodert
indem die brandmale unserer freiheit gekocht werden.
ich stehe in der schlange
krempele den linken ärmel hoch
und warte darauf, dass das jod mich
an der spitze der wolke küsst.
abendstern, schläfst du
wach auf und küsse auch du mich
in der küche mit der uhr aus lebendem moos, das weint.
wem fließt heißer asphalt über das gesicht
auf wen warten wir,
damit die gerüste von der straße entfernt werden
und wir weiter ziehen können?
haben wir, kasiel, wirklich
gevögelt im warmen vogelmist
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Poesie der Nachbarn
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in den entgeisterten lorbeerblättern
der ersten öffentlichen druckerei, auf den ersten seiten der verfassung
hast du gesagt
zeige niemandem
deine hände
der ganze bahnhof zerplatzt zu einer neujahrsenklave
der zähflüssige wolllüstige punsch
fließt von jeder hausnummer der straße
die straße sagt ihr deshalb
wenn die muscheln weinen
trinkst du diese gekühlten tränen
Mizar
der mizar ist ein stern.
ein besonderes, ein sehr besonderes kleid.
man sagt, dass derjenige, der ihn nicht sieht
und nicht mit seinem blick finden kann
auf dem staubigen himmel, nie den wahren
schlüssel für sein schicksal findet, nie den
am wenigsten schmerzhaften, längsten weg gehen kann.
es ist einige gescheiterte monate her, ...
dass ich gehört habe, dass er vielleicht gestorben ist, dass lux interior gestorben ist.
ich habe immer geglaubt, dass rock lieben
nichts anders bedeutet, als mit den vom ozean nassen händen
und mit lippen voller kleiner wunden vom lebendigen, warmen salz
in das nackte kabel der elektrischen gitarre zu beißen, den mizar nie
zu sehen, den aufgeschreckten piranhas der sonette
den eigenen eingeschrumpften schwanz zu zeigen, die hüften, all das.
der mizar ist, wenn es ihn gibt, der nicht erloschene zigarettenstummel gottes, der
dank einem sinnlosen wunder auch weiterhin glimmt.
lux interior, da bin ich mir sicher, schreitet jetzt entlang dieser leeren
straße, liest ihn vom bürgersteig auf
auf den schon vor langer zeit dieses
motoröl gegossen wurde, in dem sich tag und nacht
blinde jungfrauen lecken, und der himmel wird einsamer
einer seiner uralten
schmerzlosen blauen flecke weniger.
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Ich werde nach Sichuan gehen um dort mit Pandabären zu sterben
ich werde nach sichuan gehen.
die sonne wird morgens immer mit einer unbekannten müdigkeit auf der haut wach
und stürzt direkt danach in das gelbe
in das gelbe, bernsteinfarbene meer.
ich werde nach sichuan gehen
mich in das feuchte schießpulver des frühlingswaldes legen und dort sein
mich dort verstecken.
ich werde alle 365 jahre aufwachen und zuschauen
wie aus meinem bauch farnkraut wächst direkt nach oben zu dir, nach oben
o mao, mao
du sitzt jetzt auf einer hohen wolke und
streust goldenen reis auf sichuan.
du hattest mir gesagt, dass ich ein flugzeugträger sein werde,
wenn ich groß bin!
deine haut ist kaltes porzellan auf das ich
mein gesicht zu legen pflegte.
unter meiner stirn hatten sie mir eine kleine metallplatte eingebaut.
ich wusste nicht, wozu sie dient, aber
in der sommerhitze, die von nirgends kam,
fiel ich und kroch dahin
das glühende metall unter meiner stirn brachte mein gehirn zum schmelzen,
meine knochen, alles.
unter meinen füßen wurden die pedale feucht und
ich konnte nicht mehr zu ihr
auf die andere seite von shanghai
obwohl ich dafür einen jeton hatte
ich konnte sie nicht küssen und nicht sehen
und deshalb bin ich jetzt blind und gehe allein
nach sichuan
um dort mit den pandabären zu sterben.
Die Mandeln in deinem Schoß
Jeden Tag fälle ich
jeweils eine wichtige Entscheidung.
In Bezug auf dich,
denn ich bin der einzige von hundert
der sich
209
210
Poesie der Nachbarn
ganz bestimmt
deiner nicht erinnert.
Es glänzen Getreideären im Rückspiegel des Autos
in dem ich
auf dem Vordersitz
tot sitze
und tote Mandelsetzlinge in deinem Schoß zähle.
Weil ich blind bin
kann ich über irgendetwas
wann immer ich es möchte
zu reden aufhören.
Zwischen der Erde
und dem ersten Millimeter Luft
gibt es eine unsichtbare
unendlich verdünnte
undurchsichtige Schicht der Einsamkeit
in dem der Mondschein
aus dem Glitzern der Fischschuppen
im Nachtgras auf dem Ufer
und aus den verstreuten Andenken und Erinnerungen
die Engel empfängt.
Es ist tatsächlich schrecklich
was ich für den Brand der Strohdächer bezahle
jedes mal wenn du dir wünschst
auf der Straße einzuschlafen.
Jeder, der gelaufen ist,
hat das Meer belogen.
Er hat mindestens einmal das Meer belogen
wie auch meine Geduld
und er soll deshalb
seine Sandalen nicht in der Ecke ablegen
Nägel in die Wand schlagen
und meinem Bett nahe kommen.
Denn
jeder wird verlieren,
der um zwei Uhr nachts
ganz egal womit und ganz egal wie
mit jemandem handelt
den es nicht gibt.
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TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Dieser Sommer
Ich weiß immer noch nicht
wann der Sommer beginnt.
Aber,
ich weiß
wie dann dein Haar nicht heller wird
und deine Hände nicht schmerzen
vom Waschen der eigenen Lippen.
Dein Name ist nicht der Name
den alle fünf Sekunden das Meer ausspricht.
Niemand heißt so.
Schwinge ruhig das goldene Ruder
in der Mittagshitze
stehle etwas in der Boutique
während die Schwäche
und das Erschlaffen
langsam die lange
leere Straße entlang
taumeln
zu deiner Stirn und deinem Magen.
Werfe den Zigarettenstummel
in den Heuschober
in den Tanker, der im Hafen ankert
mögen deine Finger
zufällig das Zündholz fallen lassen
an der Tankstelle im Vorort.
Wenn du die Sonne liebst,
wenn du die Sonne liebst.
Das Gold
In meinem Körper
glüht die Asche noch einmal aus
zu einem düstren
schweren und verseuchten Öl
durch das ich verträumt
und bis zu den Fußknöcheln eingetaucht
von einer Wand zur anderen laufe.
In dieses Feld fällt das Gold, das der Winter aus deinem Haar
herauskämmt.
211
212
Poesie der Nachbarn
Aus diesem Gold
hat der Mann, der im Schlaf rückwärts spricht
seine Abendglocken gegossen
und es kam ihm nie mehr der Wunsch sie zu hören
als er ruhig war
und die Felder schliefen in ihrem kalt gewordenen Wachs
aus dem du mir auch heute
vergeblich Hände formst
in dem du mit den Mandeln und mit dem Brot spielst
mit welchen du einst die Schatten heiltest
einer entweichenden Ordnung.
Es ist Feiertag
auf den Ackerfeldern füllt der Schnee die Wege
zwischen den gebrochenen Stängeln der Sonnenblumen.
Im weißen Licht
hat die weiße Schwinge des Sterbens gewunken
und der goldene Staub von den Augenlidern der Ungeborenen
glitzert überall in der Ödnis.
Es war damals
so unmöglich
deine Schritte nicht zu hören
damals als alles
nur noch sich selbst ähnelte.
Ausgerechnet so nicht die Bücher
im Regal ordnen
das aufgehört hat Babylon
und Neon zu spielen.
Und es gab weder ein einziges Schiff in diesem eisigen Hafen
noch Schatten mit ihren Menschen
und die Gleise sind leer geblieben
und Schienen bewachsen mit vereistem Gras und der Stille
und wir wärmten uns die Hände
neben dem Busch, der in einer Nebenstraße
loderte.
In sich erleuchtet
und an sich reduziert
und immer ferner von mir
je näher er dir wurde.
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Die Ungeborenen
Weine, weine im Traum, Engel,
erst so werden alle diese Lampen leuchten,
das Öl, die Lampions und die Lampen,
erst so wird der Fluss, in dem du die Hände gewaschen hast
den Saum des Todes berühren
aus dem der Kuss erschaffen ist, über den du wachst.
Die Ungeborenen spielen mit ihrem Spielzeug aus goldenen
Spinnweben.
All das, was ich nicht mehr kann, liegt für sie
in der Reichweite des Traums.
All das, was für sie in der Reichweite des Traums liegt, fährt
die Straße entlang
und ist mir tot in den Augen.
Ich habe ihre Hände geküsst,
ich sah dir in jene fernen, mitleidigen Augen
ohne zu wissen wohin
in diesem stillen Überfluss.
Das Buch über die Engel
Die Sonne fährt durch den Himmel eingehüllt in ihre blutigen Segel.
Es gibt viele Treppen von der oberen zur unteren Stadt
wohin Dijana schreitet, die die Sonne im Traum begleitet
und die in ihrem Rucksack die vertrockneten Silbermünzen des Abends
und den kleinen Zweig einer wilden Kirsche trägt.
Nachts, an den Kopfenden der Toten,
neben welchen uralte, angstvolle Schatten glimmen,
sagt jemand leise, nah an ihrem Gesicht:
Gott wird bald sein verlorenes Buch über die Engel finden,
die Engel werden im Kornfeld einschlafen.
Korn wird sich über den Sommer in die saubere
und duftende Schale aus weißem Kalk verstreuen,
ein bodenloser, stiller, ausgetrockneter See,
das Ende dieses stummen Gebets, all diese reifen Körner
werden sich auf seine zugeschlagenen Seiten verstreuen.
213
214
Poesie der Nachbarn
All das wird einmal so fern von deiner Stimme sein
deine Stimme wird einmal so weit fort von allem sein.
Der Sommer dem Sommer einen Kuss, der Winter dem Winter einen Kuss,
das Blut dem Blut im Weinberg einen Kuss, in dem unter dem Schnee
in der Weintraube, die noch reift,
die eine oder andere trockene Beere liegt, und der Zucker in ihr fällt,
fällt auf die Flügel des Engels
in den dunklen, in den roten und weißen Wein.
Werde ich je auch diesen Traum vergessen:
Die klaren Wasser gefüllt von toten Fischen mit verunstalteter Haut
und das Wasser, das sich schnell in den trüben
und verpesteten Schrecken der Angst verwandelte, in den Magen der Ohnmacht,
den Schlamm des Mundes und
des unaussprechbaren Wunsches nach einer, nach deiner Berührung,
nach der Stelle, an der die Hand mit dem Morgen das Gold ausspült
aus der reinen Leere.
Die Wissenschaft über dich
Die Weinrebe blüht, blüht.
Die Flut flüsterte mir im Traum etwas zu, der Sand ließ
ein Korn nach dem anderen blühen
wie der abendliche Tag.
Ich küsste mein verstorbenes Kind.
Ich liebte den Staub wie die warme Lippe
von der deine Stimme das Blau geliehen hat.
Gott rankt sich um dein Herz.
Die leichte Brise berührt die Gewänder der Engel,
die Straße wird sterben
wenn du deinen Kopf zur Seite drehen wirst
für immer, für immer.
Die Nacht wird die Hände all jener essen,
die am Tisch eingeschlafen sind.
Und es wird ihren Namen nicht geben
und es wird ihre Asche nicht geben
nicht einmal für einen einzigen Morgen,
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
ausgerechnet diesen Morgen, den weder du noch ich
sehen
denn allein sein
bedeutet eigentlich
mit tausend anderen zu sein.
Nichts kann so wie du
diese blutigen Äderchen erwecken.
Woran sollte ich mich erinnern
wenn es dich wirklich gibt?
All das worüber du sprichst
all das woran man dich erkennt
ist schon seit langer Zeit geschehen.
Aber nicht im Traum
Aber nicht im Traum.
Pilze und Flechten
Die Ärzte
meine Liebste
kamen in unser Tal
viel früher als irgendeine Krankheit
und blieben hier lange
tatenlos sitzen
und blieben hier lange
lange träumend
und ihre Nachfahren wuchsen wie die Flechten
und modrigen Pilze an unseren Händen
Deshalb
glaube nicht dem Medizinmann
der in der Frühlingsdämmerung nach dem Regen ruft
und glaube nicht der Stimme
die nach dir ruft
im überheizten Wartesaal der Vorstadtambulanz
215
216
RELA
Poesie der Nachbarn
Es wird nichts gesät sein
auf dem Feld um seine Füße
außer Schmerz und Dorn
und erst ein kleines Knäuel aus Spinnweben
wird manchmal morgens hervorsprießen, eilig geflochten
zwischen den Fingern der Neugeborenen
Wenn der Himmel
wirklich
all ihre Gebete erhört
werden eine Million Tropfen
voll von farblosem und geschmacklosem Gift
noch schneller auf die Erde fallen
und niemand wird
von dieser alten Parade verschont
die aus der Höhe
den eingebildeten Durst eines Menschen stillt
Dreh dich lieber
im Schlaf
auf die andere Seite des Bettes
zeichne dem toten Seehund einen Fisch auf den Bauch
Sei wie die Liebe:
vergiss nichts
und verzeihe niemandem etwas!
Sei wie der Luftzug durch die blutige Gaze
lass dich
um Gottes Willen
nicht durch sie heilen
Horche:
die Nachtwachen sammeln verlorene Münzen
von den Bürgersteigen der dunklen Straße
direkt unter diesen Fenstern
Mit diesen Münzen
haben wir erneut versucht Judas und seine Söhne
zu bestechen
aber
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Judas und all seine Söhne
sind schon vor langer Zeit
in ihr Königreich aus Silikon umgezogen
Lass alle sich
eine Minute vor Mitternacht
in den Tag verlieben
Lass, dass nichts ihre Welt verändert
lass, dass nichts ihre Welt verändert
denn
es wird verunglücken
jeder, der dieses Krankenhaus nicht kennt
wie sein eigenes Herz:
Jai Guru Deva Om
Neon spielte Lyra
Neon spielte Lyra
Von ihm
mehr als von irgendjemandem anderen
haben so viele spätere Spielmänner spielen gelernt
die auch heute
ihre besten Strophen verfassen
während sie beobachten, wie fremde Dächer brennen
und die so viele fremde Fenster
in Blindheit vernageln
Das sind jene
die in den Märchen Streichhölzer von Waisenkindern kaufen
Das sind jene, die kommen
wenn die Ohnmacht den Hunger ersetzt
und bieten dir dann das Brot von Gestern
und das Lied von Morgen
217
218
RELA
Poesie der Nachbarn
TIONS
Die Krähe
Und ich gehe nicht über das Feld
Denn im Feld ist die schwarze Krähe
Denn im Feld sind die Nacht und der Tag...
Josip Murn
Auf einem uralten Bild
kehrt ein einsamer Ackerbauer
in der Abenddämmerung
müde in sein Dorf zurück
auf einem staubigen Weg
durch die reifen Felder
Häufig zwang mich etwas
ihm im Traum zu begegnen
und auf diesem gleichen Weg im Bild
in der frühabendlichen Kühle
dorthin zurück zu kehren
von wo er jetzt
gerade kommt
Sowohl mich hier
wie auch ihn dort in diesem abgenutzten Bild
beobachteten gleichzeitig
die weisen Augen der Krähe
und diese glatten schwarzen Flügel
streichelten unseren Verstand
und heilten unseren Blick
als hätten diese Vögel
die Kleider der Heilsarmee übergestreift
bis zu den Zähnen entwaffnet durch unsere Unfähigkeit
uns von dem Ort zu rühren
auf dem der Schimmel frisst
unser Hab und Gut
das schon hundertmal
von den Horden des Krieges und den Horden des Friedens
geplündert wurde und das wir
von unseren Vätern und unseren Müttern geerbt haben
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
219
Im Herzen jedes dieser Vögel
hat dein Vater für dich eine Brücke gebaut
die von deinem letzten Schritt
in das Schneeweiß
zusammenbrechen wird
Wenn du dich dann umdrehst
wirst du dich noch einmal sehen
wie du weit zurückläufst über diese Felder
in den heißen Essig
in den eisigen Frieden
ich aber werde
morgen über die Felder gehen
Aus dem Kroatischen von
Alida Bremer
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
220
Poesie
Tomica Bajsić
TOMICA BAJSIĆ, geboren 1968 in Zagreb/Kroatien. Dichter, Prosaist und Übersetzer.
In seiner Jugend reiste er durch Europa und Lateinamerika, insbesondere durch Brasilien, wo er sich fünf Mal aufhielt. Über seine Aufenthalte in Lateinamerika schrieb
er Reiseberichte und Lyrik und übersetzte dortige Dichter ins Kroatische. Er besuchte
die Schule für Angewandte Künste und studierte drei Jahre lang an der Akademie für
bildende Kunst in Zagreb; bisweilen ist er auch als Zeichner und Restaurator tätig.
Redakteur bei der Zeitschrift Poezija. Seine Gedichte wurden in der Zeitschrift Die
Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis in deutscher Übersetzung veröffentlicht, ein Prosafragment in der Anthologie Kein Gott in Susedgrad.
Apokryphe über Tito
Tito nagt auf dem Dachboden an einem Schweinskopf
mit einem Auge lugt er auf die Straße, damit seine Eltern ihn nicht erwischen
es ist mir doch egal / denkt er / ich werde mit dem Fahrrad fliehen
Tito illegal in einer Wiener Straßenbahn
er hat seinen besten grauen Anzug angezogen
er denkt: bin ich etwa weniger wert als diese Studenten?
Tito ist Walter / John Smith / Fantomas / Caspar
Hauser / Howard Hughes / Tito ist alias / alias ist Tito
wie viele Namen ich bloß habe / bewundert Tito sich selbst
Tito reitet über den Berg Romanija
hinter ihm stolpert der alte Dichter Nazor durch den Schnee
Vladimir Vladimir / denkt Tito gütig
Tito winkt aus seinem Mercedes den versammelten Kindern zu
die roten Tücher sind ihnen wie kleine Schlingen um den Hals gebunden / und die Sonne
wird einmal erlöschen / denkt Tito philosophisch
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Tito ist elegant im Tod
die Liste der Untröstlichen in alphabetischer Reihenfolge1:
Akrobaten im Circus / Bären Nashörner Löwen /Beamte /
Einserschüler / die englische Königin / Filmarbeiter / Fußballspieler /
Grundschullehrer / Hippies
historische Persönlichkeiten / Ilich Ramirez Sanchez a.k.a. Carlos /
die kubanische Zigarrenindustrie / Menschen, die einen Schnurrbart tragen /
Offiziere aus den Feuerwehrwachen / Opernsänger / Präsidenten
Schneider / schöne Frauen / Werktätige
des Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung /
der Anglervereine / Maiskolbenverkäufer auf der Arbeitsstelle
Nr. 7 / Punker / Reservepolizisten /
Sai Baba / Schachspieler / die Chefs der Häuserverwaltungen /
pensionierte ältere Korporale / die Grünen
Tito ist im Heißluftballon über Ostafrika wieder erschienen
er senkt das Fernrohr auf eine Zebraherde
gestreifte Teufel / denkt Tito / sie sind alle gleich
Tito sagt NEIN zu Stalin, und Stalin
zu ihm, das ist mir schnurzegal / du kannst mich mal
kannst du überhaupt rechnen?
ich habe einundzwanzigtausendachthundertsechsundfünfzig von ihnen
unter die Blätter des Waldes von Katyn zerbröselt / ich habe dreihunderttausend von ihnen
die heimlich vergraben wurden
ich habe zehn Millionen von ihnen, die liquidiert wurden
ich habe all ihre Papiere / Fotos ihrer Kinder / Briefe voller
unberechtigtem Optimismus / ihre Bleistifte / Kleingeld
ich habe sie alle gut leserlich in die Bücher eingetragen
Kardinal Kuharić am Telefon 9827
Es ist Heiliger Abend
und eine Trinkerbande degustiert Šipon
und Silvaner in einem illegalen Weinkeller auf dem Friedhof
Plastik- und Glasflaschen aller Dimensionen werden gefüllt
und Autos stürzen über die Ränder der Straßen
1
Im Original sind diese Personen bzw. Begriffe in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt; ich habe sie in dieser Reihenfolge übersetzt und nicht alphabetisch geordnet (Anm.d.Ü.)
221
222
Poesie der Nachbarn
heute Abend, wenn die Glasknochen der Alten rauschen
geht ein Luftzug durch die Kirche, weil jemand die Tür
offen stehen lassen hat
die alten Weiber ärgern sich zu Recht
man zählt, wer mehr Lämpchen angezündet hat
auch ich würde – wäre ich alt – mehr Lämpchen anzünden
und mich blöd stellen
man sagt, dass dieses Verbraucherfieber vor den Feiertagen
aus dem materialistischen Westen eingeführt wurde
und dass sich der Sinn verliert
jenes heiligen Tages, an dem das Wort zum Laib wurde
doch mir scheint, dass das Geflügel die schlechteste Karte gezogen hat
das reihenweise keine Köpfe mehr hat
vor sechs Jahren hat man uns mit
gebratenen Ochsen genährt
und jetzt veranstaltet man Massenspektakel
mit kostenlosen Würstchen und
Popstars
auch Tito hat uns mit dem Schweinskopf
genährt
den er vom Dachboden gestohlen hat
und davon hat uns lange
der Bauch weh getan
es fängt an zu schneien und auch ich bin
betrunken wie alle anderen anständigen
Kroaten
unser Weg in die Zukunft ist
Nationalhumanismus
Stillleben
mit einem Schweinskopf
der Pharao
atmet tief im Frieden
seines Winterpalastes
er sinnt vielleicht wieder über Rache nach
und Kardinal Kuharić ist am Telefon 9827
nur eine aufgenommene Weihnachtsbotschaft –
er antwortet nicht auf Fragen.
RELA
TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Eingelassen in den Asphalt von Rio de Janeiro
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
Melonenschalen
die Atome der Sonnenenergie
die vollgepisste Zeitung „O Globo“
levitierende Luft
die schwarze Farbe im Pigment
Herzschläge
komprimierter Kautschuk und die Erinnerung
an die Schoner der unrasierten Taugenichtse
Der Einsiedler, den ich kannte
Der Pole hat sein Gesicht verändert.
Er hat die Abdrücke von den Fingern abgetragen, die ihn verraten könnten.
Warschau? Nur einmal hat er eine Postkarte geschickt mit
dem Bild des Kreuzes von Cabral.
„Vögel fressen Würmer“ stand da. „Würmer fressen Menschen.
Ich lausche dem fallenden Regen.“
Er hat ein Stück Wald und Küste von Bahia mit einem Drahtzaun abgetrennt und fünf glatte,
blutrünstige Hunde losgelassen, die darin ihre Kreise ziehen, durch
Tage und Nächte.
Er baute sich ein Haus hoch über der Erde im Knoten des Baumes.
Damit sein Schlaf sicher werde vor den Eindringlingen.
Jeden Morgen lauert er mit dem Fernrohr den Anschwemmungen auf, die das Meer bringt.
Er hat Hallen gebaut, durch die der Luftzug die Vorhänge aus Nylon treibt.
In ihnen trocknet er das Holz und schafft hohe verflochtene Skulpturen.
Die Gegenstände, die er zusammenschweißt, kann man nicht schmelzen.
Seine Werkzeuge sind Feuer, Motorsäge und Axt.
Der Pole isst Beeren, die in seinem Wald wachsen.
Wenn er müde wird, schnitzt er sich einen Sitz in den Baumstamm, tief und
komplex wie ein Indianerthron.
Zwanzig Jahre.
Wenn du ihm sagst: „Kühlschrank!“ blinzelt sein Kunststoffauge
einen Moment lang.
Und doch kann man den Polen nicht sehen, außer in der harten Struktur
seiner Augenbrauen.
223
224
Poesie der Nachbarn
RELA
TIONS
Titan
Mitternacht in Zagreb
im Radio ein Mädchen aus der Folge
eines gewissen Schi Tschi Man
sie preist laut ihren Guru
es scheint, dass dieser Schi Tschi Man ein Junge voller Überraschungen ist
die Familienmitglieder haben ihn schon in der Kindheit Titan genannt
alles, was er tat, nahm gigantische Ausmaße an
seine letzte Aktion zur Erlangung des globalen Friedens
lautet „Sieben Millionen Vögel“
er hat über sechs Jahre lang Vögel auf Papierstücke verschiedener Größen gezeichnet
am Anfang war es am Schwierigsten –
im ersten Jahr hat er nur dreihunderttausend gezeichnet
und die letzte Million hat er in sechs Tagen beendet
(wir konnten es nicht glauben, als er es uns gesagt hat, sagt
das Mädchen, es war nur sechs Tage her, seitdem wir alle gemeinsam
die sechste Million gefeiert hatten)
im Schnitt hat er 1.350.000 Stück im Jahr gezeichnet
in verschiedenen Formaten
von großen Muralen bis hin zu winzigen Vögelchen
auf einem Papier wurden sogar 8643 Stück gezählt
UND WER ZÄHLT DIE VÖGEL? fragt die Moderatorin
oh, wir haben ein besonderes Team, das für das Zählen der Vögel zuständig ist
WARUM AUSGERECHNET SIEBEN MILLIONEN VÖGEL?
am Anfang hätten es sechs sein sollen, aber
eines Tages, während wir zu Mittag aßen, stand ein Mädchen auf
und sagte: Lehrer, ich habe heute Nacht geträumt, dass Sie heute Nacht
sieben Millionen Vögel gezeichnet haben
BEREITET ER EINE NEUE AKTION VOR?
wir wissen noch nichts – nur
dass es sich nicht um Vögel handeln wird, das hat er uns gesagt
außerdem beschäftigt er sich auch mit Sport
er läuft und spielt Tennis und springt in die Höhe (oder in die Weite)
er hebt Gewichte bis zu 3.2 Tonnen, sowohl mit der linken wie auch mit der rechten Hand
einmal hat er 2000 Menschen hochgehoben
unter ihnen war eine große Anzahl von Nobelpreisträgern und Präsidenten
obwohl er ein Inder ist, schreibt er Englisch und wählt dabei
Worte, die Engländer nicht kennen
er hat 1200 Bücher geschrieben und über eine Million
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Gedichte gedichtet
Er hat 150.000 Bilder in Acryl und
mit Wasserfarben gemalt, er
schläft nie, denn Erholung ist für ihn
nur ein Wechsel der Aktivität
Jeder Tag ein neuer Tag
im wald der bitteren früchte
plastisch – metallener kleiner tode
die erste sonne ist ein würfel
gerade – ungerade
einer von uns wird nicht zurückkehren
jedes ende ein neuer anfang
ich wache innerhalb der beständigen mauern auf
die erste sonne ist die fliege, die nach ecken sucht
aufs neue lerne ich die ruhigen gesichter unserer kinder kennen
– aber meine liebe ist giftig
du läufst in den schatten des staubes
auf dir trägst du partikel des versinkenden meeres
ich fange dich
wie der krake, der mit schwarzem schaum den tag verschließt
Sechs Jahre des Wartens
Wie viele Nächte hintereinander
Legst du dich ins Bett unter dem Rand der Glocke
Gedruckt von den Kubikmetern der Dinge
Die uns vom Leben getrennt haben
Und dein Kopf fällt auf die Matratze
Mit einem Schlag des Ankers auf den friedlosen Boden.
Dreitausend Nächte, fünfhundert,
Tausend?
Zweitausend und mehr.
225
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Poesie der Nachbarn
RELA
TIONS
Das Ruder ist im Looping der schwarzen eisigen Nadeln durchs Wasser gefahren
Ich bin in das Zimmer gekommen und habe dich schlafend angetroffen
so unbeweglich, dass es mir erschien, als wärest du tot.
Selbst wenn wir zweihundert Jahre lebten, immer würden Dinge bleiben
die wir nicht geschafft haben, einander zu sagen.
(Aus: Das Kreuz des Südens, 1998)
Cape Kennedy
Der Astronaut Buzz Aldrin
hat beim vierten Lesen des „Phantoms der Oper“
das unangenehme Gefühl, dass die Ereignisse im Buch erfunden sind.
Das gleiche unangenehme Gefühl, genau das gleiche, hatte er einige Monate zuvor,
als er „Das Geheimnis des gelben Zimmers“ von Gaston Leroux las.
Er bemerkte überrascht, dass beide Bücher denselben Autor haben.
Es ist Spätsommer und die Tür, die zur Terrasse führt, steht weit offen.
Auf dem Glas segeln Fernsehbilder
– der Mond,
der König der wilden Savannen,
kommt herein und ruft ihn, er kennt seinen Namen.
Buzz nimmt die Fernbedienung und stellt den Ton leiser.
Während er auf die Terrasse tritt, hebt der Wind den Vorhang, der seine
Hand fasst; unten,
über die unbeleuchtete Straße geht ein Mädchen in einem Baumwollkleid vorbei
und ruft ihm zu:
„Hey, Buzz, du Weltall-Cowboy!“
Ihre Stimme hallt durch die Klarheit. Buzz
atmet die Nachtluft, die durchwoben ist von Sternen.
Im Fernsehen zeigt man Dokumentaraufnahmen von Lenin
(oder Stalin, Buzz ist nicht sicher,
um wen es sich handelt, er hat diese beiden immer verwechselt).
Der Zug
mit den plombierten Eisenwaggons
donnert durch die Steppe in Richtung Sankt Petersburg
(das kann man nicht mehr ändern).
Das Foto der Töchter des Kaisers, aufgenommen in ihrem Heim,
bevor sie erschossen wurden in Ekaterinburg.
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Das älteste Mädchen steht und die anderen sitzen versammelt um den Tisch,
auf dem sich eine Vase mit Blumen befindet:
man sieht, dass sie eng miteinander verbunden sind, so wie Schwestern
auch sein sollen –
sie sind in Kleider gehüllt, die Harmonie darstellen.
Sie sind hübsch und bescheiden, Kinder mit neugierigen Augen,
die das Buch lesen: was wissen sie? sie verschwinden
in der Masse von einigen hunderttausend Menschen:
Lenin (oder Stalin) in der Menge,
er hält eine Rede auf den Treppen vor dem Winterpalast.
Im Fernseher gibt es keinen Ton, so dass Buzz nicht hören kann, was gesprochen wird,
diese Menschen wirken erschrocken auf ihn,
als würden sie am Rande eines Abgrunds stehen.
Merkwürdig, denkt Buzz,
all diese Menschen, so voller Leben, sind nun seit langer Zeit tot.
Dieser Gedanke macht ihn traurig und er gießt sich maßlos zu,
was er sonst nie tut.
Elftausend Meter über den Großen Tälern
Miss Love sitzt im Flugzeug am Fenster um die Wolken
Sehen zu können, weiße Wolken, dicht und weich wie Zuckerwatte
Schaumartige Wolken, auf denen man vielleicht laufen kann
Nur in einem ärmellosen T-Shirt. Am späten Nachmittag
(In der Zeit, in der sich ihr Haar mit Gold färbt)
Kann die Sonne sehr stark sein, hier oben
In der Höhe.
Neben ihr sitzt ein Mann.
Er ist misstrauisch ihren Armen gegenüber
Die übersät sind mit Schürfwunden und blauen Flecken.
Miss Love sitzt im Flugzeug mit zusammengepressten Knien
Auf ihrem Schoß das makrobiotische Abendessen, unter den Füßen
Sachen, Sachen, die sie gekauft hat. Auf dem Rücken trägt sie einen Rucksack
In der Form eines Bärchens, in dem sie ihr Hochzeitskleid aufbewahrt
Und die Urne mit der Asche ihres Mannes, eines berühmten Pop-Sängers,
dessen Namen sie vergessen hat.
Er wohnt so schon seit langer Zeit im Rucksack, der die Form eines Bärchens hat
Eine Handvoll seiner Asche hat Miss Love
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RELA
Poesie der Nachbarn
Unter der Trauerweide im Garten vergraben, weitere zwei hat sie mit Tonerde vermischt
Kleine Teller daraus geformt, ein Teil ist fort geblasen worden
Leider:
Endete er im Ventilationssystem.
Den Rest trägt Miss Love auf Reisen immer bei sich
Neben dem Herzen, wie einen Talisman
Der siebenundzwanzigste Tag
Für Mara, siebenundzwanzig Tage nach deiner Geburt
Licht und Schatten: sie trennen sich...
Und bis vor 27 Tagen waren sie eins!
Deine schwarzen schiefen Augen suchen jetzt nach Rändern.
Geboren in diese Welt ganz ohne
Ausrüstung – du bist so klein, dass du nicht mal
Deinen Namen kennst – du möchtest uns mit diesem
Lächeln des neu erschaffenen Himmels erobern.
Was für ein Lächeln das ist! Alle Bienen der Alpen
Und alle Waldfeuer der Mongolei
Und alle 350 Kirchtürme von Salvador
Und alles Plankton des Atlantiks finden Zuflucht
Im Himmel deines Lächelns, der an einem geheimen Ort geschmiedet wurde
Der nur den einzelnen
Levitierenden Heiligen bekannt ist.
Du schaust herum und wunderst dich über alles, aber
Ich muss dir sagen, dass ich in deinen schwarzen Augen,
Die zehntausend Jahre alt sind, immer noch die Spiegelung jenes stillen Sees erkenne
Dessen Tiefe man nicht messen kann.
Für mich ist dieser stille See eine unbekannte Erinnerung
Die Wissenschaftler nennen ihn das schwarze Loch des Raumes
Einige nennen ihn einfach einen Sack Kohle
Und die religiösen Menschen – sie nennen diesen See Geist.
An diesem stillen See waren deine schwarzen Augen
Bis vor kurzem zwei Indianerkanus
Die sorglos rudern durch die Unendlichkeit des Alls.
TIONS
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Toledo
Wir fuhren in tiefer Nacht durch die Straßen von Toledo.
Toledo, die Stadt der Reliquien, der hohen Mauern,
der Berg, umringt von dem Bett eines ausgetrockneten Flusses,
schlief.
Die japanische Philharmonie schlief.
El Greco, lebendig wie das Quecksilber in den Flüsschen der engen Gassen,
schlief. Keine Spur vom grau-weißschwarzen Sturm. Die Kirchtürme
länglich wie El Greco
in dieser dunklen Hitze, schliefen eingehüllt
in die Kühle des Friedens.
Die Schönheiten von Toledo, die Geigerinnen,
die Studentinnen der japanischen Philharmonie schliefen.
Das Karmeliterinnen-Kloster in seiner Geometrie
der Gitterstäbe und der runden Öffnungen schlief.
Es schliefen auch die Denkmäler der bedeutenden Seefahrer
verankert in der Dunkelheit.
Wir fuhren mit Fernlicht entlang der Umlaufbahn der Stadt.
Durch enge abschüssige Straßen und über ebene Plätze, hindurch zwischen
den Häusern mit unüberbrückbaren Hauseingängen, die in der Nacht still geworden waren,
segelte unser Autor als Phantom aus der Zukunft.
Die Portraits – Öl auf Leinwand – aller Bischöfe von Toledo
schliefen unter Verschluss. Alcázar
schlief ebenfalls, die altrömische Festung, der Berg
verhängnisvoll in seinem Dunkel, der steinerne Elefant im Weiß:
Irgendwo innen drehte sich die Grammophonschallplatte
aus der Zeit der Belagerung im Bürgergkrieg...
autos da fe –
diese kleinen Plätze, die kreisen und kreisen
einst waren sie morgens Märkte
und nachmittags Gerichtssäle
der Inquisition
goldene Klammern, schwarze Umhänge, Kapuzen
viele Menschen und rituelle Stiere ertrunken im Meer aus Stein
man hört keine der Stimmen dieser Plätze
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Poesie der Nachbarn
keines der Konzerte in den Nächten voller wunderschöner Gärten
aus welchen Farben und Töne hervorsprudelten
in den letzten fünfhundert Jahren
als wären sie mit Kerzenwachs bedeckt
von den Straßen –
In den schnellen Tupfern, den dunklen Lichtern Toledos
auf deinem langen, hellen Haar, während du schläfst,
kleine Nina – die kleine Mara und Martin sind immer noch wach –
sehe ich die Linien / Navigationsmappen
des Wegs, auf dem selten gereist wurde
den wir als Familie gegangen sind
wir bringen zwölf Unikat-Täfelchen der interessanten
Toledo-Keramik, eine feste Schleuder für Martin
und wir hissen die Segel mit dem Wind im Rücken
Auf den Spuren von Alberto&Machada&Hernandez
Drei Dichter der Liebe und der Verbannung
Orihuela Granada Casares Ronda Tarifa Segovia
Puerto de Santa Maria---------die Bucht von Cadiz und
ich sehe außerhalb der Reichweite des Leuchtturms das Schiff Solomon Levi Co.
die Halskette aus afrikanischem Holz, die Insel der Verheirateten und
Gibraltar, den letzten Punkt
Europas.
Du kleines Pünktchen der Sonne
aus dir werden Welten erschaffen.
Für die kleine Nina, die Geige spielt, und dann
fließt ihr blondes Haar auf eine eigentümliche Art,
es schafft eine akustische Schutzblende für den Lichteinfall,
das macht ihre Musik so einzigartig.
Der Engel des Dunkels ohne Flügel
Ein Schwein rennt vor dem Panzer her
Entwischt fröhlich den Raupen.
Beinahe! Kurz gestolpert
Zieht es sich aus dem Schlamm heraus wie Phönix –
Erwisch es! Schneller! Schreie ich
In die Öffnung auf der Kuppel.
RELA
TIONS
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Denn das Schwein
Obwohl scheinbar ein ungeschicktes Tier
Ist kein unerfahrener Läufer
Und es zieht uns herum, nach links und nach rechts
Um sich selbst die Gelegenheit zu verschaffen und nach draußen zu finden
Aus dem eingesunkenen Straßenbett
In die Felder, in den Mais,
Auf das eigene Terrain.
Ich halte mich an dem Kanonenrohr fest
Und beuge mich aus der Öffnung –
Wir sind so nah! Die Raupe
Berührt es beinahe...
Das ist eine mächtige Maschine:
Schon die Kettenraupe allein wiegt Tonnen.
Aber das Schwein verliert nicht den Atem für
Das Reale –
Es spielt mit uns
Und mit einem schlauen Looping
Verschwindet es außerhalb der Reichweite.
Verrückt vor Neid
Ist das Schwein der einzige Engel der Dunkelheit
Ohne Flügel.
Seine Lunge atmet das Heimweh
Nach dem Gewölbe der Hölle
Das aus reinem Sauerstoff erschaffen ist.
Das ist seine Zeit – die Zeit des Festmahls
Die feierliche Zeit, die Zeit des Ruhmes
Die Häuser der Wächter sind leer
Die Gestirne sind erschüttert
Die Gewässer sind vergiftet
Die Körper der Toten sind von den Seelen verlassen.
Wie schön du bist! Schwein.
Erlaube mir dir das Zeichen meiner
Tiefsten Liebe zu erbieten:
Es ist schwer zu zielen im Stehen auf dem Panzer
Aber ich habe es im Fadenkreuz des Granatwerfers.
Sein leeres Auge dreht sich zu mir um
Wie ein leerer Strahl vom Boden des toten Meeres
Die kranke Sonne der Mitternacht
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Poesie der Nachbarn
Sendet
Die Kälte
Direkt in mein Herz.
Das Schwein, das sich von den Menschen ernährt
Ist der einzige wahre Herr des Krieges.
Das Gras, in dem es herumschleicht, hat
Die Macht der Sprache und alle Sprachen sprechen
über den Hunger
den man nicht stillen kann –
über die Eitelkeit und den Stolz; über die Gier
die Wollust
den Neid
die Gefräßigkeit
die Wut
die Faulheit
die Geduld, die weder himmlisch
noch irdisch ist –
(Ohne die Körper zu berühren
In welchen das Blut noch nicht
Getrocknet ist, wartet das Schwein
Und kehrt zurück
Wenn die Venen der Toten zu den
Korridoren
Der Schwefelwolken werden)
Ich senkte den Granatwerfer –
Im letzten Augenblick bekam ich Angst –
Ich dachte: es kann verhängnisvoll sein
In diesen gefährlichen Zeiten
Ein Wesen sprengen,
Das übernatürliche Kräfte besitzt.
Manchmal wache ich nachts auf
Voller Reue wegen
Meiner Feigheit.
Die Zerstörung dieses Schweins
Hätte mich zum Helden machen können,
Wie Prometheus.
(Aus: Gedichte des Lichts und des Schattens, 2004)
RELA
TIONS
RELA
TIONS
233
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
234
Poesie der Nachbarn
Die Diktatoren
Die Diktatoren defilieren
wie die Figürchen in einem mechanischen Circus.
Dieses Karussell wird nicht von elektrischer
oder einer anderen künstlichen Energie betrieben
es wird von unserem Willen betrieben, oder
vom Mangel an Willen.
Sie werden entthront
wegen der Ermüdung des Materials
oder sie werden von denen, die ihnen ähnlich sind
aufgefressen, sie verüben Selbstmord
oder leben ihr friedliches Alter.
Aber, unsere Gier recycelt sie
die verfehlten Hoffnungen unserer Jugend
verkörpern sich in ihnen.
Australien
Hinter dem Korallenriff,
dem leeren Meer und den berstenden Lichtern
dort wo die Brise und der Vogel in der Luft
das ersehnte Festland ankündigen
wo scuba diving Harmonie
herrscht
wo die Bambusfloße aus Vietnam
den Ozean überqueren auf der Suche nach Brot
und wenn sie einen Schmetterling sehen
merken sie sich für immer jede seiner Poren
die in hervorquellenden Farben atmen
denn das ist das Zeichen, dass das Festland nahe ist
und dass sie nicht ertrinken oder
vor Durst sterben werden.
Dort hinter dem Meeresgrund
aus versteinerter Lava
liegt Australien.
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Knochensammler
Die Knochensammler teilen jeden Abend
auf der Wiese mit weißer Kreide den Kreis in vier Teile
sie tragen die Knochen heraus, von denen sie glauben, dass sie ihnen gehören
obwohl sie nicht die ihren sind, benutzen sie sie wie Spielmünzen beim Roulette
denn in diesem Spiel ist es verboten zu zählen, während man sieht
es wird im imaginären Feld der Wünsche versteigert.
Die Knochensammler beweisen jeden Abend
warum nur eine Sorte Knochen ein Denkmal verdient
und dann ziehen sie sich in die Dunkelheit zurück
damit niemand sieht, von wo sie gekommen sind.
Wenn jedes Opfer des Krieges die gleichen Rechte hätte
würde der Regen die Knochensammler forttragen
und ihre weißen Kreiden würden vergessen bleiben
in der Schublade der Zeit.
Poesie übersetzen
Für Damir Šodan
Ein Dichter zu sein, der etwas über die Welt lernt
indem er andere Dichter übersetzt, gilt für diese unsere
Zeit als Verfehlung, und es lohnt sich nicht
das sehe ich jetzt, aber ich habe es nicht besser gewusst
und diese Verrücktheit begleitet mich sogar über die Schwelle hinaus
jener der Verrücktheit zugänglichen Zeit
der Jugend.
Drei Schritte
Es ist in diesem Tag und
es ist hier irgendwo; wir fangen es
beim Laufen, und wir können in einem Augenwinkel
den Sprung erahnen, es ist
in das klare Meer eingetaucht
und das freie Gedicht
ist soeben geschrieben worden.
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RELA
Poesie der Nachbarn
TIONS
*
Warum sich daran halten, was war
wenn wir dabei auch das Loch für das Licht nicht finden
in der erloschenen Glut des vergangenen Himmels
einen Funken, um ihn
in den nächsten Tag mitzunehmen?
*
Mit Buchstaben zeichnen, mit Ton schreiben
die Bewegung im Auge der Kamera anhalten
sogar die Titel der Romankapitel
die wir nie schreiben werden
können Poesie sein.
(Aus: Der Aufstand der Erhängten, 2008)
Maybe Airlines
Im Warteraum am Flughafen
Charles de Gaulle in Paris,
im Frühjahr 1994
trägt ein Mann die Unruhe
der verbrannten Erde mit sich
obwohl er ganz kaltblütig ist
wie die isländischen Seen
wenn die Asche der Vulkane
ihre Geysire verstopft.
Eine US Feldjacke
ein wenig beschädigt
das verwundete Objektiv
des Kriegsreporters
das Intifada-Tuch
das heißt
er ist nicht unentschieden
der Bart steht für Erfahrung
Reuters, CNN, ABC?
Auf der Schirmmütze trägt er die Aufschrift
SARAJEVO MAYBE AIRLINES
und er spielt mit neugierigen Blicken
anderer Passagiere
wie mit Glasmurmeln
er schüttelt sie ab wie Staub
von seinen gut erhaltenen
jungle-boots
Stiefeln
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Srebrenica
Wenn du diesen Hebel ganz nach unten drückst, diesen Hebel mit einem Griff
aus Plastik und mit einem Stückchen braunem Isolierband am oberen Ende,
wirst du die Bremsen lösen.
Und die Wasser des Bösen werden aus dem Reservoir fließen wie ein fallender Fluss
(mehr als ein düstrer Fluss)
schnell, im Lärm versunken.
Wenn die Flut zu strömen beginnt und den Staudamm durchbricht;
sie stürzt bergab in die Felder –
dann ist die Rückkehr unmöglich.
Aus dem gesegneten Ruhezustand geht die ganze Welt in Spannung über:
Die Wassermauern erheben sich und es beginnt das Rennen in das Herz des Strudels,
in die Dunkelheit.
In die Kälte, in die Dunkelheit.
Silber1 wird sich in Schlamm verwandeln, es wird austrocknen und zu Staub werden.
Wenn du diese Tür öffnest, sagte er und sein Atem vernebelte das Fenster,
wird der durchsichtige Felsen zerbersten und dann werden sowohl wir wie auch alles,
woran wir glauben, worauf wir hoffen, einfach verschwinden.
Gaugins Fluch
Du hast uns verflucht, Paul Gaugin,
und hast dich unter dem Mantel
der Insel Hiva Oa versteckt.
Du hast dein Grab im Holz,
das dem Vulkanregen widersteht,
es ist nur eine weitere
von deinen angewandten
Skulpturen.
Die Vegetation, die deine Sonne verschließt,
ist vom kupferfarbenen Sand schwer geworden,
die Blätter unbeweglich wie eine Ehrenwache,
und der Wind ist tief unter dem Meer.
1
Der Name Srebrenica kommt vom Wort Srebro = Silber.
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Poesie der Nachbarn
RELA
TIONS
Auf der Insel Hiva Oa ist der Wind ein Geräusch
sowohl der vergangenen Zeit wie auch jener,
die kommen wird.
Ich bin gekommen um dir zu sagen,
hier auf der Insel Hiva Oa,
dass du der Pionier der Comic-Kunst bist,
indem du auf drei Kartoffelsäcken maltest,
versuchtest du die Menschen im Raum unterzubringen,
aber deine Kerze brannte aus.
Der letzte Bildabschnitt: Wohin gehen wir?
ist unvollendet geblieben.
Viele Reiter sind vorbeigeritten
am Strand, den du vor langer Zeit entdeckt hast.
Das Jahrhundert des Comics ist gekommen und vorbeigegangen.
Siehst du, man kann alt werden
auch nach dem Tod.
Vielleicht ist es dir bekannt,
aber du hast vergessen es uns zu sagen,
ob wir von der Erde vertrieben werden
so wie wir, wenn wir geboren werden,
aus dem Paradies vertrieben sind,
wie gefallene Engel?
P.S. In einem Brief an de Monfried schreibt Gauguin über ein Bild, an dem er schon lange
arbeitet, und welches beinahe vier Meter lang ist, und man solle es von rechts nach links anschauen. Es ist der Herbst 1897, und er wird auch noch das ganze Jahr 1898 an diesem Bild
arbeiten, bis zum Schluss. In der linken Ecke steht der Titel des Bildes auf grell gelbem Hintergrund: Où Venons-Nous? Que Sommes-Nous? Où Allons-Nous? In der rechten Ecke steht
die Unterschrift des Malers, ähnlich den goldenen Spuren auf einem beschädigten Fresco.
Rechts unten schläft ein Baby. Um es herum sitzen drei Frauen. Ein blauer Hund liegt vor
dem hellblauen Baum. Zwei Frauenfiguren vertrauen sich einander im Schatten des Baumes wie in einer Nussschale an. Eine klobige Figur, unabhängig von jeglicher Perspektive,
hebt die Arme in die Luft und wundert sich über die beiden Frauen, die sich trauen, über
das eigene Schicksal nachzudenken. Die Person in der Mitte pflückt Früchte. Zwei Katzen
vor dem Kind. Eine weiße Ziege. Das Idol mit rhythmisch gehobenen Armen kündet vom
Rätsel, das später kommt. Die Figur, die kniet, hört auf das Idol. Die Legende wird von einer alten Frau beendet, die aussieht, als würde sie die Nähe des Todes akzeptieren und sich
ihren eigenen Gedanken überlassen, wie Sokrates glaubt sie, dass ihr dort nichts Schlechtes
passieren kann. Neben ihren Füßen hält ein merkwürdiger weißer Vogel eine Eidechse in den
Krallen und zeigt damit die Sinnlosigkeit der Eitelkeit. Die Szene spielt sich im Wald neben
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
dem Bach ab. Im Hintergrund das Meer, dann die Berge der benachbarten Insel. Ungeachtet der Veränderungen in den Tönen ist die Landschaft blau und veronese-grün – vom einen
Ende bis zum anderen.
Dieses Bild, entstanden auf Kartoffelsäcken im Format 171,5 x 406,4 x 8,9 cm, das ich im
Alter von vierzehn Jahren im Nationalmuseum in Berlin gesehen habe, befindet sich heute
in der ständigen Ausstellung des Museums der schönen Künste in Boston.
Schreckliche Sehnsucht
Ich bringe das Wasser zum Kochen, in zwei Tassen rühre ich Nescafé ein und denke dabei
nichts, das ist Gewohnheit. Erst wenn ich einen Schluck trinke, sehe ich, dass die zweite Tasse dort steht, die Kälte an sich zieht und verblasst. Denn du bist nicht da, und ich gieße auch
noch Milch in beide Tassen, und beharrlich mache ich Kaffee für zwei.
Die Nacht im Naturkundemuseum
In der Nacht vor der russischen Invasion 1968
ordnete ich im Naturkundemuseum in Prag
Exemplare von Schwertfischen in Mappen,
Riesenschildkröten mit sieben Streifen,
die einmal in 50 Jahren
aus der Adria auftauchen.
Ich sortierte nach Ordnungszahlen
Schmetterlinge in seidenen Farben,
sammelte Muscheln aus sieben Meeren,
holte schwammige Versteinerungen aus dem Keller
und vergessene Skelette von Delphinen.
Bevor man mir den Museumsschlüssel nahm,
ließ ich den Kraken tanzen
in den Einmachgläsern der Ewigkeit.
Jetzt fragt man mich,
wie ich als Biologieprofessor die mit zugeteilte Stelle
des Grabaushebers auf dem örtlichen Friedhof ertrage,
nichts Merkwürdiges, antworte ich, sie werden verstehen,
je tiefer ich den Spaten in die Erde steche,
desto näher bin ich der Quelle des Lebens.
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Poesie der Nachbarn
RELA
TIONS
Die Windjacke der New Yorker Müllmänner
Ich sehe im Fernsehen einen Herrn aus Japan, der erklärt, dass Unglücke und Krieg ihre
Ursachen in der fleischfresserischen Ernährungsweise haben, in der Kultur der Tötung von
Hühnern und Schweinen. Die Makrobiotik sei, so sagte er, die Lösung für alles. Die Wirkung
von Getreide auf den Organismus sei so etwas wie der Schlag Hiroshimas gegen die Atombombe. Er legte aufs Schnelle – soweit ihm das das TV-Timing erlaubte – die ganze Weltgeschichte als das verrückte Ritual eines Schlachtfestes dar, er erklärte, dass nicht nur Wesen
im Weltall existierten, die makrobiotischen Bewohner anderer Planeten, die seine Arbeit auf
der Erde unterstützten, sondern auch wir seien deren Samen, der bei den ersten Besuchen
der Raumschiffe ausgesät worden wäre.
Ich glaube, dass Unglücke und Kriege
mit der Erfindung der Zeit beginnen:
die Astronomie der Maya –
die Sonnenuhren der Ägypter,
der Griechen und der Römer.
Die vier Reiter der Apokalypse hätten nie in voller Zahl und am verabredeten Ort eintreffen
können, hätten die Menschen in Mesopotamien vor langer Zeit nicht begonnen, die Tage und
Wochen zu zählen, sie zählten die Jahre nach den Herrschern, die Chinesen nach den Dynastien, die Inder zyklisch und die Etrusker nach den Generationen. Die Römer berechneten
die Zeit ausgehend von der Entstehung ihrer Stadt; dieses Datum verdrängten die Christen
später ins 753. Jahr vor Christus.
Warum ist die Zeit so gefährlich, wenn es sie eigentlich gar nicht gibt, ist sie nicht nur, wie
der Grieche sagt, ein metrisches Konzept?
Wenn wir jung sind, erkennen wir die Verpflichtung der Zeit nicht, und wenn wir alt sind,
negieren wir ihre Vergänglichkeit. Wir versuchen uns wie Thor Heyerdal zu fühlen, auf einem Floß mitten im Pazifischen Ozean, wo dieser Abenteurer, der Liebling der Osterinseln,
feststellte, dass es keine Zeit gibt.
So ist es auf hoher See, dort wo alles sichtbar ist, unverändert seit Urbeginn. Die Vergänglichkeit der Zeit spürte er später doch an der eigenen Haut, als sein Floß an den Felsen der
Insel zerschellte und er nur um Haaresbreite dem Tod entronn – unter dem gebrochenen
Segelmast.
Der Herr aus dem Fernseher würde an dieser Stelle sicher hinzufügen, dass die Besetzung der
Kon-Tiki nicht auf diese Art ihre epochale Reise beendet hätte, wenn die Mahlzeiten auf dem
Floß aus makrobiotischen Zutaten zubereitet gewesen wären.
Wie oft hört man, dass ausgerechnet nun die Zeit für irgendetwas gekommen sei, jenes unaufschiebbare Etwas, die Zeit, da wir endlich dies oder jenes unterbrechen müssen, das in Gang
bringen, wovon wir geträumt haben und so weiter. Andererseits sagt man, dass nun nicht die
Zeit sei, dass wir keine Zeit haben, nie ist der richtige Zeitpunkt.
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
Die Zeit ist nicht nur der Schatten hinter uns und das Licht vor uns, jenes, das uns erwartet.
Man muss lernen, in Freundschaft mit der Zeit zu leben. Das mechanische Konzept der Zeit
kann dem Bösen tödliche Präzision verleihen. Hätte man nicht für ewige Zeiten warten können mit dem Abwurf der Atombombe oder irgendeiner anderer Bombe, hat man in den Nazi- und den Quisling-Todeslagern nicht die Zeit berechnet, hat man dort nicht mit Hilfe der
Zeitinstanzen eine pedantische Administration aufgebaut?
Und auch beim Angriff auf Kroatien spielte die Zeit eine bedeutsame Rolle; wird es der JNA
gelingen, uns in der Zeit, die die internationale Gemeinschaft ihr zubilligt, nieder zu wälzen;
wird uns rechtzeitig Hilfe erreichen oder nicht?
***
Du hast meine Jacke der New Yorker Müllmänner verloren, die grüne mit dem orangefarbenen Futter, die ich dir geliehen habe, das sagtest du mir, als ich zurück aus dem dalmatinischen Hinterland kam, und ich wusste, dass ich schuldig bin, ich hatte sie in einem Haus liegen lassen, bei dem Panzerangriff auf das Dorf, das wir verteidigt haben. Ich hatte keine Zeit,
oder vielleicht hätte ich sie sogar gehabt, wäre ich sofort losgelaufen und hätte die Jacke aus
dem Haus geholt, das in Trümmern lag. Aber sobald ich darüber nachdachte, ob ich Zeit habe oder nicht – denn ein Panzer, der mit seinem Rohr auf mich zielte, war schon auf fünfzig
Meter herangekommen –, habe ich einige wertvolle Sekunden mit meiner Überlegung verloren, und es blieb mir für nichts mehr Zeit. Ich nahm den Granatwerfer, den jemand hatte
liegen lassen, und richtete ihn auf den Panzer, aber aus seinem Rohr blitzte es schon in meine Richtung, so dass ich über eine Steinmauer sprang und mich im letzten Moment rettete,
denn es schlug genau an jener Stelle ein, an der ich noch eine Sekunde zuvor gestanden und
darüber nachgedacht hatte, ob ich Zeit habe.
Ich weiß, dass dir die Jacke, die ich verloren habe, sehr viel bedeutet. Das ist das Einzige, was
von deinen jugendlichen Träumen über eine Reise nach New York übrig geblieben ist. Ehrlich
gesagt hätte ich wahrscheinlich die Zeit gehabt, die Jacke zu holen, aber ich dachte damals,
dass ich sie nicht habe. Noch wichtiger ist, dass ich vielleicht noch jemandem hätte helfen
können, aber in dem Augenblick wusste ich es nicht. So war es im Krieg. An einem Morgen
schwebst du mehr als dass du läufst, du lässt dich von deiner Intuition leiten, du bist ruhig
im Herzen, aber manchmal sind deine Beine wie aus Blei, und schwarze Gedanken schwärmen durch deinen Kopf.
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Poesie der Nachbarn
TIONS
Volksastronomie
Jugoslawien war ein Meteor,
eine zusammengepresste Mixtur, ein Anti-Vulkan.
Auf dieser Oberfläche
rannten die Mutter und die Kinder sich in die Arme
und fielen dabei in das Loch.
Als es zerborsten war,
blieb eine Menge jugoslawischer Scherben
zurück und jaulte nach Kräften
wie Wölfe zum Mond
in Tönen, die einer den anderen
hervorbringen.
(Aus: Die Luft unter dem Meer, 2009)
Aus dem Kroatischen von
Alida Bremer
Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
RELA
TIONS
Mediterraneo
Gordana Benić
GORDANA BENIĆ, geboren 1950 in Split/Kroatien. Sie studierte Kroatistik und
Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zadar und danach Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Sie veröffentlichte
zahlreiche Gedichtbände und Gedichtprosa. Essays, die vom Palast des römischen
Kaiser Diokletian in Split handeln, sind im Buch Godina Sfinge (Das Jahr der Sphinx)
erschienen. 1998 erhielt sie den Tin-Ujević-Preis des kroatischen Schriftstellerverbandes für das Buch Laterna Magica. 2000 erhielt sie den Staatspreis „Vicko Andrić“
für ihre professionelle journalistische Leistung. Auf Deutsch sind ihre Gedichte in
der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis erschienen.
Die Stimmen im Hafen
Bisweilen sind die Schiffe größer als Häuser, heller als Straßen. Die Risse der Stadtmauern
holen sie bis zum Inneren der Stadt und zerstreuen sie bis zum Strand. Dort verblassen langsam die Schatten der Palmen, die gelben Sandkörner werden zermalen. Wie Schwärme roter
Fische, deren Fieber vom Meer fortgespült wurde, schweben an den Uferrändern die Sonnenschirme. Im flachen Wasser ertrinkt die Inschrift Marinero, Hip-Hop Sound aus dem
Musikautomaten des Hafencafés dämpft die langen Wellen
Auf dem Bürgersteig zerrissene Straßenplakate. Neben der weißen Mauer Stufen, die vom
Wasser morsch geworden sind. Überall Fischgräten, und unter den Vordächern aus Stoff seit
langem verblasste Inschriften. Wie das Spiel der Sonne und der Wolken vergrößert sich der
Hafen bis zur Unendlichkeit und er verkleinert sich beengt an den Molen. Wie Samen fallen
die Sterne von den Pinien. Zwischen den Bänken, dort, wo das Meer das Immergrün befallen
hat, kräuseln sich die Schritte. Spaziergänger und Seeleute tauschen im Vorbeigehen stimmlose Botschaften aus. Ihre verstummten Gespräche, Fragen oder Antworten stelle ich mir im
toskanischen Dialekt vor. Unter den Fremden riecht es nach afrikanischem Sand, nach exotischen Inseln und kalten Algen
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Poesie der Nachbarn
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TIONS
Das kubistische Bild des Hafens teilt sich in den zerflossenen Pfützen. Die Seile der Schiffe
vermessen den Rest der Insel. In den Docks schimmern Quadrate aus Granit wie schwarze
Glasflächen und hallen dumpf. An den Wellenbrechern schaukeln die Boote wie Pflanzen,
umrankt von nassen Tauen. Hinter den beweglichen Brücken der Schiffe rauscht verdichtete
Feuchtigkeit. Rauch oder Tau verdampfen von leeren Schiffsdecks. Zwischen dem Leuchtturm
und dem Gebäude der Hafenverwaltung gleiten die Schiffe im trüben Spiegel geräuschlos vorüber. Sie ertrinken im Nebel, der nach Menthol und salzigen Sedimenten riecht
Spiele mit dem Sand
Auch unsere Vorfahren suchten tagelang in den Sandbuchten nach kostbaren Muscheln. Unter
der Sandbank sind zähe Seen zurückgeblieben, umgeben von Dunkelheit. Manchmal leuchtet im flachen Wasser noch der Rücken eines geheimnisvollen Fisches auf oder eine Muschel
mit merkwürdigen Verzierungen. Ein Schwamm bewegt sich, Perlmut funkelt im Inneren
des Meerohres. Jemand oder etwas zwischen mir und dem Himmel spricht: Siehst du, wie
die Welle die Fußspuren, die in den Sand geprägt sind, bewegt. Imaginäre Städte werden mit
den Anschwemmungen kleiner. Der Wind hat den Duft der Gräser entfacht, ganz nahe am
Leuchtturm ergießt sich das Meer. Der dunkelblaue Federbusch überschwemmt die Ränder
der Bojen, in den türkisfarbenen Baumkronen der Tamarisken verschwinden Vögel hinter
den verstreuten Bildern
Und auf der anderen Seite der Stadtmauer Sand, in den Ecken der rissigen Häuser bröckelnder Mörtel. Auf dem Fensterbrett rötliche, wilde Orangen. Wasser, trübe wie Rauch, bewegt
das Gestrüpp, das in den Pfützen ankert. Unter dem Purpur der Abenddämmerung bewegen sich die geschwärzten Ränder der kleinen Boote. An den leeren Stränden hat das Meer
dunkle Rillen in den Sand gezogen. Neben den niedrigen Säulen überspringen nur Möwen
die Schatten
Das andere Meer
Unter dem Meer ist das andere Meer. Es erhallt dumpf zwischen den Wänden in den Stadthäusern, es klingt ein wenig gespenstisch. Der Hafen eingekreist von Schatten, und wenn es
ganz still ist, rauscht es in den Nebeln. Die Wände, umrankt von ewig grünen Blättern, sind
schwer geworden von den Stimmen. Eilige Schritte bewegen die Straßen. In den Sandablagerungen atmen leicht die Schwämme und Seesterne. Die verborgene Welt erneuert sich aus
den eigenen Schatten; frage nicht, wer vorbeigeht. Du drehst dich um, und hinter dir strömt
die stille Stimme über Pompeji. Es ist eine schlechte Saison für die Fahrten der Segelschiffe.
Man erwähnt die Händler aus Tasos; sie verkaufen in Narona Amphoren. Die Gärtner stellen aus der Blüte der Schwertlilie Düfte für die Korinther her
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TIONS
Poesie der Nachbarn
Im Juni tauchten Skulpturen von Athleten aus Marmor von der Insel Paros auf; sie schimmern im flachen Wasser nahe am Ufer, wo die Reste der antiken Ziegeleien versunken sind;
korrodierte und von Gräsern überwachsene Grundrisse. In der verregneten Nacht 1967 fanden die Korallensucher aus Šibenik die Glocke des Heiligen Landes Palästina; im August
desselben Jahres stieg der mystische Stern Marias auf die dunkelblaue Plane der Barke. Der
Schwammsucher aus Krapanj entdeckte geschmiedete Stangen, Murano-Glas und silberne
Leuchter. Der Landvermesser aus Caska beschreibt das Gewand aus dem Fernen Osten; die
Messer mit zwei Klingen und den Kelch aus weißem Metall
Wenn die Nacht des Vollmonds herrscht, bewegen sich im Meer am Rande von Vranjic die
steinernen Sarkophage. Die Schlepper quietschen in der Werft mit unsichtbaren Ketten, die
aufgeschweißten Schiffe verschieben die Stille. Eine romantische Dame pflückte die rosarote
Wolke; zwischen Ebbe und Flut blühte im flachen Wasser der Malvenbusch. Dieses undurchsichtige, andere Meer schenkt dem Land eine vielfältige Bildhaftigkeit
Der Südwind
Auch Theseus fährt zum Hafen mitten im Meer. Die Kontinente haben den Ozean zurückgedrängt, die Inseln werden ausgelöscht wie das farblose Gras in den Vorhallen der geleerten
Tempel. Bringe das Meer hinüber: rufen ihm die Seeleute von der Barke zu. Die Dunkelheit
hat alle Gegenstände umschlungen. Die Möwen, bereits schwarz vom verdichteten Sediment
der Nacht, treten in die Lufttunnel ein. Die Erde hat sich vom Mond entfernt; obwohl weder
Flut noch Ebbe ist, schimmert das weiße Sternbild der Fische auf dem gesprungenen Stein.
Im Radio kündigt man Südwind an. Durch die Glieder der Schiffskette zieht der Horizont.
Das offene Meer hat sich zurückgezogen
Zwischen den Hauswänden, nahe der Landeszunge und am Turm, öffnen sich feuchte Flecken. Die Dunkelheit ist eingestürzt. Der Strick versinkt nicht im Schlamm. Die Inschriften
und die übrig gebliebenen Buchstaben lösen sich wie Fischschuppen auf den Bürgersteigen.
Die Innenhöfe des Hafenviertels riechen nach leeren Schwalbennestern. Welcher Maler hat
die Strecken der Marathonschwimmer in die unendliche Krümmung gezeichnet. Die durchsichtigen Wellen hat er durch den Ruß ersetzt, der sich aus der Unterwelt befreit. Unter den
Steinplatten des eingestürzten Ufers wächst der grüne Schlamm über das Festland hinaus.
Südwind. In den stickigen Ecken der Gebäude baumeln trügerische Felder, die Samen der
Palmenbäume
Du betrachtest den durchweichten Ast, er ähnelt dem Schnabel eines gestrandeten Lappentauchers. Der Wind hat die Fensterläden geöffnet, weht die Sonnenschirme um und die Rattanstühle, die an Bäume festgebunden sind. Aus dem Café hört man ein verstimmtes Pianino.
Vom Schiff meldet sich jemand mit leisem Fluchen zurück. Eilige Schritte die Straße hinab.
Unter der Terrasse die Glut der Zigaretten. Vielleicht vergisst du den Weg und wohin du ge-
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Poesie der Nachbarn
RELA
TIONS
hen wolltest? Die Vertikale des Glockenturms wird ausradiert, mit ihr das Rund der Stadtuhr. Der Platz ist wie ein Spinnennetz zerstückelt durch viele Trennwände. Wahrscheinlich
ist es auch hinter der hohen Mauer, die am Rand des überfluteten Ufers stehen geblieben ist,
nicht besser
Die Fallen der Kartographen
(Die Ränder der neuen Kontinente)
Im August prophezeite Fabijan, dass der grüne Kreis des leuchtenden Kometen Klio Stiron
groß wie der Mond sein und danach wie eine in die Wolken geprägte Münze aussehen werde. Er sagte: der namenlose Schimmelpilz versenkt schon die Inseln, die Menschen immer
kleiner und kleiner, während die mächtige Flut die Ränder neuer Kontinente erhöht
Die Stadt Spalatro färbt sich schwarz am Rande der Bucht, aus dem dunklen Hafen verdampfen die herben Gerüche des Schwefels und der morschen Balken. Die Spalten im Schwarz
und im Sumpf der Docks klaffen. Auf den feuchten Seilen klebrige Schatten und dicke Salztropfen. Die Zeichen der Öde zersetzen heimlich die Fundamente der Stadt. Der graue Sand
überschüttete Straßen und Tempel, überdeckte Fenster und Mauern; er zog in die Pflanzen
ein, mit Dunkelheit bedeckte er den Stein
Ich höre, du sollst hören; seit Langem versunkene Stimmen rauschen über die Lagune. Die
verschwiegenen Ufer und gestrandeten Schiffe werden wieder auf Landkarten gedruckt. Inmitten des Himmels erscheint das Meer. Von irgendwoher ein deutliches Flüstern: Die Welt
der Seelen ist von kartographischen Fallen bevölkert. Ich weiß, er* weiß; es soll ihm Recht
sein. Er ist müde vom Schwimmen geworden: Ha! Ha! Upha!
Der goldene Berg
(Die Seele des Glasbläsers)
Monatelang sprach man über nichts anderes als über Juan Britto, den Glasbläser, der auf den
Goldenen Berg gegangen ist. Als sich die Seele des Glasbläsers vom Körper entfernte, wurde sie – bedeckt mit Blättern – durchsichtig. Juan Britto empfand sich selbst als Zauberer
im Nest des Urelements, er sprach: Meine Seele ist ein goldener Fisch. Sie wird den heißen
Atem der Geysire nacheinander verspeisen, sie wird sich im Klang des zerschlagenen Glases
erproben. Sie wird andauern im schweren Geruch der nicht aufgeschnittenen Bücher und im
trübsinnigen Atem der Vergangenheit
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TIONS
Poesie der Nachbarn
In der Stadt unter dem Berg tragen Straßen Namen von Muscheln: Thais, Purpura, Oliva,
Aplysia, Sipho, Ensis. In den Schlammanschwemmungen unter den Stadtmauern finden
sich nur die Spuren der Möwenfeder. Zwischen den finsteren Zypressen, die wie Heilige die
Landkarte der Stadt überragen, schwebt die Seele des Glasbläsers wie ein Gespenst. Ich war
der Erzengel. Wie unterhaltsam ist es, unbemerkt in der Menge zu verschwinden, ganz unsichtbar neben den Rändern der Schatten. Der Glasbläser Juan Britto ging zum Goldenen
Berg, sein wundertätiges Vorhaben kennt man bereits als Trinklied aus einer wehmütigen
Oper. Von ihm keine Spur
Rapport 22
(Ich habe die Ozeane durchquert, ich fragte kein einziges Mal: wer bin ich?)
Die Formen der Buchstaben in den Aufzeichnungen von Johann Köhl enthüllen, dass er Ende
des 19. Jahrhunderts aus Deutschland in das kroatische Gebiet gekommen ist. Im Rapport 22
steht: Konzentriert auf das Geräusch der Wellen und das geheime Archipel rudern wir vorsichtig. Unser Boot fährt langsam zu den letzten Häusern der Landzunge Unserer Frau von
den Engeln, schon lassen sich in der Ferne Mühlen und Stoffwalzwerke erkennen. Er schrieb
weiter: Das sind keine wilden Gewässer, sie ähneln eher einer Stickerei auf dunkel gewordenem Stoff, während sie langsam die Leere umsäumen vor den getrübten Veduten eingefallener Städte. Man sieht Stadtmauern, Türme und Paläste, unter dem Schatten eines Sonnenschirms ähnelt die schöne Wirtsfrau Kirke. Aus dem Azur ihres Kleides steigt der Duft von
Zitronen und Limonen auf
Vielleicht ist es auch eine Sinnestäuschung, schrieb später Johann Köhl im Rapport 22: Ich
habe die Ozeane durchquert und fragte nie wirklich, wer ich bin? Mein Gott, Wunder geschehen. Der eine oder andere Seemann verschwindet und taucht nie wieder auf
Genius loci
(Im Lapidarium)
Die geheimnisvollen Seefahrer und die Jungen mit Krügen tauchten unter den mentholfarbenen Schimmel. Das feuchte Grün umwob zerbrochene Skulpturen und Torsi. Jene die im
Altertum mit Reliquien handelten, tragen nun das Farnkraut, das aus dem Dunkel wächst;
ihre Vorfahren brachten Geschenke für die Bewohner der Insel Issa. Im Lapidarium verdeckte ein beklemmender Schatten die römische Wege: Ave Caesar, der kaiserliche Sarkophag aus
Porphyr ist zertrümmert worden
Unter den Ruinen der Thermen des Tetrarchen: die Gestalten der Mächtigen aus weißem
Stein sind mit dem Kopf nach unten gedreht. Von den Kieferzweigen tropft Harz auf die Ge-
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Poesie der Nachbarn
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TIONS
wänder der mächtigen Centurii, in der Toga von Aurel Lorbeerblätter. Amseln und Schmetterlinge über dem Relief von Amor und Psyche. Der bröckelnde Mörtel ist im Schatten grau
geworden, er materialisiert die neue Landkarte
Atlas hebt die Wände mit aufgeplatztem Rücken, leicht wie Getreidebündeln. Die Zweispanner bewegen sich auf den Wandmalereien, die Matronen regen sich, ihr Lächeln hat sich
schon in die Dunkelheit geprägt. Die Innungen der Maurer, der Steinmetze und der Schmiede werden von der Milch der angeschnittenen Agaven übertönt. In den Mosaikquadraten
dunkelblaue Blumen, unendliche Verflechtungen des Efeus. Der Genius loci hat das Gesicht
eines Kindes; seine Füße, Hände und Kleider sind aus Stein. Es ist früh alt geworden in der
Einsamkeit und im Häftlingsschweigen
Beschreibungen
(Aqua Antiqua)
Bekannte haben merkwürdige Spiele gespielt mit Wurfscheiben, Kegeln und Kristallkugeln.
Die Spieler auf den Fresko-Malereien erschaffen neue Harmonien. Die Amphi forei für Oliven, Datteln, Feigen und Wasser liegen immer noch unberührt am Grund der Lagune aus
Sand. Im Städtchen N. trägt niemand das Licht der Wachskerze über den verdunkelten Platz.
Durch gesprungene Wände zieht der Wind, er entfacht den Geruch der Fäulnis. Aus den
Steinplatten verdunstet die Stille, in den Hohlräumen ertönt die Leere
Unter der Kirche das Meer; antike Anker zwischen den Schatten. Salzhändler, kleine Handwerker, Lastenträger; sie wiegen sich am Grund der Bucht. Die Flut und die Salzschicht bedrängten das Gestade, die Wände quellen auf und platzen. In den zurückgebliebenen Ruinen der Sommerhäuser von Livia und Agrippina fallen die Eukalyptusblätter ab; die Vögel
aus Perlmutt sind eingewachsen in die rote Erde, die die römischen Mosaike und Mauern
der villa rustica verschüttet hat. Auf dem Hang zum Meer Erbsen, Tomaten und Paprika und
auf der Wiese kurzes weißes Gras
Magistrale
(Die Einöde aus Bernstein)
Dorthin wo die Liburner getrocknete Blumensträuße und Schüsseln gefüllt mit weißem Balsam legten, erschafft der Mondschein die Magistrale; hohle Felsen und Säulengänge. In den
Erddeichen wird die unbekannte Geschichte zerlegt. Die Perlen in der Gestalt Demetras, der
Göttin des Ackerbaus, sind bereits zu durchsichtigen Keimlingen geworden, das Unkraut erfüllt Glaslampen – Modell Fortis. Über die verputzten Wände huschen Schatten; sie erinnern
an Menschen, die im Vorbeigehen stehen geblieben sind
RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
In der Rille, unter der Erde, zermalen Wurzeln und Knollen Abschnitte aus Stein, die einst rituelle Opferstätten waren. Auf der Wiese von Marin Josipov, zwischen den Obstgärten und den
zähen Ausläufern des Schlamms steht noch immer der Leuchtturm der antiken Scardona. Die
Einöde aus Bernstein riecht leicht nach Jod, verfaulten Blättern und dem Südwind. Am Wellenbrecher, der im Morast zurückgeblieben ist, haftet die Form der unbekannten Materie
Die Unsichtbaren
(Eine verkleinerte Geschichte)
Fern von den Ufern ist das Meer dicht und schwer; geschmolzenes Silber. Am Meeresgrund
gibt es keine Straßen, es bewegen sich keine Wolken, noch lässt sich der Horizont erkennen,
umrahmt von roten Algen. Ohne den Wechsel von Tag und Nacht verzweigen sich die Meeresgräser wie Schlingpflanzen, die Korallen wie Knollenblätterpilze. Unten den Atollen und
in den Höhlen Spuren von urgeschichtlichen Wesen
Die Unsichtbaren schweben ihr ganzes Leben lang zwischen hohen, steilen Felsen. Aus der Tiefe hört man Geräusche; vom schlammigen Boden den Triller, das Brüllen und die Stimmen
der unbekannten Gattung. Ich weiß nicht, welche Kraft den Meeresgrund formt. Pflanzen
und Tiere sind rot, und die Dunkelheit klettert auf wie eine Schildkröte mit undurchdringlichem Panzer. Noch ein Tropfen, vielleicht zerbricht auch der höchste Berg unter dem Wasser
unter dem Gewicht des irdischen Lichts
Festland. Oh, diese verkleinerte Geschichte! Sie bringt das Lebende und Nicht-Lebende näher.
Größen aus Stein und Bronze, zerkleinert in den Fugen der versenkten Castra. Zwischen den
Platten der versenkten Mauern hallen die Schritte der Verschwörer. Was über Götter und Heroen sagen. Sie bauten Pyramiden und Städte auf Sand. Wunderbar, aber wer glaubt daran
Das Volk hörte den Hellsehern zu
(Man baute den Triumphbogen des Titus)
Aus dem uralten Traum, der durchwoben ist mit Gewalt und Verzweifelung, ziehen Züge von
Sklaven. Angezogen von den Düften des Ebenholzes und wenig bekannter Dinge unterhalten
sie sich über die Bitterwurzel, über die breiten Blätter, die in den Amphoren mit Wein eingeweicht werden. Galerius Flor beendete den Bau des prächtigen Tempels; danach pflasterten
Arbeiter die Straßen. Im Namen des Verwalters gab Filon falsche Versprechungen und das
Volk lauschte den Hellsehern. Die ungewöhnlichen Messiasse predigten von apokalyptischen
Zeiten. Filon wurde von Fest beerbt und dieser vom Verwalter Abib. Dort wo das Brachland
immer noch mit Mohnblumen bedeckt ist, wird der Triumphbogen des Titus gebaut
In den engen Durchgängen zwischen den Mauern singen bisweilen Dämonen zur Lyra von Orpheus. Sie verzaubern wilde Tiere, bewegen Bäume und Steine, bringen Flüsse zum Stillstand.
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Poesie der Nachbarn
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TIONS
Indem sie lange Stangen in das schwarze Wasser treiben und dabei die Tiefe messen, stoßen
sie sich den Fluss hinab. Auf ihre Rücken hat sich der Himmel gelegt; das finstere Bündel
Engel des Nebels
(Wie in den Filmen der art noir)
Der Nebel kam aus dem Meer, wie in den Filmen der art noir verschwanden ganze Stadtteile. Die Szene dauerte einige Stunden; die Reliefs der Zäune und der Balkone, die eingefallenen Skulpturen und Abschnitte der Mauern häuften sich mitten auf den Straßen. Die Engel
des Nebels ließen sich auf die leeren Plätze und Straßen der Stadt nieder; derart durchsichtig
berührten sie kaum die Steine
Der Mantel des Nebels erschaffte orientalische Gärten. In der anderen Wirklichkeit hörte
man in den kaum sichtbaren Käfigen die Vögel, die die Gabe des Sprechens besaßen. Die Ebbe stoppte die Schiffe. Fern vom Ufer fingen die Lastkähne Hochseesterne, auf den gespenstischen Docks zündete man trübe Feuer an. Tilda stand unbewegt da; der Nebel sammelte
sich um ihr Kleid und ihre schwer gewordenen Füße. Es schien, als wäre die Wüstenoase mit
Farben beschenkt. Eine Vision der Mitte
Urhäfen des Mittelmeers
(Die Landkarten haben noch keinen Namen)
Gebt mir einen Bleistift, ich werde die Grenzen der Welt zeichnen. Ich werde mich in die Einöde begeben, wie sie hier vor tausend Jahren war. Vor der Tür mit Sand erfülltes Niemandsland; die Menschen wenden sich weder an die Sonne noch an die Götter der Meerestiefen. Es
kommen die ersten Kolonisten: exotische Expeditionen mit einer Fracht aus feuchten Töpferwaren, dem Geruch der Jacken aus Schafsfell und klammem Tuch. Um sie herum die gelben Schatten der vergossenen Gewässer, die Spuren der nassen Füße. Zerstreute Landkarten
haben immer noch keine Namen, genauso die ersten Karten der uralten Siedlungen. Wie die
nebligen Ufer des Mittelmeers zeichnen: die Urhäfen Matrus, Tobir und Mars
Nirgends
(Durch Weltallmauern)
Anselmo ist besessen von Türen und Fenstern, von der Möglichkeit der Flucht. Jeder arme
Mensch steht unter der großartigen Himmelskuppel: Aber ich! Ich sehe durch die Weltallmauern. Am späten Nachmittag, während er das Aquarium mit Goldfischen putzte, entdeckte
auch Onkel Ernest Gott. Er konnte das Gewicht der eigenen Seele messen; sie streckte sich
vor ihm aus, leicht wie Tüll. Der Engel der Erlösung berührte ihn im Vorbeigehen
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Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
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Poesie der Nachbarn
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Sie untersuchten die Grenzen der Wirklichkeit
Die schwarzen Blumen sind ein Teil der neuen Botanikermode. Die tief blauen, entstanden
durch das Kreuzen der elisabethanischen Sorten, nennt man Königinnen der Nacht. Davor
sagt, dass die schwarzen Blumen auch in unansehnlichen Blumengeschäften auf den Stadtplätzen aufgetaucht sind. Ich weiß nicht, ob ich je den Geruch der leeren Zimmer und der
Ruinen am kühlen Abend vergessen werde. In den baufälligen Häusern wuchs der unheilvolle
Pilz Coreo, ein dunkelblauer Hutpilz mit durchsichtigen Tropfen an der Krempe. Wegen der
Feuchtigkeit und des Geruchs der unbekannten Knollengewächse wurde die Kleidung im Nu
farblos und alt, mit winzigen Pilzchen im Gewebe und zwischen den Nähten
Nataša liest ein Märchen, ruft auf Russisch eine alte Zauberei herbei; ihr Schatten wurde immer dunkler. Celina klopft auf den Glasrand, leicht, im Halbschlaf, erbeben die Ozeane in
den altertümlichen Koffern. Zeig mir die Lilie in den großen Kreuzworträtseln im Internet.
Sie wird im Garten gezüchtet, den jede Woche das Passwort x markes the site öffnet
Einstein N.N. hörte das Gespräch der toten Soldaten, ein halblautes Flüstern von Chris Marker, der 1995 ermordet wurde. Heute ist der Morgen, den man euch gestern versprochen hat;
stand im Text unter dem Foto. Bruno weilt häufig im Planetarium, Teleskope und Optik
ziehen ihn an, er stellt sich vor, wie er hinter den Sternenkulissen die doppelsinnige Art der
Gnade Gottes entdecken wird
Nach dem Krieg hat Herman Borowsky sieben Todessünden als Monster, die den blonden
Jünglingen von Otto Dix ähneln, beschrieben. In einem Telefongespräch aus dem Hotel Excelsior in Dubrovnik gibt er Anweisungen für die Bergwerke von Jade in Polen; er wird in
ein hochherrschaftliches Sommerhaus und in eine Plantage Orangen und Zitronen in Konavle investieren
Willkommen im Nirgendwo
In jenem Herbst flogen die Schwalben nicht nach Süden. Auf der Kreuzung stellt sich Adrian Reihen von Textilgeschäften und kilometerweise weißen Stoff mit gedruckten Mustern
vor. Hinter den dunkelblauen Vorhängen werden die Schatten zu Meeren, die sich über die
weißen Türschwellen der Häuser ergießen. In der längst verlassenen Stadt gehen die Straßen
durch Zimmer und Balkone; für jene, die Illusionen und Filmschwafeleien mögen, sind Büsche von verblasstem Immergrün zu silbernen Kissen geworden. Die unüberschaubare Öde
erstreckt sich jetzt in umgekehrter Richtung; zum inneren Rand der eingefallenen Häuser
und Höfe hin
Wer hat an dem stillen Abend die angezündete Kerze zum Stein des zersprungenen Palastes
in Selca gebracht; so dass der trübe Widerschein der Renaissancefenster, die eingezuckerten
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Poesie der Nachbarn
Sauerkirschen in großen Einmachgläsern und der leere Vogelkäfig hinter der beleuchteten
Tür gemeinsam flimmern. In den Fantasien der Reisenden werden die Bilder kleiner, sie zerbröseln in noch winzigere Stückchen. Die Ereignisse, die mit dem Staub der Kometen aufgeschrieben sind, erstrecken sich entlang des Himmels. Unter den Sternen sind die Sätze ein
wenig schräg angereiht, wie Epitaphe auf Gräbern
Als in der Wüste Schnee auf die heiligen Zederbäume fiel, starb im 98. Lebensjahr der Zeichner des Atlanten der Wüste Sahara, Theodore Monod. Er zog auf dem Kamel über viele Wege, er entdeckte Sandstädte in Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Libyen
Im Jahr 1996 streuten die Ziegelsteine gelben Staub aus und Frauen bliesen den Saharasand
von den Tischen. Die Menschen sprachen im Schlaf in unbekannten Sprachen; einige glauben, dass die Grenze der tropischen Gebiete verschoben wird. Und doch erwähnen sie im
post scriptum nur die kalten Füße und die Depression, die durch die Schatten der Palmen befördert wurde
Das Addieren des Vergessens
Wenn die Seelen zurück in die Körper kehren, können sie wirklich jene sehen, die durch die
Gegenden am Meer gelaufen sind. Im Schlamm der leeren Strände Fußabdrücke, die viertausend Jahre alt sind, erkennen. Die Piraten schnitzten Seife und färbten mit dem Purpur
der Muschel Stoffe. Es wurde bestätigt, dass sie hier schon seit der Epoche der Karolingerherrscher lebten; dann sind sie jäh verschwunden. Er hieß Ka, er war ein Architekt oder Baumeister; er hat die unheilvolle Einöde beschrieben und wunderbare Städte. Auch er ist ins
Unbekannte gegangen
Tulio und Hera haben eine Nacht in Split verbracht; die gesammelte Töpferware, die bemalten Stoffe und Siegel, alles, was sie einzuschiffen beabsichtigten, verschwand im Feuer der
Hafenmagazine. Sie haben die Asche der Brandstätte nicht auseinander geschürt, die zurückgelassenen Gegenstände glimmten vor sich hin und verpesteten die Luft
Apokryphe Aufzeichnungen hüten die Erinnerung an den edlen Enia Andreis, Sohn eines
Ornamentisten und Dekormalers. Er liebte seit jeher Schiffe: sein Vater war der Anführer der
Himmelsbootsmänner. Wir ruderten munter zum Festland; inmitten der Nacht hörte man
einen Knall, die Städte des fernen Afrika sind wie Sandkörner verschwunden. In zehn Tagen
fuhren wir über das Mittelmeer und erreichten den Palast des Kaisers Diokles
Wie romantisch. Wissen Sie, ich erkenne die Aufteilung der Räume, sogar das kleine Gefängnis unter der Treppe. Das Gitter wurde an der senkrechten Rinne, die an den Rändern
mit Astragal verziert war, hoch und herunter gezogen; ein gemeißeltes Seil wurde in die benachbarten Gebäude eingemauert. Schulz hat als erster angenommen, das Biest der Finsternis
komme aus der Tiefe
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Poesie der Nachbarn
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In dieser Stadt ist alles unecht und niemand kümmert sich um die Beleuchtung. Unter der
Glocke der Kathedrale gibt es kein Pendel und der Glockengießer hat kein Siegel eingeprägt.
Unwirklich sind die gotischen Fassaden, die Pferde auf dem Springbrunnen, sogar die Pappeln im Park. Ist das nicht ungewöhnlich: Frauen nähen Samt für Livreen, man erkennt die
Fülle der Ornamente
Als sie in der Einöde eingetroffen waren, begannen die Seeleute, Paläste in maurischem Stil
zu erbauen. Dort bin ich vor tausend Jahren geboren. Wenn Trauer mich erfüllt, laufe ich
durch den geheimen Tunnel unter der Stadt; obwohl ich ein Schatten im fernen Land Bay
bin. Es ist mir eine Ehre, über mein vergangenes Leben zu sprechen, in dem ich eine Schildkröte war. Schon seit fünf Jahren bin ich keine Schildkröte mehr. Das ist tatsächlich eine lange
Zeit, wenn man galoppieren muss
Sternendeuter
Alle, die mit Getreide genährt wurden, haben sich versammelt: es begann dunkel zu werden
und sie gehen entlang der Hauptstraße. Sie bleiben unter Platanen stehen, groß und schlecht
gelaunt, stumm und sehr esoterisch. Solche kannst du auf jeden Schritt und Tritt treffen; einst
arbeiteten sie in Zimmermannswerkstätten, auf Lastkähnen und in den Docks der großen
Hafenstädte. In den Höhen, wo die Tiefe des Weltalls zunichte gemacht wird und die Sterne
den Perlen des gewöhnlichen Modeschmucks ähneln
Zapp und Fulvio betreten den großen Wartesaal des Bahnhofs an der Peripherie; ohne überflüssige Blicke zurück oder Erinnerungen, wegen derer man ihnen das Herz herausreißen könnte.
Die Nebel und die Schneestürme legen sich lautlos, aber schnell. Neben dem Bahnhof passt
die erfundene Geschichte in einen Pappkoffer und in den tristen Ton der Ziehharmonika
Andrea und Hegel finden in der Leere des Barockpalastes ein Zimmer, es hat Tapeten mit
Blumenmuster. Durch das Fensterglas sehen sie einen Betonzaun aus den Sechzigern, entlegene Straßen und Passanten aus Sankt Petersburg
Die Retro-Zukunft glaubt an Roboter; wenn sie von Kameras reden, lächeln sie und sagen,
dass sie glücklich seien. Er hat festgestellt: Alles, was früher geschehen ist, muss man erneut
bedenken. Willkommen in einer wunderbaren Welt, die keine Katastrophe kennt. Die Sternendeuter tun so, als ginge keine Gefahr aus von den großen Metallrobotern, die Zeppeline
fliegen immer noch über Manhattan und die Brooklyn-Brücke und die schönen Blondinen
tragen schicke Hüte
Mysteriöses Verschwinden ereignet sich, viele Personen aus der ganzen Welt sind verschwunden. Die bizarre Familie Safamis zeugt vom Menschenhandel in San Francisco. In den Abendstunden erscheint das Bild der Göttin mit der Botschaft: Schießen Sie nicht auf die Königin
der Illusion!
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Poesie der Nachbarn
Engel an meinem Tisch
I.
Er hat häufig davon geträumt, nach Westen zu gehen und Gebiete zu sehen, die man die Wolke des Geheimnisses nannte; er konnte den Abenteuern der Frühlingsreisen folgen, zwischen
den zersprungenen Sternen rauschen. Die einzige wichtige und heilige Sache in seinem Leben war das surrealistische Bild Utopie in Blau
Michaele sagte, dass er mit einer derartigen Sicht auf die Welt zufrieden sei, und er begab sich
durch den Fieberwahn der westlichen Länder. Er zog überaus munter los, mit dem Grundriss der geographischen Haltestellen und den roten Karten für das Yocker-Spiel; bis zu jenem
Augenblick, an dem er beschloss, für immer zur See zu gehen
Es sah so aus, als würde sein nasses Haar bloß an die Wildnis erinnern; alles Weitere wird in
den Meeresstraßen gefangen, wo die Bewegung nie nachlässt und nie aufhört. Aus unbekanntem Grund ertönen immer mehr Stimmen vom Bug der Schiffe, das Kreischen verwöhnter
Kinder, das Stimmengewirr der Passagiere und die Geräusche von der Küste
II.
Dieser Eugen Kohn hört die tiefsten Geräusche des Meeres, was wirklich gespenstisch ist.
In den Formen seiner Fantasie gibt es verdunkelte Stellen; Dämmerungsereignisse, die von
Schwefeldämpfen umwoben sind. Wenn die Schlammwolke die flachen Küsten bedeckt, in
einer Entfernung von hundert Metern, und die schwarzen Barken, die mit Teer übertüncht
sind, so winzig erscheinen. Von einer noch größeren Entfernung ähneln die Städte des Mittelmeers Skulpturen aus Sand; an einem Strand Kaliforniens den Meeresfluten ausgesetzt
Bereit die Geheimnisse der europäischen Städte zu erforschen, sagte Stabat Mater des neuen Jahrhunderts: Das, wovor der Mensch oder das Tier Angst haben, wenn sie zu dieser Zeit
laufen, ist nur ein Hirngespinst. Der Lichtstaub, mit dem das Weltall diese wunderbare, unvollendete Welt befragt
Tomasina Disopra eilt zum Treffen mit den Möwen. Es hat begonnen zu regnen. Jeder Tropfen ist ein schwarzes Loch, in dem jene wohnen, die nicht sprechen; Kilometer und Kilometer
aus Wasser. Was für eine Erstauntheit, aufgrund des Mangels an Farbe sind sogar die nächsten Dinge verschwunden. Mit dem Scheitel den Sternen zugewandt stürzte Marion Dor in
die durchnässte Erde
III.
Die Gottheit des Meeres erwacht; gewisse neue Wesen gehören nicht zu den Sterblichen,
noch wollen sie laufen. Bestimmt schweben sie, auf der Suche nach der Stelle, wo der Mächtige mit der Spitze des Schattens die Schlange zertreten hat, die ab nun wie ein Verbrecher
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Poesie der Nachbarn
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kriecht, gezwungen zum Rückzug. Der Halbgott hält den Himmel, und die Erde wird er mit
Dunkel zähmen. Man hat ihn Pagard genannt, Echo der undurchsichtigen Epoche. Als sich
am Ende der Planet, der vom Mondschein beleuchtet war, aus der Ewigkeit trennte, wurde
Pagard in den ersten botanischen Büchern als eine Art Unkraut erwähnt
Emanuel mochte Vögel, er meinte, dass Vogelzucht und Vogelkunde die ältesten Gewerbe
seien. Er bewunderte die Amsel und die Meise, er konnte jedes Zwitschern hinter der Hecke
erkennen. Nach Dalmatien ist er wahrscheinlich vor zehn Jahren gekommen, er war überzeugt, dass die Vögel aus allen vier Weltrichtungen hierher kommen, und die Zeit im Nu
Vollkommenheit erreicht. Der Abend war dunkelblau wie nie zuvor. Leicht und ohne ein
Geräusch verdunstete das letzte Licht aus dem Meer. Vielleicht haben auch die Engel vor so
viel Schönheit und Rührung vergessen zu atmen
(Split, work in progress 1998 – 2008)
Aus dem Kroatischen von
Alida Bremer
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Ivana Simić Bodrožić
IVANA SIMIĆ BODROŽIĆ, geboren 1982 in Vukovar/Kroatien. Sie studierte Kroatistik
und Philosophie in Zagreb. Lyrik veröffentlicht sie in den Literaturzeitschriften
Quorum und Vijenac sowie in der Rundfunksendung Poesie laut gesprochen. Ihr
erster Gedichtband Prvi korak u tamu („Der erste Schritt in die Finsternis“) wurde
von der Kritik sofort als eine neue, lyrische Stimme erkannt, und die Autorin erhielt
den bedeutendsten kroatischen Preis für junge DichterInnen Goran. Eine stille,
einsame, intime Stimme, die bar jeder patriotischen Rhetorik von der Zerstörung
der Stadt Vukovar im letzten Krieg „berichtet“. Der Roman Hotel Zagorje, in dem
sie ihr Aufwachsen in einem Flüchtlingsheim bearbeitet, ist 2010 erschienen. Auf
Deutsch ist sie in der Anthologie Konzert für das Eis vertreten.
***
Der Sieg gehört dem Mann in der Unterwäsche
der eine Etage über mir in mein Fenster sieht
während er auf dem Heimtrainer trainiert.
Mein Sonntagnachmittag ist noch hoffnungsloser.
Im Wohnzimmer ist das Zentrum für Kriegsverbrechen eröffnet.
Die alte Frau döst im Sessel,
jeder Knochen wurde mindestens einmal gebrochen,
und über jeden soll man wenigstens so lange reden,
wie es gedauert hat, bis er zusammenwuchs
(und in dem Alter braucht es lange).
Den anderen Wesen, die sich in meiner Sichtweite bewegen,
klingt jeder zufällige, wenn auch kleine Ausbruch von Freude
wie eine unangebrachte Provokation,
die uns der Feind untergejubelt hat.
Ohne ihn hat man, solange ich mich erinnern kann, nie gelebt.
Er hat uns ewig irgendwohin verfolgt,
am häufigsten
durch die Busbahnhöfe und Hotelflure.
Foto: Vladimira Spindle
Poesie
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Poesie der Nachbarn
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(In müßigen Stunden zählen wir alle Bekannte an den Fingern ab
und ordnen sie Freunden oder Feinden zu,
heute brach ein Streit aus, von den ersten gibt es nur wenige,
und in dieser Woche haben sie eine mir liebe Person der zweiten Gruppe zugeordnet.)
Der Frühlingsnachmittag ist nie leicht zu überleben,
er ist immer ein wenig unwirklich und man muss gut vorbereitet sein,
um nichts zu unternehmen, bis er vorbei ist,
denn schon zweimal seit dem Mittagessen hatte ich den Eindruck,
ich wäre die Seide der Pusteblume,
dabei sitze ich eigentlich die ganze Zeit auf dem Balkon
der vierten Etage, ohne eine einzige außerordentliche Fähigkeit,
und halte mich fest am heißen Blech, während ich warte, dass sich die Dinge klären.
Das Hotel „Donau“
Diese zu dünnen Arme habe ich von ihm
Manchmal betrinke auch ich mich gerne richtig
Wie die wahre Tochter des Hotelsaalchefs
Die kleine Spaßmacherin, ich hatte ihn am Werk gesehen
Versteckt hinter dem Pokerapparat, anständig bestochen
Mit Schokolade aus dem Duty-Free-Shop, die nach Vukovar
Zu spät kam
Genauso wie das Internationale Rote Kreuz
Wie die Menschlichkeit
Wie schließlich auch alles andere Gute, das unendlich verspätet kommt
In diesen Teil der Welt
Diese zu dünnen Arme habe ich von ihm
Es tut mir nicht Leid um mich
Aber wie konnte er sich mit ihnen verteidigen, als man ihn schlug.
***
Man sollte unbedingt den Hund ausführen.
Wir sollten unbedingt in Kontakt bleiben.
Ich sollte ihm gegenüber unbedingt
ehrlich, freundlich und gutwillig sein.
Vor allem sollte man unbedingt jene Zeit vergessen
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Poesie der Nachbarn
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in der wir nach jedem Kaffee die Tassen umdrehten
und in der wir bei der Zeitschrift Arena für jeden eine Kette
mit einem Anhänger in Form eines wundertätigen Kleeblattes
mit vier Blättern bestellten (da stand: vergoldet,
aber später stellte sich heraus, dass die Farbe absplitterte).
Der Sohn einer Frau wurde gesund,
ein älterer, wohlhabender Mann fand eine
wunderbare junge Frau, es war die Zeit der Verzweiflung.
Alles ist weit fort von uns, das neue Badezimmer kommt.
Es ist wichtig, dass wir vertraut und zugeneigt bleiben.
Damit uns das nie mehr passiert.
Ich werde jenes belanglose Gefühl der Verstellung vernachlässigen.
Die Deine sein, obwohl ich es nicht bin.
Glücklich sein, obwohl ich daran nicht glaube.
Das Leben ist endlich gut und wir werden nie mehr
etwas Wundertätiges bestellen müssen.
Schließlich spielte sich all das vor so langer Zeit ab,
heute weiß ich es nicht mehr und bin nicht auf dem Laufenden,
in welcher Gestalt die Hilfe kommt.
***
Auf die Plätze, fertig, los!
Er schubst mich mit der rechten Hand, so weit er reichen kann.
Und dann diene ich ihm auch noch zum Absprung, von der Treppe
bis zum Eingangstor habe ich es nie als Erste geschafft, ich bin sieben Jahre langsamer.
Er hat alle Kurven als Erster mit Knien und Fäusten durchbrochen.
All seine Tricks ähnelten jenem mit dem Mittelfinger,
sie führten dazu, dass ich mich tagelang schämte, sie aber auch bewunderte und fürchtete
Er war als Erster auf dem Motorrad auf die falsche Spur geraten und er war der größte in der Straße.
Er holte die künstliche Kugel aus meinem Knie und brach dem Pistolenbesitzer
die Nase. Das erste „Verpisst euch“ gegen die Eltern und ein Regen aus Ohrfeigen...
Als Erster blieb er allein, der letzte in der Schlange für humanitäre Hilfe
(damit es keiner sieht), der erste in der aufgebrochenen Wohnung, der erste neben mir
auf dem Boden, der erste im Flüchtlingsheim, als Erster geht er von zu Hause weg.
Mein älterer Bruder, immer bleibt er nur ein wenig vor dem Ziel stehen,
nur um mich anzuschwindeln, als würde er mich als Erste ankommen lassen,
aber er siegt immer, weil er größer und mutiger ist.
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Poesie der Nachbarn
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Ohne dich
Warum bin ich so fröhlich?
Jeden Morgen esse ich einen Teller voller Cornflakes
I sorrisi della mattina (das morgendliche Lächeln),
gehe an Atlanta vorbei, dem American Roulet Kasino
einige Schritte von meinem Haus entfernt.
Ich laufe sonnig daher und stelle mich mir in den Zwanziger
in meinem Kleid und mit meiner Frisur vor.
Die Angst und die Sorgen um dich verlassen mich,
um die Personen aus der Sendung, meine Helden,
um Nina, die Angst hat vor dem kleinen Hund und schrecklich schreit,
um ihn, der vor dem großen Hund Angst hat und hysterisch bellt.
Gegen Mittag erinnere ich mich an dich,
das unbestimmte Gefühl des Grauens schleicht sich unter meine Zunge.
Ich bin nicht bei mir, wenn du so weit weg bist.
Um eins komme ich zurück zum Mittagessen.
Ich stelle mir vor, dass sich, um die Zeit schneller zu vertreiben,
wenigstens jemand erwischen lassen wird mit der Geschichte
über die Menschen, die zwanzig Jahre lang ihre Wohnung nicht gestrichen haben.
Ich frage mich, ob irgendjemand mit mir Mitleid haben
und im Rhythmus meiner Stimme etwas ausrufen wird, um die Stille zu vertreiben,
damit ich leichter hinter die Augenlider entwischen kann, zu dir.
Aber dann, ein Klingeln an der Tür!
Die Stimme sagt: das innere Licht,
ich erfahre:
so wird die Reportage über meine blinde Nachbarin heißen.
Das unbestimmte Gefühl des Grauens schleicht sich unter die Zunge,
der Abend kommt näher, ich erinnere mich deiner.
Ich bin nicht ganz bei mir, wenn du so weit weg bist.
***
Sie haben ihre Kameras direkt an den Straßenrand gestellt.
Du bist aus der Stadt gegangen, wie so viele Male vorher.
An dem Morgen etwas anders, mit deinem Vater um den Hals.
Ich sehe dich heute, nach vielen Jahren
in einem ausländischen Programm, du hättest
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Poesie der Nachbarn
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meine Freundin sein können, ich denke darüber nach
während du sagst:
we are not guilty
we don’t have food
they kill us
but we still don’t hate.
Es ist rührend, wie du auf deine Art über dieses Fenster in die Welt verfügst,
ich stelle mir vor, wie du Englisch gelernt hast, vielleicht sogar
in meiner Schule und was für eine Lektion das hätte sein können
in der man kill, guilty, hate lernt, oder war das
aus den Filmen, so dass du diesen Menschen jetzt näher bist, die in
sicheren Welten leben, weil sie hinter der Kamera stehen.
Wie merkwürdig die Regeln in dieser Welt sind,
und in derselben Stadt wird Krieg geführt.
Ich wechsele das Programm,
das kostet mich viel Mühe, aber es verfolgt mich das Bild deines Vaters,
der sich mit der Faust neben das Loch im Pullover schlägt,
irgendwo dort, wo das Herz ist, und wie er ohnmächtiger ist
als du, das Kind, da er nicht einmal übersetzen kann, wie sehr es ihn schmerzt,
und wenn er es könnte, so denkt er, würden die hinter der Kamera
kommen und wenigstens ihre Hand auf diese Stelle drücken.
So wird klar, wie ernsthaft die sprachliche Barriere ist,
wenn sie es sein möchte.
***
Es ist früh am Morgen und ich verlasse deine allerwärmste Wohnung
mit dem blauen Stadtbus zu einer kleinen Verpflichtung.
Wir haben eine wunderbare Nacht verbracht ohne irgendein Erzittern in irgendeine Richtung.
Das leichte Bremsen und die Hupe schrecken mich kurz auf, der Fahrer winkt einer Frau
auf der Straße zu, ich möchte glauben, dass es seine Frau ist,
aber ich möchte gar keine Geschichte, das würde heißen, dass sich etwas
ändern soll, und wenn es sogar zum Besseren wäre, möchte ich es nicht,
denn nach all dem wäre es schlechter, und ich möchte nicht diesen Morgen verderben.
Das soll das wichtigste Ereignis in meinem Leben sein.
Ich möchte gar keine Geschichte, nur dass ich in diesem Augenblick des Tages verharre.
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Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush
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Poesie der Nachbarn
***
Was ist mit den Frauen aus meinem Leben passiert?
Ich weiß, dass mir niemand mehr den Rücken freihält.
Der Mond hat es nach dem dreißigsten Versuch geschafft, dünner in der Taille zu werden,
langsam bleibe ich allein.
Wenn ich sie besuche,
machen mich vor allem die Blicke durchzogen vom Star traurig,
die Tischdecken durchzogen von Flecken.
Ich übernehme ihren Platz, man wird kämpfen müssen und Verstärkung holen.
Ich fülle den Platz im Bett aus.
Lege mir die Kapuze zurecht, dir scheint es wenig,
aber auch dieses Wenig kannst du nicht unbedingt jedem sagen.
Lege es zurecht und ich öffne dir die Tür meiner Intimität.
Ich bleibe in der Zimmerecke, ich werde da ruhig sitzen und warten, bis alles vorbeigeht.
Wie in der Kindheit werde ich die Furchen in den Neapolitanerschnitten abschlecken
und den Rest in der Serviette verstecken.
Ich drehe mich nach jedem Licht um, beherrsche die notwendigen Fertigkeiten,
höre wie das Gras unter der Erde Kriege führt,
Säfte vergießt.
Ich enthalte mich des Lebens, manchmal liebe ich dich nicht.
Zum Beispiel, zum Beispiel,
wenn der Sturm wütet, die Luft mit dem Knallen der Fenster ins Zimmer schreit,
und ich stelle mir vor, dass man mich ertrunken findet und weine, weine,
und du schließt nur das Fenster und glaubst, du wärest Gott.
Ich drehe mich nach jedem Licht um.
Kann ich mehr um das Leben bangen?
***
Wir haben ein breites Bett.
Aus der sicheren Entfernung über die Kissen
nehmen wir uns mit Seufzern ins Visier wie zwei feindliche Soldaten,
zu allem bereit, nur um ihre Stellung zu halten.
Ich lege dir meine Hand auf den Mund, du schläfst ein,
betört von meinem Duft, den ich in die Geschichte unserer Betten schreibe.
Die Geschichte unserer Leben als die Geschichte unserer Betten.
Ich bin in einem ungünstigen Moment des Familienumzugs auf die Welt gekommen,
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Poesie der Nachbarn
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das erste Stöhnen kam aus zwei zusammengestellten Sesseln,
Die Sesselprinzessin, so hat mich Papa genannt, also hatte ich sofort
mein Königreich, an das ich immer dachte,
als der Fußboden, Fußboden, Fußboden kam,
das Hotel und dann das Flüchtlingsheim, deshalb sollst du mir viel Platz lassen,
sonst werde ich meine goldenen Skorpione unter das Laken lassen.
Komm ja nicht auf die Idee mich zuzudecken,
es soll immer warm sein, lass mich weggehen und zurückkehren,
lass mich glauben, dass es etwas mehr mein Bett ist als unseres.
Bevor ich eintauche, zeigt sich der letzte Seufzer des Festlandes als
weiße Bettwäsche mit orangenfarbenen Blumen und
einem Garfield auf dem Kopfkissen;
das wird sicher das lebhafteste Bild sein vor meinem persönlichen Ende.
***
Wir sind beim Spaziergang in Richtung Gornji grad
in eine Gruppe von Deutschen geraten.
Sie, angeführt von einem roten Fähnchen,
wir, nicht zu nah aneinander,
warteten auf die erste Gelegenheit, dass uns etwas trennt.
Lass uns irgendwie diesen Regen anhalten,
bevor er sich auf uns stürzt, dachte ich.
Du gingst auf der rechten Seite der Kolonne,
neben der Dame im gelben Regenmantel,
die sicher das komplette Osterpaket gebucht hat.
Und man konnte sehen, dass Du nicht zu ihnen gehörst,
Du hattest eine slawische Sorge im Sinn,
eine Perle im Auge, künstlich gezüchtet (aber doch eine Perle!),
die Ebene, die so ermüdend ist,
und hier und dort ist ein Sammellager.
Und noch ein wenig böse auf mich, aber doch so schön
an diesem beinahe verregneten Morgen beim Spaziergang in Richtung Gornji grad
dass ich den Wunsch bekam, nach Deiner Hand zu greifen
(aber Du warst immer noch ein wenig über mich verärgert)
und Dich in das erste Reisebüro mitzunehmen,
das uns in jenes Städtchen in Österreich bringen würde,
in dem das ganze Jahr hindurch Weihnachten ist.
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RELA
TIONS
Poesie der Nachbarn
***
Der erste Schritt in die Dunkelheit.
Mache das Licht nicht an, folge meiner Stimme.
Komme ins Bett.
Wir beginnen ein neues Spiel.
Zuerst erobert mich dein Haar auf meinem Gesicht.
Das Haar des kubanischen Revolutionärs,
aus dem Worte über meine Wangen verstreut werden.
Heute hast du mit deinen kräftigen Händen
eine ganze Stadt verteidigt,
und nun stützen sie sich auf meine Schultern.
Du bist ganz erglüht,
die Luft beginnt erst irgendwo über unseren Köpfen.
Dein Herz klopft rückwärts, so ist es immer,
wenn es zwischen meine Beine rutscht.
Die Revolutionäre sind die zahmsten und die treuesten.
Und so halten wir uns kurz an...
Einer den anderen, wie vor dem Haus im Sommer,
wenn es dunkel wird, man sieht nichts mehr
und die Luft ist voller Vorahnung.
Und doch, deine Gestalt hebt sich ab
von allen mir bisher bekannten Formen.
Warte nur noch kurz auf mich...
Heute ist Sonntag.
Ich habe meine Haare gewaschen.
Wir müssen nirgendwohin.
Außer nach Kuba.
***
Rosmarin, der an der Wand des Hauses wächst
Das kleine Grab mit einem Steinkreuz irgendwo in Imotski
Duftende Männerhände mit weichen Härchen
Der unaufschiebbare Wunsch nach einem chlorierten Schwimmbad
Eines Kindes aus dem Flachland, das das Meer nicht kennt
Der Gedanke vor dem Schlafengehen als Widmung an den Tod
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Poesie der Nachbarn
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Kolonnen zahnloser Frauen mit Kopftüchern
Und zahnloser Kinder auch, aber ohne Kopftücher
Jetzt kommt der Schlaf, manchmal als Befreiung
Manchmal auch nicht
Marzipan aus Deutschland und ein Lederfußball
Mein Vater
Der schöne junge Mann
Jemand schießt in seinen Kopf
Er sagt, dass er sie alle erschießen wird
Nicht einmal ihre Katze wird am Leben bleiben
Er schreit mit den Augen und verschwindet
Ich wache auf und puste auf die roten Halbmonde
Der Fingernägel auf den Handinnenflächen
Tagebuch einer Mutter
Der liebe Gott wohnt im Detail
aber wir lieben uns schon seit langer Zeit ohne überflüssige Bewegungen.
Erinnerst du dich daran, dass du einmal
eine Zecke auf der Innenseite meiner Oberschenkel entdeckt hast?
Ich habe Angst bekommen, aber du hast alles, alles getan
Öl, Alkohol, dein Speichel, Küsse.
Damals konnte man an nichts sterben.
Jetzt ist es anders.
Das Detail wohnt in mir,
der liebe Gott in seiner minimalen Bewegung,
deine Hand auf meinem Bauch ist Sein Zeuge.
Ich bin für eine ganze Welt verantwortlich,
jeden Morgen, wenn du hinter dir die Tür schließt,
das Treppenhaus, der Zug, die Arbeit.
Die Welt und ich bleiben allein, eingewickelt in ein wenig
warme Baumwolle und Haut.
Wir warten, dass die Dunkelheit kommt
und das Wunder der ersten Begegnung,
denn heute kann man an allem...
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TIONS
Poesie der Nachbarn
***
Alles ist vorbereitet für Deine Ankunft.
Der Krieg ist zu Ende gegangen
Ein-zwei Schokoladenstückchen in den Kreißsaal geschmuggelt
Das Plätschern des Wassers in der Sauerstoffflasche
Papa sagt, das sei das Meer.
Der großartige Augenblick Deiner Ankunft
Auf die Welt, aber nur wir weinen vor Glück.
Und da ist es.
Bisher der deutlichste Augenblick meiner Mutterschaft
Ich küsse Dich auf Deinen kleinen Rücken
Meist bleiben wir allein, zwei Mädchen
Dann schnurren wir Geschichten.
Durch das Fenster hören wir den Flügelschlag.
Flügelschlag.
Wie soll ich dir das erklären, es ist so viel notwendig:
Feder, Wind, Raum für die Freiheit, hohle Knochen
Meine Mama hat einmal für mich
Schwarze Plüsch-Leggings bei Nama gestohlen
Dafür waren der Krieg, das Elend, ein Kind ohne Vater
Und der Anfang des neuen Schuljahres notwendig.
Ich küsse Dich auf Deinen kleinen Rücken
Ich habe Angst, dass er sich beugt, anstatt eine kindliche Sprache zu verwenden,
Sage ich ganz falsche Worte an Deinem zweiundzwanzigsten Tag
Und ich werde Dir diese ganze Welt erklären müssen.
***
Die Nacht war lang, die Sonne kommt heraus.
Du füllst die Lunge mit Luft, für ein Weinen,
für das Leben und dann für ein kleines Lächeln.
Wir müssen uns jeden Morgen waschen, mein Schatz.
Ich erwische mich, wie ich Dich liebkose, wenn Gott dich sehen würde,
pflegte meine Großmutter zu sagen,
er hat lange die Augen zugedrückt, wenigstens das eine, denke ich.
Die Mutter Gottes weint, wenn kleine Mädchen pupsen,
sagte die Nachbarin Maria,
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Poesie der Nachbarn
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und meine Mutter fügt immer hinzu: nicht so oft zum Arzt, nicht so oft zum Arzt,
immer in ihrem Singsang und immer zweimal.
Du verlangst sofort unabdingbar Nahrung, meinen Körper,
es gibt kein Halten, keine Ruhepause, kein Aufschieben.
Alle Heiligen im Himmel haben ihre Augen auf uns gerichtet,
dein kleiner, verpflichtender Körper umarmt mich.
Auch heute bin ich deine Mama, die Nahrung, alles in der Welt,
hinreichend.
***
Immer ernsthafter bete ich zu Gott,
dass dieses Leben nie aufhört.
Gestern Abend habe ich lange gebraucht, um mich zu erinnern...
Wie hieß doch dieser Ort, diese Fügung von Umständen
in welchen ich einst gelebt habe,
Unterkunft für Vertriebene, so hieß er.
Ich weiß, dass es drei Worte waren,
ich habe Zeit gebraucht, um mich zu erinnern...
Ich schmiege mich an dich,
wir sind zwei allzu verantwortungsbewusste Menschen,
zwei zu früh gereifte Kinder,
wir haben ein Baby im anderen Zimmer.
Der Gedanke an den Tod ist so weit weg.
Die schattigen Balkone erinnern mich an Vukovar.
Linden im Juni,
Wassermelonen in der Badewanne,
die Boris-Kidrič-Straße,
ein Ort ungetrübten Glücks.
Ich weiß überhaupt nicht, wer dieser Mann ist.
Der Ort,
der Ort an dem wir die Nacht verbringen werden,
du,
die Stelle an ihrem Hals,
so riecht wahrscheinlich das Paradies,
nur dass das Leben mich dieses Mal verschont
dass es mich vergisst.
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Poesie der Nachbarn
Zimmer 39
Eine Frau war dort, sechsundzwanzig Wochen,
vorbei, kein Weinen, gar nichts, auf dem Tischchen Tabletten
damit die Milch gestoppt wird.
Radio Maria die ganze Nacht und einige Menschen aus der Betgemeinschaft.
Dann die andere, ihr erster unverheirateter Mann
Hat das Kind nach Serbien mitgenommen, keine Meldung, kein Brief,
sie weiß, dass es lebt, es ist ein Mädchen.
Mit diesem Mann wollte sie es, ein geordnetes Leben und alles,
aber schon zum zweiten Mal geht es nur bis zum dritten Monat und Schluss.
Die dritte wurde am letzten Tag gebracht, jung und hübsch,
auf der zweiten Etage ist das Bäuchlein geblieben, ein Kilo und achthundert Gramm.
Ich sagte ihr, dass alles ganz sicher, hundertprozentig gut sein wird.
Man hat sich bei mir entschuldigt, dass man mir die Neununddreißig gegeben hat
mit diesen Frauen, denn in dieser Nacht war viel los,
es gab keinen Platz.
Als man sie mir brachte, wollte ich nicht, dass sie sie anschauen.
***
Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten an Dir,
Einatmen, Ausatmen, Katze, Hund, Schlange,
Du zündest die Kerze an, schaust in ihre Flamme,
die indischen Monsune tragen dich fort,
die Ajurveda-Ärzte flicken deinen beschleunigten Westen.
Die Anstrengung bringt Ruhe, Ruhe, Ruhe,
Die Exotik flößt Vertrauen ein, schwarze Kügelchen gleiten die Kehle entlang
die Abendrituale bringen dir endlich Zufriedenheit.
Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten an Dir,
Einatmen, Ausatmen, Katze, Hund, Schlange.
Du löschst die Kerze, bleibst im Dunkel,
genauso wie auch ich diese ganze Zeit
auf dem Bett im Schlafzimmer,
jeden Abend,
ich arbeite nicht an mir
(es ist nicht so, dass ich es nicht nötig hätte),
ich versuche, wachend auf dich zu warten.
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Ein Tag am Meer
Der Abend riecht weder nach Krebsen noch nach Muscheln,
die Nacht wird lang sein und vom Weinen mehrfach unterbrochen.
Wir schlafen in Etagebetten,
so dass in unser Zimmer noch ein – kleines – Bett passt.
Einem retardierten Jungen in der Nachbarschaft
hat man ein Karaokegerät gekauft, das freut ihn schrecklich,
es freut ihn bis tief in die Nacht.
In diesem Hof leben keine Käfer
sondern blutrünstige Wesen schlimmster Art
und sie ist am Morgen ganz aufgeschwollen.
An den Strand können wir nicht gehen.
Die Sonne stört sie und sie weint wieder.
Wir baden abwechselnd, eine halbe Stunde du, eine halbe Stunde ich.
Ich tauche unter das Wasser, um Luft zu schöpfen.
Am Abend bereiten sich die Nachbarn darauf vor, in ein Restaurant zu gehen,
und wir füllen ein kleines Gummiboot mit Wasser
um daraus eine Wanne zu machen, sie lacht.
Vor Glück vergessen wir, wo wir sind.
Der Abend ist klebrig und schwül, sie will nicht schlafen, dann weint sie.
Wir wiegen sie lange in den Schlaf, du, ich, du, ich...
Später sitzen wir auf der Terrasse,
du sagst: Erinnerst du dich daran, als wir im Sommer hier waren...
Ich sage: Ja, wir hatten mindestens zehn Regentage,
das Wetter war wirklich schrecklich.
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Poesie der Nachbarn
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Heute haben mich Kirschen aus dem Bett geholt.
Wer weiß, wie lange ich so getan hätte, als würde ich schlafen,
Hätte ich mich nicht an sie erinnert, im Kühlschrank im untersten Fach.
Sie sind gestern gekommen, nur für mich, ein junger Mann hat sie gebracht,
Der einst in mich verliebt war, und jetzt hat er
Einen Sohn und eine Frau und eine komplizierte Situation diesbezüglich.
Er bat mich nach unten zu kommen, unten vor das Gebäude,
Ich konnte nicht, denn mein Kind schlief, so kam er nach oben.
Er küsste mich auf die Wange und gab mir einen Sack voller dunkler roter Kirschen,
Ich lud ihn ein, hinein zu kommen, aber dann rief sie aus dem Zimmer Mama, Mama...
Er fragte mich, wann ich dicker zu werden beabsichtige und sagte,
Dass ich mich gar nicht ändere, und ich habe nur gelacht.
Ich glaube, dass er immer noch ein wenig in mich verliebt ist,
Während die glatten Kirschen unter meinen Zähnen aufplatzen
Und es scheint mir, dass ich mich wirklich nicht viel verändert habe.
Gestern Abend, als wir im Bett lagen, fragte ich meinen Mann, ob er gesehen hat,
Wie viel Kirschen wir im Kühlschrank haben, er sagte nein,
Aber ich erzählte ihm trotzdem, wie ich sie bekommen habe.
Er sagte super, aber ich fragte, ob er nicht eifersüchtig sein sollte,
Wäre er ohne Kirschen gekommen, dann wäre ich es, antwortete er.
Er steht auf, schaltet das Telefon ab, dann umarmt er mich von hinten und küsst mir den Hals,
Über mich beugt sich der Schatten, eine Frau ruft ihn an, früh morgens,
Sie spricht etwas zu ihm oder schweigt nur, wir wissen alle, dass sie verrückt ist,
Aber ich denke, dass sie vielleicht ein wenig in ihn verliebt ist,
Ich stelle mir vor, dass es sich um eine Studentin mit kurzem Haar handelt
Oder um eine Frau in mittleren Jahren, die nicht gewusst hat, dass sie lebt,
Bis sie ihn erblickt hat, und das gefällt mir, aber andererseits hat er
vielleicht deshalb die Kirschen nicht bemerkt.
Aus dem Kroatischen von
Alida Bremer

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