rela tions - Hrvatsko Društvo Pisaca
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RELA TIONS Inhalt 1 RELATIONS Literarisches Magazin Zeitschrift der Kroatischen Schriftstellervereinigung 1-2/2010 Einführung Herausgeber DOSSIER: ZORAN KRAVAR Kroatische Schriftstellervereinigung Interview: Zoran Kravar [Tomislav Bogdan] Redaktion [Chefredakteur] ................................................................................................................................................................................................... 5 ................................................................................................... 7 ...................................................................................................... 25 ................................................................................................................................... 45 ................................................................................................................................................................................................. 56 Zoran Kravar Der Ring des Nibelungen als Nebenthema Roman Simić Bodrožić Zoran Kravar [Redakteurin] Eine Sendung aus der Gegenwelt Jadranka Pintarić Lektur / Korrektur Marijana Miličević Hrvić Redaktionsadresse Kroatische Schriftstellervereinigung Basaričekova 24 Tel.: (+385 1) 48 76 463 Fax: (+385 1) 48 70 186 www.hdpisaca.org [email protected] Preis 15 € Zoran Kravar Tiefe Fiktion DOSSIER: ŽARKO PAIĆ Žarko Paić Landkarten für Irrende Nomadentum und Chaos am Ende der Geschichte .................................................................................. 67 Žarko Paić Gott ohne Religion: Die Leere der Welt und das Ereignis der Offenheit ............................................................................. 80 ....................................................................................... 92 ............................................................................................... 105 ..................................................................................................................................... 109 Umschlag „Crtaona“ Žarko Paić Prepress Herrschaft des Genusses: Inszenierung des Lebens als sozialen Erlebnisses Krešo Turčinović Gedruckt in Kroatien bei „Profil“, Zagreb ISSN 1334-6768 LITERARISCHE PRODUKTION: DRAGO ŠTAMBUK Vesna Parun Die Zeitschrift wird vom Kultusministerium der Republik Kroatien und vom städtischen Fond der Stadt Zagreb finanziell unterstützt. Orpheus mit dem Skalpell eines Steinmetzen Sead Begović Ein Dichter des Metaphysischen 2 RELA Inhalt TIONS Drago Štambuk Poesie ........................................................................................................................................................................................................................................................................................................................ 110 Dalmatien, lichtes Dalmatien [111]; Nacht-Stein [112]; Auftrieb [113]; Macchia auf Brač [113]; Greeneyes [114]; Skarabäus [114]; Der baufällige Palast [115]; Gnade [116]; Meine Radogna-Bucht [117]; Osiris [117]; Dem Sohn Gottes [118]; [Die Menschen fürchten sich vor Dornen] [118]; Ivan, der im Sommer Geborene [118]; Der Thron [119]; Gewicht [119]; Hand der Freude [120]; Kalki [120]; Lapis [120]; Der Ackersmann [121]; Spalatum [121]; Der Sklave, der ein König war [122]; Der verwaiste Elefant [122]; Nadir [124]; Brandstifter himmlischer Feuer [124]; Varanasi [125]; Harmonie [125]; Pietas [125]; [Schnee auf dem Vidovica-Berg] [126]; Split [126]; Die Insel [126] Drago Štambuk Brač, Auge des Zyklopen ................................................................................................................................................................................................................................................................. 127 BRANISLAV GLUMAC Marijan Matković Die Prosa des Branislav Glumac ...................................................................................................................................................................................................................................... 131 Branislav Glumac 13 Kurzgeschichten, die vierzehnte kommt per EU-Post ............................................................................................................................................................ Der Sturm ............................................................................................................................................................................................................................................................................................. Alles ist so unsicher .................................................................................................................................................................................................................................................................. Wie Šonja gestorben ist ...................................................................................................................................................................................................................................................... Der Mensch, den es nicht mehr gibt ............................................................................................................................................................................................................... Ich schreibe eine Geschichte von einem Tag voller Kleinigkeiten ............................................................................................................................ 133 133 135 140 142 145 POESIE DER NACHBARN Zvonko Maković Poesie ..................................................................................................................................................................................................................................................................... 154 Schöne Aussichten [154]; Beispiele [155]; Dreistigkeit [156]; Drei Abschnitte über eine Tatsache [157]; Übungen [158]; Ich erinnere mich [159]; Das Schreiben der Poesie [160]; Ein Beitrag zur Geschichte der kroatischen Literatur [162]; Aufzeichnungen [163]; Cardo & Decumanus [164]; Nachmittag [166]; Voreilige Entscheidunge [169]; Der Titel: Ausgelassen [176]; „...die Erde“. [179]; Wir haben uns [180]; Die Anwesenheit des Körpers [181]; Das Leben ist ein Traum [182]; Zwischen [182]; Abschied [183]; Auf der anderen Seite [184] Branko Čegec Poesie ..................................................................................................................................................................................................................................................................... Der Fahrer von Thomas Bernhard [185]; Getarnte Portraits von A. Warhol [187]; Konzert für das Eis und den georgischen schwarzen Tee [188]; Schwarz [189]; Himalaja [189]; Die kurze Geschichte der stummen Farben [190]; Sieben Brände im Hof der Gundulićeva Straße 24 [191]; Shopping Therapy [193]; Die Farbe der Bora, der Schwung der Haare [193]; Das Reisebuchschreiben [194]; Basketball [195]; Nie in den Niederlanden [196]; Regenschirm [197]; Die Landschaften der Sexualität und des Schlammes [198]; Don Quijote [198]; Kulturtreger [199]; Kompass [199]; Nadeschda und die Angst [200]; Der Mann, der immer wieder verloren ging [200]; Fado [201]; Maljčiki [201] 185 RELA TIONS 3 Inhalt Delimir Rešicki Poesie ..................................................................................................................................................................................................................................................................... 203 In jenen Tagen, eine nicht anmaßende Aufzeichnung [203]; Christa [205]; Heilpflanzen [206]; Die Weissagung der Vergangenheit [206]; Mizar [208]; Ich werde nach Sichuan gehen um dort mit Pandabären zu sterben [209]; Die Mandeln in deinem Schoß [209]; Dieser Sommer [211]; Das Gold [211]; Die Ungeborenen [213]; Das Buch über die Engel [213]; Die Wissenschaft über dich [214]; Pilze und Flechten [215]; Neon spielte Lyra [217]; Die Krähe [218] Tomica Bajsić Poesie ..................................................................................................................................................................................................................................................................... 220 Apokryphe über Tito [220]; Kardinal Kuharić am Telefon 9827 [221]; Eingelassen in den Asphalt von Rio de Janeiro [223]; Der Einsiedler, den ich kannte [223]; Titan [224]; Jeder Tag ein neuer Tag [225]; Sechs Jahre des Wartens [225]; Das Ruder ist im Looping der schwarzen eisigen Nadeln durchs Wasser gefahren [226]; Cape Kennedy [226]; Elftausend Meter über den Großen Tälern [227]; Der siebenundzwanzigste Tag [228]; Toledo [229]; Der Engel des Dunkels ohne Flügel [230]; Die Diktatoren [234]; Australien [234]; Knochensammler [235]; Poesie übersetzen [235]; Drei Schritte [235]; Maybe Airlines [236]; Srebrenica [237]; Gaugins Fluch [237]; Schreckliche Sehnsucht [239]; Die Nacht im Naturkundemuseum [239]; Die Windjacke der New Yorker Müllmänner [240]; Volksastronomie [242] Gordana Benić Mediterraneo ................................................................................................................................................................................................................................................. 243 Die Stimmen im Hafen [243]; Spiele mit dem Sand [244]; Das andere Meer [244]; Der Südwind [245]; Die Fallen der Kartographen [246]; Der goldene Berg [246]; Rapport 22 [247]; Genius loci [247]; Beschreibungen [248]; Magistrale [248]; Die Unsichtbaren [249]; Das Volk hörte den Hellsehern zu [249]; Engel des Nebels [250]; Urhäfen des Mittelmeers [250]; Nirgends [250]; Sie untersuchten die Grenzen der Wirklichkeit [252]; Willkommen im Nirgendwo [252]; Das Addieren des Vergessens [253]; Sternendeuter [254]; Engel an meinem Tisch [255] Ivana Simić Bodrožić Poesie .................................................................................................................................................................................................................................................................... [Der Sieg gehört dem Mann in der Unterwäsche...] [257]; Das Hotel „Donau“[258]; [Man sollte unbedingt den Hund ausführen.] [258]; [Auf die Plätze, fertig, los! ] [259]; Ohne dich [260]; [Sie haben ihre Kameras direkt an den Straßenrand gestellt.] [260]; [Es ist früh am Morgen...] [261]; [Was ist mit den Frauen aus meinem Leben passiert? ] [263]; [Wir haben ein breites Bett.] [263]; [Wir sind beim Spaziergang in Richtung Gornji grad...] [264]; [Der erste Schritt in die Dunkelheit.] [265]; [Rosmarin, der an der Wand des Hauses wächst] [265]; Tagebuch einer Mutter [266]; [Alles ist vorbereitet für Deine Ankunft.] [267]; [Die Nacht war lang, die Sonne kommt heraus.] [267]; [Immer ernsthafter bete ich zu Gott,] [268]; Zimmer 39 [269]; [Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten an Dir,] [269]; Ein Tag am Meer [270]; [Heute haben mich Kirschen aus dem Bett geholt.] [271] Luka Baljkas Foto: Shapes of Hindu Kush [2005 – 2008] [Seite: 24, 44, 55, 65, 79, 91, 103, 110, 123, 129, 132, 153, 173, 202, 219, 233, 242, 251, 262] 257 RELA TIONS 5 Einführung D ie Wissenschaft über die Literatur ist ein Bestandteil der literarischen Tatsache, die aus Schriftstellern, Büchern und Lesern besteht. Gerade deshalb widmen wir den ersten Teil dieser Ausgabe den Texten des angesehenen kroatischen Schriftstellers und Theoretikers Zoran Kravar. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere lag sein Interesse beim kroatischen literarischen Barock, aber er beschäftigte sich auch mit der Zeit der Moderne, ebenso wie mit der Theorie des Verses und der vergleichenden Metrik. Nichtsdestotrotz interessierte ihn, eigenen Aussagen zufolge, vor allem die Verflochtenheit der Literatur mit Weltanschauungen und Ideologien. Neben Facharbeiten, die „Wachheit und intelektuelle Neugierde verlangen“, verfasste er Artikel, Zeitungstexte, ja sogar Hefte, in denen er der breiteren Leserschaft literarische und literarisch-theoretische Themen nahebringt. Die hier vorgestellte Auswahl (aber auch das inspirierende Gespräch, das für Relations einer seiner ehemaligen Studenten, heute selbst angesehener Wissenschaftler, Tomislav Bogdan, mit ihm führte) stellt nur einen kleinen Teil des reichen schrift- stellerischen Opuses eines Professors dar, der den literarischen Gedanken vielen Generationen von Studenten, Theoretikern und Praktikern des literarischen Wortes beibrachte. Zwei übersetzte Essays wurden in Kravars letztem Buch „Öllampen und Geister“ („Uljanice i duhovi“, 2009, Goran-Preis für das Buch des Jahres) veröffentlicht, während der Essay über Tolkien aus dem noch unveröffentlichten Buch über antimodernistische Tendenzen in der so genannten hohen Fantasy-Literatur stammt. Der zweite Teil des Dossiers über den zeitgenössischen kroatischen essayistischen Gedanken ist Žarko Paić gewidmet, dessen Interessensgebiete die Soziologie der Kultur, Semiotik, Theorie der Kunst und der Ästhetik, Literatur und visuelle Kommunikation umfassen. Außer seiner Beschäftigung mit der Theorie schreibt Paić, ebenso wie Kravar, auch Poesie. Wir bringen eine Auswahl aus seinem letzten Essay-Werk „Umschwung“ („Zaokret“, 2009), in dem er über die Phänomene des Modernen sinnt, wie zum Beispiel: Globalisierung, die [Un]möglichkeit der Zukunft, Religion in einem neuen Kontext u. Ä. Nicht zuletzt bringt diese Ausgabe von Relations eine Auswahl aus dem dichterischen und prosischen Opus von Drago Štambuk und Branislav Glumac, ebenso wie die Übersetzungen einheimischer Dichter (Tomica Bajsić, Gordana Benić, Branko Čegec, Zvonko Maković, Delimir Rešicki und Ivana Simić Bodrožić), die an dem Projekt Die Poesie der Nachbarn teilgenommen haben, das im Jahr 2009 in Edenkoben stattgefunden hat. Die Fotografien in dieser Ausgabe sind Arbeiten des preisgekrönten kroatischen Fotografen Luka Baljkas und die letzten Zeilen dieser Einführung bieten die Gelegenheit auch allen unseren Mitarbeitern zu danken, vor allem den Übersetzern, ohne deren aufopfernde und akribische Arbeit es diesen Band nicht gäbe. Deshalb danke Hedi Blech Vidulić, Alida Bremer, Ulrich Dronske, Marijana Miličević Hrvić, Klaus Detlef Olof, Boris Perić und Blažena Radas! Redaktion Foto: © Martina Kenji 6 Dossier: Zoran Kravar RELA TIONS ZORAN KRAVAR wurde 1948 in Zagreb geboren, wo er auch die Grundschule besuchte. Einen Teil seiner Kindheit und seine Gymnasialzeit verbrachte er in Zadar. In Zagreb hat er an der Philosophischen Fakultät Vergleichende Literatur und Philosophie studiert. Ende 1973 nahm er seine Tätigkeit an der Abteilung für vergleichende Literatur an derselben Fakultät auf, wo er sein gesamtes bisheriges Arbeitsleben verbrachte: bis 1978 als Assistent, bis 1984 als Dozent und seither als Professor. In seinen Büchern beschäftigte er sich mit der Literatur des 17. Jahrhunderts (Studije o hrvatskom književnom baroku, Zagreb 1975; Barokni opis, Zagreb 1980; Das Barock in der kroatischen Literatur, Köln – Weimar – Wien 1991; Nakon godine MDC, Dubrovnik 1993), mit Verstheorie und vergleichender Metrik (Tema „stih“, Zagreb 1993; Stih i kontekst, Split 1999), mit der kroatischen Moderne (Književni protusvjetovi, Zagreb 2001, gemeinsam mit Nikola Batušić und Viktor Žmegač), und in neuerer Zeit mit regressiven und antimodernistischen Tendenzen in der Philosophie, Ideologie und Literatur um 1900 (Antimodernizam, Zagreb 2003; Svjetonazorski separei, Zagreb 2005). Zeitweilig veröffentlichte er Zeitungsartikel unterschiedlicher Thematik, ein Teil davon sind in seinem Buch Sinfonia domestica (Zadar 2005) gesammelt. Er hat ein gutes Hundert fachlicher und wissenschaftlicher Arbeiten und Besprechungen von Fachliteratur veröffentlicht, einen Teil davon in ausländischen Publikationen. Er hat über zweihundert Artikel für verschiedene Lexika und Enzyklopädien verfasst (Hrvatski leksikon, I, Zagreb 1996; Krležijana, I–II, Zagreb 1993–1999; Leksikon hrvatskih pisaca, Zagreb 2000; Leksikon hrvatske književnosti. Djela, Zagreb 2008; Kindlers Literatur Lexikon, Göttingen 2009). Für seine Arbeit hat er folgende öffentliche Auszeichnungen bekommen: den Krleža-Preis (für das Buch Stih i kontekst), den Josip-JurajStrossmayer-Preis (für das Buch Književni protusvjetovi) und den Sfera-Preis für seinen J. R. R. Tolkien gewidmeten Essay Duboka fikcija. Er hat auch Lyrik verfasst und 1998 einen Gedichtband unter dem Titel Vinograd veröffentlicht. Zur Zeit schreibt er an einem Buch über antimodernistische Tendenzen in der so genannten ‚Hochphantastik’ (high fantasy). RELA TIONS 7 Interview: Zoran Kravar • Foto: © Martina Kenji Das Gespräch führte Tomislav Bogdan TOMISLAV BOGDAN: Ihr neuer Es- sayband Uljanice i duhovi (‚Öllampen und Geister’) hat die Aufmerksamkeit durch zahlreiche Memoireneinschübe auf sich gezogen. Als einer unserer führenden Literaturtheoretiker und Literaturgeschichtler sind Sie sonst eher durch die Strenge der Metasprache und eine spezifische Distanziertheit der Wahrnehmung bekannt. In jeder Ihrer Arbeiten im Band Uljanice i duhovi ist der essayistische Diskurs indessen durchsetzt mit Autobiografischem. Wie ist es zu einem derartigen Kurswechsel gekommen? ZORAN KRAVAR: Zu diesem Kurswechsel ist es gekommen, ohne dass ich ihn bewusst programmiert hätte. Ich wollte einfach, dass die Texte, aus denen ich schließlich den Band Uljanice gefügt habe, anders würden als meine fachlichen Arbeiten. Memoirenhafte Proömien, in denen ich versuche, Alltagserfahrungen mit Themen fachlicher Natur zu verbinden, haben sich da als Faktor der Verschiedenheit von selbst angeboten. Zwar habe ich mich auch früher darauf verstanden, Fachliches und Geschichten aus dem Leben miteinander zu kombinieren, aber nur in kürzen für die Zeitung geschriebenen Texten. In den Uljanice indessen habe ich kurze Geschichten in Arbeiten eingeflochten, die ich für die eigenen Erkenntnisleistungen für repräsentativ halte. Professor Zoran Kravar Gespräch mit Tomislav Bogdan Der Stil meines neuen Buches lehnt sich erheblich an die Art und Weise an, in der ich mich mit Freunden und Kollegen über wissenschaftliche Themen unterhalte. Wenn ich in ihrer Gesellschaft ein Buch oder eine Idee kommentiere, habe ich immer sowohl die fachliche Problematik als auch den biografischen Kontext im Sinn, und es scheint mir ganz normal zu sein auch zu sagen, wo, wann, unter welchen Umständen, auf Grund welchen Zufalls ich den Anregungen begegnet bin, die sich mir als nachdenkenswerte Themen anboten. Außerdem neige ich auch als Vortragender zu narrativen Abschweifungen. Wenn ich den Studenten Begriffe und Theorien in Verbindung mit einem gegebenen Gegenstand erkläre, erzähle ich ihnen gewöhnlich auch einiges über die Menschen, von denen wir sie übernommen haben. Und etliche dieser Menschen habe ich persönlich gekannt, ich habe als Student in ihren Vorlesungen gesessen, oder ich bin ihnen, als Professor, auf Symposien begegnet, mit einigen von ihnen habe ich Umgang gepflegt, fachliche und außerfachliche Gespräche geführt, korrespondiert, und so sind auch sie ein Teil meiner Biografie. Wenn ich zum Beispiel Verstheorie oder komparative Metrik vortrage, gibt es immer einen Anlass, auch etwas über Svetozar Petrović oder Ivan Slamnig zu sagen. In einem Gespräch, das ich unlängst mit einer 8 Studentin führte, die gerade Uljanice las, bemühte ich mich, auf akademische Weise zu erklären, wie und aus was einzelne Texte komponiert sind, worauf sie ohne jedes Anzeichen von Verwunderung entgegnete: „Ja, ja, so sind auch Ihre Vorlesungen.“ • RELA Dossier: Zoran Kravar BOGDAN: In den ersten Kommen- taren zu Ihrem neuen Buch wird unterstrichen, dass es sich um eine Autobiografie handelt, in der die Erinnerungen den Anlass abgegeben für Erörterungen komplizierter theoretischer Probleme. Mir scheinen die Memoirenelemente im Buch eher akzidentell zu sein, gedacht als Illustration. Obwohl sie zweifellos erfrischend wirken und mit großem Interesse gelesen werden – vor allem die Abschnitte über die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die Zeit Ihres Heranwachsens und Reifens, die eine kleine intellektuelle Geschichte dieser Epoche bilden – sie werden in dem Buch eigentlich um die Erkenntnisinteressen herum organisiert, nicht die Erkenntnisinteressen um sie herum. Sie würden, um nur ein Beispiel anzuführen, auf ähnliche Weise vermutlich über den Vitalismus des jungen Krleža schreiben, auch ohne im ersten Essay ein bestimmtes Gebirge zu erwähnen, aber schwerlich würden Sie dieses Gebirge jemals ohne Krleža erwähnen ... KRAVAR: Dieser bosnische Gebirgszug mit Namen Motajica ist aus der Umgebung von Brod gut zu sehen. Im Text Panska glazba (‚Panmusik’), in dem ich den jungen Krleža mit dem alten konfrontiere, erwähne ich nebenbei, dass ich Mitte der neunziger Jahre mit Kollegen nach Osijek gereist bin und dass wir uns, als wir jenseits der Save das bläuliche Bergmassiv erblickten, an Krležas Text von 1919 erinnerten, in dem er erzählt, wie er in Kapela Batrina am Waggonfenster steht und eben dieses Massiv betrachtet. Natürlich ist Krleža in meinem Text der Hauptgegenstand, während das Gebirge eine Digression ist. Doch haben sowohl der Gebirgszug als auch Krležas Konversation angesichts seiner ihren Platz in meiner Bekanntschaft mit Krleža, vor allem mit einem seiner stilistisch-motivischen Komplexe, die ich als Spatialisierung der Musik und der musikalischen Eindrücke beschreibe, wobei ich an die figuralen Ausdrücke denke, in denen das semantische Feld der Musik zur Quelle von Metaphern für die Phänomene der natürlichen Welt wird, zum TIONS als auch der selbst erfahrenen, das um so mehr, als sich mit dieser Begebenheit gezeigt hat, wie sehr die Perzeption bei unseren Gebildeten durch die Lektüre Krležas präpariert ist. In den Uljanice sind anschauliche Bilder und gedankliche Motive gewöhnlich durch sachliche – räumliche, zeitliche, ursächliche, substantielle – und nur an manchen Stellen metaphorische Verbindungen verknüpft. Meistens beginne ich einen Artikel oder ein Kapitel mit einem bildhaften Diskurs, in dem ich die Erfahrungen oder Ereignisse, deren Wirkung antizipativ war, konden- Professor Zoran Kravar Beispiel für die Konturen der Landschaft („Melodie der Berge“) oder für atmosphärische Geschehen („Musik des Tages“). In den Kapela Batrina gewidmeten Passagen in Krležas Dnevnik (‚Tagebuch’), das ich erneut las, nachdem ich von jener Reise zurückgekehrt war, ist die Beschreibung des Gebirges gänzlich mit musikalischen Metaphern durchwoben, und die drängen sich hier als Problem auf. Auf genau dieses Problem aber beziehe ich mich in den ersten Kapiteln von Panska glazba, was mich angeregt hat, mich an Motajica zu erinnern, sowohl der Krležianischen siere. In dem Artikel zum Beispiel, nach dem das Buch seinen Titel hat, erzähle ich, wie ich die Gelegenheit bekam, nach dreißig Jahren den Film Letztes Jahr in Marienbad wiederzusehen. Nachdem ich ihn gesehen hatte, war mir, als hätte ich an einer Öllampe gerieben, der ein Geist entstiegen war, jener der sechziger Jahre, der in der Zeit, als ich den Film zum ersten Mal sah, die weltanschauliche Norm und als solcher unproblematisch war. Oder nehmen wir jene Autobus-Episode zu Beginn des Artikels über Ortega y Gasset. Das verhielt sich RELA TIONS so. Im Frühjahr 2003 schrieb ich an meinem Buch über den Antimodernismus und beschäftigte mich dabei auch mit dem Begriff der Masse, wie ihn Reaktionäre wie Julius Evola und Edgar Jung verstehen, für die die Traditions- beziehungsweise Nationalgemeinschaft Ordnung und System sind, die moderne Gesellschaft hingegen Masse und Haufe. Und als ich mich an einem dieser Tage, vom Supermarkt zurückkehrend, in meinen Vorstadtbus setzte, wurde ich Zeuge, wie sich auf den Plätzen hinter mir zwei Fahrgäste ergrimmt, sehr laut, Feinde der aktuellen sozialdemokratischen Regierung, über irgendwelche spontanen Demonstrationen ausließen, und dass es gut wäre, wenn sie „massenhaft“ wären, denn nur die „Masse“ könne Veränderungen bewirken, wie sie sie sich erhofften. Über diese ungewollte Parodie des politischen Diskurses musste ich aus zwei Gründen lächeln: einerseits erinnerte er mich an einen weiteren Begriff der Masse, der sich durch affirmative Bedeutung auszeichnet und dem totalitären politischen Geschmack nahe steht, sowohl dem linken als auch dem rechten, und der auch in der Rhetorik des jugoslawischen Sozialismus gut vertreten war; außerdem war es nett zu hören, wie die beiden angelernten Rechten mit einem Begriff um sich warfen, der ihnen vermutlich aus Titos Reden in Erinnerung geblieben war. Ihr Gespräch ist mir ebenso lebendig in Erinnerung geblieben wie Evolas These vom „Kollektivismus der modernen Zivilisation“. Nun, als ich ein Jahr später über Ortega schrieb (Anlass war die neue kroatische Übersetzung von Der Aufstand der Massen) und beschloss, in einem kurzen Abriss der Bedeutungen zu beginnen, die der Begriff der Masse in der sozialphilosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts gewonnen hat, galt es nur noch die linken Kritiker der „Massengesellschaft“ hinzuzufügen. Dossier: Zoran Kravar Aber ich möchte erwähnen, dass mich die Schreibweise, die das Nacherzählen einer Begebenheit aus dem Alltagsleben erlaubt, auch deshalb anzieht, weil sie einigermaßen die Atmosphäre meines Arbeitsumfeldes wiedergibt. Rein gedankliche Operationen, aus denen sich meine fachlichen Arbeiten zusammensetzen, verlangen Wachheit und intellektuelle Neugierde, und ihre Resultate können eine bestimmte Art Befriedigung hervorrufen, etwa so wie wenn Sie ein Problem in Computerspielen wie Incredible Machine oder Gravity lösen. Aber das Aufrufen und Festhalten von Erinnerungen erweckt richtige Gefühle, einschließlich ihres physiologischen Ausdrucks, gibt etwas von der Wärme, oder Kälte, zurück, die an Ort und Stelle geherrscht hat. Ich hoffe, dass sich etwas von dieser Sensibilität auch auf die Leser überträgt, und das nicht nur auf jene wenigen, mit denen ich die evozierten Erinnerungen teile. • BOGDAN: In der literaturwissen- schaftlichen Gemeinschaft, in der Sie schon fast vierzig Jahre aktiv tätig sind, hat sich in den letzten Jahren eine Reihe von Paradigmen geändert. Für diese Veränderungen, könnte man, vereinfacht gesagt, sagen, dass sie sich im Zeichen der Aufgabe formalistischer Ansätze zu Nutzen kontextbestimmter Zugänge ergeben haben. Man könnte sagen, dass sich auch Ihre wissenschaftlichen Interessen in derselben Grundrichtung entwickelt haben: von der stilistischen Untersuchung des Barock zu Beginn Ihrer Karriere über die Verslehre hin zu ideologiekritischen Deutungen, sogar bis zu Themen aus dem Gebiet der Pop-Kultur. Sehen Sie auch selber Ihren wissenschaftlichen Weg so? KRAVAR: In der Tat. In meinen ersten Arbeiten habe ich literarische Schöpfungen und ihre Elemente mehr als Phänomene untersucht, aber mit 9 der Zeit habe ich gelernt, sie in ihren historischen Kontexten zu betrachten, gewissermaßen als Epiphänomene. Dennoch habe ich auch in diese „epiphänomenologischen“ Arbeiten mein Wissen über die strukturellen Elemente eines literarischen Werkes eingebracht, vor allem über Figuren und über Versformen. Mehrmals habe ich mich vor der Aufgabe gesehen, die Spuren des Kontextes in einem literarischen Werk auch mit Hilfe einer Analyse der figuralen Sprache oder der Art und Weise nachzuweisen, in der sich ein gegebener Dichter eines bestimmten Metrums bedient. Anfang der neunziger Jahre habe ich eine Arbeit veröffentlicht, in der ich Veränderungen in der lautlichen Organisation in Ujevićs Elfsilbern in Verbindung mit seinem Übertritt aus dem Lager der Rechtspartei in das jugo-nationalistische Lager gebracht habe. Die Absicht, den Sinn eines literarischen Werkes in einem außerliterarischen Code zu betrachten, kann uns zu unterschiedlichen Bereichen der außerästhetischen Wirklichkeit führen. Mich hat am meisten die Durchdringung der Literatur mit Weltanschauungen und Ideologien interessiert. Dabei habe war es notwendig, mich in beiden Richtungen zu bewegen, vom Text zur Ideologie und auch umgekehrt, wie in meinen Büchern über den Antimodernismus. Meine Bekanntschaft mit den regressiven Ideen und Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts hat ja mit philosophischer und theoretischer Lektüre begonnen, später ist mir allerdings bewusst geworden, dass sich im selben Schlüssel manche Gedichte, Erzählungen, Dramen oder Opern interpretieren lassen, die ich schon lange gekannt und in manchen Fällen auch geliebt habe. Auch in den Uljanice behandele ich ideologiekritische Themen und wende mich ausgehend von der Ideologie ihren Übereinstimmungen in der 10 RELA Dossier: Zoran Kravar Thematik und in der Faktur der ästhetischen Schöpfungen zu, selbst dann, wenn ein Kunstwerk als erstes erwähnt wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit bleibt, wie es zum Beispiel mit Krležas Pan in Panska glazba oder Wagners Ring im Essay „Der Ring des Nibelungen als Nebenthema“ der Fall ist. Mitunter verspüre ich aber doch den Wunsch, mich den literarischen Werken und ihren Elementen ohne Nebengedanken an die Interpretierbarkeit ihrer Themen und strukturellen Merkmale in diesem oder jenem weltanschaulichen Code zu widmen. Gern würde ich zum Beispiel zur Verslehre zurückkehren, die ich freilich nie ganz vernachlässigt habe, denn auch wenn ich nicht über Verse schreibe, halte ich Kollegs aus Verstheorie und Vergleichender Metrik. Zwar können wir uns mit Versformen auch ausgehend vom Kontext beschäftigen – das zeigen die Arbeiten meines Lehrers Svetozar Petrović, meines Kollegen Pavao Pavličić und meines Schülers Slaven Jurić, aber auch meine eigenen, vor allem die in jenem Buch versammelten, das den Begriff des Kontextes auch im Titel führt (Stih i kontekst, ‚Vers und Kontext’). Dennoch würde ich heute über den Vers lieber ausgehend von seiner Architektonik schreiben. Auch über dieses Thema ließe sich, obwohl viele glauben, dass es bis ins Letzte erforscht ist, noch allerhand Neues sagen. • BOGDAN: Wie sehen Sie heute Ihre Beschäftigung mit dem Barock? Wie sehen Sie die Rolle des stilistischen Verständnisses des literarischen Barock? Sie waren sein wichtigster Vertreter in unserer Mitte und haben mit die größten Verdienste an der positiven Umwertung der kroatischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Barock als Stil scheint noch immer nicht selbstverständlich geworden zu sein, nicht einmal im engeren Fach, wo man noch immer verallgemeinernd von „barocker Epik“ oder „barockem Vers“ spricht. Muss man das als ein weiteres Beispiel für das Vergessen von schon erlangtem Wissen ansehen, ein Phänomen, TIONS zu dem es heute nicht selten infolge Nacheiferns in Mode stehender Schulen und Zugänge kommt? KRAVAR: Mein Barockverständnis ist aus der Einsicht hervorgegangen, dass die europäische Literatur zwischen etwa 1590 und 1650 dahin gehend uniform ist, dass sie sich des poetischen Ornatus bedient, nicht aber zugleich in Hinblick auf das Gattungssystem, den künstlerischen Charakter oder den gesellschaftlichen Status. Im Europa um 1600 gab es mehrere Konfessionen, mehrere Herrschaftsformen, mehrere Weltanschauungen, aber literarische Werke mit dominanter ästhetischer Funktion und ein Publikum, das fähig war, das Werk als Objekt ästhetischer Kontemplation zu rezipieren, gab es nur in West- und bis zu einem gewissen Grad in Mitteleuropa, wo die literarische Tätigkeit auf den Errungenschaften der Renaissance fußte, d. h. auf der Rezeption der griechischen Kunstphilosophie, der römischen Rhetorik und auf der partiellen Reanimierung antiker Literaturgattungen. Im europäischen Osten RELA TIONS gab es noch immer viel Literatur des Vorrenaissance-Typus, eingeschlossen in das Gattungssystem des Kirchen-, Hof- und Kanzleischrifttums. Aus der Tatsache, dass man eine ähnliche Metaphorik in Gedichten von Madrid bis Kiew finden kann, darf man keine Schlüsse hinsichtlich der Identität des „barocken Menschen“, des „barocken Geistes“, der „Poetik“ u. ä. ziehen. Die europäische Literatur um 1600 ist wie ein Drache mit mehreren Köpfen, aber nur einem Schwanz, und so habe ich mich dafür eingesetzt, den Barock als Periodisierungsbegriff mit universalistischem Anspruch auf den Schwanz zu begrenzen und die Köpfe getrennt zu beschreiben und zu benennen. Aber aus der heutigen Perspektive zieht unsere Barockforschung der siebziger und achtziger Jahre, einschließlich meiner Beiträge, die Aufmerksamkeit nicht nur mit ihren konzeptuellen Lösungen auf sich, von denen meine nur eine war, sondern auch mit ihrem ideologischen Hintergrund. Es wäre interessant, wenn jemand versuchte, die wechselhafte Beziehung der kroatischen Wissenschaft von der Literatur zum Barockbegriff und zu den heuristischen Hypothesen zu deuten, die er mit einschließt. Es würde sich vermutlich erweisen, dass der Begriff den Literaturhistorikern näher und verständlicher war, die den Gedanken an den Einschluss der älteren kroatischen Literatur in den europäischen Literaturhorizont unbelastet akzeptiert und die Modernisierungsprozesse positiv gewertet haben, und dass ihm vor allem jene weniger zugeneigt waren, die an außergeschichtliche ästhetische Universalien (Croceaner wie Haller und Kombol) oder an die lokale, heimische Verwurzelung der literarischen Praxis glaubten, auf die die akademische Literaturgeschichte der fünfziger Jahre setzte. Aus der Perspektive der Gesellschafts- und Politikge- Dossier: Zoran Kravar schichte wiederum ist es evident, dass der mitteleuropäische Multikulturalismus des österreich-ungarischen Kroatiens (Vodnik, Prohaska) und der Europäismus des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts der Rezeption des Begriffs mehr entgegen kamen als das ideelle Klima des Nationalismus der Zwischenkriegszeit und des dogmatischen Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg. • BOGDAN: Kehren wir zu Uljanice i duhovi zurück. Darin beschäftigt Sie, wie auch in Ihren anderen neueren Arbeiten, das Thema des Antimodernismus. Als Antimodernismus sehen Sie, ganz allgemein und vereinfacht gesagt, die weltanschaulichen Gegensätze zu Prozessen der liberal-kapitalistischen Modernisierung. Wie kam es zu Ihrem Interesse für dieses Thema? KRAVAR: Würde man nur nach meinen Bücher urteilen, könnte es wirklich so scheinen, dass der Antimodernismus direkt vom Mars in mein Arbeitszimmer gefallen ist, und das vor relativ kurzer Zeit. Aber so ist es nicht. Auch in der Zeit, in der mich die Öffentlichkeit mehr anhand meiner Arbeiten über den Barock und den Vers kannte, habe ich von Zeit 11 zu Zeit Artikel über moderne Dichter veröffentlicht, vor allem über solche, die in sich die Abneigung gegenüber typischen Erscheinungsformen der modernen Zivilisation mit der Geste weltanschaulicher Regression, mit Nostalgie nach archaischen Formen der Sozialität, mitunter auch mit dem Versuch vereinen, sich in das biologisch Primitive einzuleben, wie in Rilkes Achter Elegie, über die ich in den achtziger Jahren geschrieben habe. Aber mehr als in meinen Arbeiten haben sich die Erfahrungen mit der Thematik, die mein Buch Antimodernizam und fast alles, was ich danach veröffentlicht habe, füllt, in meinem ästhetischen Gedächtnis akkumuliert, und manches auch in meinen Notizbüchern. Das war ein langer Prozess. Auf der einen Seite habe ich immer gern nicht-realistische Literatur gelesen, die im Schatten des Realismus oder nach seiner „Desintegration“ entstanden und in der die Atmosphäre des Zivilisationspessimismus ebenso präsent ist wie die Sehnsucht nach Räumen „wo immer außerhalb dieser Welt“ (Baudelaire). Diese Sehnsucht ist mitunter evasiv, mitunter utopisch, zumeist aber regressiv und regressiv-utopisch, in dem Sinne, dass die Rettung bringende Zukunft als Kopie eines irgend gearteten archaischen Urzustandes gedacht und ihr Kommen einem zyklischen Prinzip untergeordnet wird. An dieses Anfangsinteresse schloss sich die Lektüre essayistischer und philosophischer Texte an, in denen die aus einem Prozess liberal-kapitalistischer Modernisierung hervorgegangene geschichtliche Welt von regressiven Positionen aus kritisiert wird. Früh habe ich Spenglers Untergang des Abendlandes und seinen Antagonismus Kultur – Zivilisation kennen gelernt, und ich habe auch Autoren aus dem Kreis des spiritualistischen und vitalistischen Monismus gelesen, deren Werke parallel 12 zum Symbolismus und zur Sezession in der Kunst entstanden sind. Gleichzeitig habe ich marxistische Kritiken der regressiven Philosophien, Ideologien und Kulturtendenzen gelesen: Lukács’ Zerstörung der Vernunft, Adornos Versuch über Wagner, Blochs Prinzip Hoffnung, Benjamins Baudelaire. Das waren komplementäre Erfahrungen: auf der einen Seite habe ich einen potentiellen Gegenstand der Analyse kennen gelernt, auf der anderen Seite habe ich mich auf die Methodologie seiner ideologiekritischen Durchdringung eingelassen und mich im Erkennen regressiver weltanschaulicher Strukturen, Ideologeme und ihrer Übereinstimmung in Thematik und Faktur ästhetischer Schöpfungen geübt. Dennoch konnte ich Lukácz, Adorno und anderen in einem fundamentalen Punkt nicht zustimmen. Sie erklären nämlich die Kultur der Regression ziemlich einmütig als Symptom der „Degeneration“ oder „Krise“ des Bürgertums. Meine Arbeiten über den Antimodernismus hingegen gründen auf der Annahme einer tripartitischen Teilung des ideologischen Feldes der Moderne und auf der Überzeugung, dass sich antimoderne Ideologien, Kunststile und poetische Phantastereien in offener oder impliziter Polemik mit den Tendenzen und Werten der bürgerlichen Zivilisation herausbilden, und nicht als Begleiterscheinung ihrer Dekadenz. • RELA Dossier: Zoran Kravar BOGDAN: Bisher haben Sie sich hauptsächlich mit dem Antimodernismus in der Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt, und das zuerst in ihren literarischen Welten. Nachdem Sie das viel beachtete Buch über den Antimodernismus in der europäischen Kultur (Antimodernizam, 2003) veröffentlicht hatten, haben Sie sich mit seinen Beispielen im kroatischen Kontext beschäftigt (Svetonazorski separei, 2005, ‚Weltanschauliche Nischen’). Ihr Interessensgebiet im neuen Buch hat sich zusätzlich erweitert. Die Analyse antimodernistischer Tendenzen applizieren Sie hier auf die literarischen Elemente in Opernwerken (Wagner, Szymanowski) und Filmen, aber selbst in der klassischen Musik entdecken Sie antimodernistische, antizivilisatorische Stimmungen. Wohin könnte die Anwendung Ihrer Methode Sie noch führen? KRAVAR: In den Arbeiten vor Uljanice haben ich Bekenntnisse und Figuren regressiver Weltanschauungen und Ideologien hauptsächlich in Texten aufgespürt, seien sie ästhetischer und außerästhetischer Zielrichtung. Das natürlich in Übereinstimmung mit meiner literarisch-philosophischen Bildung. In meinem neuen Buch wiederum, in dem ich mir die Freiheit des Mutmaßens genommen habe, habe ich versucht, die Nachforschung auch auf andere Künste, vor allem auf die Musik auszuweiten. Dabei haben mich am meisten die Korrelate einer der antimodernistischen Weltanschauungen – des Vitalismus – in der Musik zwischen Wagner und dem frühen 20. Jahrhundert interessiert. Ich bin von dem Eindruck aus- TIONS gegangen, dass es den Komponisten dieser Epoche gelungen ist, Stimmungen zu stimulieren und Kontraste entsprechend den gedanklichen Motiven und begrifflichen Antagonismen der Lebensphilosophie zu errichten, wie wir sie in der philosophischen und essayistischen Literatur zwischen dem frühen Nietzsche und Ludwig Klages kennen gelernt haben. Das Gefühl zum Beispiel des Versinkens in das Ur-Eine, der Verlust der in den Prozessen der Individuation errungenen Konkretheit – so wichtig für Nietzsches Deutung des dionysischen Komplex – ist bereits in der Grundlage von Wagners „endlosen Melodien“ und unermüdlicher harmonischer Progressionen deutlich zu ahnen, die uns aus der Erscheinungswelt, aus dem Raum individueller Formen und ihrer Begrenztheit, in eine Art biozentrisches apeiron zu tragen scheinen, in die Sphäre der Dinge an sich. Freilich begleitet der Mythos von der Regression in das Ur-Eine, von der Ekstase in einer Welt ohne Transzendenz, die Reduktion der aus der Klassik und Romantik ererbten musikalischen Mikro- und Makrostrukturen nicht nur als vage synästhetische Suggestion, sondern mitunter auch als vertonter Text. In der Schlussszene des Tristan singt Isolde davon, wie sie mit dem All verschmilzt, und im Finalsatz des Schönberg’schen fis-mollQuartetts verklingen die letzten Parameter der musikalischen Ordnung mitsamt der Tonalität zu den Versen Stefan Georges: „Ich löse mich in Tönen [...] Dem großen Atem wunschlos mich ergebend.“ • BOGDAN: Können die heutigen re- gressiven Weltanschauungen, die eine Nähe zu antimodernistischen zeigen, in den Status öffentlicher Weltanschauungen aufsteigen? Haben sie das Potential für politische Wirkung? Mit anderen Worten, ist es Ihrer Meinung nach möglich, sich RELA TIONS eine solche Veränderung des politischen Lebens in der westlichen Welt vorzustellen, die den Aufstieg antimodernistischer Ideale ermöglichte. KRAVAR: In Uljanice habe ich an mehreren Stellen deutlich gemacht, dass es noch immer Weltanschauungen gibt, die sich strukturell mit denen decken, die ich in meinem Buch über den Antimodernismus analysiert habe, wenngleich mehr an den Rändern der Normalkultur. Ihre Rezidive finde ich hier und da in Texten von Pop- oder Rock-Schlagern, worauf ich in einem Artikel mit dem Titel Razodgajatelj eingegangen bin, aber die umfassende Untersuchung dieser subkulturellen oder kontrakulturellen Sphäre würde ich Jüngeren überlassen, weil ich mich darin zu wenig auskenne. Hätte mir übrigens jener ‚viel jüngere Kollege’ (d. h. Tomislav Bogdan) seinerzeit nicht eine CD der Gruppe Radiohead geschenkt, hätte der Rock in den Uljanice völlig gefehlt. Im selben Artikel habe ich mehr Raum Dan Brown und seinem Roman Sakrileg gewidmet, nachdem ich ein wenig auch in irrationalistische Traditionen und Doktrinen hineingeschaut habe, aus denen er seine Meinungen zum Gnostizismus und zur angeblichen Rolle der Frau und des Sexus in heidnischen Ritualien bezogen hat. Ich habe ebenfalls versucht zu zeigen, dass sich dieses Denken so ziemlich mit der vitalistisch-monistischen Interpretation heidnischer Religiosität und mit dem Konzept der Liebe in der Lebensphilosophie vom frühen Nietzsche bis zu Klages’ „kosmogonischem Eros“ deckt. Zu guter Letzt habe ich in Uljanice am Beispiel eines Buches von Sean Kane auch mit den Ideen der ökologischen Holisten beschäftigt, bei denen die systemtheoretischen Annahmen der naturwissenschaftlichen Ökologie im irrationalistischen Schlüssel re-interpretiert werden. Während für den Naturwissenschaftler die natürli- Dossier: Zoran Kravar 13 che Umwelt ein System ist, ist sie für die Holisten ein intelligentes Wesen. In Kanes Buch über die paläolithische Mythologie als einer Alternative zur modernen Philosophie und Wissenschaft (Wisdom of the Mythtellers) habe ich eine Menge über die „Intelligenz der Erde“ und über Jäger und Sammler gelesen, die sich dieser Intelligenz, im Unterschied zu den zivilisierten Menschen, unterordnen und sie weitergeben, ohne zu versuchen, sie durch die Idee des Subjektes zu versklaven. Aber lassen Sie mich zu Ihrer Frage zurückkehren. Nein, ich erwarte stehen und Funktionieren genügt es, dass der Einzelne, als Arbeitnehmer oder als Arbeitgeber, dem im Arbeitsprozess und im Geschäftsleben verdinglichten prozeduralen Rationalismus folgt. In welchem Schlüssel wir allerdings die Letzten Dinge mit Sinn erfüllen – im aufklärerischen oder im christlichen, im vitalistischen, spiritualistischen oder materialistischen – ist Privatsache. Darin unterscheidet sich der Kapitalismus vom realen Sozialismus, der so, wie ihn sich seine Initiatoren und Realisatoren gedacht haben, auf weltanschauliche Fragen empfind- nicht, dass aus solchen Weltanschauungen Impulse zur Herausbildung eines korrektiven oder sogar konservativ-revolutionären politischen Willens kommen könnten. Das Höchste, was sie können, ist, dass sie die Einzelnen vereinsamen oder sie zu Randgruppen der Gesellschaft zusammenzwängen. Denn sie keimen auf ideologischem Niemandsland, in Räumen, von denen die auf kapitalistischer Ökonomie und auf Eigentümerverhältnissen gegründete Gesellschaftsordnung, die sie diktiert, die Hände gehoben hat. Das kapitalistische System ist nämlich nicht weltanschaulich präskriptiv. Für sein Be- lich und repressiv reagierte. Von den Bürgern der sozialistischen Länder wurde erwartet, dass sie – zumindest öffentlich – nicht nur an den Parteikurs und an den Rationalismus der Wirtschaftspolitik glauben, sondern auch an jenen ganzen Komplex ontologischer, kosmologischer und geschichtsphilosophischer Prämissen, die gemeinsam die „Dialektik der Natur“ und den „historischen Materialismus“ bilden. Ein Autor mit den Ideen Sean Kanes würde dort im Gefängnis oder in der Irrenanstalt landen. Zwar wurden auch im Sozialismus, vor allem in der Lyrik und in der Erzählprosa mit Elementen von 14 Phantastik, Formen von Diskursen toleriert, in denen sich unorthodoxe Weltanschauungen maskiert als Auslöser von Verwunderung ausleben konnten, aber das abhängig vom Wo und Wann. • RELA Dossier: Zoran Kravar BOGDAN: In Uljanice entdecken Sie also Überreste des Antimodernismus auch in einigen Sektoren der modernen Welt, von unterschiedlichen esoterischen und populärwissenschaftlichen Lehren bis hin zur Pop-Kultur. Scheint Ihnen nicht, dass der Begriff damit ein wenig an Präzision verliert? Den Antimodernismus haben Sie ja ursprünglich präzise mit der Epoche der weltgeschichtlichen Moderne verbunden, also mit der Zeit um 1900. Ich will es erklären: wird der Antimodernismus – anstatt als bewusstes ästhetisches Programm oder als sein ideologischer Hintergrund – als „jenes Irrationale“ im Einzelnen gesehen, das zur Rückkehr in die Totalität tendiert, wird er damit nicht überpräsent, bekommt er dadurch nicht einen konstanten transhistorischen Anstrich? Da der Mensch nicht nur ein Wesen der Rationalität ist, sondern Atempausen und „Nischen“ braucht, wie sehr ist es da gerechtfertigt, den reinen Abscheu vor der bürgerlichen Zivilisation und die Angst vor dem Partikularismus der modernen Welt als Antimodernismus zu bezeichnen? KRAVAR: Natürlich bin ich mir bewusst, dass die heutige irrationalistische Szene viel mehr umfasst als Gedankengebilde und Visionen, die mit den Ideen der kanonischen Antimodernisten vergleichbar oder sogar verbunden sind. Da gibt es alles Mögliche: religiösen Radikalismus, Aberglaube und Determinismus, Reinterpretation der Quantenmechanik und des Urknalls im spiritualistischen Schlüssel, Jung’sche Psychologie; es gibt den Hellseher, den Sterndeuter, den Exorzisten, den Hexer, den Lehrer. Das ist ein nicht zu überblickender Komplex, der bisher weder beschrieben noch durchforscht wurde, aber seine Ätiologie ist uns im Großen und Ganzen klar. Seine Gedanken lässt sich auf der einen Seite mit der bereits erwähnten Tatsache erklären, dass Irrationalismus und Aggressivität gegenüber den Errungenschaften der Aufklärung nicht verboten sind, während es auf der anderen Seite bedingt ist durch gesellschaftliche Veränderungen. Es scheint nämlich, dass in den modernen Gesellschaften die Demokratisierung rascher vorangegangen ist als die Edukation, was bedeutet, dass auch Gesellschaftsschichten zum Ausdruck gekommen sind, die keine auf den Resultaten moderner Natur- und Geschichtswissenschaften gegründeten Bildung erworben haben. Sie haben eigene Kanäle der öffentlichen Kommunikation, eigene Zeremonien, aber ihr Geschmack und ihr kollektives, von der Prozessen der aufklärerischer Demythologisierung nicht erfasstes Bewusstsein wird maßgebend auch für den Markt ideeller und kultureller Güter. Die Antwort des Marktes ist eine kräftige Welle ästhetisch gestalteter Irrationalismen, die sich in den Produkten der Pop-Kultur ausbreiten und allmählich auch in die Sphäre der Hochkultur eindringen. Wie aber in diesem Durcheinander die Spuren antimodernistischer Theorien wiedererkennen? Ihre Tiefenstruktur, ausgehend von den klassischen Texten, habe ich in einer spezifischen Geschichtsphilosophie gefunden, die die gesamte menschliche Phylogenese in eine vormoderne Urzeit, gewöhnlich jenseits des historiografischen Gedächtnisses angesiedelt, ungeschichtlich und zirkular, und in eine lange Periode der Modernität teilt. Die Moderne beginnt, anders als in unseren kulturgeschichtlichen Periodisierungen, nicht mit dem Hu- TIONS manismus oder mit der Aufklärung, sondern mit Sokrates (Nietzsche), mit den Vorsokratikern (Guénon), mit dem Christentum (Klages), mit dem Zusammenbruch der Kastenordnung (Evola). Die Übermacht der vormodernen Gegenwelt liegt darin, dass in ihr immer eine Form von Vertrautheit zwischen Mensch und Totalität bestanden hat, wobei man sich Totalität in verschiedenen weltanschaulichen Codes vorstellt, zumindest als biozentrische Verflochtenheit alles Bestehenden (Nietzsche, Klages, Lawrence) oder als hierarchische Traditionsgemeinschaft mit einer Elite, deren Legitimität aus der Transzendenz gewährleistet wird (Guénon, Berdjajew, Evola). Der moderne Mensch hingegen ist ein egoistischer Individualist, und so entzieht sich ihm die Gesamtheit des Bestehenden. Sie transzendiert den Horizont seiner weltanschaulichen Konstruktionen und Erkenntnisinteressen: aufklärerische Philosophien von Mensch und Geist, exakte Wissenschaften, ökonomischer Egoismus. Als Rezidive des Antimodernismus in der heutigen Kultur erlebe ich jene Gedankengebilde und künstlerischen Visionen, in denen dieser fundamentale geschichtsphilosophische Entwurf repliziert wird. Seine vielleicht ganzheitlichste Reinkarnation habe ich in jener Untergattung des ökologischen Denkens gefunden, den ich irrationalistisch oder holistisch genannt habe. Es ist in den Uljanice mit dem Buch des erwähnten Sean Kane vertreten, wo die paläolithische Gegenwelt, als das Zeitalter des menschlichen Gehorsams gegenüber der Intelligenz der Erde, von der langen Epoche des Anthropozentrismus geschieden wird, die vom Neolithikum bis heute dauert. Es tut mir leid, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich auch anderen Zivilisationspessimisten zuzuwenden, die von ökologischen The- RELA TIONS orien ausgehen, zuallererst Thomas Berry (The Dream of the Earth) und Daniel Quinn (Beyond Civilization), aber sollte ich erneut über die moderne Kultur der Regression schreiben, werde ich sie im Sinn haben. Die letzten zwei Jahre habe ich mich sehr für die Rezidive des Antimodernismus in einer populären Literaturgattung, in der sog. Hochphantastik (high fantasy), interessiert, am meisten bei Tolkien und seinen Vorgängern, bei Eddison und Lord Dunsany. Alles Mögliche habe ich gefunden: vorzeitliche Gegenwelten, deren Bewohner im Einvernehmen mit den numinosen Mächten oder in enger Durchdringung und im Gleichgewicht mit der Pflanzen- und Tierwelt leben; dämonische dark lords, die umstrittene Trends der modernen Zeit (instrumentaler Geist, technische Ausbeutung, politischer Hegemonismus) erkennbar allegorisieren; gesalbte Herrscher, die die Vorstellung antimodernistischer Etatisten von der transhumanen Herkunft der Traditionselite zu verkörpern scheinen. Das Resultat dieser Nachforschungen und Einsichten ist ein kleineres Buch, das in Kürze erschei- Dossier: Zoran Kravar nen soll. Sein Titel ist Kad je svijet bio mlad (‚Als die Welt jung war’), was natürlich ein Zitat aus Tolkien ist (Silmarillion). Über Tolkien und die Hochphantastik habe ich in der letzten Zeit auch Kollegs für meine Studenten gehalten. Alle haben sie Der Herr der Ringe gelesen, und einige kennen ihn wie die Zeugen Jehovas die Bibel. Ich musste sehr darauf achten, nicht Merry und Pippin (nach ihrer Funktion) oder Gildor und Galdor (nach dem Klang) zu verwechseln. Die letzte Revelation allerdings habe ich im Kinematografen erlebt. Unlängst hat mich die Jugend aus meiner Familie ins Kino zum Avatar mitgenommen, und da habe ich mir schon nach einer halben Stunde vor Zufriedenheit die Hände gerieben. Im Film wird das Leben einer vormodernen Gesellschaft – zwar auf einem anderen Planeten angesiedelt, aber entsprechend den antimodernistischen Phantasien vom Vorzeitmenschen konzipiert – ausgiebig im Geiste des vitalistischen Biozentrismus charakterisiert, selbst in den szientistischen Diskussionen gelehrter Erdbewohner, in denen, 15 ähnlich wie beim Thema midi-chlorians im Krieg der Sterne, biologistische Semantik und holistische Syntax umgeschichtet werden. Symptomatisch ist auch die Diesseitigkeit des Heiligen (die Göttin als Baum), ein bekanntes Motiv aus vitalistischen Deutungen heidnischer Religiosität, denen zufolge sich der Heide nicht vor einer transzendenten Gottheit verneigt, sondern die „Göttlichkeit dieser Welt“ (Klages) verehrt. Die Szene des Gebetes über dem getöteten Tier wirkt, als wäre sie aus Kanes Mythtellers übernommen. Dennoch trägt der Konvertit auch die Verschlagenheit des modernen Geistes in die Urgemeinschaft, denn er manipuliert rational mit ihren Mythen. In gewisser Weise ist er noch immer der Yankee am Hofe König Arthurs. • BOGDAN: Vor ein paar Jahren sind sie aus Zagreb in die Isolation der Berge bei Samobor übersiedelt, wo Sie sich ungestört der wissenschaftlichen Arbeit und Ihrer großen Leidenschaft, der klassischen Musik, widmen. Ist auch Ihre Übersiedelung eine spezifische antimodernistische Nische? 16 RELA Dossier: Zoran Kravar das Bergland von Samobor habe ich mich in der Hauptsache aus praktischen Gründen entschieden. Ein Mensch meines Faches, meines Alters und ähnlicher Interessen hat gewöhnlich schon viele Bücher, CDs, DVDs angehäuft, schreibt auf dem Computer, hat Hi-Fi, hat oder möchte ein Hauskino, aber all das verlangt Platz. Zu dem kommt man wiederum viel günstiger auf dem Dorfe als in der Stadt oder in den Vorstadtsiedlungen. Zum anderen verlangen hören, wissen sie, dass ich zu Hause bin und dass sie etwas bekommen werden, wenn sie die Treppe erklimmen und miauen. Auf die Idee, mich in Zagreb aufzuhalten, so weit das meine Fakultätsverpflichtungen erfordern, und die übrige Zeit hier zu verbringen, hat mich auch gebracht, dass ich mich in der Landschaft wohl fühle: unter Bäumen, auf der Flur, im Wald, auf dem Berg. Das Wohlgefühl im natürlichen Ambiente, der Reiz, den das Sirren der Insekten hervorruft, das sowohl meine professionelle Arbeit als auch meine Mußestunden Stille, und die habe ich in den Stadtvierteln, in denen ich früher gewohnt habe, nicht in ausreichendem Maße gehabt. Schließlich bin auch ich mit meinen Hauskonzerten ein potentiell unangenehmer Nachbar, und so schien es mir moralisch korrekt, mich an einen Ort davonzustehlen, wo ich niemandes Arbeit oder Schlaf störe. Hier kann ich auch in den Sommermonaten, wenn Türen und Fenster offen stehen, höchstens die Dorfhunde in Aufruhr bringen oder die Katzen aus den Nachbarhöfen anlocken. Katzen sind Geschöpfe mit feinem Gehör, sie mögen keinen Lärm, aber wenn sie Musik aus meiner Mansarde Rauschen der Baumkronen, der Duft der Wiesen, die Sinuskurve des Bergrückens, sie gehören natürlich zu den geschichtlich bedingten „Kulturreaktionen“. Das habe ich auch mehrere Male bewiesen in den Analysen von Gedichten mit Landschaftsthematik. Aber letztlich sind alle unsere Neigungen und Abneigungen gesellschaftlich mittelbar und geschichtlich bedingt, was sie aber nicht weniger intensiv macht. Und noch etwas: während ich hier in den Bergen bin, bin ich nicht in Zagreb, und so bleibe ich verschont von seinen verschiedenen Disfunktionen und seinen unschönen Ambienten, deren es leider viele gibt. Wenn ich aus meinem Bauernhaus kommend KRAVAR: Ich denke nicht. Für TIONS den Weg zum Nachbardorf einschlage, um dort Frischkäse und Sauerrahm zu kaufen, kommt mir manchmal der Gedanke: wäre ich jetzt in Zagreb, müsste ich in den nächstgelegenen Supermarkt, was für mich eine Fahrt mit dem Vorstadtbus bis zum Busbahnhof Črnomerec bedeutet. Dieser Terminal ist ein unfreundlicher, urbanistisch undefinierter peripherer Raum, wo österreichische Kasernen, baufällige Häuschen aus der Vorkriegszeit, sozialistische Zehnstöcker, gestrige Neubauten und Punkte unseres kommerziellen Neokapitalismus, von tragbaren hölzernen Verkaufsständen bis zu Verkaufshallen mit dem Präfix super- und megaunmittelbar nebeneinander stehen. Beispiele solcher urbanistischen Unausgegorenheiten, chaotische Umsetzungen anachronistischer Ideen, von denen keine einzige stark genug war, den Raum von einigen Hektar zu beherrschen und eine gute Architektur und eine harmonische oder zumindest funktionale Gesamtheit zu erzeugen, gibt es in Zagreb mehr als genug, und die Konfrontation mit ihnen deprimiert. Schließlich wären auch die Artikel, die ich in einem der Supermärkte um den Terminal kaufen würde, wie Frischkäse und Sauerrahm, nicht vergleichbar mit den Erzeugnissen aus dem Nachbardorf. Auch die Katzen haben einen Löffel heimischen Sauerrahms lieber als den aus dem Plastikbecher. Aber Scherz beiseite, ich liebe auch die Städte, und auch in Zagreb gibt es hübsche Straßen und Plätze, sagen wir, zwischen der Frankopanska und der Draškovićeva, wo Sie einen gemütlichen Spaziergang mit einem Besuch in einem der Buchläden oder CD-Shops verbinden können. Es gibt noch schöne urbanistische Komplexe zwischen der Austrijska und der Frankopanska und östlich der Börse, nur ist dort der Verkehr dicht, es gibt keine anziehenden Läden und Cafés und auch keine gute Beleuchtung, RELA TIONS nichts, was sie in einen Ort zum Flanieren verwandeln würde. Natürlich auch hier unter der Plješivica habe ich die Gewohnheiten und Sensibilität eines urbanen Menschen beibehalten. Von der Idee, mich mit einem Garten zu beschäftigen, habe ich nach ein, zwei Monaten kümmerlicher Versuche Abstand genommen und dieses Geschäft Leuten überlassen, die es gegen vernünftige Entlohnung wahrzunehmen wissen, und meinen hiesigen Aufenthaltsort habe ich von Anfang an als Stadtwohnung eingerichtet. Ich habe mich nach meiner Ankunft hier nicht auf die Suche nach alten Schränken, Truhen und Holzuhren gemacht, sondern habe rational zugeschnittene Regale und Arbeitstische bestellt, habe einen Teil der Bücher hergebracht, einen Computer installiert und die in Zagreb begonnenen Arbeiten fortgesetzt. Nebenbei, auch der größte Teil von Uljanice ist hier entstanden. Und dann, hier gibt es keine besondere Isolation. Die Menschen machen gerne Ausflüge, und so empfange ich hier öfter Besuch, als es der Fall war, solange ich in der Stadt lebte. • BOGDAN: Immer mehr Menschen sind heute in der Lage, sich für marginale, alternative Lebensweisen zu entscheiden. Und doch, die Listigkeit der liberal-kapitalistischen Ordnung kommerzialisiert die eigenen Gegenwelten, indem sie aus ihnen oft käufliche Lebensstile macht. Wenn jede Kritik und jeder Widerspruch zur Ware wird, stumpft ihr subversives Potential ab. Bedeutet das tatsächlich, wie man heute oft hört, das neoliberale Ende der Geschichte? KRAVAR: Ich bin kein ausgesprochener Anhänger von Theorien, denen zufolge mit diesem Angebot des Irrationalismus – gezielt, böswillig und kennerisch – irgendein „Hexenmeister“ („Kapital“, „System“, Establishment) in der Absicht auftritt, die Dossier: Zoran Kravar Masse zu verdummen und ruhig zu stellen. Eher ist hier eine Form der Selbstregulierung am Werk, eine sozialgeschichtliche Analogie der natürlichen Selektion: auf dem Markt gibt es immer alles, aber das Interesse der Masse ist auf Produkte gerichtet, in deren Struktur und Thematik sich ihre Mentalität und ihre Interessen widerspiegeln. Wenn eine Ware laufend verfügbar ist, finden sich natürlich Erzeuger und Vermittler auf dem Schauplatz ein, aber als Nutznießer einer schon bestehenden Konjunktur. Würden die Massen plötzlich Gefallen an Marienbad finden, hätten wir alle fünf Jahre ein Remake. Der Gedanke vom Ende der Geschichte ist mir irgendwie fremd, obwohl ich Fukuyamas Buch desselben Titels, in das viel geschichtsphilosophisches Wissen eingeflossen ist, mit Interesse und mit Respekt gelesen habe. Ich denke, dass die menschliche Welt, solange sie unter den Sternen und Galaxien existiert, unvollkommen, unvollendbar und veränderlich sein wird, aber auch insoweit geschichtlich, wie sie, entgegen allen antimodernistischen Phantasien, geschichtlich von Anfang an war, seitdem der Mensch von den Bäumen gestiegen ist. Nur gibt es in diesem Augenblick den politischen Willen 17 oder die organisierte Kraft, die das neoliberale fait accompli in Frage stellen könnte? Ich sehe nicht, wer der Initiator und wer der Ausführende seiner Metamorphose in Richtung „nachhaltiger Entwicklung“, eines unternehmerischen Systems mit starker staatlicher Kontrolle oder sogar des Sozialismus sein könnte. Mir scheint, dass das menschliche Substrat in Form des organisierten und gebildeten Proletariats, auf das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Marx’sche kommunistische Programm stützte, heute nicht mehr existiert. Und dann, wäre eine solche Bewegung großen Stils auch wünschenswert, was würde sie für unser Privatleben bedeuten? Revolutionen, wie auch Kriege, treiben uns unter den Standard der Toleranz, den wir für normal halten, denn sie zwingen uns die Einteilung der Menschen in Eingeschlossene und Ausgeschlossene, die Perzeption von Gleichgesinnten und Andersgesinnten als Realabstraktionen auf. Sehen Sie sich an, was dieser Tage in Griechenland geschehen ist. Soweit ich informiert bin, hat sich die Masse auf der Linie antikapitalistischer Ideen in Marsch gesetzt, hat eine Bank als Symbol der Ordnung in Brand gesetzt und den Feu- 18 RELA Dossier: Zoran Kravar erwehrleuten den Weg versperrt. Die Perzeption des Bankbeamten als systemimmanentes Schräubchen und als Klassenfeind hat die normalen menschlichen Reaktionen wie Rücksicht und Mitgefühl blockiert. Ich möchte nicht in solche Geschehnisse verwickelt sein, weder als Beobachter noch als Opfer, noch als Täter. Auf der anderen Seite ist die Versuchung groß. Heute befinden sich die Zügel in so wenigen Händen, dass wir uns in Diskussionen über die weltgeschichtliche Situation fast ausschließlich mit Vor- und Nachnamen zufrieden geben können. Vor ein paar Jahren habe ich Mike Davis’ Artikel Planet der Slums über die Massenmigrationen der Agrarbevölkerung in der unterentwickelten Welt gelesen, über die Ausbreitung wilder Siedlungen an der Peripherie größerer Städte und über die Formen der Armut, die dort herrscht. Davis beweist, dass diese katastrophalen Trends durch Entscheidungen leicht auszumachende Institutionen mit kleinen Gremien an der Spitze ausgelöst wurden. Es scheint, dass es heute reale Abstraktionen nur noch unten gibt, während oben alles auf eine Handvoll Namen aus der Sphäre des großen Kapitals, der Weltpolitik, des Militärkomplexes und des Terrors reduziert ist. Auch auf der Rechten sehe ich keine organisierten Kräfte, aber es gibt die Befürchtung, dass das liberale Zentrum immer mehr nach rechts rücken könnte, denn sein ärmlicher ökonomischer Rationalismus ist kein Bollwerk gegen irrationale Versuchungen, denen jene verfallen, in deren Händen viel militärische und ökonomische Macht konzentriert ist. Was das Schlimmste ist, der Umschlag kann auch vor sich gehen, ohne dass wir es bemerken, ohne jenen manifesten Irrsinn, der Mussolinis und Hitlers Aufstieg an die Macht begleitet hat. Es ist möglich, dass die Rituale der Demokratie und ihr Name, Wahlen, Parteien und Parlament bleiben, aber mit einem Staat, der noch weniger als der heutige die Schiedsrichterrolle zwischen Kapital und Arbeit wahrnimmt, und mit Großmächten, die alle Augenblick neokoloniale Kriege beginnen, und an die Stelle der gestürzten Autokraten in „ersten demokratischen Wahlen“ gewählte Kollaboranten setzen. Demokratien, die solche Kriege führen, sind nicht demokratisch. In einer effizienten Demokratie wären die Menschen, die keinen ungerechten Krieg wollen, immer in der Mehrheit. • BOGDAN: Obwohl Sie ein humanis- tischer Wissenschaftler sind, zeigen Sie ein ausgesprochenes Interesse für die Naturwissenschaften und betonen deren formative Rolle in ihrem Heranwachsen und intellektuellen Reifen. Wie den szientistischen, naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt in unserer Mitte möglichst zugänglich zu machen? Er ist, wie Sie zu Recht sagen, immer weniger vertreten, die oberflächlich Gebildeten stellen in der heutigen Gesellschaft die Mehrheit, zu ihnen gehören auch die politischen Eliten. Brauchen wir heute wirklich, wie das C. Hitchens am Ende seines TIONS Buches God is not Great. How religion poisons everything behauptet, eine neue Aufklärung? KRAVAR: Über die Welt in Anlehnung an die Errungenschaften der exakten Wissenschaften und an das Verständnis von Geschichte frei von mythologischen und metaphysischen Elementen nachzudenken, war normal in der Zeit meines Heranwachsens. In den fünfziger Jahren nahm mich mein Vater mit in die Sternwarte in der Zagreber Oberstadt, wo ich mich an Mondvulkanen und Saturnringen begeisterte und Vorträge der Professoren Divjanović und Randić über das Sonnensystem hörte. In den Sechzigern, als wir schon in Zadar lebten, gingen wir abends gern in die Foša, jenen kleinen Hafen am Ende der Riva, wo wir aus der Finsternis heraus am Himmel nach beweglichen Himmelskörpern suchten, nach Satelliten. Die Prinzipien, auf denen die Naturwissenschaft basiert – dass die Systeme der natürlichen Welt selbstregulierend sind, dass die anorganische Materie in unserem Universum älter ist als das Leben und das Bewusstsein – sind ein Teil meiner Weltanschauung geblieben, so sehr ich später in meinem Studium und meiner Arbeit mit Philosophien bekannt geworden bin, die an den Uranfang das (göttliche, absolute) Bewusstsein oder das Leben setzen. Auch heute interessiert mich, was in den naturwissenschaftlichen Gebieten vor sich geht, und so lese ich hier und dort den Scientific American und populärere Werke angesehener Autoren, zum Beispiel Steven Weinberg oder Richard Dawkins. Kritisch eingestellt bin ich allerdings gegenüber Versuchen der Naturforscher, aus ihren Theorien philosophische Systeme und so genannte finale Theorien zu machen. Was mich bei solchen Versuchen abstößt, ist die starke reduktionistische Tendenz, die besonders bei Theoretikern der Elemen- RELA TIONS tarteilchen anzutreffen ist. Werden wir denn, wenn wir die subatomare Mikrowelt erklären, die Grundlagen für eine „Theorie des Ganzen“ bekommen? Lukács hat in seinem Buch Die Zerstörung der Vernunft den Gedanken Charles Morris’ verlacht, dass der Bleistift auf seinem Schreibtisch nur der „verrückte Tanz von Elektronen“ sei, aber gute antireduktionistische Argumentationen gibt es auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. In diesem Sinne hat mir der Artikel More is Different des Physikers Philip W. Anderson aus den siebziger Jahren viel bedeutet. Ganz vereinfacht ist seine These, dass jede Wissenschaft eine fundamentalere Wissenschaft voraussetzt, die indessen nur Einheiten der höheren Wissenschaft erklärt, aber nicht zugleich ihre Systeme. Auf der Ebene der Systeme entsteht im Bereich jeder Wissenschaft etwas Neues, nicht auf die Systeme der niederen Wissenschaft Rückführbares. Heute wird das Emergenz genannt und im Rahmen der Komplexitätstheorie studiert. Die Regel der Emergenz setzt die Autonomie der Wissenschaft voraus, ungeachtet des Grades der Deriviertheit oder der Elementarität der Systeme, mit denen sie sich beschäftigt: Physiologie ist keine angewandte Chemie; Psychologie keine angewandte Physiologie. Es stimmt, ein wenig bin ich überrascht, dass ich mein Interesse für die erwähnten Themen nur mit einer kleineren Anzahl von Kollegen aus den humanistischen Fächern teile, und noch mehr, wenn ich im Gespräch mit den Menschen spüre, dass sie über die Errungenschaften der natürlichen Evolution wie Augen, Ohren, Fledermausradar oder Salamanderhaut bewusst oder unbewusst im Rahmen der Theorie vom „intelligenten Design“ nachdenken. Ich weiß nicht, wie heute die Schulbücher aus den naturwissenschaftlichen Gegenständen aussehen und wie viel Dossier: Zoran Kravar die heutige Jugend aus ihnen lernen kann. Mir scheint aber doch, dass es immer weniger Menschen gibt, vor allem junge, die bereit sind, aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaft weltanschauliche Konsequenzen zu ziehen. Das steht sicher in Verbindung mit den Wellen des Irrationalismus, über die wir bereits gesprochen haben, und ein Gutteil auch mit dem Einfluss der Kirche. Von Beginn der Neunziger bis heute habe ich mehrere Texte unserer Theologen gegen Darwins Theorie gelesen, aber auch das Urteil, dass für sie kein Platz in den Schulprogrammen sei. Die christlichen Kirchen begreife ich als Vereinigungen von Bürgern, die an die Erlösung durch Jesus Christus glauben, und so ist mir ihre Tendenz verständlich, die Welt auf eine Weise zu re-interpretieren, die erlaubt, dass im Alten und Neuen Testament beschriebene widernatürliche Ereignisse, wie zum Beispiel Josua die Sonne still stehen lässt oder Jesus Wasser in Wein verwandelt, stattfinden konnten. Es wäre, scheint mir, akzeptabel, dass die Kirche auch ein paralleles Schulwesen entwickelt, wo Natur- und Humangeschichte als Handschrift göttlicher Vorsehung gedeutet wird, aber es ist schlecht, dass aus diesen Kreisen Forderungen erhoben werden in Verbindung mit Programmen, die für staatliche Schulen vorgesehen sind. In Verbindung mit dem Ideal der neuen Aufklärung melden sich Fragen und Zweifel ähnlich jenen, die die Überlegungen zum Ersatz der neoliberalen Ordnung durch eine andere begleiten. Nämlich: wer wird der Aufklärer sein, und wer das Publikum. Für jede gesellschaftliche Veränderung ist die Einwilligung breiter, was bedeutet, auch schwächer gebildeter Schichten notwendig, aber meine Erfahrungen mit Menschen, die dieser gesellschaftlichen Sphäre angehören, geben keinen Anlass zu Optimismus. Ihre Weltanschauung 19 beruht zum großen Teil auf irrationalistischen Prämissen wie Fatalismus, Verschwörungstheorien, Theozentrismus, Kreationismus. Mit anderen Worten, es scheint, dass heute die neue Aufklärung nur von den potentiellen Lehrern herbeigewünscht wird, nicht aber auch von den Schülern. In Verbindung mit dem Bewusstsein der unteren Schichten, konkret, dem der Arbeiterschaft, werde ich Ihnen eine Anekdote aus meiner Lehrtätigkeit erzählen. Unlängst habe ich in einem Kolleg über den ideologiekritischen Zugang zum literarischen Werk Lukácz’ Thesen zum Bewusstsein des Proletariats und dessen Vormacht gegenüber dem Bewusst- sein der Bourgeoisie re-interpretiert. Als ich jene Stelle aus seinem Werk Geschichte und Klassenbewusstsein zitierte, wo er davon spricht, dass die Arbeiterklasse, im Unterschied zu allen vorhergehenden, einen Blick jenseits ihres Klassenprogramms geworfen und die Erkenntnis gewonnen hat, dass das Klasseninteresse der Motor der Geschichte ist, brachen die Studenten in Gelächter aus. Dieses Lachen war völlig spontan und ideologisch unschuldig, ohne die mindeste ständische Borniertheit 20 RELA Dossier: Zoran Kravar oder Boshaftigkeit, denn ich denke, dass die Studenten unseres Instituts ohnehin eher linken Gesellschaftstheorien zuneigen. Aber der Gedanke, dass die Arbeiterklasse der beste Geschichtsphilosoph sei, sticht von ihren Erfahrungen mit den Themen ab, über die die Menschen unterhalb der mittleren gesellschaftlichen Ebene denken und reden. Aber ist Aufklärung dann wirklich die beste Wahl, wenn die Rede ist von Ausgangsbasen für eine Kritik des Irrationalismus und für die Verhinderung seiner möglichen Rückkehr auf den politischen Schauplatz? Die Aufklärung hat sich große Verdienste in den Bestrebungen um die Demystifizierung von Herrschaft und die Stärkung der demokratischen Legitimatierung der Herrschenden erworben, sie hat den Einfluss der Kirche in den bürgerlichen Schichten zurückgedrängt und das Lesepublikum, dessen ästhetische Bedürfnisse im 17. Jahrhundert von Tuba novissima oder Pia desideria befriedigt worden waren, mit der Zeit zu Candide und Wilhelm Meister geleitet. Aber der limes seiner Rationalität war das gute Funktionieren der Marktökonomie und die Prosperität der bürgerlichen Klasse. Seine ökonomischen Theorien, vor allem sein Vertrauen in die Fähigkeit des Marktes, das Privatinteresse in ein öffentliches Gut zu verwandeln, sind schon zu den Zeiten kläglich gescheitert, die uns Dickens und Zola beschreiben, und selbst der Mythologismus des Rings des Nibelungen oder, heute, der ökologische Holismus des Avatar sind spezifische Warnungen vor dem Bösen, das in die Welt kommt, wenn der Marktwert das Maß aller Dinge wird, sei es das Gold aus den Nibelungenhöhlen oder das Erz vom Planeten Pandora. Natürlich plädiere ich nicht für eine Lösung der modernen Weltprobleme durch eine Rückkehr ins Diluvium. Schön, oder zumindest kitschig, ist es nur in künstlerischen Werken, wo es die Rheintöchter mit ihrem Gesang verherrlichen oder wo die Weidenruten des Götterbaumes schimmern. An der heutigen anti-liberalen Front gibt es korrektive Modelle, die rationaler und thematisch umfassender sind als die Gesellschafts- und Staatsphilosophie der Aufklärung, und die den Wohlstand aller Gesellschaftsschichten – was gewissermaßen auch bei der Sozialdemokratie der sechziger und siebziger Jahre der Fall war – und die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen im Blick haben. Mir persönlich sind die Gemäßigteren näher, die die Freiheit des Privatunternehmertums, Konkurrenz und Markt mit einschließen, aber unter effizienter Kontrolle durch den Staat. Leider hat noch keine dieser Theorien eine Plattform für die Sammlung einer Partei um ein Programm ergeben, obwohl es in der modernen Gesellschaft keine bessere Methode zur politischen Willensbildung gibt. Jetzt sind wir in einer paradoxen Situation: in der theoretischen Literatur hat sich viel gesellschaftskritischer Verstand konzentriert, aber auf den Straßen hat sich eine Menge Energie angesammelt, die immer zerstörerischer wird. Und wenn die Straße die Ordnungen einreißt, sind die Folgen gewöhnlich schlecht. Es mangelt an warmem Wasser, die Menschen räumen die Läden leer, die Straßenbahnen bleiben stehen. Aber auch Köpfe rollen, schuldige wie unschuldige. • BOGDAN: Ich denke, es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass Sie Ihr Leben der elitären Hochkultur gewidmet haben. Wie ist ihr Schicksal in der heutigen Gesellschaft, in einer Zeit des Simplifizismus, wenn in den Medien das „öffentliche Wissen“ trivialisiert wird und wenn selbst unter den Literaturstudenten nicht selten der Logik der Popkultur und der Massenmedien gefolgt wird? Ist nicht eine Ursache Ihres Interesses für antimodernistische TIONS Tendenzen gerade die Tatsache, dass sie, obwohl vielleicht weltanschaulich anstößig, ästhetisch attraktiv sein können und dass sie in der Regel der Hochkultur angehören? KRAVAR: Es stimmt, dass ich mich als Leser und als Genießer von Werken der Bildenden Kunst, vor allem aber als Musikhörer, an die kulturelle Sphäre gebunden habe, die wir als hoch oder elitär bezeichnen, obwohl ich denke, dass man für sie einen besser geeigneten Namen finden müsste, weniger provokant für Outsider, die auch nicht mehr nur den „nicht-elitären“ Gesellschaftsschichten angehören. Heute kann es Ihnen passieren, dass Sie auch in einer durchaus als vornehm zu bezeichnenden Gesellschaft, anstatt Boccherini oder Couperin, Pink Floyd oder Santana als Musikkulisse zu hören bekommen. Aber auch ich habe in meinen Lebensabschnitten Kontakt mit der Pop-Kultur gehabt. In der Jugend hat mich Rockmusik angezogen, und Fellini und Bergman habe ich nach einer Unmenge Western, Abenteuerfilme und Kriegsspektakel gesehen. Auch im Rahmen des Faches habe ich mich nicht exklusiv an die Hochkultur gebunden: als Barockforscher habe ich mich nicht selten auch mit frommen Volksbüchern (Gebetbüchern, Erzählsammlungen, Gesangbüchern) beschäftigt, und unlängst habe ich mich, als Lehrender und als Analytiker, auf high fantasy eingelassen, was ich in den letzten paar Jahren ziemlich intensiv gelesen habe, mitunter nur aus fachlichem Interesse und ohne größere Befriedigung – besonders wenn es sich um Phantastik in der Nachfolge Tolkiens handelte – aber manchmal auch mit Elan, wenn Tolkiens Vorgänger an der Reihe waren, von denen mir ganz besonders Lord Dunsany gefallen hat. Er ist zwar ein inkonsistenter Schriftsteller, aber in kürzeren Sachen, vor allem in seinem ersten Buch The Gods RELA TIONS of Pegana, versteht er es, orakelhaft, epiphanisch, metaphysisch geistreich zu sein. Heute bin ich ‚Elitist’, vor allem, wenn es sich um Musik handelt. Ernste Musik tagein tagaus zu hören habe ich gegen Ende meiner Gymnasialzeit begonnen, zuerst über das Zagreber Dritte Programm, dann von Langspielplatten und später von CDs, deren Zahl in meiner Sammlung parallel zu meinem Status und Standard gewachsen ist. Mit der Zeit habe ich die Fähigkeit erworben, auf musikalische Sprache etwa zwischen Monteverdi und der minimal music emotiv zu reagieren, obwohl ich zumeist Kompositionen aus der Zeit zwischen Wagner und der frühen Avantgarde höre. Ansonsten scheint mir die Musik stärker als andere Künste vom Rückgang der Rezipientenbasis betroffen zu sein. Junge Leute, mit denen ich Kontakt habe, lesen ohne Schwierigkeiten kanonische Literaturwerke und werden sich gern Antonionis L’Avventura oder Tarkowskis Stalker ansehen, finden aber sehr viel schwerer den Weg zu Beethovens Streichquartett oder Mahlers Sinfonie. Das könnte mit der Tatsache zu tun haben, dass ein großer Teil der Literatur und der Film fast zur Gänze auf einer Geschichte basieren, einer Tiefenstruktur, die am leichtesten die Neugierde weckt und die Aufmerksamkeit aufrecht erhält. Ein Musikwerk kann dem ungeübten Ohr amorph erscheinen: es gibt nichts, um sich daran festzuhalten oder es im Gedächtnis zu behalten. Wenn Sie Anfängern erklären, dass auch hier eine Form besteht, wenn Sie ihnen sagen, „siehst du, dies ist das erste Thema, dies ist die Brücke zum zweiten, und diese Melodie der Oboe, das ist das zweite Thema“, entstehen Voraussetzungen zum Werkverständnis und für eine anders geartete Beziehung zu ihm. Vielleicht ist für die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Hoch- Dossier: Zoran Kravar kultur auch der Unterricht in den künstlerischen Gegenständen im Rahmen der gymnasialen Mittel- und Oberstufe verantwortlich. Ich weiß nicht, unter welchen Bedingungen er heute abläuft, aber zu meiner Zeit mangelte es ihm fatal an technischer Infrastruktur. Es gab zwar Lehrer voller Enthusiasmus, aber die Schulen verfügten weder über Plattenspieler noch Phonotheken, und für die Bildende Kunst standen in der Hauptsache Schulbücher mit unscharfen Schwarz-weiß-Reproduktionen zur Verfügung. Die Schüler antworteten auf Fragen nach Chopins Nocturnes oder nach Giottos Fresken auf Grund dessen, was sie darüber bei Trude Reich beziehungsweise bei Momčilo Stefanović gelesen hatten. Wenn in meinem Fall alles dabei geblieben wäre, hätte ich mich neulich um eine Karte für das Deep Purple-Konzert angestellt. Aber ich mache natürlich einen Scherz. Diese Band ist eine der letzten, die ich in meiner Jünglingszeit gehört habe, und als ich jetzt die Ankündigung ihres Zagreber Konzertes sah, habe ich tatsächlich überlegt, ob ich hingehen solle, einfach so, aus Nostalgie. Ich habe darauf verzichtet, nachdem ich in Wikipe- 21 dia gelesen hatte, dass sie von den Sechzigern bis heute sieben Mal die Zusammensetzung geändert haben. Wenn von ästhetischen Schöpfungen die Rede ist, die im antimodernistischen Schlüssel interpretierbar sind: viele von ihnen sind früh in mein Gesichtsfeld geraten, als ich für ihre ideologischen Implikationen noch nicht sensibilisiert war. Aber als ich diese Sensibilität erworben hatte, war es schon zu spät, und so ist mein Verhältnis zu ihnen ambivalent. In Uljanice räume ich das an mehreren Stellen ein, zum Beispiel wenn ich über Krležas Pan oder über Szymanowskis Oper Król Roger spreche, und auf jeden Fall auch in dem Essay über den Ring des Nibelungen. Ich denke, ich habe seine antimodernistische Natur deutlich genug hervorgehoben und charakterisiert und sie mit der dunklen Seite in Wagners Biografie verbunden, mit seiner offenen gezeigten und hartnäckigen Vorliebe für reaktionäre und gefährliche Ideologien, aber man sieht auch, dass mir der Ring als ästhetischer Gegenstand unersetzbar ist. Und in der Tat, einige seiner Szenen, zum Beispiel der doppelsinnige Zusammenprall zwischen Siegfried und Wotan, zwischen Schwert und Speer, im dritten Akt von Siegfried oder zu Beginn des zweiten Aktes von Walküre, wo sich Wotan im Voraus über Siegmunds Sieg freut, wo ihn dann aber Fricka, Schritt für Schritt argumentierend, zu der Einsicht bringt, dass Parteilichkeit gegenüber Siegmund im Widerspruch zu den Prinzipien seiner Gesetzesherrschaft steht, würde ich zu dem Besten zählen, was vom Drama des 19. Jahrhunderts, ob vertont oder unvertont, auf uns gekommen ist. Auf einige der Werke mit regressiven Botschaften bin ich nur deshalb gestoßen, weil sie dem Kanon angehören und man deshalb allerorten über sie spricht, um mir erst später Gedanken über die Qualität ihrer Ideologi- 22 RELA Dossier: Zoran Kravar siertheit zu machen, aber seit sich in mir das Interesse am Antimodernismus verfestigt hat, hat sich der Korpus der relevanten Werke zielgerichtet erweitert. Irgendwo lese ich zum Beispiel ein Zitat über die Schönheit des archaischen Lebens und über die Schrecken des modernen und suche nach der Quelle. Oder ich stoße in einer Geschichte der englischen Literatur auf eine Zusammenfassung von Lawrences Die gefiederte Schlange (zwei angesehene Mexikaner wollen aus ihrem Land das Christentum vertreiben und den alten Aztekenglauben wiederbeleben), und schon springe ich zu Amazon und bestelle. Wie gesagt, mit der Zeit hat sich das Korpus nach unten hin erweitert, in Richtung Popkultur. Werke wie König Roger, wo die Hauptfigur ihre Nächsten zu überreden versucht, einen archaischeren Glauben als den eigenen anzunehmen (in Verbindung damit ist mir der Gedanke vom „Rück-Erzieher“ als einer typischen Figur der JugenstilLiteratur gekommen), oder der Ring, wo mit dem Zerbrechen von Wotans Speer und der Rückkehr von Alberichs Ring in den Rhein allegorisch die Bilanz der bürgerlichen Modernisierung annulliert wird, las- sen freilich keinen Zweifel über ihre ideologische Rückwärtsgewandtheit aufkommen. Trotzdem, wer sich mit ihnen beschäftigt, muss nicht auch selbst Antimodernist sein, das um so weniger, wenn der ästhetischen Befriedigung ein Quentchen ideologiekritische Vorsicht beigegeben ist. Im Unterschied zu den die-hardRegressiven glaube ich nicht, dass der Feuerbrand von Walhall oder der dionysische Wahnsinn, den Szymanowskis Pasterz um sich verbreitet, Rezepte für eine Neuordnung der realen Welt wären. Im Übrigen schließt mein Kanon auch viele Werke gegenteiliger Botschaften mit ein. Er schließt genau genommen nur jene aus, in denen die aktuelle politische Korrektheit allzu direkt belletrisiert wird. Davon gibt es allerdings heute sehr viele. Korrektheit ist wichtig im Alltags- und im Berufsleben, auch wenn sie immer ideologisch ist. Der humanistisch gebildete Mensch, der akzeptiert, dass in seinem Leben nichts selbstverständlich und routinemäßig ist, und dass jede Zustimmung gewissermaßen auch ein Verkauf der Seele an den Teufel ist, dürfte auch in Hinblick auf die Normen der Korrektheit keine Illusionen haben. • TIONS BOGDAN: In Uljanice i duhovi gibt es auch Beobachtungen zur Krise des Bildungssystems. Sie haben auch die Bologna-Reform der Hochschulbildung angeschnitten. Der Arbeitskräftemarkt wird, so scheint es, auch jene schlucken, die ihn als Universitätsprofessoren füttern. Sie sind ordentlicher Professor an der Abteilung für vergleichende Literatur der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb. Wie sehen Sie auf Grund ihrer reichen Lehrerfahrung die Lage der Universitätslehrer heute? KRAVAR: Ehrlich gesagt bin ich in Uljanice weit entfernt von institutionellen Fragen in Verbindung mit der Universität. Ich bin vor ihnen ‚in die Pampas’ geflüchtet, wie der verrückt gewordene Geograf bei Ilf und Petrov ausruft, dürstend nach Freiheit von der Krankheit, vom Irrenhaus, wohl auch vom Sozialismus. Das Buch habe ich so, wie ich es geschrieben habe, vermutlich auch deshalb geschrieben, weil ich mich schon einige Zeit lang im Status des zweimal gewählten ordentlich Professors befinde, und ich mich keiner Wiederwahl mehr stellen muss. Texte wie Panska glazba (‚Panmusik’) oder Razodgajatelj (‚Der Rück-Erzieher’) würde ich nicht auf die Liste der Facharbeiten setzen. Die Bologna-Reform habe ich wohl irgendwo erwähnt, und wenn ich es getan habe, dann mit kritischen Beigedanken, als Versuch, mittels Umgestaltung der universitären Lehre den Markt für qualifizierte Arbeitskräfte zu befriedigen. Die Möglichkeit, zwischen einem dreijährigen und einem fünfjährigen Studium zu wählen und mit insgesamt drei Jahren Hochschulbildung den Schritt ins Arbeitsleben zu machen, habe ich als Ausdruck des systemhaften Bedarfs an mehr fachlich als intellektuell profilierten Kadern verstanden. Aber der Reform ist jetzt die Rezession zuvorgekommen, so dass bei der RELA TIONS Suche nach Beschäftigung sowohl die Drei- wie die Fünfjahresabsolventen Schwierigkeiten haben. Außerdem herrschen in der EU immer mehr kapitalintensive Produktionsformen vor, bei denen der Profit bei niedrigem Beschäftigungsstand erzielt wird, und auch durch Entlassung. Die Reformen, wie sie waren, sind für die Bildungseinrichtungen ein großes Elend, denn sie beschäftigen sich seither anstatt mit fachlichen Themen mit sich selbst. Das habe ich schon einmal erlebt, zu Beginn meiner Karriere, Mitte der siebziger Jahre, als die Universität entsprechend dem Organisationsmuster der jugoslawischen Selbstverwaltung umstrukturiert werden sollte. Ach, was hat man damals getagt und gesessen! Aber das einzige positive Resultat bestand darin, dass wir uns der Reform irgendwie widersetzt haben: neben einer Reihe unschädlicher administrativer Innovationen blieben die wesentlichen Dinge – die Arbeit mit den Studenten, die Aufnahme junger Kader, das Beförderungssystem – wie sie waren. Und als in den achtziger Jahren OOUR und SIZ* die jugoslawische Wirtschaft zu Boden zwangen, arbeitete die Universität weiter und überstand selbst die kataklysmischen historischen Veränderungen von 1990 ohne große Erschütterungen. Obwohl ich seit 1984 dem Professorenstand angehöre, verfüge ich kaum über Erfahrungen, die als Ausgangspunkt für allgemeinere Schlüsse über den Sinn meiner Profession dienen könnten. Einerseits habe ich meine Berufszeit, mit kleineren Unterbrechungen, im selben Ambiente verbracht, im Kreis der Zagreber Komparatistik, und wäre ich zu Beginn meiner Karriere irgendwo anders gelandet, würde meine Erfahrungen sicherlich andere sein. Wie oft ich Dossier: Zoran Kravar mich in anderen philologischen Abteilungen, heimischen und ausländischen, umgesehen habe, hat es immer Ähnlichkeiten und Unterschiede gegeben. Andererseits habe ich nur in professoralen und in darauf vorbereitenden Berufen gearbeitet, und so fehlt mir das Bewusstsein dessen, was für mich die Arbeit in irgendeinem anderen Beruf bedeuten würde. Ich kann mir natürlich vorstellen, dass meine fachliche Tätigkeit und meine Mußestunden dann ganz anders und mit unterschiedlichen Inhalten organisiert wären. Wie auch sonst alles bei uns in den letzten zwanzig Jahren normalisiert sich auch das Universitätsleben in dem Sinne, dass es sich den westlichen Standards annähert. In der Zeit des sozialistischen Staates standen wir in einem gespannteren Verhältnis zur Staatsgewalt, obwohl politische Einmischungen in die Personalpolitik oder politische Repression gegen Universitätsleute verhältnismäßig wenig zu verzeichnen waren. Ekzessive Ausübung von Druck wurde in der Geschichte des Instituts nach der Zerschlagung des kroatischen politischen Kurses von 1971 verzeichnet, war aber kein typisches Vorkommnis. In den Siebzigern und frühen Achtzigern zeichneten sich Versuche ab, die gesamte Kultursphäre, die humanistischen Fakultäten eingeschlossen, einer ideologische Kontrolle zu unterwerfen, aber die Befürworter einer solchen Politik hatten Opponenten auch in der Partei und es gelang ihnen nicht, genügend Gefolgsleute um sich zu scharen. In den neunziger Jahren bekamen wir eine Regierung, die, obwohl gewählt und liberal im prozeduralen Sinne, anfangs die Tendenz zeigte, das gesamte Kulturleben neu zu überdenken, um es in die Funktion der nationalen Idee zu stellen und 23 den „bösen Geist des Kommunismus“ aus ihm zu vertreiben. Aber im Leben meiner Fakultät war das nur insofern zu spüren, als ein Teil der Kollegen auf der Seite der „geistigen Erneuerung“ stand und ein Teil sich implizit oder explizit widersetzte. Es war das eigentlich ein Zeichen, dass wir in eine Periode demokratischer Spielregeln eingetreten waren: freie Wahl zwischen Alternativen und offene Austragung von Gegensätzen und Verschiedenheiten. In diesem Moment, der vielleicht auch der äußerste Schritt unserer Okzidentalisierung ist, haben bei uns Politiker die Oberhand gewonnen, die endlich begriffen haben, dass die Stabilität der Regierung vom Funktionieren des Ex- und Imports, von der Ab- oder Zunahme der Beschäftigung, von den Gehältern und Pensionen, und nicht von der feierlichen Begehung der Krönung Tomislavs oder von der Finanzierung kulturgeschichtlicher Monografien abhängt. Für sie sind wir in der Hauptsache als Nutznießer des Staatshaushaltes interessant, und unsere Tätigkeit gehört ohnehin zur Sphäre der akademischen Freiheiten und Autonomien. Selbst wenn wir uns gegen die politische Philosophie, auf der ihre Pläne und Schachzüge beruhen, aussprechen, geschieht nichts Besonderes. Es erweitert sich nur das unkontrollierte Niemandsland, das wir uns mit Utopisten und Regressiven, mit Nüchternen und Schlafwandlern teilen. Alle Fotos von Professor Zoran Kravar wurden von Martina Kenji aufgenommen Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof * Zwei Organisationsformen innerhalb der sozialistischen Selbstverwaltung in Jugoslawien: OOUR = Osnovna organizacija udruženog rada (‚Grundorganisation der vereinten (assoziierten) Arbeit’); SIZ = Samoupravna interesna zajednica (‚Selbstverwaltungs-Interessengemeinschaft’). RELA 24 TIONS Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush LUKA BALJKAS, geboren 1974 in Zagreb, Kroatien. 2002-2009 lebte und arbeitete er in Osttimor, Afghanistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ausstellungen: Band-e Amir, PIO Compound B, Kabul, Afghanistan (2008); Shapes of Hindu Kush, Gallerie MMC, Rovinj, Kroatien; MMSU, Mali Salon, Rijeka, Kroatien; Gallerie Zuccato, Poreč, Kroatien, Einzelausstellung; Stadtmuseum, Kroatisches Foto des Jahres, Varaždin, Kroatien (2009) Auszeichungen: Kadar, Fotografenportfolio des Jahres, Photodays Festival, Rovinj, Kroatien (2009) Seine Bilder wurden in der kroatischen Ausgabe des National Geographic veröffentlicht, im Kabul Press org, der Zeitschrift Globus, den Tagesblättern Večernji list, Jutarnji List und Glas Istre, diversen Portalen, Web-Seiten, einigen UN Publikationen und Magazinen, bei Getty Images... www.baljkas.com RELA TIONS 25 Der Ring des Nibelungen als Nebenthema [2008 – 2009] Zoran Kravar E s gibt Musikzyklen, mit denen ich mich länger und ausdauernder beschäftigt habe als mit Wagners Ring, aber auch ihm habe ich einen erheblichen Teil meiner Freizeit gewidmet. Leider habe ich wenig von ihm auf der Bühne gesehen (nur Rheingold und Walküre), und in der Zeit der Vinyl-Tonträger besaß ich gerade einmal zwei oder drei Schallplatten mit überwiegend orchestralen Ausschnitten. Seit er allerdings auf CD und DVD zugänglich ist, nutze ich das Angebot der zahlreichen Versionen (CD: Solti, Böhm, Karajan; DVD: Boulez/Chéreau, Levine/ Schenk, Barenboim/Kupfer und zum Teil auch Rattle/Braunschweig) häufig als Ausrede für neue Hör- und Seh-Abenteuer. In der Tat ist es ein Unterfangen, eine mehr oder weniger kontinuierliche Beschäftigung mit dem Ring in der wenigen Zeit unterzubringen, die einem als Privatperson zur Verfügung steht. Wenn ich mich entschließe, eine neue Kassette zu öffnen oder mich wieder einer alten zu widmen, nehme ich mir gewöhnlich vor, sie in vier Tagen abzuarbeiten, aber das gelingt mir selten. So kommt etwa nach der Walküre oder dem Siegfried ein Tag, an dem sich die Unterrichtsvorbereitung in die Länge zieht, an dem mir das Schreiben mehr Zeit abverlangt als sonst, an dem es sich mit Kapiteln zu beschäftigen gilt, die eine doctoranda oder ein doctorandus abgeliefert haben, und ich mich zu einer eintägigen Pause entschließe, die aber auch länger werden kann. Ebenso passiert es mir, dass ich mit einem der drei Dreiakter an einem späten Abend beginne und nach Mitternacht feststelle, dass es doch klüger wäre, ihn auf zwei Tage aufzuteilen. Für mich als Rezipienten ist der Ring also alles andere als nebensächlich. An den Tagen, die ich ihm widme, werden die regulären Programme meines Berufs- oder Privatleben zur Nebensache: seinetwegen schiebe ich das Studium der Fachliteratur und den Abschluss bestellter Texte auf, vergesse das Essen und Trinken, stelle das Telefon ab. Nebensächlich indessen ist mir der Ring als Thema zum Nachdenken. Da ich keine musikwissenschaftliche Ausbildung genossen habe, bin ich ihm gegenüber aufgeschlossen allein mit meiner ästhetischen Aufnahmefähigkeit, ohne die Möglichkeit, als Fachmann an ihn heranzugehen. Aber nicht selten drängt sich der große Komplex an musikalischen Motiven, Bühnenszenen, charakterologischen Konstruktionen, Gno- men, sprachstilistischen Schöpfungen und poetisierten Ideologemen als unwillkürliche Assoziation in meine Gedanken, bisweilen in Gestalt einer in fremder Musik antizipierten oder übernommenen Klangstruktur, bisweilen als dramatische Szene, verwandt jenen aus der Literatur, die ich gerade lese, oder als szenisches Ereignis, mit dem sich ein Gedanke aus der laufenden literaturtheoretischen, soziologischen, psychologischen, philosophischen und sonstigen Lektüre illustrieren ließe. Dabei habe ich manchmal das Gefühl, zum Ring auch manche Einsicht gewonnen zu haben, natürlich nur, wenn sich die Überlegungen auf seine literarischen Elemente richten, die nun einmal in meine Fachkompetenz fallen. Im weiteren Text beziehe ich mich auf einen Abschnitt meines Lebens und meiner Arbeit, in dem der Ring des Nibelungen nach der beschriebenen Logik tagtäglich aus der Erinnerung aufstieg. Obwohl auch damals das tiefe Es aus der Ouvertüre zum Rheingold, „Wotans Unmut“ (WA II, 1) und die Parade der Leitmotive im Finale der Götterdämmerung ihre Rolle spielten, lag das Hauptgewicht auf den Worten, und so wird es auch hier sein. Das könnte unter Umständen Unmut bei musikalisch 26 RELA Dossier: Zoran Kravar gebildeten Lesern hervorrufen, die über Vokalmusik und ihre poetischen Vorlagen nicht gesondert räsonnieren mögen. Auf der anderen Seite ermutigt mich die Literatur zu Wagner oder speziell zum Ring, die ich in den letzten Jahren in den Händen hatte (Lacoue-Labarthe 1991; Candoni 1998; Magee 2000; Borchmeyer 2002; Kitcher – Schacht 2004; Steinacker 2008) und in der die literarische Seite des Rings ausführlich besprochen oder sogar in den Vordergrund gestellt wird: Fabel, Figuren, Handlungen, Dramatik, wörtliche und eventuell latente Bedeutungen, weltanschauliche und ideologische Implikationen. Trotz scheinbarer Einseitigkeit haben sich alle diese Bücher als ein interessanter und mehr oder weniger nützlicher oder provokanter Lesestoff erwiesen, und viele ihrer Seiten haben mich bewogen, die Anlage einzuschalten und nach den Kassetten und CDs zu greifen. *** Nie zuvor habe ich über den Ring als Gelegenheitsthema so viel nachgedacht wie im Frühjahr und Sommer des Jahres 2003, als ich an meinem Buch über den Antimodernismus schrieb (Kravar 2003). Darin habe ich, zur Erinnerung, den weiten und undefinierten Begriff des Antimodernismus auf eine Gruppe von Weltanschauungen eingeengt, die wir als spezifische Gegenprojekte zur bürgerlichen Moderne, zu ihren Institutionen und ihrer Propagierung auf ideologischer Ebene erleben und deren Anfänge in der Literatur und Philosophie und im ideologischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen. Außer der Negierung des modernen geschichtlichen Zustandes ist ihnen auch eine besondere Geschichtsphilosophie gemeinsam, in der die welthistorische Moderne (für die meisten von uns die mit den bürgerlichen Revolutionen beginnende Epoche) radikal verlängert wird. Ihr Beginn wird in die tiefe Vergangenheit gelegt, und als ihre Symptome werden „negative“ historische Veränderungen auf dem Gebiet des philosophischen Denkens, der Religionskultur, des menschlichen Selbstverständnisses und des gesellschaftlichen Lebens erkannt: das Vergehen der heidnischen und die Ausbreitung der jüdisch-christlichen Religiosität (oder, bei den Verfechtern christlicher Restauration, die Affirmierung des humanistischen Atheismus), das Aufkommen der rationalistischen Philosophien und der exakten Wissenschaften, die Entzauberung und technische Ausbeutung der Natur, anthropozentrische Weltanschauungen und individualistisches Selbstbewusstsein des Menschen, Rationalisierung der politischen Sphäre. Was noch ungewöhnlicher ist: die Moderne wird dabei der Geschichte gleichgesetzt, wobei auch die Geschichte selbst eine negative Bedeutung bekommt. Bei allen antimodernistischen Autoren finden wir nämlich die feste Überzeugung, dass der vorzeitliche Zustand, der der Moderne voranging, nicht historisch, sondern in sich vollendet und unwandelbar oder zyklischem Wandel unterworfen sei und das Leben der menschlichen Gemeinschaften und ihr Verhältnis zur natürlichen Welt erst mit dem Untergang der vormodernen Vorzeit historisch werde. Freiheit von Geschichte, von Geschichtlichkeit, von linearer Temporalität und Fortschrittsdenken ist natürlich auch dem transmodernen Zustand immanent, sofern ihn die gegebene Doktrin überhaupt vorsieht, d. h., sofern sie die eschatologische Vision eines Ausgangs aus der modernen Zivilisation mit einschließt. Auf diese Weise verstanden, ließe sich die gesamte Dauer der menschlichen Welt in folgendem Schema veranschaulichen: Vorzeit – Moderne (= Geschichte) – Endzeit TIONS Das Schema schließt auch einen Werteunterschied zwischen den ungeschichtlichen Gegenwelten und der Moderne mit ein, wobei sich ihre Formulierung ändern kann, je nachdem wie der jeweilige Autor seine Vorzeit und eventuell seine Endzeit konstruiert. Mitunter sind sie nämlich im Geiste des vitalistischen Monismus als ein Zustand dionysischer Durchdringung alles Bestehenden (Friedrich Nietzsche, Alfred Schuler, Ludwig Klages, D. H. Lawrence) oder, in Anlehnung an den gestalttheoretischen Holismus, als menschliche Gemeinschaften mit Merkmalen systemhafter Ganzheit (Ernst Jünger, Edgar Julius Jung) gedacht. Andererseits gibt es auch Gegenwelten, die in Anlehnung an dualistische Philosophien und in Form einer hierarchisch organisierten Gemeinschaft mit einer (christlichen oder nichtchristlichen) theokratischen Elite an der Spitze entworfen sind, deren transzendente Legitimierung auch von den niederen Kasten bedingungslos akzeptiert wird (Julius Evola, René Guénon, Nikolaj Berdjajew). Etwas jedoch ist allen Gegenwelten gemeinsam: in jeder von ihnen ist ein direkter, spontaner und vorrationaler Anteil an der Gesamtheit des Bestehenden möglich, sei es, dass sie als vitalistisches „AllLeben“, als ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile, oder als aus dem Jenseits legitimierte hierarchische Ordnung begriffen wird. Der Anteil an der Totalität ist das Privileg, das die Bewohner der vormodernen oder transmodernen Welten vom modernen Menschen unterscheidet. Diesen verwandeln sein Rationalismus, sein egoistisches Geschäftskalkül, sein demokratischer Egalitarismus und – wenn er gläubig ist – seine monotheistische Religiosität, die die diffuse Numinosität der Vorzeit durch den Glauben an eine personalisierte Gottheit ersetzt, in ein quasi-transzendentales Subjekt, RELA TIONS dessen Ökonomie, Theorie, Wissenschaft und Philosophie nur schmale, aus der Perspektive pragmatischer irdischer Interessen relevante Bereiche der Totalität abdecken. Dass sich über den Büchern, die ihre Unsympathie gegenüber der Moderne in der beschriebenen Weise inszenieren, mitunter die Erinnerung an Abende und Nächte einstellt, die ich in Gesellschaft des Rings des Nibelungen verbracht habe, sollte nicht verwundern. Denn auch der Ring und sein Autor sind mit dem antimodernistischen Ideenkomplex auf mehrfache Weise verbunden. Zuallererst erinnere ich daran, dass uns Wagner, außer als geschichtliche Person, auch als Held eines einflussreichen geschichtsphilosophischen Schemas mit antimodernistischem Hintersinn entgegentritt, jenes aus der Geburt der Tragödie von Nietzsche. Dort ist ihm die Aufgabe zugefallen, mit seiner musikalischen Dramaturgie die Wiedererlangung des Heils zu verkünden, die die europäische Kultur angeblich mit Sokrates und Euripides verloren hat, d. h. des dionysischen Anteils am „All-Leben“ und des Mythos’ als einer dem sokratischen und sonstigen Rationalismus überlegenen Weltanschauung. Aber was noch wichtiger ist, Wagner hat auch selbst – im Ring, und später auch im Parsifal – Handlungen in Szene gesetzt, die sich in Zahl und Reihung der Glieder mehr oder weniger mit den antimodernistischen geschichtsphilosophischen Szenarien decken. Auch hier geschieht es nämlich, dass die mit Ethos ausgestatteten, von Motiven bewegten und durch Pläne geleiteten Figuren, die sich als Verkörperung des antimodernistischen Begriffs vom modernen Menschen interpretieren lassen, den vorzeitlichen Zustand der Welt (Wotan, Alberich) beziehungsweise die durch eine transzendente Autorität gewährleiste Ordnung der hierarchischen Gemeinschaft (Klingsor) stören. Dossier: Zoran Kravar Die Erzählungen, auf denen die beiden Musikdramen fußen, scheinen mir jedoch als Ausgangspunkt für ein Gespräch über Wagner und den Antimodernismus nicht in gleicher Weise geeignet zu sein. Den Vorzug würde ich dem Ring geben. Freilich darf auch Parsifal in diesem Gespräch nicht ganz außer Acht gelassen werden, denn seine szenisch dargestellte und narrativ ergänzte Handlung scheint tatsächlich so etwas wie einen antimodernistischen Mythos vom durch modernistische Aggression ausgelösten Untergang der Vorzeit und von ihrer Wiederherstellung zu schildern. Reduziert auf das Wesentliche beinhalten ihre Etappen: • die Störung der traditionellen Ordnung (Klingsor raubt, mit Hilfe Kundrys als Verführerin, die heilige Lanze und verwundet Amfortas); • die Zeit der Krise (Amfortas stellt den Gralsdienst ein und verursacht damit den Tod seines Vaters, des alten Königs Titurel); • die Wiederherstellung der alten Ordnung (Parsifal zerstört Klingsors Machtzentrum, bringt die geraubte Lanze zurück, tauft Kundry und betritt die Gralsburg, um das Ritual zu erneuern). Ebenfalls von Wichtigkeit ist, dass das gemeinsame Leben der Gralsritter vor und nach der Krise in rituell kreisender und ungeschichtlicher Zeit verläuft, ähnlich wie in den vorzeitlichen Gegenwelten der antimodernistischen Literatur (vgl. Gurnemanz’ Erklärung für den umherirrenden Parsifal: „Zum Raum wird hier die Zeit“), und dass sich Klingsor und sein Séparée als die Verkörperung negativer Stereotype über die moderne Welt interpretieren lassen: sein hortus deliciarum, wie ihn sich Theodor Adorno vorstellt, könnte die „phantasmagorische“ Stilisierung eines großstädtischen Bordells sein (Adorno 1974, 87), sein Palast ei- 27 ne Kombination aus Observatorium und Laboratorium, während das Orchestervorspiel zu seinem Auftritt zu Beginn des zweiten Aktes nicht weniger mechanische Maschinenmusik ist als Honeggers Lokomotive (Pacific 231) oder Mosolows Завод (‚Die Eisengießerei ‘). Auf der anderen Seite bleiben die beiden Räume der Parsifal-Handlung zumindest auf der wörtlichen Ebene begrenzt. Sie sind nicht die Welt, und ihr Konflikt ist keine Weltgeschichte. Rings um sie breiten sich – wie wir aus den Repliken mehrerer Figuren erfahren – Räume, die sich auf keinen von ihnen reduzieren lassen („Arabien“, von wo Kundry den Balsam für Amfortas bringt, Orte, an die sich Gawan „auf neue Suche“ nach Balsam begibt, „Wald“ und „wilde Aue“, woher Parsifal kommt, „üpp’ges Heidenland“, in dem sich Klingsor ursprünglich aufgehalten hat), während ihre Gründung als zeitlich nahes Ereignis erwähnt wird: aus den Repliken Gurnemanz’ zu Beginn des ersten Aktes erfahren wir, dass die Gralsburg von Titurel errichtet wurde, der im selben Akt als Lebender auftritt, und dass auch Klingsor sein Schloss mit dem „Wonnegarten“ für die zur Sünde neigenden Gralsritter selbst entworfen und erbaut hat. Mit anderen Worten, Parsifal ist, zumindest auf der textuellen Ebene, die Geschichte von zwei gesonderten und besonderen Räumen, und es ist fraglich, ob man da eine umfassende Tiefenstruktur in Form einer Geschichtsphilosophie suchen darf, wie wir sie in der Grundlage antimodernistischer Texte finden. Ich selber glaube freilich, dass sich auf einer höheren Ebene als der textlichen der Konflikt zwischen Gralsburg und Klingsors weltlichem Subuniversum im angedeuteten Sinne deuten ließe, was man ebenso akzeptieren wie zueückweisen kann. Zum Glück darf, wer sich dem Antimodernismus bei Wagner auf die 28 RELA Dossier: Zoran Kravar Fährte setzt, dem unsicheren Parsifal den Ring des Nibelungen vorziehen, dessen thematische Welt tatsächlich „Welt“ ist. Während man Parsifal erst in eine Art theatrum mundi versetzen und seine begrenzten Motive allgemeiner fassen müsste, umfasst die Thematik des Rings mit ihrem großen Umfang einen vollständigen fiktionalen mundus. Die Unterwasserwohnstatt der Rheintöchter, das Gestade des Rheins mit Walhall, Riesenheim, Nibelheim, der Walkürenfelsen, der Wald mit Mimes Höhle und Fafners Behausung, Brünnhildes Felsen, Gibichungenland bilden zusammen ein ganzheitliches Universum, vergleichbar den „Sekundärwelten“ der literarischen Phantastik (vgl. Clute – Grant 1997, s. v. „Secondary World“). Zudem ist auch die Handlung im Ring nicht begrenzt, sondern deckt die gesamte zeitliche Dauer seiner Themenwelt ab, in der Spannweite von frühmorgendlicher Unschuld bis hin zur Götterdämmerung. Sie ist die Geschichte dieser Welt und insofern „Weltgeschichte“. *** Die Thematik des Rings des Nibelungen setzt sich bekanntlich aus Inhalten der germanischen Mythologie und der Erzählüberlieferung zusammen. Die wichtigsten Quellen sind (vgl. Magee 1993) die Lyrik und Prosa der Edda (die gesamte Tetralogie, vor allem Rheingold), die Völsungasaga (Walküre, Siegfried), die Thidrekssaga (Siegfried) und das Nibelungenlied (Götterdämmerung). Außerdem kannte Wagner auch die Dramentrilogie Der Held des Nordens (1810) des romantischen Dichters Friedrich de la Motte Fouqué, der vor ihm den Versuch gemacht hatte, aus den separaten oder nur lose miteinander verbundenen Teilen der altgermanischen Überlieferung ein ganzheitliches Werk zu schaffen. Er machte das mit mehr Zurückhaltung und nahm sich weniger Freiheit heraus als Wagner, der den mittelalterlichen Fabeln viel Eigenes hinzufügte, einschließlich den Haupterzählstrang, die so genannte Ring-Erzählung. Odins (Wotans) Ring Draupnir, erwähnt in der Edda, konnte dieser Erzählung nur als indirekte Anregung dienen. Denn nicht nur das Schicksal beider Ringe ist unterschiedlich, sondern der Ring bei Wagner trägt auch Merkmale und wirkt in Handlungen mit, die die mythische Narration umlenken, zerstreut überlieferte Geschehnisse in ein Dramenkontinuum zusammenpressen und den Rahmen der mythischen Imagination auch verlassen. Der Ring des Nibelungen ist der Garant weltlicher Macht, die auf der Ausbeutung fremder Arbeit und auf der Akkumulierung von Werten in Form von Gold und Geschmeide basiert, wodurch er dem literarischen Imaginarium und der sozialphilosophischen Problematik des 19. Jahrhunderts viel näher ist als den mythischen und epischen Vorlagen. Als solcher ist er auch einer der Hauptgründe, der mir die Annahme eines Antimodernismus bei Wagner einer Ausarbeitung wert erscheinen lassen. Das Ringmotiv relativiert Wagners Abhängigkeit von den Quellen: die Handlungen, die seine Figuren vollführen, werden sowohl in der Überlieferung als auch in der Tetralogie durch ihre Einbindung in die apokryphe Erzählung vom Ring und seinem Besitz überschattet: Alberich, Loge, Fafner, Wotan, Erda, Mime, Siegfried, Hagen und Brünnhilde definieren ihr Ethos in Bezug auf den Ring, sei es, dass sie ihn schmieden, nach ihm trachten, sich gegenseitig über seine Eigenschaften unterrichten, in Verbindung mit ihm Pläne machen oder ihn zeitweilig im Besitz haben. Hätte sich der Librettist Wagner an die Überlieferung gehalten, wäre die Tetralogie von der düsteren Atmosphäre, der fatalistischen TIONS Kausalität und der Märchenhaftigkeit des altgermanischen Epos geprägt, so aber wird sie von Motiven und Handlungen der Figuren in ihren Konflikten um den einen Gegenstand bestimmt, der als auktoriale Erfindung Eingang in die Fabel gefunden hat. Im ersten Fall dürften die radikalen Vertreter des heutigen Regietheaters auch die physis der übernatürlichen Figuren (Wotans Göttlichkeit, Alberichs Zwergengestalt, Fafners Dracheninkarnation) nicht re-interpretieren, Siegmund und Siegfried das Fellgewand ausziehen und die nassen Felsen und knorrigen Bäume von der Bühne entfernen. In Wirklichkeit indessen haben Wagners Erweiterungen aus den märchenhaften Protagonisten und der altgermanischen Szenerie eine Variable gemacht, während sich als Konstante die unmythische Erzählung vom Kampf um wirtschaftliche und politische Macht in den Vordergrund geschoben hat, so dass Wotan im rohseidenen Hausmantel (Patrice Chéreau), Mime als Laborant (Harry Kupfer) oder die Rheintöchter mit Badekappen auf dem Kopf (Tankred Dorst) legitim sind. Aber interessanter als die Herkunft der Wagnerschen Motive ist in diesem Zusammenhang ihre Anordnung, die an den Wechsel von Positivem und Negativem, Vorzeitlichem und Modernem in der antimodernistischen Geschichtsphilosophie erinnert. Dabei ist zu betonen, dass für eine derartige narrative Struktur des Rings Wagners Erweiterung des Mythos verantwortlich ist, und nicht der Mythos selbst. Für ein Urteil über Wagners Antimodernismus ist ebenfalls wichtig, ob sich die Handlungen, die den Untergang des ursprünglichen Weltzustandes bedingen, als poetische Symbole modernistischer Innovationen deuten lassen. Ich gehe von der Annahme aus, dass es möglich ist, wobei ich natürlich nicht allein bin. Die RELA TIONS Deutung des Rings als indirekte kritische Aussage zur wirtschaftlichen und politischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft hat eine lange Tradition. Sie beginnt, ohne die Hinweise und Deutungen zu rechnen, die Wagner selbst in Briefen und überlieferten mündlichen Äußerungen hinterlassen hat, mit der Schrift Bernard Shaws The Perfect Wagnerite von 1898 (dt.: ‚Ein Wagner-Brevier‘, 1973), und findet ihre Fortsetzung in den zahlreichen szenografisch und kostümografisch umkodierten Regiearbeiten, unter denen sich aus heutiger Perspektive gesehen die von Götz Friedrich (London 1974) und Patrice Chéreau (Bayreuth 1976) abheben. Indem er also den durch den Untergang der Urwelt entstandenen Zustand als instabil und verwünscht charakterisiert, formuliert Wagner eo ipso eine Kritik der Moderne. Da sie auch die geschichtsphilosophische Erzählung vom Zerfall der Vorzeit mit einschließt, kann man sagen, dass sie näher an antimodernistischen Positionen ist als an anderen Ideologien, die mit dem Umbau der bürgerlichen Zivilisation rechnen, beispielsweise jenen auf der linken Seite des ideologischen Spektrums der Moderne. Ich denke, dass sie weiter weg ist auch von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung als jenem Buch, das Wagner 1854, mitten in der Arbeit am Ring, las und das er seiner Umgebung gegenüber als jenes bezeichnete, auf dem er in Hinkunft seine Weltanschauung gründen werde. Schopenhauers Philosphie ist eine Kritik der Existenz insgesamt, während das, was an Wotans und Alberichs Zeitalter strittig ist, mit bestimmten Stereotypen über die weltgeschichtliche Moderne zu tun hat. Zu Wagners Zeit lagen diese Stereotype noch „in der Luft“, um sich in der Epoche nach seinem Tod zu philosophischen und ideologischen Doktrinen zu verdichten, die ich hier als Antimodernismus bezeichne. Dossier: Zoran Kravar *** In meinem Buch über den Antimodernismus (Kravar 2003, 82) habe ich zwei Ereignisse – ein dargestelltes, ein erzähltes – aus der Ring-Fabel hervorgehoben, die ich als Schnitte zwischen der vorzeitlichen Welt und einem der modernen Zivilisation vergleichbaren Zustand gedeutet habe. Der erste der beiden ist Alberichs Raub des Rheingolds (RG 1), eines Materials, aus dem sich, unter der Bedingung beschworener Absage an die Liebe, ein wundertätiger Ring schmieden lässt, geeignet um mit ihm die gesamte Welt zu dominieren. Zum Raub kommt es, als die Rheintöchter vor dem uneingeweihten Alberich, dessen Begierde ursprünglich erotisch ist und ihnen gilt, unbesonnenerweise von der geheimen Kraft des Goldes und von dem hohen Preis erzählen, der zu entrichten wäre, wollte man sich seiner bemächtigen („Des Goldes Schmuck schmähte er nicht, / wüßte er all seine Wunder!“). Entgegen ihrer Erwartung und der Einschätzung der eigenen weiblichen Attraktivität lenkt der Nibelung seine Begierde um und bringt den Schwur aus („so verfluch’ ich die Liebe“). Oder wie es post festum Loge formuliert (RG 2): „Alberich zauderte nicht [...] geraten ist ihm der Ring!“ Das zweite entscheidende Ereignis ist die Schändung der heiligen Weltesche. In der thematischen Zeit der Tetralogie geht sie Alberichs Raub voraus, aber wir erfahren von ihr erst aus dem Auftritt der Nornen im Vorspiel der Götterdämmerung. Die Geschichte ist folgende: einstmals hat der „kühne Gott“ Wotan von der Esche einen Ast gebrochen, von ihm einen Speerschaft gemacht, in ihn „treu beratner Verträge Runen“ geschnitten und mit ihrer Kraft seine göttliche Autorität befestigt, aber auch eingeschränkt. Sowohl das Motiv des geraubten Goldes als auch jenes des geschände- 29 ten heiligen Baumes sind mehr oder weniger ein Produkt der Phantasie Wagners. Zur Gänze sind das die Rheintöchter und ihr Gold, während die Erzählung von der Esche selbstverständlich aus der Edda stammt, wo Odins Tat allerdings keine weltgeschichtlichen Folgen hat, wie es im Ring der Nibelungen der Fall ist. Mit ihr ändert sich am ursprünglichen Zustand der Welt nichts, und die heilige Esche Yggdrasil behält ihre Funktion auch, nachdem ihr ein Ast abgebrochen wurde: wie zuvor auch werden in ihrem Schatten und unter ihrem übernatürlichen Schutzschirm Gerichtsverhandlungen abgehalten und Streitfälle entschieden. In der Tetralogie finden wir eine ganze Reihe von Szenen, wo einzelne Figuren – mit Worten oder durch ihr Verhalten – den vorzeitlichen Zustand der Welt herbeibeschwören, sei es als nahe Vergangenheit oder als Gegenwart, die durch die Rechtsnormen auf Wotans Speer und durch Alberichs Wirtschaftspolitik in unverdientes Vergessen gestoßen wurde. Schon in der zweiten Szene von Rheingold wird die Atmosphäre der Vorzeit von den Riesen Fasolt und Fafner ebenso mittels des gleich grobschlächtigen Äußeren wie mittels eines archaischen Leitmotivs heraufbeschworen. Dieser Eindruck wird von Wotan verstärkt, der noch vor ihrem Erscheinen auf der Szene an ihre kürzlich erfolgte Umerziehung erinnert: „durch Vertrag zähmt’ ich ihr trotzig Gezücht“ (RG, 2). Trotzdem geben die Riesen in mehreren Repliken zu verstehen, dass sie sich in der neuen Welt gut eingerichtet haben, das heißt, sie haben Wotans Gesetzgebung kennen gelernt und sind bereit und fähig, sie sich zum Schaden des Gesetzgebers zunutze zu machen. Außerdem zeugt von der progressiven Modernisierung ihrer Mentalität auch die Leichtigkeit, mit der sie auf Freia als den 30 RELA Dossier: Zoran Kravar ursprünglich vereinbarten Lohn für den Bau von Walhall verzichten und Wotan zwingen, ihnen im Tausch gegen sie Alberichs Gold zu beschaffen. Die männlich-weibliche Innigkeit als vorzeitlicher Wert tritt ihren Platz an das Gold ab, das mit der neue Ordnung ökonomischen und strategischen Wert bekommen hat. „In der Welten Ring nichts ist so reich, / als Ersatz zu muten dem Mann / für Weibes Wonne und Wert!“ (RG 2) erklärt in derselben Szene Loge, der von der Suche nach einem Gegenstand zurückgekehrt ist, den die Riesen vielleicht an Freias statt akzeptiert hätten, was uns einen Blick in die dionysische, biozentrische Urwelt erlaubt, die die Modernisierung im Verborgenen überlebt hat und in der die Allmacht der Liebe jede gesetzliche Regulierung und alle ökonomischen Interessen gegenstandslos macht: So weit Leben und Weben, In Wasser, Erd’ und Luft, viel frug’ ich, forschte bei allen, wo Kraft nur sich rührt, und Keime sich regen: was wohl dem Manne mächt’ger dünk’, als Weibes Wonne und Wert? Doch so weit Leben und Weben, verlacht nur ward meine fragende List: in Wasser, Erd’ und Luft, lassen will nichts von Lieb’ und Weib. (RG 2) Auf berührende Weise beschwört Alberichs Bruder Mime in der dritten Szene des Rheingolds die einstige Welt. Ihn hat, wie auch die anderen Nibelungen, der Wandel am stärksten getroffen, er hat ihm Unheil gebracht, vergleichbar dem, das die reale liberal-kapitalistische Modernisierung der Arbeiterklasse gebracht hat, und so kommt es in seiner Replik, mit der er Loge und Wotan die Sitten im einstigen Nibelheim beschreibt, zur ethisch schärfsten Opposition zwischen dem Alten und dem Neuen: Sorglose Schmiede, schufen wir sonst wohl Schmuck unsern Weibern, wonnig Geschmeid’, niedlichen Niblungentand; wir lachten lustig der Müh’. Nun zwingt uns der Schlimme, in Klüfte zu schlüpfen, für ihn allein uns immer zu müh’n. (RG 3) Die Opposition und ihr Gewicht werden auch dadurch nicht verringert, dass sich Mime in Fortsetzung seines Klagegesangs, darüber verzweifelt, dass er nicht in der Lage war, den Tarnhelm zu verwenden und Alberich um den Besitz zu bringen, als spezifischer kleiner Alberich erweist, als den ihn im ersten Akt von Siegfried sein Lebensprojekt enthüllt: sich mittels langfristiger Investition in die Erziehung des jungen Siegfrieds des Ringes zu bemächtigen, dessen Macht er am eigenen Leib zu spüren bekommen und bereits in den ersten Tagen des Nibelheimer Umsturzes erkannt hat. Aber die alte Welt wurde nicht ausschließlich vom Lustprinzip beherrscht, sondern auch von Weisheit, nur dass sich deren Sitz nicht im Bewusstsein der menschlichen und humanoiden Wesen befand, sondern dass, wie die erste Norne im Vorspiel der Götterdämmerung singt, die Wellen der heiligen Quelle sie raunen: An der Weltesche wob ich einst, da groß und stark dem Stamm entgrünte weihlicher Äste Wald. Im kühlen Schatten rauscht’ ein Quell, Weisheit raunend rann sein Gewell’. TIONS *** Freilich haben auch die Rheintöchter, für die im Rheingold der Untergang der Vorzeit noch ein nahes Geschehen ist, eine Menge zu der weltgeschichtlichen Veränderung zu sagen, vor allem in der Strophe, die sie, parallel zum Einzug der Götter in Walhall, auf das Sehnsuchtsmotiv „Rheingold! Rheingold!“ singen. Die Strophe ist auch insofern interessant, als in ihr der Gegensatz von Altem und Neuem durch eine räumliche Opposition erweitert wird, die nicht nur in den Motiven der Tetralogie anklingt, sondern auch die antimodernistische Auffassung von der Vorzeit und ihrem Weiterleben unter der Oberfläche der modernen Zivilisation vorwegnimmt. Auf die ironische Bemerkung, mit der Loge den trauernden Töchtern als Ersatz für den ästhetischen Genuss am Gold den Anblick Walhalls anpreist („Glänzt nicht mehr euch Mädchen das Gold, / in der Götter neuem Glanze / sonnt euch selig fortan!“, RG 4), kommt aus der Schlucht die abweisende, Unheil kündende Antwort: Reines Gold! O leuchtete noch in der Tiefe dein laut’rer Tand! Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe: falsch und feig ist, was dort oben sich freut! (RG 4) Den erwähnten räumlichen Antagonismus schaffen adverbielle Kennzeichnungen „in der Tiefe“ und „dort oben“, wobei beide Pole – Tiefe wie Höhe – reich an Konnotationen sind. Die Höhe bezeichnet nicht nur die neue Götterburg und ihre Situiertheit auf dem Berg, sondern – als Metonymie – auch die Welt als Ganzes im Herrschaftsbesitz der Götter. Aus der Rhein-Perspektive gesehen, die auch für den Rezipienten maßgebend ist, ist diese Welt schlecht: außer dass sie durch Wotans doppelzüngige Ge- RELA TIONS setzgebung kompromittiert ist, die es zulässt, dass die Riesen mit zweifach geraubtem Gold entlohnt werden, lastet auf ihr auch Alberichs Fluch (RG 4), dessen Wirksamkeit sich augenblicklich erweist (in Fafners Mord an Fasolt), schlecht steht es um sie aber auch im Lichte von Erdas Warnung, deren Eintreffen wir viel später erleben werden, in der Auflösung der Götterdämmerung. Die Höhe ist also der Raum der falschen Werte und der unsicheren Zukunft, und der Bau von Wallhall und seine unsichere Finanzkonstruktion sind der Anfang vom Ende. Das wird auch durch die Entwicklung des Motivs unterstrichen, zu dem die Töchter um das Gold trauern und das in der letzten Zeile, parallel zu den Worten „was dort oben sich freut“, die bisherige romantische Weichheit verliert und einen triumphalen und zugleich rachelüsternen Beiklang bekommt. Ebenfalls weit gefasst, aber positiv, sind die Konnotationen des oppositionellen Pols der Tiefe. Der Grund des Rheins – Handlungsort der ersten Szene der Tetralogie – erweist sich, im Lichte der weiteren Handlung, als eine der letzten Zufluchten der alten Welt: während wir nämlich die Unterwasserepisode mit den Töchtern und Alberich verfolgen, wo im Aufeinanderprall zweier Beziehungen zum Gold die Antithese zwischen vorzeitlicher Uneigennützigkeit und dem modernen Willen zur Macht aufgestellt wird, hat sich das Leben an Land schon längst im Zeichen der Runen Wotans gewandelt. Aus der Tiefe, diesmal der irdischen, kommt in der vierten Szene von Rheingold auch Erda, von der Wotan die erste, wenngleich bereits verspätete Belehrung über die Geschichte der eigenen Welt und ihre antithetische Form erhält: Erda (die „UrWala“) ist die Göttin der Vorzeit, während Wotan einer der Pfeiler des modernen Zustandes ist, der Erda als der verkörperten antimodernisti- Dossier: Zoran Kravar schen Weisheit instabil dünkt („Ein düst’rer Tag dämmert den Göttern“, RG 4). In Überstimmung mit der Handlung der Tetralogie und ihrer Zielsetzung steht allerdings, dass, beginnend mit der Walküre, die Tiefe als Motiv oder Symbol in Vergessenheit gerät und entwertet wird. Implizit ist sie noch in Wotans Erinnerung an seinen unterirdischen Aufenthalt bei Erda vorhanden (WA II, 2), und Weisheit der Tiefe verrät auch der strategische Plan, den der Gott dort gefasst hat: den Ring, bevor sich Alberich seiner bemächtigen kann, Fafner zu rauben und dem Rhein zurückzugeben. Im Übrigen ist dieser Plan entscheidend für die Tetralogie als dramatisches Kontinuum und für die Begründung des weiteren Handlungsverlaufs. Er schafft, da Wotan ihn wegen des Vertrages mit den Riesen nicht allein erfüllen kann, die Notwendigkeit, eine neue Figur zu erschaffen: Not tut ein Held, der, ledig göttlichen Schutzes, sich löse vom Göttergesetz. So nur taugt er zu wirken die Tat, die, wie not sie den Göttern, dem Gott doch zu wirken verwehrt. (WA II, 1) In der Rolle dieses fast unvorstellbaren „freundlichen Feind[es]“ (WA II, 2) wird sich zuerst Siegmund versuchen, und dann Siegfried, wobei wir uns ein weiteres Mal davon überzeugen können, dass in der Tetralogie aus der Überlieferung übernommene Figuren Handlungen verrichten, die sich von dem unterscheiden, was ihnen Saga und Epos zuschreiben. Aber Wotan übernimmt, nachdem er Brünnhilde in Schlaf versenkt und vom Bann befreit hat (WA III, 3), die passive Rolle des betrachtenden Wanderers, er zieht sich an den Rand der Dramenhandlung zurück (SI I-III), und auch seine Ernüchterung in Er- 31 das Tiefe trägt nicht mehr zur Symbolik der vorzeitlichen Tiefe bei. Auch Brünnhilde, die das Kind Wotans und Erdas ist und etwas vom Geist ihrer Mutter geerbt hat, wird nach der Verwandlung in eine menschliche Gestalt (SI III, 3) umstilisiert nach dem Bild einer bürgerlichen Frau als einem Wesen, das mit seinem Privatleben beschäftigt und für die Anforderungen des Systems unempfänglich ist (vgl. die Szene Brünnhilde – Waltrauta, GD I, 3). Die neue Brünnhilde benötigt drei Akte der Götterdämmerung, um durch ihr eigenes und das allgemeine Vergessen der Vorzeit hindurch zu der Erkenntnis vorzudringen, die Wotan ihrer früheren Ichheit bereits in der Walküre verkündet hat, und zwar, dass es unheilvoll wäre, den Rheintöchtern den Ring vorzuenthalten, nachdem er Alberich geraubt wurde: Den Ring, den er [Alberich] schuf, entriß ich ihm listig; doch nicht dem Rhein gab ich ihn zurück: mit ihm bezahlt’ ich Walhalls Zinnen, der Burg, die Riesen mir bauten, aus der ich der Welt nun gebot. (WA II, 2) Rasch, bereits zu Ende von Rheingold, verlässt auch Loge den Schauplatz der Tetralogie; seine ununterbrochene Verbindung mit der Vorzeit wird auf mehrfache Weise augenfällig: in der Freude, mit der er sein Umherschweifen durch das ursprüngliche „Leben und Weben“ beschwört, in der Beharrlichkeit, mit der er Wotan erklärt, der Alberich abgenommene Ring müsse den „lachenden Kindern“ des Rheins zurückgegeben werden, in der Entschlossenheit, mit der er seiner vorzeitlichen Feuergestalt vor der neuen, anthropomorphen Verkörperung den Vorzug gibt („zur leckenden Lohe mich wieder zu wandeln“, RG 4). Von den beiden Riesen tritt der empfindsamere Fasolt 32 RELA Dossier: Zoran Kravar ab, zurück bleibt der egozentrische Fafner, dessen Drachen-Inkarnation (SI II, 1-2) nur scheinbar regressiv ist, denn der einstige Riese erfreut sich auch weiterhin am Besitz des Goldes. Trotzdem bleibt seine Gier, wenngleich eine nicht-vorzeitliche, hinter Alberichs unternehmerischem Kalkül zurück. Sein Kredo, mit dem er seinen Besitzerstatus formuliert, ist primitiver und durchaus der psychologischen Charakterisierung des Geizigen im realistischen Roman verwandt: „Ich lieg’ und besitz’“ (SI II, 1). Drastisch werden aber die Störungen der Vorzeit offenbar, als Erda erneut geweckt wird (SI III, 1) und sich herausstellt, dass „die weihlich weiseste Wala,“ (WA II, 2) in der Zwischenzeit zu einer müden und desinteressierten Greisin geworden ist, zerstreut und desorientiert in weltgeschichtlichen Perspektiven. Aber diese Verwandlung ist vermutlich auch als Antithese zu Erdas Gesprächpartner Wotan und seiner endgültigen Befähigung, das Schicksal der Welt in seine Hände zu nehmen, zu verstehen: schon in der folgenden Szene wird er seinen Unheil stiftenden und kompromittierten Speer scheinbar Siegfrieds Schwert entgegenhalten und geradezu aussetzen und so die lange und fruchtlose Herrschaft der vertragsstiftenden Runen beenden. Erst am Ende der Tetralogie (GD III, 1-3) öffnet sich wieder der Blick in die Weltentiefen, was durch die Rückkehr der Rheintöchter in die Handlung und durch Brünnhildes Verwandlung ermöglicht wird. Die Töchter berichten im Geplauder mit Siegfried (GD III, 1), bei dem sie übermütig Scherz und Ernst, frivoles Lachen und präzise Prophezeiungen mischen, von der Unterwasserwelt des Rheins und vom Gold als „hehre[m] Stern der Tiefe!“, und in dem Monolog, der ihrem Sprung in Siegfrieds Scheiterhaufen (GD III, 3) vorausgeht, bittet Brünnhilde die Rheintöchter, mit denen sie zuvor in der nicht gezeigten Handlung zusammengetroffen ist, den Ring, nachdem ihn die Flamme vom Fluch gereinigt hat, in den Rhein mitzunehmen, wo sich sein Gold in den ursprünglichen Zustand zurückverwandeln werde: Ihr in der Flut löset ihn auf, und lauter bewahrt das lichte Gold, das euch zum Unheil geraubt. Wenn am Ende der Tetralogie der Rhein den Scheiterhaufen überflutet und die Töchter den Ring nehmen und mit ihm in die Tiefe tauchen, erhält Brünnhildes Bitte auch eine szenisch sichtbare Antwort. Zugleich erinnert uns die unruhige Wiederaufnahme der Rhein-Motive im Orchester daran, dass die Rückkehr des Goldes in die Tiefe ein schicksalsträchtiges Ereignis ist. Die Sympathie mit der Tiefe, wie sie die Beispiele illustrieren, teilt Wagner mit vielen Autoren vom antimodernistischen Habitus, bei denen sie ebenfalls als Refugium der Vorzeit und als Signifikant einer durch die erfahrbare Wirklichkeit verschleierten Totalität figuriert. Gültige Bestätigungen, wie immer, wenn vom Antimodernismus die Rede ist, finden wir beim frühen Nietzsche (in der Geburt der Tragödie), wo die Wörter „Tiefe“, „Wurzel“ „Grund“ und Substantive und Adjektive mit dem Präfix „ur-“ der kontrastierenden Charakterisierung des dionysischen mit dem modernen Zustand dient. So wird das „Leben“, das für Nietzsche eine ontologische Universalie ist, „im Grunde der Dinge“ geahnt, und über den Menschen der dionysischen UrKultur lesen wir, dass er das „mythische Fundament“ besitze. Dem entgegen entsteht mit dem „auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus“ eine Kultur ohne „heiligen Ursitz“, bevölkert von Menschen, die den Verlust des „my- TIONS thischen Mutterschoßes“ empfinden und „grabend und wühlend nach Wurzeln“ vergeblich nach Kompensation suchen. Ähnlich verhält es sich mit der Tiefe und ihren Metonymien auch bei anderen antimodernistischen Autoren, vor allem bei jenen, die in der Nachfolge Nietzsches stehen. In Alfred Schulers Vortragsreihe „Vom Wesen der Ewigen Stadt“ ist die verlorene Vorzeit das „versunkene Reich des Lichts“ und haben die modernen Menschen ein „vernebeltes ur-“ hinter sich. Stefan George, ein steter Verehrer Nietzsches und zeitweiliger Freund Schulers, hat eine Vision vom Ausgang des eschatologischen Helden aus dem Erdenschoß: Jetzt naht nach tausenden von jahren ein einziger freier augenblick: da brechen endlich alle ketten und aus der weitgeborstnen erde steigt jung und schön ein neuer halbgott auf. Wie andere Inhalte des Rings des Nibelungen, die sich mit antimodernistischen Ideenmotiven decken, ist auch der analysierte räumliche Antagonismus Wagners Idee. In den Mythen und archaischen Epen ist die Tiefe der Sitz böser und unkontrollierter Mächte oder der Aufenthaltsort Abgeschiedener. J. R. R. Tolkien, der hartnäckigste Ausbeuter altgermanischer Überlieferungen nach Wagner, obwohl auch selbst zur Lektüre im antimodernistischen Schlüssel geeignet, behält in seinen Erzählungen die Abneigung der mythischen Überlieferung vor den unterirdischen Räumen bei. Tief unter der Erde – frei oder in Gefangenschaft – weilt Melkor, der negative Hauptheld des „Ersten Zeitalters“ (Silmarillion), und Sauron, Melkors Nachfolger im Zweiten und Dritten Zeitalter, findet in den Tiefen den Quell der Macht (Von den Ringen der Macht und dem Dritten Zeitalter): RELA TIONS Dort im Tal Gorgoroth entsteht seine Festung groß und mächtig, Barad-Dûr, der Dunkle Turm; in diesem Land erhebt sich auch der Feuerberg, den die Elben Orodruin nennen. Aus eben diesem Grund hat vor langem schon Sauron dort seinen Aufenthalt genommen, um sich das Feuer, das aus dem Herzen der Erde züngelt, für seine Zauberhandlungen und sein Schmiedehandwerk dienstbar zu machen. *** Mit dem Erkennen der antimodernistischen Motive im Ring des Nibelungen stellt sich die Frage nach Wagners Stellung in der antimodernistischen Strömung. Historisch kommt ihm die Rolle eines Antizipators zu, nicht die eines Begleiters oder Nachfolgers, wie wir schon an den Jahreszahlen seiner Geburt und seines Wirkens ablesen können. Aber was für ein Antimodernist im typologischen Sinne ist er, mit welchen Inhalten füllt er die Antithese zwischen Vorzeit und Moderne, womit charakterisiert er den vormodernen Urzustand, und auf welchen Einsichten von der modernen Welt beruht sein Zivilisationspessimismus? Wie bereits ausgeführt, wird bei antimodernistischen Autoren die Opposition Vorzeit – Moderne in unterschiedlichen weltanschaulichen Rahmen gedacht, woraus ungleiche Charakterisierungen der vorzeitlichen Gegenwelt und eine nicht völlig deckungsgleiche Betonung der vermeintlich negativen Tendenzen der Moderne erfolgen. Dennoch formuliert die Mehrheit von ihnen den Antagonismus in idealistischer Manier. Auf der Liste der modernen Übel stehen freilich auch Erscheinungsformen, die der materiellen und sozialen Wirklichkeit angehören: Technik, Geld, moderne Großstadt, Massendemokratie („Herrschaft der Minderwertigen“), individualis- Dossier: Zoran Kravar tischer Egoismus, „Masse“ an Stelle der einstigen „Gemeinschaft“, aber die ersten Ursachen verhängnisvoller Wandel werden gewöhnlich in der geistigen Kultur gesucht. Die Verantwortung dafür wird dem sokratischen Rationalismus (Nietzsche), den anthropozentrisch und materialistischen Weltanschauungen (Evola), der vorsokratischen Naturphilosophie (Guénon) oder „Platons Lehre von der Wahrheit“ (Heidegger) angelastet. Technik, Geld, Demokratie kommen gewöhnlich zum Schluss und werden aus Veränderungen in der geistigen Sphäre abgeleitet. Im Ring wird die Vorzeit etwas diffus determiniert, aber die Schlüsseldeterminanten nehmen klar Inhalte vorweg, die auch kanonische Antimodernisten mit der Idee des vorgeschichtlichen Zustands verbinden. Die allgemeinste dieser Determinanten – die universale Macht der Liebe, die, wie uns Loge belehrt, über alle Elemente herrscht – erinnert an die vitalistische Auffassung von Liebe, die ebenfalls transsubjektiv ist, wovon etwa die Behandlung des Eros in Nietzsches Darstellung dionysischer Zügellosigkeit als der „höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen“ oder Klages’ Philosophie des „kosmogonischen Eros“ zeugt. Außerdem zeichnet sich der vorzeitliche Mensch, im Unterschied zum modernen, durch Uneigennützigkeit im Umgang mit Natur und Mitmenschen aus, dem bei Wagner die unpragmatische Kunst der alten Nibelungen und der Genuss der Nixen an den ästhetischen Eigenschaften des Goldes entspricht: Ein Tand ist’s in des Wassers Tiefe, lachenden Kindern zur Lust. (RG 2) Interessant ist auch das Motiv der vorzeitlichen „Weisheit“, jener, von der die Norne sagt, sie habe ihr im Raunen des Quells unter der heili- 33 gen Esche gelauscht. Die antimodernistische Vorzeit ist eine Zeit der kosmischen und sozialen Selbstregulierung: alles was zu ihrem Bestehen, ihrer Ordnung und dem ungestörten Kreisen ihrer Zeit beiträgt, ist ursprünglich und subjektiver Erkenntnis und Manipulation unzugänglich. Ohnehin ist der Mensch der Vorzeit in das kosmische Ganze eingebettet und lebt keineswegs nach Art einer Hälfte der erkenntnistheoretischen Formel Subjekt – Objekt. Wenn es also in der Vorzeit Bewusstsein, Intelligenz, „Weisheit“ gibt, kann sie nicht im subjektiven Bewusstsein verankert sein, sondern ist, um ein in Julius Evolas Revolte gegen die moderne Welt allgegenwärtiges Wort zu verwenden, „transhuman“. Oder wie der ökologische Antimodernist Sean Kane es heute interpretiert: der vorzeitliche (d. h. paläolithische) Mensch hat sich gemäß der „Intelligenz der Erde“ verhalten, und erst sein moderner (neolithischer, antiker, bürgerlicher) Nachfolger hat das Bewusstsein mit der „Illusion der Individualität“ versklavt, was man in diesem Kontext als weitere ungewollte Paraphrase der Erzählung von der Schändung des heiligen Baumes und von der Degeneration der ursprünglichen, jedermanns und niemandes „Weisheit“ lesen kann, seit Wotan sie in den Speerschaft gekerbt und seinem persönlichen Urteilsspruch unterworfen hat. Mit der antimodernistischen Geschichtsphilosophie und ihrer Wertung der Moderne lässt sich auch Wagners Charakterisierung des durch den Besitz von Speer und Ring gekennzeichneten Zeitalters verknüpfen. Allerdings sind hier auch Unterschiede zu bemerken, deren Kriterium sich als materialistische Nüchternheit definieren ließe. Bei Wagner beziehen sich nämlich die metaphorischen Bilder der Modernisierung, Speer und Ring, auf Phänomene aus der gesellschaftlichen Basis: 34 RELA Dossier: Zoran Kravar auf ein modern verfasstes Recht und auf die Umwandlung toten Kapitals (des Nibelheimschen Goldes und der uneigennützigen Arbeit „sorglose[r] Schmiede“) in einen Marktwert. Einzige Ausnahme sind die Gründe, aus denen sich Alberich zum Raub des Goldes und zum Schmieden des Ringes entschließt: „Alberich“, wie es Adorno formuliert (1974, 21), „raubt den Ring und flucht der Liebe, weil die Rheintöchter ihm sich nicht geben: die Dialektik von Trieb und Herrschaft ist auf eine Differenz der ‚Art‘ anstatt auf die gesellschaftliche Bewegung reduziert.“ Der Differenz der Art können wir die erotische Frustration hinzufügen, und wenn wir Alberichs Umorientierung vom Liebesbegehren zur ökonomischen Macht als mythologische Metapher für moderne Gesellschaftsbeziehungen interpretieren, wäre sie auf einer Linie nicht nur mit dem Immaterialismus der antimodernistischen Genealogien der Moderne, sondern auch mit der vitalistischen These von der Moderne als einer Epoche der Subjektivierung und Degenerierung des Eros (Kravar 2003, 75). Im Übrigen ist auch die Umwandlung des Eros in Sexus, wie sie die Antimodernisten deuten, in Alberichs Schicksal wortwörtlich verkörpert: obwohl er der Liebe feierlich entsagt hat, ist er doch im Stande, die Mutter der Gibichungen mittels Bestechung zu gewinnen und mit ihr den Sohn Hagen zu bekommen. „Wunder gelang / dem Liebelosen“, sagt der besorgte Wotan zu Brünnhilde im zweiten Akt der Walküre. Im Übrigen entlastet Wagner sogar auf der Ebene der sichtbaren Handlung Ring und Speer von idealistischen und märchenhaften Beimischungen. Bei beiden Motiven wird die Phantastik maximal ausgedünnt, und so vermitteln sie uns die Epoche, in der die Tetralogie geschrieben wurde, genauer, ihre antimodernistische Interpretation, deutlicher als andere Motive. Der Speer wird in der Tetralogie als Garant der geschlossenen Verträge in einer rationalisierten Rechtsprozedur behandelt, die, im Unterschied zu den Gerichtsentscheidungen in den Überlieferungen von der Weltesche, der Diskussion und Revision unterliegt. Seine prosaische Instrumentalität wird bei mehreren Gelegenheiten sichtbar, am schönsten vielleicht in jener Episode in Rheingold, wo sich Gott Donner erkühnt, den um Freia entbrannten Streit mit den Riesen gewaltsam zu lösen. Den Herrn des Klimas rügend („Halt, du Wilder!“) und die Konfliktparteien trennend, vernichtet Wotan mit seinem Speer, dessen Autorität von der Verhandlungsbereitschaft der an Rechtsnormen und Vertragsverpflichtungen interessierten Subjekte abhängt, die übernatürliche, aber illegale Macht des Donnerschen Hammers. Der Ring wiederum hat den Status eines Zaubermittels in den Szenen aus der Nibelungischen Unterwelt (RG 3), wo es Alberich allein schon durch das Heben der Faust gelingt, das Volk der Zwerge zu zwingen, sich – unter unvergesslichem kollektivem Wehklagen – an die Knappen-, Grob- und Goldschmiedsarbeiten zu machen. Dem gefangenen Alberich (RG 4) hilft der Ring allerdings nicht, und wie wir aus seinem unvorsichtigen Selbstlob vor Loge und Wotan (RG 3) erfahren, hat er auch nicht vorgehabt, die Herrschaft über die Welt allein durch den Ring und seine Magie zu erringen, sondern durch Tauschhandel: durch das Gold, das ihm die Nibelungen herbeischaffen, will er sich Loyalität erkaufen und seinen Einfluss vergrößern. Dabei soll das Gold, ähnlich wie die Ware in den marxistischen Theorien von der Konsumgesellschaft, nicht nur reale Bedürfnisse befriedigen, sondern auch ein Subjekt für das Objekt schaffen: „Mit Golde gekirrt, nach Gold nur sollt ihr noch gieren!“ TIONS Als Objekt und Träger des AlberichFluchs (RG 4 und später) erlangt der Ring nur scheinbar zauberähnliche Kraft: genau genommen ist er insofern verflucht, als ihn alle begehren, wobei die einen zu Konkurrenten und Feinden der anderen werden. Deshalb steht auch das von ihm ausgehende Böse weniger in Verbindung mit der Phantastik der mythischen und epischen Vorlagen, sondern mit Wagners Sicht der geschichtlichen Wirklichkeit, gegenüber der sich die Tetralogie wie eine kostümierte Kritik ausnimmt. Was für Wagner tatsächlich unheilvoll und fluchbeladen ist, ist seine Epoche, soweit sie von den liberal-kapitalistischen Modernisierungsprozessen erfasst und von deren Begleiterscheinungen gekennzeichnet ist. Deshalb werden wir auch das Motiv des Fluches besser verstehen, wenn wir es mit dem Gedanken an das 19. Jahrhundert einkreisen, als wenn wir es unter den Bildern jener Welt zu fassen suchen, welcher der Gott mit dem Speer, der in einen Drachen verwandelte Riese oder der Held mit dem umgeschmiedeten Schwert Namen und Gestalt schulden. *** Auf schwarzem Grund sind in geschwungenen weißen Linien Flusswellen gezeichnet, die aus dem Hintergrund in den vorderen Plan dringen. Im Hintergrund schwebt hoch oben in undeutlichen Umrissen eine von flammenförmigen weißen Linien umkränzte Burg. Im Vordergrund tauchen mit zurückgeworfenem Kopf drei langhaarige, ranke und zugleich üppige Mädchenfiguren aus den Wellen und bilden gemeinsam eine Pyramide, aus der sich der hoch erhobene Arm der höchsten der drei empor windet. In der Hand den Ring, und dahinter luftige Strahlen, weißer als alle anderen. Irgendwo über der flammenden Burg steht: Гибелъ боговъ (‚Götterdämmerung‘). RELA TIONS Das Bild, genauer gesagt, die Grafik, ist kurz nach 1900 in der Petersburger symbolistischen Zeitschrift Аполлон (‚Apollon‘) erschienen, ihr Autor ist der russische Illustrator, Graphiker und Maler Jewgenij Lansere (Lanceray). Ich habe sie vor vielen Jahren als Reproduktion in einer Auswahl von Jugendstil-Grafik gesehen, aber ich erinnere mich nicht mehr, wie sie deklariert war: als Theaterplakat, als Illustration zu einer Übersetzung aus Wagner oder zu einem Lied mit Wagnerischem Thema. In jedem Fall ein interessantes Motiv, das dem Grafiker repräsentativ für die Götterdämmerung zu sein schien: von den vielen Geschehnissen am Höhepunkt des Dramas hat er den Moment herausgehoben, als die Rheintöchter, nachdem sie den Ring von Siegfrieds und Brünnhildes Scheiterhaufen genommen und Hagen in den Tod gezogen haben, in den Strom zurückkehren; in der Weite zwischen Wasserfläche und Himmel dominieren die Strahlen des wiedergeborenen Goldes und die glitzernde Haut der ewig jungen Najaden. „Rheingold, Rheingold!“, die Welt hat sich verjüngt, die Vorzeit ist wiedererrichtet. Vielleicht hat es den Anschein, dass ich bisher grundlos und zum Schaden der eigenen Argumentation, das Ende des Rings des Nibelungen ausgelassen habe. Und zwar: Gibt es bei den Antimodernisten nicht auch eine Endzeit, d. h. den Glauben an einen Übergang aus der Moderne in einen der Vorzeit ähnlichen Zustand; und inszeniert nicht gerade der letzte Akt der Tetralogie den Untergang der Welt, die wir als Moderne, re-interpretiert im Geiste des Zivilisationspessimismus, dechiffrieren? Würden in der Götterdämmerung die Akzente dort liegen, wo sie – im Geiste des Jugendstil-Vitalismus – die feine Grafik Lanceray loziert, käme die Antwort rasch und zustimmend. Zustimmend mag sie wohl auch so sein, wenngleich mit einigem Zögern. Dossier: Zoran Kravar Der letzte Akt der Götterdämmerung deckt sich mit der Aufdeckung der Ränke Hagens. Sie resultiert zuerst in Siegfrieds Ermordung, und nach dem sie aufgedeckt wurde, mit Gunthers Tod und Brünnhildes Sprung in den Scheiterhaufen. Ihre indirekten Folgen sind die Übergabe des Rings an die Rheintöchter, die Hagens Tod mit einschließt, und der Brand von Walhall mit dem Untergang der Götter. Kein einziges dieser Geschehen hat das Gewicht endgültiger Erfüllung, was auch für den Triumph der Rheintöchter gilt, denn in der turbulenten Coda bietet sich der Flussgrund, um den vom Fluch befreiten Ring bereichert, nicht unbedingt als Paradigma einer Weltordnung „nach Wotan“ an. Eher ist er eine spezifische partielle Vorzeit, die in die Handlung zurückkehrt, damit es einen Ort gibt, wo sich Wotans Versprechen einer von Alberichs Fluch und der Herrschaft Walhalls befreiten Welt verwirklichen kann (SI III, 1). Das Orchester freilich unterstützt die Unterwasserszene in lebhafter Weise mit Fragmenten des neuen Motivs der Rheintöchter („Frau Sonne!“, GD III, 1) und mit dem alten Motiv „Weia! Waga! Woge du Welle!“ (RZ 1). Aber gleich darauf wendet sich der Blick vom Geschehen im Rhein anderswohin, und das Orchester nimmt das Walhall-Motiv auf. Nach ihm, nach dem kurzen Anruf „Weia! Waga!“, folgt ein Motiv, das wir zum ersten Mal schon zu Beginn des dritten Aktes der Walküre gehört haben, als Sieglinde sich ihrer Schwangerschaft bewusst wird (WA III, 1), und das zweite Mal unmittelbar am Schluss der Götterdämmerung, zu den letzten Worten Brünnhildes, aber hier in einer unruhigen, harmonisch instabilen Variante. Als Epilog der Motivfolge Walhall – „Weia! Waga!“, die wir zweimal hören, kommt es zur Ruhe und nimmt eine Standardform an. Nach dem zweiten Erscheinen ist 35 wieder das Walhall-Motiv zu hören, aber jetzt mehrere Male wiederholt, klanglich verstärkt und vom Motiv des prasselnden Feuers Loges begleitet. Es folgt die erste, einführende Hälfte des Siegfried Motivs, das auch als Brücke zum letztmaligen Erklingen der Sieglinde-Melodie dient. Sie bleibt schließlich allein übrig, nachdem sie sich das Privileg erkämpft hat, die Tetralogie zu einem tröstlichen Abschluss zu bringen und uns zu jener Szene zu führen, die Wagner tatsächlich als letzte geplant hat und die in den begleitenden Didaskalien wie folgt beschrieben wird: „Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit dem wachsenden Feuerschein am Himmel zu.“ Wer die Hauptströme und Nebenarme der Handlung des Ring kennt und sich in ihre weltanschaulichen Voraussetzungen eingelebt hat, wird immer einigermaßen überrascht von der Massenszene an seinem Ende: alles was wir bisher gesehen haben, ist die Folge des Konflikts zwischen den übermenschlichen Figuren und den menschlichen Individuen, die dazu erzogen wurden, sich in die bereits vorgezeichneten Antagonismen einzufügen. Das einzige Kollektiv im Ring sind Hagens Mannen, aber sie haben keinen Anteil an der Handlung, außer dass sie im zweiten Akt der Götterdämmerung in naiver Weise die verhängnisvollen Hochzeiten (Siegfried – Gutrune; Gunther – Brünnhilde) begrüßen und am Ende des dritten Akts den toten Siegfried tragen und in der letzten Szene statieren. Wer sind jetzt jene „Männer und Frauen“, womit wird ihre Ansammlung im Feuerschein des fernen Brandes gerechtfertigt? Sie kommen zu Beginn der letzten Szene der Götterdämmerung als Geleit bei Siegfrieds Begräbniszug auf die Bühne, auf seinem Weg vom „wilden Tal des Rheines“, wo der Held 36 RELA Dossier: Zoran Kravar ermordet wurde, bis zur Halle der Gibichungen: „Männer und Frauen, mit Lichtern und Feuerbränden, geleiten den Zug der mit Siegfrieds Leiche Heimkehrenden.“ Aber mit dieser Erklärung ist das Problem ihrer Identität und Funktion nicht gelöst. Denn sie werden nirgends in den vorangegangenen Segmenten der Tetralogie angekündigt, sie haben kein eigenes Leitmotiv, und keine der Figuren, die wir in den vorangegangenen Dramen, Akten und Szenen gesehen oder gehört haben, hat mit ihnen gerechnet oder sie erwähnt. Für die mit dem konkreten Ring verbundene Handlung, mit seiner Ausarbeitung und mit dem Wechsel seiner Besitzer (Alberich – Wotan – Fafner – Siegfried – Brünnhilde) sind sie nicht erforderlich. Aber sie sind da, und alle die sich mit dem Ring beschäftigen, sei es dass sie ihn hören, bei ihm Regie führen oder über ihn schreiben, sind aufgefordert, ihr Vorhandensein zu erklären. Ich selbst würde sie unter der Annahme interpretieren, dass Wagner die Geschehnisse um den Ring als Material wohl für ein agonales Drama als ausreichend ansieht, aber unzureichend für eine geschichtsphilosophische Aussage, was der Ring ebenfalls ist. Der Dramatiker Wagner hat in der Auflösung der Götterdämmerung die Lichter an den Schauplätzen aller schon eingeführten Handlungen (Gibichungenhalle, Rhein, Walhall) gelöscht, aber für ihn als Geschichtsphilosophen war die Erzählung von Wotans Welt kein sich selbst genügendes Ganzes, sondern eine Zwischenepoche. Rheintöchter, Riesen, Loge, Erda und Nornen haben uns daran erinnert, dass der Zeit Wotans und Alberichs eine lange und konstante Ur-Zeit vorangegangen ist. Auf der anderen Seite zeugen die „Männer und Frauen“ davon, dass Wagner der Erzählung vom geraubten und wiedererstatteten Ring, vom abgebrochenen Ast und vom zerbrochenen Speer auch einen Epilog geben wollte und den Sinn der langen Zwischengeschichte von Göttern, Riesen, Zwergen und Helden überdies von der Beschaffenheit der Welt abhängig gemacht hat, die nach ihrer Auflösung entsteht. Nur, was für eine Welt ist das, und wer sind die Menschen, mit denen sie der Epilog bevölkert? Darüber habe ich viel nachgedacht, mitunter, Hand aufs Herz, völlig müßig. So wollte es mir nach einem in Gesellschaft des Rings verbrachten Abend scheinen, dass der Schluss der Götterdämmerung den Übergang aus einer mythologisch kostümierten Moderne in eine realistischere Vorstellung von ihr bezeichnet und dass die Menschen in der letzten Szene sozusagen das erweiterte Theaterpublikum sind, eine szenische Chiffre für das Bürgertum, mit dem der Ring seit 1876 die Theater füllt und das mit den Feuerbränden und Brandstätten von Walhall, d. h. mit dem Anblick der desakralisierten Welt, in seinem Alltag konfrontiert ist. Mir kam sogar der Gedanke, ob man das Finale nicht so inszenieren könnte, dass man einen Teil der Zuschauer aus dem Parterre auf die Bühne lädt, so dass sich die Themenwelt der Tetralogie von einer kritischen Allegorie zeitgenössischer Geschichte hin zu einem synekdochischen Ausschnitt von ihr verschiebt. Ich habe mich ebenfalls gefragt, aber sicherlich nicht allein, ob jene „Männer und Frauen“ nicht vielleicht Relikten der anarchistisch-revolutionären Phantasie Wagners entstammen, ob sie nicht der Versuch sind, der Tetralogie im letzten Moment eine Dimension von Humanität und Sozialität oder sogar von Utopie-Perspektiven des Jahres achtundvierzig zu verleihen: die Volksmenge strömt, nachdem Gewehre und Granaten verstummt sind, hinaus auf Straßen und Plätze, wo sie von den gestürzten oder abdizierten Dynastien Kenntnis erhalten. Wagner hatte mit der Arbeit TIONS am Text der Tetralogie bereits begonnen, als er seine einstigen Überzeugungen revidierte und die Revolution durch einen philosophischen Pessimismus ersetzte, wobei die Rolle des Katalysators der Lektüre von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zukam. Die verworfene Urfassung von Brünnhildes Schlussauftritt enthielt noch Verse, in denen, beinahe in der Manier einer didaktischen Dichtung, die anarchistische Lehre von Altruismus und Liebe als Ersatz für possessivischen Egoismus und legalisiertes Recht zusammengefasst wird: Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht; nicht Haus, nicht Hof, noch herrischer Prunk; nicht trüber Verträge trügender Bund, nicht heuchelnder Sitte hartes Gesetz: selig in Lust und Leid läßt – die Liebe nur sein. Dennoch sind mir die Versuche, das Massenfinale der Tetralogie als Aufforderung zu verstehen, den Stand der Dinge und die Geschehnisse in ihrem breiteren Kontext zu interpretieren, letztlich immer zu leicht erschienen, so als stünden dahinter allzu viele Möglichkeiten zur Verfügung, von denen jede gleich beliebig ist. Deshalb habe ich mit der Zeit den Gedanken akzeptiert, dass sich die Lösung im Drama selbst finden lasse, vor allem wenn man von der Universalität seines thematischen Umfangs und von der Logik seiner Auflösung ausgeht. Die Tetralogie ist eine Inszenierung der Weltgeschichte mit den Mitteln des mythischen Imaginariums. In seiner Auflösung erschöpfen sich aber sowohl Mythologie als auch Geschichte, wobei eine der Folgen auch die Rehabilitierung der Massenhaftigkeit auf Kosten der Singularität ist: mit der Mythologie entfällt ein Zeichensystem, in dem eine klei- RELA TIONS nere Gruppe Götter, drei Nymphen, je zwei Riesen und Zwerge und eine Handvoll menschlicher Protagonisten große Bereiche der Wirklichkeit und der geschichtlichen Tendenz repräsentieren können; und mit der Geschichte, wie sie im Zeichen von Ring und Speer verlaufen ist, geht eine Welt unter, in der die Totalität in real abstrakte Areale parzelliert wird (auf dem Feld der politischen und wirtschaftlichen Macht) unter der Kontrolle repräsentativer Einzelner. Das Erscheinen der Volksmenge im Finale des letzten Dramas deckt sich mit besagten Veränderungen: in einer Welt ohne mythologische Wesen bleiben nur die Menschen übrig, und in einer Welt ohne Repräsentanz ist jeder Mensch gleich wichtig. Aber für eine solche Deutung des Finales der Götterdämmerung ist auch das Sieglinde-Motiv wesentlich, das, in der Coda des derart massiven Werks verwendet, enorm an Gewicht und Zeichenhaftigkeit gewinnt. Das Nachdenken über seine Beziehung zum szenischen Bild hat mich zu einer Überzeugung gebracht, die sich mit den Einsichten aus den vorangegangenen Kapiteln deckt, nämlich dass jene „Männer und Frauen“ in einen weltgeschichtlichen Zustand eintreten, der sich – von der Position des späteren Wissens aus – mit eschatologischen Visionen antimodernistischen Schlages verbinden ließe. *** Das musikalische Motiv vom Ende der Götterdämmerung bringt uns die dramatische Szene auf dem Walkürenfelsen zurück (WA III, 1), als Brünnhilde die schwangere Sieglinde ins Exil schickt und sich selbst daran macht, Wotan aufzuhalten, der beiden auf den Fersen ist. Sieglindes Situation ist verzweifelt: kurz nach Siegmunds Ermordung, ohne Schutz und, wie sie gerade erfahren hat, schwanger, muss sie ins Unbekannte fliehen, d. h. „nach Osten“ Dossier: Zoran Kravar in die Umgebung von Fafners Behausung, wo momentan niemand weilt außer dem Schmied Mime, ihrem intimsten Feind und späteren Ausnützer. Brünnhilde, die einzige Gönnerin Sieglindes, plant ihr Überleben mit immer noch instrumentalem Verstand: dass Sieglinde und der gerade gezeugte Siegfried überleben, ist nicht nur um ihrer selbst willen wichtig, sondern auch wegen Siegfrieds vorgesehener Rolle in den künftigen weltgeschichtlichen Peripetien. Deshalb kulminiert Brünnhildes Hohelied der Schwangerschaft auch mit dem martialischen, anorganisch kantigen Siegfried-Motiv, das mit allem unvereinbar ist, was jemals aus einem Mutterschoß auf die Welt gekommen ist. Sieglinde aber bricht auf die Nachricht hin von der Schwangerschaft – trotz aller aktuellen und absehbaren Schwierigkeiten – kühn in jenes Motiv aus, das mit der Übersichtlichkeit seiner harmonischen Bewegung, mit seiner melodischen Weichheit und der Fähigkeit, einfache Gefühle wiederzugeben, die synästhetische Phantasie unfehlbar in Richtung organisches Sein und Eros lenkt. Sublimiert erotisch ist auch ihr Text, in dem das Gefühl der Mutterliebe dominiert, aber auch die Erinnerung an Siegmund als den geliebten Menschen, nicht als den Vollstrecker oder des Vollstreckers Vater. Kurzum, es scheint als hätte Wagner damit, dass er das Sieglinde-Motiv ans Ende der Tetralogie stellte, sagen wollen, dass für das gemeinsame Leben jener Menschen auf den Ruinen der alten Ordnung von allergrößter Wichtigkeit die Liebe sein wird. Aber das Wort „Liebe“ darf man heute unreflektiert vielleicht nur noch in Schlagern und in Fernsehserien aussprechen. Der Begriff hat alle Philosophien der westlichen Kultur durchlaufen, er wurde von den Religionen vereinnahmt, und mit ihm haben die Ideologien manipuliert. Auch die 37 künstlerischen Werke der Hochkultur treten fast immer kreativ an ihn heran und mit Sensibilität für seine erlangten weltanschaulichen Implikationen, und dass das auch für Wagner gilt, konnte man an einer Reihe von nacherzählten oder zitierten Szenen und Repliken in den vorangegangenen Kapiteln ersehen. Wie aber ist jetzt die spezifische Sinngebung der Liebe in den Schlussklängen der Götterdämmerung zu verstehen? Außer der Szene auf dem Felsen steht hinter Sieglindes SchwangerschaftsMotiv auch die ganze Geschichte ihrer Begegnung mit Siegmund aus dem ersten Akt der Walküre. Dort erweist sich in der dritten Szene, wenn sich das Paar Hundings Kontrolle entzogen und der Sorge um die Waffen entledigt hat und die Handlung von amorösen Worten und Gesten erfüllt ist, die Liebe als große transsubjektive Macht, so wie Loge sie im Rheingold sieht („In Wasser, Erd’ und Luft ...“). Sieglinde und Siegmund empfinden sie in sich und außer sich („in heiliger Lust“), und der „Lenz“, der am Ende des Aktes mit seinem lyrischen musikalischen Motiv in das unfrohe Haus Hundings einbricht, ist das spezifische Urbild des „kosmogonischen Eros“ („... vereint sind Liebe und Lenz!“). Mit anderen Worten, die beiden Liebenden teilen das Gefühl des Einsseins mit der Totalität, was gemäß der antimodernistischen Philosophie vom Menschen, die höchste Stufe des Glücks und der Erfüllung ist. Als Dramenfiguren sind sie für dieses Erleben auch durch ihre Herkunft vorherbestimmt: beide sind Kinder des späten, wiedergeborenen Wotans, jenes, der sich unter Erdas Einfluss seines alten Wissens entledigt und demodernisiert hat. Deshalb spricht er auch selbst zu Beginn des zweiten Aktes der Walküre, im Gespräch mit Fricka, als er noch glaubt, die Liebesverbindung seiner Nachkommen lasse sich (obwohl ehebrecherisch und inzestuös) vor der 38 RELA Dossier: Zoran Kravar Schutzherrin legaler männlich-weiblicher Beziehungen verteidigen, von der Liebe als einem Unterliegen einer universalen Macht: Was so Schlimmes schuf das Paar, das liebend einte der Lenz? Der Minne Zauber entzückte sie: wer büßt mir der Minne Macht? Schließlich gibt auch der Abschluss von Brünnhildes Monolog vor ihrem Tod, obwohl in einer anderen Situation gesprochen, dem Schwangerschaftsmotiv den Gedanken von der Liebe als einer transsubjektiven Macht ein. Brünnhilde spricht nicht nur von ihren Gefühlen für den Menschen, den es nicht mehr gibt, sondern ergibt sich „mächtigster Minne“, die es ihr ermöglicht, Siegfrieds erfolgten Tod und den eigenen, unmittelbar bevorstehenden zu ignorieren. Gerade in ihren letzten Worten, an ihr Pferd Grane gerichtet, mit dem sie gemeinsam in den Tod geht, wird das szenisch sichtbare Feuer des Scheiterhaufens, gleichgesetzt dem metaphorischen „Feuer“ in der Brust, zu einer Erscheinungsform jenseits des Unterschiedes Subjekt – Objekt („Lockt dich zu ihm die lachende Lohe? / Fühl’ meine Brust auch, wie sie entbrennt; / helles Feuer das Herz mir erfaßt“). Das ist die Liebe, an die ich denke, wenn im Finale der Götterdämmerung das Sieglinde-Motiv erklingt, von dem wir, sobald es in Konkurrenz mit den benachbarten Klangsymbolen zu seiner Urform zurückkehrt, vorausfühlen, dass es das letzte sein und die Turbulenz zum Stillstand bringen wird. Den Menschen, die wir dabei auf der Bühne sehen – mögen sie vom Besitz der Gibichungen, aus revolutionären Utopien oder aus den ersten Reihen im Parterre gekommen sein – vermittelt es die Lehre von der Liebe jenseits des subjektiven Egoismus und der Subjektivität überhaupt, uns aber sagt es, dass die thematische Welt der Tetralogie auch in ihrer futurologischen Projektion ein Medium der antimodernistischen Polemik bleibt, nur dass sie sich jetzt aus einer kritischen Allegorie in eine eskapistische Gegenwelt verwandelt. *** Während ich dabei war, das vorangegangene Kapitel abzuschließen, und überlegte, wie ich diesen ganzen Versuch bald einem Ende zuführen könne, drängte mir eine Zufallsbegegnung mit einer neuen Oper den Ring des Nibelungen erneut als Nebenthema auf. Besagte Oper enthält nämlich bestimmte Anspielungen an den Ring, und im programmatischen und kritischen Diskurs, der sie begleitet, werden sie ausdrücklich erwähnt. Mir schien, dass sie auch eine Grundlage für das bieten, was ich hier noch sagen möchte. Vor zwei, drei Jahren habe ich, Musikzeitschriften verfolgend und entsprechende Internetseiten aufsuchend, erfahren, dass John Adams in Zusammenarbeit mit Peter Sellars als Librettisten eine Oper unter dem Titel Doctor Atomic geschrieben hat. Ich erfuhr ebenfalls, dass die Oper die Vorbereitungen für den ersten Versuch mit der Atombombe in Los Alamos im Juni 1945 zum Thema hat und dass die Hauptfigur der Physiker Robert Oppenheimer ist. Bis vor kurzem schlummerte Doctor Atomic in meiner Erinnerung als reine Information und Gedächtnisnotiz mit der Suggestion: eventuell besorgen, wenn die CD oder DVD herauskommt. Aber Ende 2008, nachdem die Oper im New Yorker Metropolitan aufgeführt worden war (die Uraufführung war 2005 in San Francisco), nahm ihre Präsenz in den Medien sprunghaft zu: in der im Internet zugänglichen Publizistik reihten sich die Rezensionen, eine DVD mit der Aufnahme der ersten europäischen Aufführung kam heraus (De Neder- TIONS landse opera, Amsterdam 2007), und in der Dezembernummer der Zeitschrift Gramophone wurden zwei Besprechungen veröffentlicht (die eine zur Inszenierung an der Metropolitan, die zweite zur DVD). Bewogen durch den Medienlärm und angeregt auch durch die nicht geschäftsmäßig beliebigen Rezensionen, bestellte ich die DVD. Mich interessierte sehr, ob Adams auch die Sätze von der Atomspaltung oder von der Schädlichkeit der Gammastrahlen mit derselben provokativen Unmittelbarkeit behandelt (ohne erkennbare Intention, sowohl die Sätze als auch das Opernmedium zu verfremden), mit der er gut zwanzig Jahre zuvor die politische Prosa seiner ersten Oper (Nixon in China) vertont hat. Ich fragte mich auch, wie sich der Bariton Gerald Finley in der Hauptrolle zurechtfinden würde, den ich auf mehreren DVDs gesehen hatte, unter anderem auch als Figaro in einer sängerisch soliden, wenngleich von der Regie her unspektakulären Inszenierung der Mozartschen Komödie (Glyndebourne 1994). Verständlicherweise aber erweckte die größte Neugierde die Erwähnung von Wagners Ring in mehreren Rezensionen der neuen Oper. Als die DVD angekommen war, bestätigte sich, dass Finley ein guter Sänger und Schauspieler ist und dass im Wirkungskreis der Adams’schen Auffassung von Opernkunst Worte wie „Plutonium [...] zerstört die menschlichen Nieren / und verursacht tödlichen Knochenkrebs“ tatsächlich nicht weniger geeignet sind als ein „Pace, pace, mio dolce tesoro“ für Mozart, worüber man natürlich auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Wertmaßstäben als Ausgangspunkt urteilen kann. Aber in diesem Kontext ist Doctor Atomic ohnehin nebensächlich, und die eigentliche Frage ist, wo in ihm oder um ihn herum Wagner ist und welches Licht seine Wagnerischen An- RELA TIONS spielungen auf das Thema werfen, mit dem ich mich in den vorhergehenden Kapiteln beschäftigt habe. Wagner ist in der Diskussion um Adams-Sellars Oper mit der Götterdämmerung vertreten. So können wir lesen, Doctor Atomic sei die „Götterdämmerung unserer Zeit“, die „amerikanische Götterdämmerung“ u. ä. Den Vergleich hat, so scheint es, als erster Sellars in einem Gespräch gezogen, das er anlässlich der Uraufführung mit Alex Ross von der Zeitschrift The New Yorker geführt hat und wo er sagt (Ross 2005), dass seine und Adams’ Oper die „Götterdämmerung unserer Zeit“ sei, wobei er das katastrophische Finale beider Werke im Sinn habe. Tatsächlich ist der Vergleich nur bedingt annehmbar, denn im Finale der Götterdämmerung bleibt die Welt nach einer Reihe von Katastrophen frei vom fluchbeladenen Gold, überwölbt vom ruhigen Sieglinde-Motiv und vielleicht für menschliches Leben und Glück geeignet, während Doctor Atomic mit einer orchestral-elektronisch imaginierten Explosion und der Stimme einer Japanerin aus dem Off endet, die in ihrer Sprache um ein wenig Wasser bittet und fragt, wo ihr Mann sei. Die moderne Variante des Alberich-Fluchs hebt sich also nicht von der Welt, sondern verschiebt sich vielmehr vom Status der Latenz (Los Alamos) hin zur tatsächlichen Katastrophe (Hiroshima, Nagasaki) und zu einer unabsehbaren Drohung. Aber an Wagner würde Doctor Atomic auch ohne die erwähnten Kommentare erinnern. Erstens werden in dieser Oper die Figuren in Hinblick auf ihre unterschiedliche Einstellung zu den Waffen charakterisiert, mit denen die Welt sowohl erobert als auch vernichtet werden kann. Zudem ähnelt Adams-Sellars Vision der historischen Realität, bedroht durch militärische Logik und eine aller ethischen Rücksichten entblößten Wissenschaft, in Stärke und Art des kritischen Poten- Dossier: Zoran Kravar tials der Welt des Rings des Nibelungen, solange sie von Speer und Ring beherrscht wird, nur dass Los Alamos ein pars pro toto der modernen Geschichte und Wotans Reich ihre Allegorie ist. Oder wie es Sellars formuliert, die Götterdämmerung ist eine „Metapher“, während im Libretto von der Atombombe „alles Realität“ ist. Letztlich enthält auch Doctor Atomic Textteile, in denen das Bild eines vorzeitlichen Zustandes wiederbelebt wird. In der Oper tritt nämlich eine Figur auf, in deren Repliken sich eine archaische Gegenwelt auftut, die allerdings nicht so phantasiereich ist wie Wagners Rheingrund, Schulers „offenes Leben“ oder Evolas „Traditionszivilisationen“, sondern durch ethnologisches Wissen vermittelt wird. Oppenheimers Gattin Kitty, die auf die Nachrichten von den Versuchen ihres Mannes besorgt, aber indirekt auch in lyrischen Stimmungen reagiert (ihre Repliken sind tatsächlich Lyrik, d. h. Zitate aus pazifistischen Liedern Muriel Rukeysers), beschäftigt als Dienstmädchen Pasqualita, die Angehörige eines lokalen Indianderstammes. Pasqualita tritt im zweiten der beiden Akte auf, und obwohl sie in mehreren Anläufen das Wort nimmt, bleibt sie außerhalb der Kommunikation mit den anderen Figuren. Ihr Schlüsseltext ist nämlich ein folkloristisches Schlaflied, mit dem sie das Kind der Oppenheimers einlullt, ein spezifisches rhetorisches ready-made, das nicht aus dialogischer Interaktion entsteht, sondern schon von früher her existiert. Natürlich ist das Schlaflied, wenn man seine englische Sprachform außer Acht lässt, authentisch, es ist einer ethnologischen Sammlung entnommen, die unter den Text Credits am Anfang des Librettos angeführt wird. Geteilt ist es in vier durch die Auftritte anderer Figuren getrennte Repliken, aber es platzt immer aus den Nähten, denn es besteht auch aus vier fast identischen Strophen. Die erste von ihnen lautet: 39 Im Norden blüht eine Wolkenblume, Und da, der Blitz leuchtet, Und da, der Donner rollt, Und da, der Regen fällt! A-a-aha, a-a-aha, mein Kleines. In den drei folgenden Strophen ist alles gleich, nur dass in der adverbialen Kennzeichnung im ersten Vers die Himmelsrichtungen wechseln: auf Norden folgt Westen, Süden und Osten. Nach der Idee des Regisseurs der auf DVD aufgenommenen Aufführung (Sellars) erscheinen um das Kind beim erneuten Aussprechen des Schlafliedes noch drei oder vier Indianerinnen, und ihre geometrische Verteilung und ihre Gebetsgesten haben erkennbar rituellen Charakter. Womit könnte das Schlaflied antimodernistisch eingestellte Hörer anziehen? Ihnen könnten als erstes die heidnisch-religiösen Strukturelemente gefallen, erkennbar im Anrufen der Naturkräfte (Blitz, Donner, Regen) durch rituelles Wiederholen der entsprechenden Worte, und sicherlich würde ihnen auch die „Wolkenblume“ (cloud-flower) ins Auge stechen, die – was immer sie im Originaltext bedeuten mag – wie ein Mythologem und ein Beweis wirkt, dass Pasqualinas Kultur tatsächlich vorzeitlich ist, d. h. dass sie die Wirklichkeit mit der Methode mythischen Denkens deutet. Schließlich würde ihnen auch nicht entgehen, dass Pasqualita ihre Welt in ihrer Totalität erlebt und umfasst: wenn sie sich mit der vierten Strophe nach Osten wendet, haben wir den Eindruck, als hätte sie sie eingekreist und komplettiert, als wäre sie mit der Gesamtheit des Bestehenden in Kommunikation getreten. Der Umstand aber, dass sie das mit einer uralten rituellen Formel erreicht hat, ohne Anlehnung an rationale Erkenntnis, steht in starkem und natürlich gesuchtem Gegensatz zu der Art und Weise, in der die moderne 40 RELA Dossier: Zoran Kravar Wissenschaft an die Welt herantritt, insbesondere jene, wie sie Dr. Atomic mit seinen Forschungen und Versuchen praktiziert. *** Die Beschwörung der Vorzeit in Adams-Sellars Oper könnte zugleich ein Vergleich sein, aber auch ein Kontrast zu ihrer Präsenz und Beschaffenheit im Ring des Nibelungen: Vergleich insofern, als sich noch einmal erweist, dass der antimodernistische Kritizismus – ebenso wie im Ring oder in der Geburt der Tragödie oder in der Revolte gegen die moderne Welt – gesetzmäßig durch eine imaginative Regression in vorgeschichtliche Welten unterstützt wird; Kontrast insofern, als Doctor Atomic bezeugt, wie sehr sich der Status der vorzeitlichen Phantasmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geändert hat, in einem gesellschaftlichen Ambiente, wo demokratische Spielregeln außer Frage stehen. Pasqualitas Worte, ihre Folklore hören sich zwar wie eine spezifische Mahnung an und werden als Modelle des archaisch Schönen erlebt, aber im Unterschied zu den regressiven Motiven in der originalen antimodernistischen Literatur besitzen sie keine korrektive Energie. Demnach sind die Inhalte, die Pasqualita in die Oper einbringt, viel mehr als ein individueller Einfall. Denn die amerikanischen Kulturprodukte ab den siebziger Jahren wimmeln von Evokationen vormoderner Werte, die allerdings Gegenstand ethnologischer Nostalgie bleiben oder zum Anlass genommen werden, um politische Korrektheit zu demonstrieren. Als magistrales Beispiel fallen mir die Partituren Philip Glass’ für Filme mit afrikanischen und indianischen Themen oder Assoziationen ein (Anima mundi, Koyaanisqatsi), aber die Erfahrung besagt, dass Interesse an einer zivilisierten, gezähmten und sogar in die ungestörte Abwicklung des modernen Le- bens eingeschlossenen Vorzeit nicht nur von der künstlerischen Sphäre gezeigt wird, der Glass und Adams angehören, sondern auch von der amerikanischen Pop-Kultur, insbesondere der Filmindustrie. In den letzten zwanzig Jahren habe ich mehrere amerikanische Filme gesehen, in denen rote, gelbe oder dunkelhäutige Episodendarsteller, ausgestattet mit religiöser, weltanschaulicher oder okkult-medizinischer Urweisheit, dem Menschen vom städtischen Asphalt auf seinem Weg zu persönlichem oder familiärem Glück im unberührten kleinbürgerlichen Alltag beistehen. Ein extremer Schritt in diese Richtung im Plädoyer für eine friedliche Koexistenz von Vorzeit und Moderne scheint mir Lucas’ Mehrteiler Krieg der Sterne zu sein, wo die phantastischen Jedi-Ritter – für sich genommen typische vorzeitliche Wesen, eingebettet in die als force gedeutete Totalität des Weltalls – ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung der demokratisch-republikanischen Ordnung sehen, derselben, die der einstige Antimodernismus als „Herrschaft der Minderwertigen“ denunziert hat. Alles das war natürlich anders in der Zeit zwischen Wagner und Klages oder Evola. Wie man hier bereits sehen konnte, haben die Motive der Vorzeit selbst in literarischer Applikation die Notwendigkeit erzwungen, die Repräsentationen der modernen Welt konsequent schwarz zu färben und die lineare Zeit der Moderne bzw. der Geschichte in eine kreisförmige umzugestalten. Die überlebenden Bewohner der Vorzeit haben sich nicht, wie die filmischen Jedis, der neuen Ordnung angepasst, sondern haben sie untergraben, wie Loge, der schon am Ende von Rheingold den Untergang der Götter plant: zur leckenden Lohe mich wieder zu wandeln, [...] sie aufzuzehren, [...] und wären es göttlichste Götter! TIONS Außerdem äußerte sich die negative Energie des originalen Antimodernismus auch in seiner Intensität, in seiner Fähigkeit, Philosophie zu werden, womit seine Sicht der Geschichte den Anschein einer theoretischen Erkenntnis gewann, oder sich in Bereiche der Ideologie auszubreiten, wo seine Losungen zu einem virtuellen politischen Programm wurden. Seine Ideologisierung stützte sich gewöhnlich auf Doktrinen rechts vom bürgerlichen Zentrum, insbesondere auf den Nationalismus („meine ethnische Gruppe hat als einzige das vorzeitliche Ethos bewahrt, während sich die anderen irreparabel modernisiert haben“), auf verschiedene elitistische Konzepte („meine Kaste ist [...]“) und auf den Rassismus („mein Ethnos widersetzt sich erfolgreich der Modernisierung dank seiner biologischen oder biopsychischen Übermacht“). Konsequenterweise war die thematische Welt des ideologisierten Antimodernismus von tiefen Abgrenzungen und potentiellen Fronten durchzogen, wobei sich seine ursprüngliche Antithetik in einen Komplex von Antipathien und Feindschaften verwandelte. Jenseits der Freund-FeindGrenze blieben gewöhnlich: • historische Figuren, die den Rationalismus und den Glauben an die Erkennbarkeit der Welt durch die menschliche Vernunft affirmiert oder an der Demythologisierung der Religion gearbeitet haben; die Vorsokratiker, Sokrates, Luther, Descartes, Hegel, Marx, moderne Naturwissenschaftler; • Gruppen, die angeblich die Vorzeit zerstört oder ihr Vergessen beschleunigt haben, sei es durch monotheistische Religiosität (Judaisten, optional auch die Christen, vor allem die Protestanten), anthropozentrische Lehren (Humanisten, Aufklärer), Teilnahme an der kapitalistischen Arbeitsteilung (Kapitalisten, Arbeiterschaft), Rationalisierung der politischen RELA TIONS Sphäre (Demokraten, Liberale, Sozialisten) oder Annahme denaturierter Lebensstile (Großstädter); • Völker, die gemäß stereotypen Vorurteilen, die Aufklärung begrüßt und/oder in der liberal-kapitalistischen Epoche starke Positionen bezogen haben, vor allem die Juden, aber auch die Franzosen und Engländer (aus der mitteleuropäischen Perspektive) und die Amerikaner (aus der allgemeineuropäischen Perspektive). Auch bei Wagner hatte der theatralische Antimodernismus sein ideologisches Komplement, das sich mit der Zeit immer weiter nach rechts vom Zentrum verschob und etliche seiner gefährlichen Beimischungen bewahrte. Die sichtbarste ist sicher die antisemitische, bezeugt in einer Reihe seiner schriftlichen Äußerungen, die sich von dem Artikel Das Judenthum in der Musik (1850) bis hin zum späten Essay Religion und Kunst (1880) spannen. Sie wurde, mit Blick auf das musikalisch-szenische Opus, von Adorno stark hervorgehoben (1974, 14-23) und wird in den letzten dreißig Jahren detailliert und unter Aufarbeitung immer umfangreicheren Materials analysiert, das nicht selten auch als Ausgangspunkt für die Deutung der Musikdramen dient, was allerdings auch allzu freie Interpretationen zeitigen kann (zum Beispiel Rose 1992), die zu polemischen Antworten herausfordern (vgl. Magee 2000, 373-377). In verschiedenen Lebensabschnitten, vor allem nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, hat sich Wagner auch als überzeugter, mitunter auch allzu eifriger Patriot zu erkennen gegeben, wobei er nationalistischen Kreisen nahe stand, die, wie Stefan Breuer (2001, 86) sagt, „dem deutschen Volksgeist eine universale Anlage bescheinigten und daraus Ansprüche auf Superiorität und Hegemonie ableiteten“, wenn auch nur Dossier: Zoran Kravar die kulturelle. Was hingegen den Rassismus betrifft, so war es für Wagner anscheinend selbstverständlich, dass die menschlichen Rassen „ungleich“ sind, im Sinne der Gobineau’schen inégalité, und in seinen – nicht-fiktionalen und dramatischen – Texten finden sich zahlreiche Spuren eines unreflektierten Rassismus: ein ungünstiges Urteil über historische Personen, mitunter gestützt durch die Erwähnung ihrer nationalen oder regionalen Zugehörigkeit, und die Beleidigungen, mit denen die Konfliktpersonen im Drama einander bedenken, können derart verfasst sein, dass sie nicht nur auf die Person zielen, sondern auch auf ihren Ethnos. In Wirklichkeit war Wagners Verhältnis zum Rassismus als Theorie, wofür seine eingeschränkte Rezeption der Gobineau’schen Ideen ein Beispiel ist, im Großen und Ganzen negativ, vorbestimmt von der Idee, dass die menschliche Gattung letzten Endes doch eine ganzheitliche Gemeinschaft bildet (vgl. Breuer 2001, 51; Borchmeyer 2002, 331). Aber dieser Standpunkt hat auch seine Kehrseite, die sich zeigt, wenn wir uns fragen, worauf Wagner seine Vision einer trotz rassischer „Ungleichheit“ vereinten Menschheit gründete. Borchmeyer (2002, 332) sagt darüber: „Dem von Gobineau verabsolutierten Rassenunterschied steht für Wagner also die durch Christentum garantierte Einheit der Menschheit gegenüber.“ Der Unterschied ist augenfällig, gilt aber nur halb, denn auch die korrigierte Idee und ihre Korrektur gehören zum selben Segment des ideologischen Spektrums: der extrem rechte rassistische Elitismus wird durch das gleicherweise undemokratische Prinzip des christlichen Egalitarismus ersetzt. Es ist auch nicht besonders tröstlich, dass sich Wagners späte Begeisterung für das Christentum als Begleiterscheinung seiner Arbeit am Parsifal begreifen lässt, denn das war mehr als 41 eine Kunstreligion und bezog sich durchaus auf eine historische Realität jenseits des ästhetischen Anscheins. Auch ich bin gerührt, wenn Siegfried Jerusalem in der Rolle des Parsifal das tief durchscheinende Gefäß in die Höhe hebt und es mit seinem roten Schein die graue Architektur der Gralsburg erleuchtet, wie sie sich Wolfgang Wagner vorgestellt hat (Bayreuth 1981). Aber zum ästhetischen Eindruck trägt auch die Sicherheit bei, dass ich mich, wenn ich die Geräte ausschalte, in der Realität wiederfinde, in der nur eine vernachlässigbare Anzahl von Mitbürgern auf Wagners Gedanken kommen könnte, Geschehnisse wie die im dritten Akt des Parsifal als Modell für eine „Regeneration der Menschheit“ zu nehmen. *** Wagners ideologisches Engagement lässt naturgemäß die Frage aufkommen, ob irgend etwas davon auch in die Musikdramen Eingang gefunden hat, vor allem in den Ring des Nibelungen. In der kritischen Literatur ist das nicht mehr strittig, womit sich auch meine Erfahrungen einigermaßen decken. Zum Beispiel fühle ich mich immer unwohl, wenn in der ersten Szene in Rheingold der Spott der Rheintöchter Alberich trifft („Pfui! Der Garstige!“), denn ich empfinde ihn als rassistisch: er beruht auf der Überzeugung, dass Rassenmerkmale nicht relativ sind, d. h. dass die Flussmädchen Wesen sind, die objektiv gelungener sind als die Höhlenzwerge, und dass sie das Recht haben, das auch zu sagen. Noch schwerer fällt es mir, die Hassergüsse Siegfrieds gegen Mime im ersten Akt von Siegfried mit anzuhören. Mime ist zwar ist eine getarnte Negativfigur, aber solange er den besorgten Fürsorger gibt, wäre Siegfried für uns annehmbarer als Naivling. Es wäre sympathischer und würde auch der Entwicklung der Beziehung zwischen Sigurd und Regina in der skandinavischen Vorlage 42 RELA Dossier: Zoran Kravar entsprechen, wenn er seine Abwehrhaltung einnähme, nachdem ihm der Waldvogel in wortloser Sprache des Zwergen wahre Absichten verraten hat (SI II, 3). Der Apriorismus seines Hasses, aber auch Beispiele seiner Verbalisierung deuten auf einen rassistischen Hintergrund hin. Andererseits führt die längere Beschäftigung mit dem Ring zu der Erkenntnis, dass Wagner als dramatischer Autor weitaus dialektischer und weniger vorhersehbar ist denn als Ideologe. In den Konflikten der scheinbar positiven und negativen Figuren des Rings des Nibelungen wissen wir nie, wessen Replik auf der internen Stufenleiter der ethischen Werte höher kotieren wird, wofür Alberichs Auftritte ein gutes Beispiel sind. In den radikalen ideologiekritischen Abrechnungen mit Wagner wurde es üblich, diese Figur als antisemitische Karikatur zu deuten. Aber wer aufmerksamer zuhört, wird bemerken, dass sie überhaupt nicht karikativ ist. Im ersten Wortgefecht mit Wotan (RZ 3), der ihn gefangen genommen, ihm die Tagesförderung an Gold und den Tarnhelm geraubt hat und sich jetzt anschickt, ihm auch den Ring abzunehmen, übertrumpft er mit seiner Schlüsselreplik nicht nur Wotans Quasi-Argumente, sondern trifft auch hervorragend das ethische Klima der Tetralogie, das eine Scheidung der Figuren in Unschuldige und Schuldige ausschließt. Alle sind durch ein unterschiedliches Ausmaß und eine unterschiedliche Art der Schuld belastet, und Alberich bringt in scharfsinniger und zugleich schmerzlicher Antithese, mit der er auf seine erotische Abstinenz anspielt, zur Kenntnis, dass seine Schuld nicht die größte ist: Frevelte ich, so frevelt’ ich frei an mir: doch an allem, was war, ist und wird, frevelst, Ewiger, du, entreißest du frech mir den Ring! Auch in der späteren Begegnung vor Fafners Höhle (SI II, 1) gelingt es Alberich, Wotans Autorität zu schmälern („Wie stolz du dräust in trotziger Stärke, / und wie dir’s im Busen doch bangt!“), und die Aura finsterer Größe behält er auch bei seinem letzten szenischen Auftreten bei, d. h. im Gespräch mit Hagen (GD II, 1). Trotz der Beleidigungen durch die Rheintöchter ist Alberich eine ernstliche Versuchung für einen empathischen Zuhörer, eine starke und unterschwellig anziehende Figur. Nicht weniger allerdings als die Sonderung des Akzeptablen vom Abstoßenden bei Wagner, im Bemühen zu beweisen, dass das erste über das zweite obsiegt, trägt zu seiner ausgeglichenen Rezeption die Qualität des sozialen Kontextes bei, der die Inszenierungen seiner Werke umgibt. Dabei gilt die Regel: je demokratischer und liberaler der Kontext, desto leichter können wir dem Ring des Nibelungen – oder Parsifal, Lohengrin usw. – Inhalte und Aspekte abgewinnen, die einer ästhetischen Reaktion wert sind. Adams-Sellars Pasqualita und ihr Schlaflied sind für mich ein Lehrstück über die Reduzierbarkeit ansonsten starker antimodernistischer Motive auf ungefährliche ästhetische Attraktionen unter Bedingungen, in denen der demokratische sensus communis auch für das auktoriale Bewusstsein gilt. Aber einige Beispiele aus der Literatur des 20. Jahrhunderts und ihre Rezeption zeigen, dass eine vom Vorherrschen moderner politischer Vernunft geprägte Kultur auch mit Werken zurecht kommt, die von einem Bewusstsein erdacht wurden, das sich implizit oder explizit in Gegensatz zu den Normen bürgerlicher Normalität stellt. *** Der Wechsel der literaturwissenschaftlichen Methodologien zu Ende des 20. Jahrhundert hat eine Situati- TIONS on geschaffen, in der man von Leuten meiner Branche erwartet, dass sie sich als Vortragende und Autoren von Fachtexten zeitweilig auch mit populärer Literatur beschäftigen. Auch selbst diesem Trend folgend, habe ich zu einem meiner akademischen Themen J. R. R. Tolkien gemacht, den ich auch früher nicht ohne Interesse gelesen hatte. Ähnlich wie bei Wagner haben mich auch bei Tolkien am meisten die antimodernistischen Motive angezogen, die es bei ihm im Überfluss gibt, obwohl sie im Großen und Ganzen in den Grenzen des fiktionalen Opus bleiben und keine bösartigen Formen annehmen. Von den augenfälligsten habe ich in einem schriftlichen Beitrag (Kravar 2007) besonders die regressive Konzeption des erfolgreichen Herrschers (Beispiel: Aragorn, Die Rückkehr des Königs) und die Bestrafung des anthropozentrischen Individualismus (Beispiel: Túrin, Die Kinder Húrins) herausgehoben. Dennoch bin ich beim selben Anlass (ibid., 177) zu dem Schluss gekommen, dass bei Tolkien, anders als bei den eingeschworenen Antimodernisten, besagte und ähnliche Motive „in der Quarantäne durch das Vorzeichen reiner Phantastik und ideologischer Harmlosigkeit gekennzeichneter literarischer Gattungen bleiben“. Diese Wertung ist nicht absolut, sondern kontextabhängig: sie gilt für die Rezeption von Tolkiens Erzählungen in einem sozialen Umfeld, in dem der demokratische Ausbau des politischen Willens nicht in Frage steht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine neue Rechte, wenn sie von kataklysmischen Veränderungen der politischen Landschaft Europas an die Oberfläche gespült würde, ihre Programme mit sentimentalen Reminiszenzen an Tolkiens regressive Phantastereien schreiben würde, so wie das schon die stillen Antimodernisten von heute tun, die, obwohl deklarativ noch immer den Prinzipien aktueller politischer Kor- RELA TIONS rektheit ergeben, eigentlich von den Visionen einer mystifizierten, „holistischen“ Ökologie inspiriert sind (vgl. Curry 1997). Vom Vergleich zum eigentlichen Thema übergehend, würde ich sagen, dass das demokratische Gesellschaftsklima auch die Rezeption des Rings des Nibelungen erleichtert. Es verringert nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus den Szenen auf der Bühne ideologische Missbildungen entwickeln. Rückwirkend betrachtet wäre Wagner vielleicht auch nicht in solchem Maße „ein schwieriges Erbe“ (Grüner 2008), wenn der Staat, in dem sich Bayreuth befindet, seit jeher so demokratisch gewesen wäre, wie es heute der Fall ist. Zwar gelang es auch dem konservativen Liberalismus der Bismarckära, den Ideologen Wagner und den Missbrauch seiner Musikdramen einigermaßen zu marginalisieren. Aber schon früh begannen sich in Bayreuth die Völkischen und ähnliche Brüderschaften zu scharen, die bereit waren, die szenische Illusion oder ihre eigenwilligen Interpretationen als Modell für die Karnevalisierung des politischen Lebens zu nehmen. Und alles was nach Bismarck folgte (Wilhelminische Zeit, Erster Weltkrieg, die unsichere Weimarer Republik, Nazismus), beschleunigte das Wuchern der potentiell bösartigen Seite des Wagnerschen Phänomens. Von 1945 an bis heute ist der Stand der Dinge, wie wir wissen, ein anderer. Das moderne deutsche Theater ist der Ausdruck einer ernsthaft und aufrichtig demokratisierten Kultur, und das zeigt sich auch in den neuen Inszenierungen des Rings des Nibelungen, die die Aufgabe einer Nos- Dossier: Zoran Kravar trifizierung auf sich genommen haben. Ich bin kein bedingungsloser Verfechter des Regietheaters und seines Interventionismus, aber ich glaube, dass Inszenierungen wie die von Friedrich, Chéreau und Kupfer zur Erleichterung des „schweren Erbes“ beigetragen haben, unter anderem auch durch Unterstreichen dessen, was in ihm ethisch und ideologisch verdächtig ist. Es stört auch nicht, dass darin manchmal übertrieben wird, wofür ich als Beispiel die neurotische Hast erwähnen würde, mit der Kupfers Wotan (John Tomlinson) zwischen Rampe und Bühnenhintergrund hin und her wechselt (Rheingold), oder Chéreaus Interpretation des Gesprächs zwischen Mime und Wotan dem Wanderer (SI I, 2), wo Wotan (Donald MacIntyre) drastisch den Vokativ Zwerg betont, obwohl wir aus dem Kontext ersehen, dass das Wort nicht als rassistische Beleidigung gedacht ist, sondern wertmäßig neutral ist (Mime bezeichnet sich auch selbst als „Zwerg“). Aber wie auch immer, Wagner, der weltanschauliche Antimodernist, hat es verdient, dass die heutige Zeit, die Freiheiten der ihm angemessenen theatralischen Expression ausnutzend, seine Musikdramen mit mehr oder weniger Rachelust immer wieder revidiert. Literaturhinweise Adorno, Theodor W (1974), Versuch über Wagner (1952), Frankfurt am Main. Borchmeyer, Dieter (2002), Richard Wagner, Frankfurt am Main – Leipzig. Breuer, Stefan (2001), Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen, Darmstadt. 43 Candoni, Jean-Frangois, La genèse du drame musical Wagnérien, Bern. Clute, John – Grant, John (1997), The Encyclopedia of Fantasy, London. Curry, Patrick (1997), Defending MiddleEarth. Tolkien: Myth and Modernity, London. Grüner, Jan Ingo (2008), Die Rezeption Richard Wagners in der Bundesrepublik Deutschland: Rettung eines schwierigen Erbes, Stuttgart. Kitcher, Philip – Schacht, Richard (2004), Finding an Ending. Reflections on Wagner’s Ring, Oxford. Klages, Ludwig (2001), Vom kosmogonischen Eros (1922), Bonn. Kravar, Zoran (2003), Antimodernizam, Zagreb. Kravar, Zoran (2007), „Duboka fikcija“, Ubiq 1 (2007), Nr. 1, S. 174-184. Lacoue-Labarthe, Philippe (1991), Musica ficta. Figures de Wagner, Paris. Magee, Bryan (2000), Wagner and Philosophy, London. 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Es war das eines von denen, die nur persönlich und gegen Unterschrift ausgehändigt werden, und als an jenem Tag die Post ausgetragen wurde, war ich nicht zu Hause gewesen. Nachdem ich am frühen Nachmittag zu einem nahe gelegenen Laden gegangen war, war ich gute fünf Minuten später wieder zurück, als der Postbote gerade weitergefahren war. Noch war aus dem Nachbarstraße das Knattern seines Mopeds zu hören, als ich den Zettel aus dem Kasten holte und in der Hand drehte. Auf dem Zettel stand, dass die nicht ausgehändigte Sendung nach 18 Uhr auf dem und dem Postamt zu beheben sei und aus „GB“ komme. In jenen Tagen erwartete ich aus GB nur einen über das Internet bestellten Tonträger, und sofort fiel mir ein, was der Briefträger gebracht und wieder mitgenommen hatte, worauf mich eine Stimmung erfasste, die von Zufriedenheit und zugleich Ungeduld gekennzeichnet war. In den nächsten Stunden nahm der Grad der Zufriedenheit nicht ab, dafür wuchs die Spannung, und als ich endlich im Bus saß, war ich ungeduldig wie selten einmal. Denn die Sendung, deretwegen ich unterwegs war, war nicht wie andere. Auf sie wartete ich schon mehr als ein Vierteljahrhundert. *** Im Studienjahr 1979/80 weilte ich als Stipendiat in der badischen Universitätsstadt Konstanz. Ich wohnte in einer Pension in einer kleineren Vorstadtgasse, ungewöhnlich auf Grund ihres hufeisenförmigen Verlaufs. Sie zweigt von einer breiten Hauptverkehrsader ab und steigt den Berghang empor, um dann in einer Kehre zur Hauptstraße zurückzuführen. Eines Tages im Oktober kehrte ich am frühen Nachmittag in die Pension zurück, stieg hinauf in mein Zimmer und schaltete das Radio ein. Die Musik, die mir entgegen klang, zog mich rasch in ihren Bann, und bewog mich, alle Tätigkeiten ruhen zu lassen, die einer sonst verrichtet, wenn er nach Hause zurückkehrt und das Radio einschaltet, nur damit es spielt. Ich setzte mich gegenüber dem Fenster, unter dem die Kommode mit dem Apparat stand, ließ meinen Blick auf der Krone der Buche ruhen, die im Garten der Pension wuchs, und begann zuzuhören, wie jemand zuhört, wenn er nichts anderes tut. Anhand zahlreicher musikmorphologischer Hinweise war zu erahnen, dass ich in den ersten Satz eines größeren sinfonischen Werkes geraten war und dass da noch eine Menge zu hören sein würde. Die musikalischen Themen und Strukturen, die in den folgenden vierzig Minuten aus dem Radioapparat kamen, wirkten vertraut und apart zugleich. Die Komposition war tonal, und mit der Zeit bestätigte sich ihre sinfonische Form mit der üblichen Satzanordnung. Anhand der Abhängigkeit des formalen Bauplans, des Themenmaterials und der harmonischen Syntax von der österreichischdeutschen Musik zwischen den sechziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die wir gewöhnlich als spätromantisch bezeichnen, war anzunehmen, dass der Komponist aus dem deutschen Sprachraum stammte. Das Aparte hingegen lag darin, dass die bekannten Elemente in Kombinationen vorkamen, die verschieden klangen, so dass niemand sie mit den Tonsprachen verwechselt hätte, deren Elemente sie sich bedienten. Außerdem lag im Bau der Motive und in der Natur ihrer Verknüpfungen ein gewisse Sophistik und Sprödigkeit, an der ihre Abhängigkeit, ja Zweitrangigkeit erkennbar war. Natürlich kam mir der Gedanke, dass zwischen dieser Sinfonie und ihren Vorbildern ein gewisser Zeitraum und auch eine Art Entwicklungsweg liegen müsse. Ohne viel nachzudenken ordnete ich das Werk in die Zeit nach 1900 ein, was sich später als zutreffend herausstellen sollte. 46 RELA Dossier: Zoran Kravar Dennoch war es ein schönes Musikerlebnis. Die Musik bewirkte nicht nur Neugierde, sondern sie wirkte auch, indem sie einen flimmernden, aber ungetrübten Sinnesreiz ausübte, zu dem ihr überwiegend in Dur gehaltener Klang und ihre undramatische Entwicklung beitrugen, der es trotz des Wechsels der Motive und der durchgeführten Paraphrasierungen, an Zielstrebigkeit, Abgestuftheit und agonalen Situationen mangelte. Auch die Klangfarben, klar und deutlich abgesetzt, reihten sich ohne Aufeinanderprall aneinander: Verschnörkelte Figuren der Geigen, kurze Soli der Holzbläser und zeitweilige Choräle der Blechinstrumente wechselten oft und gefällig, aber nicht in Antithesen, sondern eher in einem flachen Oszillieren, dass sich Zeit nimmt, ohne sie zu dramatisieren. Die Buche im Hof, deren Krone mir die ganze Zeit über das Blickfeld füllte, befand sich in diesen Tagen in der ersten Phase der Verfärbung, und so trug sie grüne und rote und gelbe Blätter, und die alle zitterten in einer leichten Brise, wobei von Zeit zu Zeit das eine oder andere gelbe Blatt abfiel. Dieses Kolorit und seine relative Dynamik (die Lebendigkeit von Laub und Zweigen kontrastierend zur Ruhe des großen Stammes) traten allmählich in Korrelation zu den Höreindrücken und boten sich an als willkommenes Diagramm der Musik eines unbekannten Komponisten und ihrer ungewöhnlichen Kinetik, die unermüdlich wirksam war, wenngleich sie von keinerlei Gedanken an Richtung und Ziel, an Peripetie und Auflösung beschwert war. Aber allmählich trat die Sinfonie in ihren letzten Satz ein, und der in seine Coda. Nach einer kurzen Pause, erfüllt von Erwartung und Verzicht auf Herumraten, meldete sich der Sprecher: wir hörten, sagte er, die Zweite Sinfonie von August Halm. *** Seit meinem Aufenthalt in Konstanz sind mehrere Jahrzehnte vergangen, so dass ich heute nicht mit Sicherheit behaupten kann, ob ich von August Otto Halm (1869-1929) zum ersten Mal in der Absage seiner Sinfonie gehört habe, oder ob ich schon früher auf seine musikwissenschaftlichen Werke aufmerksam geworden bin, durch die er ebenso bekannt ist wie er als Komponist vernachlässigt wird. Auf seine Theorien wurde meine Aufmerksamkeit durch die Werke Die Idee der absoluten Musik von Karl Dahlhaus und Savremena estetika muzike (‚Moderne Musikästhetik‘) von Ivan Focht gelenkt, wo Halm ein Kapitel gewidmet ist. Aber Fochts Buch erschien erst 1980, und das von Dahlhaus war 1978 herausgekommen, also nur ein Jahr bevor ich nach Konstanz gegangen war, daher ist es zweifelhaft, ob ich es mir schon im selben Jahr besorgen und lesen konnte. Vielleicht habe ich es mir gerade in Konstanz gekauft, aber wenn ich es getan habe, dann sicherlich nicht im Oktober, weil ich damals, kaum angekommen, anderes zu tun hatte. Ungeachtet der Reihenfolge, in der ich mit Halms Musik und seinen Ideen Bekanntschaft gemacht habe, hat sich aus den Eindrücken über sie mit der Zeit ein eigener, immer zugänglicher „file“ in meiner Erinnerung formiert, der in den späteren Jahren auch Ergänzungen erfahren hat. Allerdings hat den Anlass dazu nur die zeitweilige Lektüre von Halms musikwissenschaftlichen Arbeiten gegeben. Halm hat eine Reihe von Büchern geschrieben, darunter eine Monografie über Bruckner als Sinfoniker (Die Symphonie Anton Bruckners, 1914) und eine musikmorphologische Studie über Fuge und Sonate, die typischen Formen der vorklassischen bzw. klassisch-romantischen Musik. TIONS Die Studie trägt den Titel Von zwei Kulturen der Musik und ist 1913 erschienen, sie erlebte zwei weitere Ausgaben, die letzte 1947. Auf ihr beruht in der Hauptsache das Renommee Halms als Musikwissenschaftler. Die Methode, mit der er in den Zwei Kulturen über musikalische Formen nachdenkt, wird von Focht (1980, 129) als „phänomenlogisch“ bezeichnet, obwohl sich in ihr auch Beimischungen eines gestalttheoretischen Funktionalismus bemerken ließen, der sich in Halms Grundgedanken zeige, dass Fuge und Sonate nicht zwei gleichberechtigte musikalischen Formen seien, sondern zwei unterschiedliche hierarchische Beziehungen zwischen Form und Thema: während in der Fuge das Thema der Form vorangehe und die Form eine Begleiterscheinung der thematischen Arbeit sei, gehe in der Sonate gewissermaßen umgekehrt die Form den Themen und ihren Beziehungen voran, so dass sogar eine Sonate ohne Thema, d. h. mit symbolischen Ersatzstücken für sie, vorstellbar sei. Aber Halm geht auch über die Morphologie hinaus und begibt sich auf ein Gebiet, das von Dahlhaus (1978, 120) als „Philosophie der Musikgeschichte“ und von einem jüngeren Autor (Rothfarb 1998) als „Ideologie“ bezeichnet wird. In den Zwei Kulturen sind nämlich Fuge und Sonate nicht nur Gegenstand typologischer Betrachtungen, sondern werden auch als Schlüsselstationen der Musikgeschichte begriffen. Für Halm deckt sich mit anderen Worten die historische Musikentwicklung im Wesentlichen mit dem Aufkommen der Fuge und der Durchsetzung der Sonate, wobei als eine weitere Station die Synthese aus beiden Formen hinzukommt. Die drei Stationen werden gleichsam in der Manier des Hegelschen geschichtsphilosophischen Reduktionismus mit den Namen dreier Komponisten gleichgesetzt: mit Bach als dem Meister der Fuge, mit Beet- RELA TIONS hoven und seinen Klaviersonaten und mit Bruckner, der im Rahmen seines kontrapunktisch angereicherten Sinfoniesatzes dem Thema seine formbildende Energie zurückgibt. Von den beiden Seiten der theoretischen Gedanken Halms ist für den heutigen Leser die morphologische interessanter und auch verständlicher als die geschichtsphilosophische. Die Überzeugung, dass bei Bach und Beethoven die Fuge bzw. die Sonate kulminieren, ist auf der einen Seite eine aus der Allgemeinbildung resultierende Selbstverständlichkeit, während sie sich auf der anderen Seite von den heutigen musikwissenschaftlichen Theorien abhebt, die in Verbindung mit den Musikformen und deren Realisationen lieber von Unterschiedlichkeit als von geringerer oder größerer Vollkommenheit sprechen (zum Beispiel Rosen 1988). Die Meinung wiederum, dass gerade Bruckners Sinfonien auf der Linie einer Synthese der beiden Formen liegen und dass die Synthese von Fuge und Sonate überhaupt das Entwicklungsziel der Tonkunst sei, wird nur verständlich auf Grund des Einblicks in den Solipsismus des wilhelminischen Deutschlands, der die Fama vom deutschen Monopol in der Tonkunst und mehrere triadisch konstruierte Philosophien der Musikgeschichte stützte, in denen alle Namen deutsch waren. Keine dieser Triaden kam ohne Bach und Beethoven aus, und nur die Frage des „dritten Mannes“ blieb offen (Dahlhaus 1978, 120): „Bülow plädierte für Bach, Beethoven und Brahms, Nietzsche für Bach, Beethoven und Wagner, August Halm für Bach, Beethoven und Bruckner.“ *** Dem Komponisten Halm bin ich später nicht mehr begegnet. Es war natürlich nicht schwer herauszufinden, dass er seine Zweite Sinfonie (in F-Dur) 1910 beendet und dass Dossier: Zoran Kravar er außer ihr zwei weitere Sinfonien geschrieben hat (Nr. 1 in D-Moll, für Streichorchester, 1907; Nr. 3 in A-Dur, 1911-1924), ein Konzert „für Orchester mit obligatem Klavier“, mehrere Streichquartette, je zwei Violinund Klaviersonaten und noch etliche Kammer- und Vokalkompositionen. Aber da ich in musicis kein Fachmann bin und Musik höre, aber nicht lese, konnte ich nur hoffen, dass eines dieser Werke einmal auf einem Tonträger verfügbar sein würde. Anfangs war diese Hoffnung gering. Von Halm war, wie ich mich beim Durchblättern der Kataloge sofort überzeugen konnte, nie etwas für den Markt aufgenommen worden. Jene Sinfonie war, wie ich mich gut erinnere, vom Kulturprogramm des Stuttgarter Rundfunks ausgestrahlt worden, aufgenommen hatte sie das dortige Radiosinfonieorchester, offensichtlich für den Eigenbedarf des Senders, wobei die Motive auch lokalpatriotische sein konnten, denn Halm stammte aus der Umgebung von Stuttgart. Wie auch immer, die Aufführung gelangte nicht auf kommerzielle Tonträger. Es war das noch im Zeitalter der Vinyls, als das Aufnehmen mehr kostete als heute und sich das aufgenommene Repertoire im großen und ganzen mit dem der Konzertveranstaltungen deckte. Als die digitale Revolution aus der Anfangsphase heraus war und das starke Interesse neu gegründeter Independent-Labels für vernachlässigte konservative Komponisten in der Zeit um 1900 dem Musikgeschäft neue Impulse gegeben hatte, stiegen meine Hoffnungen auf eine neue Begegnung mit Halm. Trotzdem erinnerte sich seiner auch zu der Zeit niemand, als man schon die Sinfonien eines Cyril Scott, Ture Rangström und Richard Wetz oder die Klavierquintette eines Ludwig Thuille und Paul Le Flem erwerben konnte. Zwei oder drei Mal setzte ich mich der Unbequemlichkeit aus und füll- 47 te Befragungslisten aus, die von einzelnen Firmen den Heften ihrer CDs beigelegt werden (wo man gefragt wird, ob man Klassik oder Jazz liebe, ob man weiblich oder männlich sei, und ob man der Altersgruppe von 25-50 oder 51-75 angehöre), um in der Rubrik „Ihre Anregungen“ Halm einzutragen. Halm fiel mir auch wieder ein, seit ich ans Internet angeschlossen bin, das mir, verzweigt wie es ist, auf diesbezügliche Anfragen etwas zu sagen wusste. Dort fand ich zum Beispiel seine kurze Biografie (auf einer Seite über Komponisten aus Württemberg), in der es heißt, er sei unerwartet und infolge eines Unglücksfalls gestorben, an Blinddarmentzündung. Ich bemerkte auch das Vorkommen seines Namens in zwei oder drei Artikeln über alternative Pädagogik der Wilhelminischen und Weimarer Epoche und erfuhr, dass er sich den größten Teil seines Arbeitslebens mit experimenteller Musikerziehung beschäftigt, mit dem pädagogisch alternativ orientierten Gustav Wyneken zusammengearbeitet hat und auch lange in dessen Freier Schulgemeinde im Thüringischen Wickersdorf tätig gewesen ist. Ich fand Halm auch in mehreren musikwissenschaftlichen Bibliografien, die davon zeugen, dass über seine Bücher auch heute noch geschrieben wird, und in denen die Beiträge des amerikanischen Musikwissenschaftlers Lee Rothfarb zahlenmäßig hervorstechen. Aber auch im Internet gab es keinerlei Hinweise, das Halms Musik von irgendwem irgendwann aufgenommen worden wäre. Und dann, eines Abends, geschah endlich ein Wunder. Es gibt eine kleine Internet-Seite unter der Bezeichnung Unusual Composers, auf der man erfährt, dass jemand gerade ein Streichquartett von Willem Pijper oder das Klaviertrio von Jean Cras aufgenommen hat. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, 48 RELA Dossier: Zoran Kravar dort von Zeit zu Zeit nachzusehen, was es Neues gibt, meistens zu Monatsanfang, wenn die Verzeichnisse auf den neuesten Stand gebracht werden. Und um nicht zu ausführlich zu werden: als ich in den ersten Februartagen einen Blick auf die Seite warf, stand gleich ganz oben in er Liste, dass die schwedische Firma Sterling in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Südwestfunk eine CD mit der Sinfonie Nr. 3 in A-Dur von August Halm herausgebracht habe, worauf noch eine kurze und konzise Werkbeschreibung folgte. Erfreut über die gute Nachricht (obwohl auch ein wenig enttäuscht, dass die Wahl nicht auf die Zweite Sinfonie gefallen war), und dann etwas besorgt, als ich las, dass Sterling die Aufführung einem Provinzorchester und einem mir unbekannten Dirigenten anvertraut hatte (Württembergische Philharmonie Reutlingen, Per Borin), aber letztlich doch froh gestimmt und auch ein wenig aufgeregt, surfte ich zum Internet-CDLaden Crotchet, wo sie besagte CD bereits hatten. *** Im Bus, mit dem ich von der Post zurückkehrte, drehte ich das flache Päckchen hin und her, betrachtete es mal von der einen, mal von der anderen Seite und versuchte es sogar zu öffnen. Ich scheine dabei etwas Ungeduld gezeigt zu haben, denn die Mitreisenden sahen mit Interesse herüber und wandten sich dann wieder ab, als ich das Päckchen wieder in der Tasche verschwinden ließ, nachdem ich eingesehen hatte, dass für Crotchets Verpackung Finger und Fingernägel nicht ausreichen würden. Meine Vorstellungen, wie das bevorstehende Kammerkonzert ablaufen würde, gerieten etwas ins Wanken. Neben fraglos positiven Vorgefühlen meldete sich ein wenig auch die Furcht, ob die erneute Begegnung mit dem Komponisten so ausfallen würde, wie wenn wir nach vielen Jahren Menschen begegnen, die uns in einem bereits abgeschlossenen Kapitel unseres Lebens – zum Beispiel in der Schule oder beim Militär – nahe standen und teuer waren: wir haben zusammen beim Wein gesessen, gelacht, uns auf die Schulter geklopft und an eine lange Freundschaft geglaubt, aber jetzt erscheint uns die Person uninteressant und fern, und Gesprächsthemen finden wird nur mit Mühe. Aber als ich alles Zwischenzeitige erledigt und die Crotchet-Schachtel, nicht ohne heldenhaften Widerstand ihrerseits, der Schere nachgegeben hatte und kurz darauf die musikalischen Themen und Strukturen ihre digitale Aufzeichnung zu verlassen begannen, zeigte sich, dass sich die positiven Erwartungen eher bewahrheiteten und nur wenig durch den Umstand überschattet wurden, dass die Sinfonie ihre Notenschrift unter Vermittlung eines Orchesters nebst Dirigenten aus dem nicht gerade großen Reutlingen verlassen hatte, die sie in einem mäßig akustischen Saal und uninspiriert, wenngleich im großen und ganzen deutlich strukturiert und mit etlichen feinen Auftritten der Holzbläser, heruntergespielt hatten. *** Das déjà vu-Erlebnis wird in den Wörterbüchern auf zweierlei Weise erklärt. Ich zitiere aus Webster (1999, s. v.): „1. fr. schon gesehen; unoriginell, wie eine Szene in einer trivialen Geschichte oder einem veralteten filmischen Verfahren; 2. psychol. die Illusion, etwas bereits erlebt zu haben, das einem zum ersten Mal begegnet.“ Während ich Halms Sinfonie in ADur hörte, meldete sich das Gefühl des déjà vu in der zweiten Bedeutung: hier und da hatte ich das Gefühl, das Werk schon einmal gehört zu haben. Rational ließe sich das durch die Annahme erklären, dass zwischen der TIONS Dritten Sinfonie und jener, deren Konturen ich in Erinnerung behalten hatte, Ähnlichkeiten gab, aber ich fragte mich mitunter (und frage mich das auch jetzt), ob nicht ein Irrtum im Spiel sein könnte, d. h. ob ich dort in Konstanz nicht in Wirklichkeit die Dritte Sinfonie gehört und sich die „Nr. 3“ in einer Phase der Erinnerung an das immer weiter entfernte Ereignis in „Nr. 2“ verwandelt hatte. Allerdings bin ich noch immer eher bereit zu glauben, dass es damals die Zweite war, nur fürchte ich, dass ich die Sache erst ins Reine bringen kann, wenn sich jemand entschließt, auch dieses Werk aufzunehmen. Die Dritte Sinfonie hat auch in dem Sinne mit der Erfahrung des déjà vu zu tun, als sie „unoriginal“ beziehungsweise abhängig ist: ihre Elemente und Strukturen klingen bekannt, und als Rahmen dieses Wiedererkennens drängt sich auch dieses Mal die musikalische Sprache der österreichisch-deutschen Spätromantik auf. Es gibt also keinen Zweifel, dass Halm in der hartnäckigen Überzeugung lebte und arbeitete, nach der Epoche von Brahms und Bruckner habe sich in der Musik nichts Relevantes ereignet. Das hat er auch als Musikwissenschaftler in seinem Buch über die zwei Kulturen der Musik zur Kenntnis gegeben, wo er Bruckner (1824-1896) zur „modernen Musik“ zählt (Halm 1947, 16). Trotzdem erkennt man bei der ADur-Sinfonie sofort, dass sie jünger ist als die kanonischen Beispiele der musikalischen Spätromantik. Auf der einen Seite ist die musikgeschichtliche Aussagekraft ihrer Inhalte bestimmter und weitreichender als jene, die den großen Werken aus den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhundert zu eigen ist. So zum Beispiel ruft das mittlere Thema des dritten Satzes (der kein richtiges Scherzo ist, sondern den Titel Szene trägt) das 18. Jahrhundert in Erinnerung, und das zweite Thema des Finales (ein RELA TIONS Choral der Blechbläser) hat einen gregorianischen Beiklang. Das erinnert von fern an eine Traditionsauffassung, die für das 20. Jahrhundert typischer ist, das heißt, für künstlerische Tendenzen, denen heute Bezeichnungen mit den Präfixen „meta-“ oder „post-“ verliehen werden, obwohl betont werden muss, dass bei Halm die Evokationen der musikalischen Vergangenheit keine Zitate sind, sondern eher historistisch stilisierte Inventionen, das heißt, dass in seinen Augen die Tradition noch immer Subjekt ist und nicht Objekt, Gegenstand des Einlebens und nicht Montage. Auf der anderen Seite kommt es in der Sinfonie auch zu Verdichtungen des spätromantischen Klangbildes: die Themen sind mitunter komplex und ausgeschmückt, obwohl im Großen und Ganzen charaktervoll und gefällig, und das im Verlauf des Satzes abgeleitete Material überwiegt über das originale. In den Sätzen mit Elementen der Sonatenform (1. Allegro comodo; 4. Rondo. Allegro moderato) nehmen die Durchführungsverfahren bedeutend mehr Raum ein als die Exposition, wo sie ebenfalls schon antizipiert werden. Die thematische Arbeit ist phantasiereich, und der schnelle Rhythmus der motivischen Abwandlungen wird durch den Wechsel der orchestralen Farben unterstützt. Auch nach mehrfachem Hören ist es nicht möglich sagen, auf wie vielfältige Weise die durchgeführten Motive gegeneinander stoßen und sich einfügen, wie sie einander wechselseitig aufrufen, kombinieren und begleiten. Die höchste Wirkung dieser umfangreichen Durchführungen schien sich mir aber doch mit jener undramatischen Oszillation zu decken, die ich erlebte, als ich Halm in Konstanz hörte. Nur gab es dieses Mal keine Laubkrone, auf die ich meine Eindrücke hätte projizieren können. Es war schon dunkel, tiefe Wolken zogen über die Landschaft, Dossier: Zoran Kravar und während des zweiten Satzes setzte einer jener Schneestürme ein, mit denen sich der Februar 2005 lange im Gedächtnis halten sollte. Von den Epitheta, die mitunter den klassischen, romantischen und spätromantischen Sinfonien zugeschrieben werden (eroica, fantastique, tragische, pastorale, romantische), würde sich für Halms Sinfonie jene am besten eignen, die keinesfalls zu der Stimmung eines kalten und schneereichen Februars passt, und zwar pastoral oder, besser gesagt, idyllisch, wenn wir Idylle als eine etwas abstrahierte, von Schafsgeblöke und Hirtenflöten gereinigte Pastorale begreifen. Motive und Strukturen, die wir im Rahmen der klassischen und romantischen Codes als Symbole einer idyllischen Stimmung dechiffrieren, haben bei Halm die Rolle, die jener vergleichbar ist, die in der Thermodynamik dem Phänomen der Entropie zukommt. Der Klang, der den mit dem sinfonischen Schaffen der Romantik vertrauten Hörer dazu verleitet, Eindrücke von einem Ausflug, Blicke auf Ebenen und Hügel einer Landschaft bei unterschiedlichem Tageslicht, auf die von einem Lufthauch oder vom Wind bewegten Baumkronen aus der Erinnerung heraufzuholen, ist der wahrscheinlichste Zustand der Halmschen Sinfonie und ein Korrektiv für ihre Motive, gleich nach welchem Charakterzug man sie auch zu trennen versucht: dem heroischen, tragischen, fantastischen oder mystischen. *** Obwohl man in Deutschland in der Zeit, in der Halm an seiner Dritten Sinfonie schrieb (1911-1924), bereits Musik expressionistischen, aber auch neoklassischen Klangs hören konnte, lasse ich die musikalische Avantgarde für den Augenblick beiseite. Ohne Umschweife indessen betone ich, dass wir in der Sinfonie auch sehr wenig von den Stilen des 49 frühen Modernismus vorfinden, jener Stile, die – parallel zu Symbolismus, Sezession und Impressionismus in anderen Künsten – die europäische Musik zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg revolutioniert haben, unter anderem auch durch die Legalisierung von Dur und Moll unterschiedener Tonarten (chromatische, ganztonige, modale). In dem Text allerdings, der Halms CD beigegeben ist und dessen Autor der kompetente Lee Rothfarb ist, lesen wir, dass man in der A-Dur-Sinfonie stellenweise den Einfluss von Mahler und Strauss spüre (Rothfarb 2004, 5). Ich halte das für unbestritten, denn ich habe selbst an zwei oder drei Stellen an die erwähnten zwei gedacht: Mahler kam mir am unmittelbarsten in den Sinn beim Anfang der Durchführung im ersten Satz, der durch Stimmendichte und stärkere harmonische Verschiebungen gekennzeichnet ist, während mich das erste Thema desselben Satzes mit der Spannweite seiner Intervalle und einer Metrik, die den Wechsel langer und kurzer, gehaltener und beschleunigter Noten einschließt, an Strauß erinnerte, wenngleich eher an seine Werke aus den vierziger Jahren (Konzert für Oboe, Concertino für Klarinette und Fagott). Insgesamt indessen unterscheidet sich Halm sowohl von Mahler als auch von Strauss, was sich, glaube ich, auch mit einer detaillierten Analyse der scheinbaren Ähnlichkeiten beweisen ließe. Selbst in jenem scheinbar Strauss’schen Thema aus dem ersten Satz, ist, wenn wir aufmerksamer zuhören, das Fehlen eines Merkmals zu bemerken, das für Strauss distinktiv ist, nämlich des schnellen harmonischen Rhythmus. Während Strauss in den Grenzen einer Phrase gern in entfernte Tonalitäten springt, vollzieht sich in Halms Thema die Entwicklung der Phrase doch innerhalb der normalen harmonischen Funktionen und kommt es zu chromati- 50 RELA Dossier: Zoran Kravar schen Verschiebungen in den Passagen zwischen den Phrasen. Natürlich sind die Verschiebungen wahrscheinlicher in den durchgeführten Teilen der Sätze, wo die Phrasen elliptisch und die Passagen häufiger sind. Solche Analysen, wenn es mehr davon gäbe und wenn sie fachlicher wären, würden nicht nur bestätigen, dass es Unterschiede gibt, sondern würden vielleicht auch ihre Grundlage ans Licht bringen, wobei sich vermutlich herausstellen würde, dass sich Halm von seinen sezessionistischen Zeitgenossen vor allem insofern unterscheidet, als er auch als Komponist, und nicht nur als Autor der Zwei Kulturen der Musik, die Traditionskette „Bach – Beethoven – Wagner“ ignoriert. Mahler und Strauss hatten Wagners Chromatik „im kleinen Finger“ und natürlich noch manch anderes in den großen. Rothfarb erwähnt auch Bruckner, aber der ist im Gespräch über Halm ohnehin unumgänglich, ungefähr so wie Zeus im Mythos von Ganymed. Trotzdem kommt er bei Halm, im Sinne einer Übernahme musikalischer Strukturen, weniger vor, als es der kundige Hörer erwarten würde. Die eine oder andere ostinate Begleitfigur oder kühnere harmonische Progression klingt wie ein Zitat aus dem reifen und späten Bruckner, aber die Merkmale, anhand deren sich seine Sinfonien im gleichen Moment erkennen lassen – Thematik mit langem Atem, gemäßigte Tempi, ruhige Gradierung, abgestufte Dynamik, blockmäßiges Design der Sätze – haben in Halms Dritter keine rechten Analogien. Sie unterscheidet sich, gerade im Gegenteil, durch sprunghafte, brüchige Themen, und der Wechsel der Motiveinheiten und Orchesterfarben geht bedeutend schneller vor sich als bei Bruckner. Von den Sätzen besitzt nur das adagio Brucknerschen Bauplan, aber auch seine Klangdramaturgie ist eine andere: obwohl es im ersten Moment scheint, dass das Hauptthema – nach dem Muster des adagio in Bruckners Siebenter oder Achter – in Dynamik und Modulation bis zum Himmel aufsteigt, wird seine Entwicklung mehrmals unterbrochen und beruhigt und werden seine Bruchstellen von lyrischen Floskeln der Holzbläser ausgefüllt, die uns daran erinnern, dass die Nullstufe des Halmschen Klanges, und gewiss auch seiner Welt, in der idyllischen Horizontalen liegt. Mit anderen Worten, ich denke, dass Halm aus seiner musikwissenschaftlichen Fixierung auf Bruckner keine allzu auffälligen musikstilistischen Konsequenzen gezogen hat. Eher neige ich dazu zu glauben, dass Bruckner für ihn der limes der Musikkultur war, den er als Komponist weder überschreiten konnte noch wollte: indem er Bruckners Sinfonien an den gedachten Punkt setzte, an dem sich die Entwicklungslinien der beiden musikalischen Grundformen schneiden, stützte er die Illusion von der Spätromantik als dem Ende der Musikgeschichte, womit er seinen kompositorischen Konservatismus begründete und seinen Unwillen rechtfertigte, die Grenzlinien zu überschreiten, die die Generation Mahlers, Strauss’, Debussys, Skrjabins, Regers, des frühen Schönbergs gezogen hatte. *** Zu den Regalen gekehrt, auf denen ich die (schon Jahrzehnte nicht gehörten) Langspielplatten aufbewahre, versuche ich mich zu erinnern, welche von ihnen ich aus Konstanz mitgebracht habe und wie viele von ihnen Musik des frühen 20. Jahrhundert enthalten. Da steht ein einstmals sehr geschätztes Komplett der Werke Schönbergs, Weberns und Bergs für Streichquartett in der Ausführung des La Salle-Quartetts, da sind Bartóks Quartette (Juilliard Quartet), Hindemiths Kammermusiken (Con- TIONS certo Amsterdam). Es gibt auch frühen Modernismus: Klavierkompositionen von Debussy (Noel Lee), Mahlers Sinfonien (Solti), das D-Moll-Streichquartett von Max Reger (Drolc-Quartett). Auf dem Umschlag von Regers Quartett sind Eduard Drolc (†1973) und seine Kollegen in einem Birkenhain aufgenommen, im Frack, die Instrumente in den Händen (einer der Kollegen ist der Bratschist Stefano Passaggio, einst Mitglied der Zagreber Solisten). Auf dem Regal neben Reger wieder Schönberg, aber der sezessionistische: die Gurrelieder (Kubelik) und Verklärte Nacht auf einer vergessenen Turnabout-Platte, zusammen mit dem Streichquartett in Fis (Ramor Quartett und Maria Theresia Escribano). Die Illustration auf dem Umschlag ist in der reduktionistischen Manier von Bilderbüchern aus den sechziger Jahren gehalten und ruft die Schlussworte von Dehmels Verklärter Nacht herbei: Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht. Auf der Rückseite sind Georges Litanei und Entrückung (im Zusammenhang mit dem Quartett) abgedruckt, letzteres mit der wundersamer Weise richtigen Anfangszeile: „Ich fühle Luft von anderem Planeten.“ Die Texte zu Aufnahmen, die mir in späteren Jahren in die Hände kamen, haben regelmäßig „von anderen Planeten“, als ob es sich um Planeten in der Mehrzahl handelte. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke, was gewesen wäre, hätte ich in Konstanz auch jene im Rundfunk gehörte Sinfonie von Halm erstehen können. Auf dem Regal würde sie sich zwischen Beispielen beider modernistischen „Musikkulturen“ wiedergefunden haben, von denen keine die ihre wäre. Zu jener Zeit hätte ich sie freilich nicht einmal in Gedanken einordnen können. Als ich sie hörte, hatte ich nur eine durch Blättern in RELA TIONS Musiklexika gewonnene undeutliche Vorstellung, dass es auch nach 1900 noch verspätete Spätromantik gegeben hat, aber aus dem Gehörten selbst konnte ich mir den Kontext dafür nicht schaffen. Ich hatte nur eine Assoziation „per similitudinem“: die Zweite Sinfonie von Franz Schmidt, die ich in den siebziger Jahren im Wiener Radio gehört hatte, in einer Aufführung – wenn ich mich recht erinnere – des dortigen Radiosinfonieorchesters unter Milan Horvat. Das Regal, auf dem Halms CD ihren Platz gefunden hat, ist ein völlig anderer Mikrokosmos. Das frühe 20. Jahrhundert ist auch hier mit den beiden erwähnten Musikkulturen vertreten, aber auch mit einer, in der sich Halm wie unter seinesgleichen fühlt. Die Repertoire-Politik nämlich, die seit den achtziger Jahren von den Independent-Labels Hyperion, CPO, Chandos, ASV, Timpani, Sterling, zum Teil auch Naxos betrieben wird und die sich mit der Zeit in eine große und bewusste „konservative Revolution“ verwandelt hat, hat auch meine Regale nicht verschont, sondern sie mit einer Vielzahl der Autoren gefüllt, die ins 20. Jahrhundert zufrieden mit den Errungenschaften des späten neunzehnten eingetreten sind: österreichischungarische Brahmsoiden, Wagneroiden und Bruckneroiden, Russen, die auch die Revolution nicht von dem Mächtigen Häuflein oder von Tschaikowski befreit hat, Tschechen, die auf Dvořák auch nach seinem verhältnismäßig späten Tod (1904) eingeschworen sind, Franzosen, die auch nach 1900 Francks Sinfonie oder sein Klavierquintett neu zu schreiben versucht haben. *** Natürlich wird die Entscheidung, eine CD mit anachronistischer spätromantischer Musik zu erwerben, gewöhnlich von der Missbilligung jener Kontrollinstanz begleitet, die wir als Dossier: Zoran Kravar modernes ästhetisches Bewusstsein bezeichnen könnten. Das beruhigt sich allerdings rasch, wenn das ausgegrabene Werk enttäuscht, wenn es in geborgtes Material und willkürliches Bindegewebe zerfällt und, bei aller Ausstattung mit bewährten ästhetischen Attraktionen, unbehaglich wirkt wie die Physiognomie Boris Karloffs (Frankenstein), auf der primitive anorganische Nähte deformierte Stücke eines menschlichen Gesichts zusammenhalten. Dennoch finden sich in der Menge der aufgenommenen spätromantischen Epigonen mitunter auch Autoren, die im Stande sind, sich – sei es durch angeborene Naivität oder erworbene Fertigkeit – den Zerstörungskräften epigonalen Komponierens zu widersetzen. So lässt sich zum Beispiel die Zeit mit dem ersten Streichquartett von Hans Pfitzner oder dem des Ungarn Leo Weiner, mit dem Klavierquintett von Reinhold Hahn oder Dora Pejačević und auch mit einer Sinfonie von August Halm angenehm verbringen. Aber gerade diese Annehmlichkeit gibt natürlich Anlass zu Gewissensprüfungen. Auf Menschen meines Alters, die ihre Bildung zu Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erworben haben, hatte der Widerhall des großen innovatorischen Schwungs, den kurz nach 1900 die künstlerische Avantgarde ausgelöst hatte und der dann von immer zahlreicheren Nachfolgern in Gang gehalten wurde, auf die Entwicklung der ästhetischen Sensibilität erheblichen Einfluss. Er hat dazu beigetragen, dass die in den Programmen der frühen Avantgarde-Strömungen formulierten und in ihren kanonischen Realisierungen wirksamen anti-traditionalistischen Ideen in breiter Weise angenommen, ausdifferenziert und zugespitzt wurden und normative Geltung erlangten. Die Wichtigsten von ihnen ließen sich wie folgt umschreiben: 51 • der Künstler, sei es allein oder als Mitglied gleich denkender Gruppen und Richtungen, gibt sich nicht mehr mit den schon bestehenden Poetiken zufrieden, sondern versucht eine neue, noch nicht existente zu finden; • das Verhältnis zur Tradition ist kein Insiderverhältnis; Tradition, falls nicht völlig verworfen, wird als Material zugelassen, als Gegenstand der Intervention, des Umbaus oder der Montage, aber nicht als Medium; • ein neues Werk sollte eine Neubestimmung der künstlerischen Praxis hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion und vielleicht sogar eine neue Vision des Menschen mit einschließen; • die Kunst muss sich im Gleichschritt mit dem Fortschritt entwickeln, der anderen Bereichen der modernen Welt zu eigen ist; es wird sogar erwartet, dass sie dabei beschleunigend und korrigierend wirkt, dass sie utopistische Ziele formuliert. Kehren wir zu Halm zurück, werden wir feststellen, dass bei ihm alles umgekehrt ist: er hat keine neue Tonsprache erfunden, sondern glaubte an die Unerschöpflichkeit des Spätromantischen, wobei ihm die Tradition nicht nur als Material, sondern auch als Grammatik diente. Der Unterschied zwischen seiner Musik und dem spätromantischen Kanon setzt zwar ein Weitergehen der Zeit und Entwicklungsschritte voraus, zumindest solcher, die sich unter dem Begriff des dekadenten Raffinements subsumieren lassen. Aber seine musikwissenschaftlichen Aussagen und seine Philosophie der Musikgeschichte lassen die Möglichkeit von Veränderung und Entwicklung nur im relativen Sinne als einen Prozess zu, in dem ein bestimmtes, schon gegebenes Paradigma zur Vollendung strebt (Halm 1946, 32): 52 RELA Dossier: Zoran Kravar Mit dieser [...] Gesinnung werden wir auch den Gang der Musikgeschichte von unklaren zu klaren Formen wieder anders ansehen, werden wir Experimente als Ausnahmen respektieren, eigentlich geniales Schaffen aber nicht da erblicken, wo das Gewonnene wieder getrübt, das sich Unterscheidende wieder durcheinandergemengt erscheint, sondern da, wo die Richtungslinien der Entwicklung deutlich werden; wir werden dann in dem Sieg der Formen über das mannigfaltige Störende, Verwirrende, Missglückte die stetig wachsende Idee, die immer tüchtigere Verkörperung der [...] präexistenten Form wahrnehmen. Trotzdem gibt es etwas, worin Halm und die Avantgardisten, zumindest prinzipiell, vergleichbar sind: im Bestreben, durch die Kunst und ihre Deutung auf den gesellschaftlichen Kontext und auf aktuelle Geschichtstendenzen einzuwirken. Ich glaube nämlich, dass auch Halm seine Arbeit – sei sie musikologisch, pädagogisch oder kompositorisch – als einen Versuch sah, im Mikrokosmos der Musikkultur Wertekorrektive für den Makrokosmos der bürgerlichen Moderne aufzustellen. Allein die Weltanschauung, von der er ausging, war nicht avantgardistisch und progressiv, sondern regressiv und stand im großen und ganzen im Einvernehmen mit der elitistisch-ästhetizistischen Pädagogik, wie sie in der FSG Wickersdorf gepflegt wurde. Sie war hervorgegangen aus der wilhelminischen Jugendbewegung, von der sie ihre romantische Rebellion gegen nivellierende, der Epoche der liberal-kapitalistischen Ökonomie und Massendemokratie eigene Tendenzen in der Gesellschaft übernommen hatte. Als solche war sie ein Segment einer breiteren Ideenfront, die den Lebensstilen und Wertesystemen der spätbürgerlichen Kultur entgegen- gesetzt war, so dass man den Begriff Antimodernismus auch auf sie anwenden könnte, wie ich es in einem kürzlich veröffentlichten Buch des gleichen Titels darzulegen versucht habe (Kravar 2003). *** Im Finale von Halms Dritter, mitten in der Durchführung, gibt es eine kleine Episode, die von dem, was ich bisher über das Werk gesagt habe, abweicht. Sie beginnt mit einem dissonanten und metrisch verwickelten Choral der Blechbläser, auf den mehrere Takte folgen, in denen über dem groben Ostinato der Kontrabässe absteigende glissandi der Posaunen und ein panisches Quieken der Pikkoloflöte zu hören sind. Der Hörer denkt für einen Moment an Werke wie Honeggers Tondichtung von der Lokomotive (Pacific 231) oder Prokofjews Zweite Sinfonie, und seine außermusikalischen Assoziationen wandern von ländlicher Beschaulichkeit und Melancholie in die Welt des Stadtlärms und der Fabrikarbeit. Ein Werk, das aus lauter solchen Partien bestand, hätte „Großstadtsinfonie“ genannt werden können. Trotzdem ist die Episode kurz, und nach ihr kehren die Hauptideen des Finales zurück: das ernste gregorianische Thema, und dann die idyllischen Motive aus dem ersten Themenblock, jetzt etwas entschlossener als in der Exposition und unterstützt durch das erste Thema des Kopfsatzes. Es meldet sich unmittelbar vor der „Maschinenmusik“, und nach der Durchführung drängt sich eines seiner Fragmente stufenweise vor und übernimmt die Aufgabe, Satz und Sinfonie abzuschließen. Beim Hören der kurzen Maschinenmusik im Finale der Dritten Sinfonie wollte mir scheinen, dass Halm mit ihr sein Unbehagen an der modernen Wirklichkeit oder, genauer, das antimoderne Stereotyp von der Moderne als Maschinenepoche als TIONS jenem geschichtlichen Zustand ausdrücken wollte, in dem das Künstliche den Sieg über das Urwüchsige, das Mechanische über das Geistige und Organische davonträgt. Die Einmaligkeit der erwähnte Episode und ihre unsichere Position im narrativen Plan des Satzes könnten aber auch als Ausdruck der Überzeugung gedeutet werden, dass die Welt der Tradition – der musikalischen wie aller sonstigen – die Kraft hat, sich der modernen Zivilisation zu widersetzen. Übereinstimmend damit wäre die Dritte Sinfonie nicht nur ein nostalgischer Blick zurück, sondern auch ein Ausdruck regressiv-utopistischer Hoffnungen. Halms Berührungen mit antimodernistischen Stimmungen können, außer durch die Interpretation seiner Musik, auch mittels ideologiekritischem Lesen seiner musikwissenschaftlichen Thesen nachgewiesen werden. Setzt man zum Beispiel seine Vision der Musikgeschichte als „der stetig wachsenden Idee“ in einen Kontext, der breiter ist als der musiktheoretische, kommt ihre Übereinstimmung mit einigen bereits bekannten Formen des modernen intellektuellen Konservatismus zutage. Ihrer Terminologie nach steht sie der Hegelschen Rechten nahe, und wenn wir für den Augenblick außer Acht lassen, dass sich die „präexistente Form“ aus dem zuvor angeführten Passus auf Fuge und Sonate bezieht und wir sie abstrakter begreifen, bekommen wir eine Aussage, die sich leicht in die Geschichtsphilosophie deutscher Kulturpessimisten und konservativer Revolutionäre wie Rudolf Panwitz, Oswald Spengler oder Moeller van den Bruck einfügt. Bei Moeller (1931, 247) lesen wir: So gibt der konservative Mensch sich eine Rechenschaft über alles, was flüchtig ist, hinfällig und ohne Bestand, aber auch über das, was erhaltend ist, und wert erhalten zu werden. Er erkennt die ver- RELA TIONS mittelnde Macht, die Vergangenes an Künftiges weitergibt. Er erkennt mitten im Seienden das Bleibende. Er erkennt das Überdauernde. *** Wenn die künstlerische Avantgarde über die Zukunft jenseits der bürgerlichen Epoche nachdenkt, entstammt „der Stoff, aus dem die Träume sind“ nicht dem „Überdauernden“ oder der „präexistenten Form“, sondern dem noch Nichtseienden. Deshalb müsste, wenn wir jene gedachte Gewissensprüfung nicht nur an Halms Musik, sondern auch an ihren weltanschaulichen Rahmen anlegen, das abschließende Urteil lauten: Halms Utopie ist eine imaginäre, ontologisch nicht begründete Gegenwelt, eine Art idealistischer Gegengeschichte. Trotzdem scheint mir das vorhersehbare Urteil in diesem Kontext weniger wichtig als die Entspanntheit, mit der ich es zur Kenntnis nehme, wobei ich glaube, dass auch viele meiner Zeitgenossen es ähnlich erlebt hätten. Nebenbei gesagt sollte man diese Entspanntheit nicht mit der angenehmen Erregung jener Zeitgenossen verwechseln, die den Übergang in die „zweite Moderne“ – real oder erdacht – als freudige Botschaft deuten, man dürfe die Avantgarde endlich verachten. Avantgarde als Maßstab relativiere ich zuallererst deshalb, weil wir heute wissen, dass der Antimodernismus seine verlorenen Schlachten nicht mit ihr, sondern mit den Manifestationen und Errungenschaften der liberal-kapitalistischen Moderne geführt hat, die sowohl aus diesem Konflikt als auch aus jenem mit anderen „Feinden der offenen Gesellschaft“ als einziger öffentlich anerkannter Maßstab aller Dinge hervorgegangen ist. Wichtig indessen ist auch, sich vor Augen zu führen, dass sich der Antimodernismus, trotz aller Niederlagen, in die- Dossier: Zoran Kravar sem Konflikt nicht völlig verbraucht hat, obwohl er sein verschwörerisches Selbstbewusstsein eingebüßt hat. Die Mitglieder der modernen „offenen Gesellschaft“ verweilen nämlich in den Arealen der kapitalistischen Wirklichkeit im großen und ganzen nur teilweise, als ökonomische Wesen und funktionale Personen, während sich ihr Konsum ästhetischer Güter in Séparées abspielt, in denen die Umrisse der Wirklichkeit mehr oder weniger verwischt sind. Dabei können die Unterschiede zwischen dem prozeduralen Rationalismus moderner Institutionen und dem weltanschaulichen Rahmen ästhetischen Müßiggangs verblüffend sein. An seinen Rändern verschwindet der nüchterne Geschäftsalltag im Labyrinth der Gegenwelten, für deren Bedarf an Abweichung das ganze Inventar abenteuerlicher weltanschaulicher Annahmen zur Verfügung steht, die (mittelbar oder unmittelbar) aus dem metaphysischen Erbe des Westens und Ostens entlehnt sind. Mitunter finden sich unter diesen Annahmen aber auch Reste jenes Antimodernismus, von dem in meinem schon erwähnten Buch die Rede ist. Beispielsweise vegetiert der dionysische Rausch aus Nietzsches Geburt der Tragödie zum Teil in der Atmosphäre eines nächtlichen Party, eines Rockkonzerts oder in den Prügelorgien fanatisierter Fußballfans; vitalistischer Monismus wie der bei Klages oder Schuler inspiriert die New Age-Kosmologie; die Staatsordnungen von Tolkiens Lothlórien und Gondor haben Gemeinsamkeiten mit theokratischen Phantasien à la Julius Evola und René Guénon. Selbstverständlich fügt sich zu den aufgezählten „regressiven Fixierungen“ auch der relative Markterfolg jener late late romantic music, wie sie heute gern von Hyperion, Sterling und anderen aufgenommen wird. Denn auch sie ist – wie ich mit der Geschichte von sinfonischen Den- 53 ken August Halms und seinem privilegierten Platz in meiner persönlichen ästhetischen Erfahrung darzulegen versucht habe – in der Lage, Welten zu evozieren, die weniger modern sind als die aktuelle, und virtuelle Geschichten herbeizuzaubern, in denen es kein Drama und keine Antithetik gibt und wo Veränderungen nur als Rückholung oder Vervollkommnung von Präexistentem vorstellbar sind. Die Klub-, Haus- oder Portabel-Gegenwelten, die der liberal-kapitalistische sensus communis an seinen Grenzen erlaubt – indem er mit ihrer Ausstattung und ihren Lizenzen handelt – unterscheiden sich untereinander in mancherlei: bei einigen gibt es Gott oder Götter, und bei anderen nicht, einige sind mit hochkulturellen Inhalten gefüllt, andere tragen ein suboder kontra-kulturelles Vorzeichen, einige werden in der Phantasie errichtet, bei anderen bewegen sich die Genießer wie auf einer Bühne. Gemeinsam ist ihnen, dass in keiner von ihnen antikapitalistische Verschwörungen geschmiedet werden. Die List der geschichtlichen Vernunft zeigt sich auch darin, dass wir heute die antimoderne Windstille nicht ohne den eigennützigen Hintergedanken betreten, wie wir am Montagmorgen noch frischer und effizienter an die üblichen Schauplätze unserer Wachwelt zurückkehren werden, als konkurrierende Arbeitnehmer oder rationale Arbeitgeber, als gerissene Verkäufer oder vorsichtige Käufer. Es gibt allerdings noch einen Grund, warum ich die Einflüsterungen des avantgardistischen Gewissens in Verbindung mit einer Musik wie der von Halm ganz entspannt hinnehme. Bis heute hat sich nämlich an mehreren Beispielen deutlich gezeigt, dass der moderne weltbeherrschende Mainstream auch das avantgardistische Widerstandsnest neutralisiert und aus ihm eine mehr oder weniger attraktive, aber unverbindliche Ge- 54 RELA Dossier: Zoran Kravar genwelt gemacht hat. Die Ähnlichkeit zwischen dem neoliberalen „Ende der Geschichte“ und jenem „noch nicht“, das einst die avantgardistische Hast auslöste, ist ausschließlich zufällig. Boulez’ Le marteau sans maître auf einer CD der Firma Sony ist gleichermaßen „subversiv“ wie die Analyse der 11. These über Feuerbach im Seminar einer Universität, die nach den Richtlinien aus Bologna umorganisiert wurde, wo man neuerdings noch eine Querverbindung zwischen der alma matris und dem Markt hochqualifizierter Arbeitskraft erdacht hat. *** Wieder hatte ich Pech mit dem Postboten und musste selbst auf die Post, von wo ich jetzt mit einem noch kleineren Paket zurückkomme. In ihm wartet eine CD mit Cages Music of Changes (Steffen Schleiermacher, MDG). Ich habe gelesen, dass bei der Entstehung dieser Musik das Interesse des Komponisten für den Zen-Buddhismus eine gewisse Rolle gespielt habe (Griffiths 1978, 127). Leider verstehe ich mich auf diese Thematik nicht, und so habe beim Hören andere Assoziationen, zumeist Denkschemata, die ich behalten habe, als ich mich mit Literatur zum Strukturalismus und zur Systemtheorie beschäftigt habe, den bis vor kurzem sehr modernen Methoden zum Verständnis alles Bestehenden. Ich denke, hörend, über die Beziehung zwischen Teilen und Ganzem nach, über das Prinzip der Invarianz (wie sehr sich eine Menge ändern kann, dass sie dabei identisch mit sich selbst bleibt oder dass aus ihr eine neue Menge wird). Aber auch das ist natürlich „Luft von anderem Planeten“. Denn auf diesem gibt es kaum noch etwas außer Globalisierungsängsten und der Sachlichkeit des liberalen Meliorismus, und dort, wo der Optimismus von gestern (statische oder dynamische) Strukturen und Systeme erahnte, sehe ich nur „Wachstum“ und „Mehrwert“, „Agglomeration“ und „Akkumulation“. Wenn die Welt tatsächlich Musik wäre (musica mundana), würden überall um uns herum die unangenehmen Ostinaten der Kontrabässe, die Glissandi der Posaunen und die aufgeregten Piepser der Pikkoloflöte ertönen. TIONS Literatur Dahlhaus, Karl (1978), Die Idee der absoluten Musik, Kassel. Focht, Ivan (1980), Savremena estetika muzike, Beograd. Griffiths, Paul (1978), A Concise History of Modern Music, London. Halm, August (1946), Von zwei Kulturen der Musik, Stuttgart. Kravar, Zoran (2003), Antimodernizam, Zagreb. Moeller van den Bruck, Arthur (1931), Das neue Reich, Hamburg. Rosen, Charles (1988), Sonata Forms, London 1988. Rothfarb, Lee A. (2004), Begleittext zur CD August Halm, Sinfonie A-Dur, Sterling CDS-1064-2. Rothfarb, Lee A. (1998), „Zwischen Originalität und Ideologie. Die Musik von August Halm (1869-1929)“, im Sammelband Musik in Baden-Württemberg V, Stuttgart, S. 175-199. Websters Encyclopedic Unabridged Dictionary (1996), New York. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof RELA TIONS 55 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA 56 TIONS Tiefe Fiktion [ J. R. R. Tolkien: Húrin’s Children, London 2007 ] Zoran Kravar W enn Leute meines Schlages, wenn also Literaturwissenschaftler Die Dämonen oder Der Mann ohne Eigenschaften, Das verlorene Paradies oder Die Thrachinierinnen lesen und kommentieren, dann fühlen sie sich wie zu Hause und haben es nicht nötig, sich selbst oder den anderen ihre Textauswahl zu erklären. Wenn aber unsereins den Herrn der Ringe oder Silmarillion in die Hände nimmt und sich dabei auch noch halbwegs wohl fühlt, dann müssen wir uns früher oder später bestimmt mit der Frage auseinandersetzen, wie weit wir uns eigentlich vom Literaturkanon entfernen wollen, über den Euterpe, Kalliope sowie Melpomene wachen und dem die Tradition und altgediente Bildungsnormen das Etikett „hohe“, „ernste“ oder „anspruchsvolle“ Literatur aufgeklebt haben. Ich muss zugeben, dass ich angesichts meiner Tolkien-Lektüren dann und wann das Bedürfnis verspürte, mich zu rechtfertigen, und dies war auch der Fall, als ich mich unlängst mit Húrins Kindern amüsieren durfte, einer Geschichte aus dem Zyklus Silmarillion. Im Frühjahr 2007 gab Tolkiens Sohn Christopher diesen von ihm aus verschiedenen handschriftlichen oder schon veröffentlichen Quellen zusammengestellten Text heraus. Als mich dann noch der Herausgeber der Zeitschrift Ubiq dazu einlud, meine Leseerfahrungen zu Húrins Kinder in schriftlicher Form zum Ausdruck zu bringen, wurde bei mir der Wunsch, mich zu entschuldigen, immer drängender. Dabei zeigte sich allerdings, dass es nicht allzu schwer fällt, seine Sympathien für Tolkiens Texte zu erklären. Zu Beginn überflog ich in Gedanken meine Lektüren seit meinen Kinderjahren und konnte dabei schnell feststellen, dass ich immer wieder Bücher gelesen hatte, die wie Tolkiens Epik unmögliche thematische Welten inszenieren und deshalb eine hohe ästhetische Sensibilität voraussetzen. In meiner Kindheit dominierte genau diese Art von Büchern: Ich las damals sehr gerne die Märchen der Brüder Grimm, die Kunstmärchen romantischer Schriftsteller (Puschkin, Brentano), Geschichten aus der hellenischen Mythologie, die Prosa von Ivana Brlić-Mažuranić (Neva Nevičica, Regoč), Comicstrips mit Motiven rund um König Arthur (Prinz Eisenherz), schließlich Peter Pan mit Illustrationen von Arthur Rackham. Später habe ich diese Literatur seltener gelesen (stattdessen verstärkt realistische und modernistische Texte), doch niemals fielen sie völlig aus meiner Lektüre heraus. Während meines Studiums, aber auch später noch las ich Ariosts Orlando sowie ein wenig aus der nordeuropäischen Epik (Nibelungenlied, Kalevala). Be- stimmte Formen der phantastischen Literatur entdeckte ich erst, als ich mich für die literarische Folklore und die Sekundärliteratur dazu interessierte, wobei mich am stärksten die kurzen Geschichten beeindruckten, die unsere kroatischen Ethnologen als „predaja“ (dt. Sage) bezeichnen: Ich bemerkte, dass ich für die Elemente des Horrors, eine die Mehrheit der Sujets kennzeichnende Eigenschaft, empfänglich war und dass mich die in diesen Texten sich ausgestaltende dunkle Weltsicht anzog, eine Weltsicht, in der neben der fatalistischen Überzeugung vom Einfluss uralter Sünden und Verwünschungen auf das Schicksal der Menschen eine pessimistische Geschichtsphilosophie zum Ausdruck kommt. In diesem geschichtsphilosophischen Ansatz wird der wahre Zustand der Welt – versinnbildlicht durch menschliche und phantastische Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten – in eine ursprüngliche Vergangenheit verschoben. Seit meiner Jugend bis hin zum heutigen Tag zeigt sich meine Neigung zur tiefen Fiktion in meiner neugierigen Beziehung zu Wagner. Bücher über seine Musikdramen, seine Libretti, Aufzeichnungen seiner Werke auf CD’s und DVD’s, besonders von denen mit ritterlich-christlichen oder germanisch-barbarischen Themen (Lohengrin, Tristan und Isolde, Parsifal, Der Ring des Nibelungen) RELA TIONS stapeln sich schon seit langem auf meinen Bücherregalen. Kurz gesagt ist meine gesamte Leseerfahrung so strukturiert, dass ich Tolkien von der ersten Begegnung an als eine Art Fortsetzung erlebt habe, allerdings als eine Fortsetzung von etwas, was Leser mittleren Alters und älter normalerweise als ontogenetisch überwunden begreifen, zu dem sie aber immer wieder von Neuem durch irgendein Buch, irgendeinen Film oder irgendeine Oper zurückgeleitet werden, und das nicht ohne ein gewisses Wohlgefühl, welches – Hand aufs Herz – normalerweise eine Rückkehr oder eine Regression begleitet. Im Übrigen sah sich Tolkien selbst als Fortsetzer einiger der erwähnten Traditionen. Dies gab er manchmal auch zu, wenn auch nicht immer: Wagner war für ihn anscheinend ein unangenehmes Thema, und die motivischen Übereinstimmungen zwischen der Erzählung von Alberichs und Saurons Ring tat er als bloßen Zufall ab. *** Auf der anderen Seite interessiert mich Tolkien auch deshalb, weil seine Epik sich für verschiedene Methoden des wissenschaftlich-analytischen Lesens anbietet, die sich gleichgültig gegenüber der literarischen Qualität ihres Gegenstand verhalten, sodass sie von einem literaturwissenschaftlichen Profi auf jedwede Lektüre angewendet werden können, ohne dass dieser sich dabei Sorgen machen müsste, was Euterpe, Kalliope oder Melpomene von ihm wohl halten mögen. Von diesen Methoden scheint mir bei derartigen Texten die ideologiekritische Exegese am besten geeignet zu sein. Diese habe ich in meiner bisherigen Arbeit als eine Suche nach umfassenderen weltanschaulichen Strukturen aufgefasst, mit denen der Schriftsteller – normalerweise unbewusst oder halbbewusst – die Konzeption seiner Thematiken Dossier: Zoran Kravar grundiert. In unserem Fall sind dies die Figuren, die Handlung, die Anzeichen des Sozialen, die Beschreibungen des Raumes und die chronologische Orientierungspunkte. Wenn wir an die erzählende Literatur mit solchen Fragen herangehen, enthüllen uns deren thematische Einheiten neben ihrer faktischen Qualität auch ihren Anteil am ideologischen Diskurs, d.h. am gesellschaftlichen Spiel der Anerkennung, der Korrektur, des Ausbaus oder der Leugnung jener Wirklichkeit, die der gegebene geschichtliche Kontext als Maß aller Dinge akzeptiert, „der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind“. Die Welt in Der Herr der Ringe oder in Húrins Kinder ist auf den ersten Blick durch eine starke Distanz zu dem für die Schriftsteller und für unseren historischen Kontext maßgeblichen Wirklichkeitsgefühl geprägt, d.h. zur bürgerlichen paramount reality und ihrer ideologischen Vermittlung. Dabei erscheint diese Distanz als Effekt einer Regression, und zwar einer mehrfachen: einer stilistischen (in Richtung auf die vormoderne Literatur), einer thematischen (in Richtung auf den Mythos, die Legende, den Epos und die volkstümliche Literatur) und einer auf die Textsorte bezogenen Regression (in Richtung auf erzählerische Formen der Kinder- und der Trivialliteratur). Ich denke allerdings, dass Tolkiens „Sub-Kreation“ durch kapillare Beziehungen mit der Wirklichkeit, von der wir ausgehen, verbunden ist, auch wenn wir die Welt seiner Narration als „nicht möglich“ oder als „sekundär“ bezeichnen. „Der Stoff, aus dem die Träume sind“, stimmt in diesem Falle nur partiell mit einer Phantastik überein, die archaischen Erzähltraditionen entstammt, während sein anderer Teil aus Sinnkomplexen besteht, die der Zeit der Moderne angehören, bloß sind diese uns mittlerweile gleichsam zur zweiten Na- 57 tur geworden, sodass wir nicht mehr davon ausgehen, dass jeder, für den solche Sinnmuster selbstverständlich sind, als ein authentischer Vertreter der Moderne anzusehen ist. Aus den Tolkienschen Erzählmaterialien, die Spuren modernen Denkens zeigen und deshalb nicht vollständig mit dem Mythos oder mit archaischen Epen übereinstimmen, werde ich hier als Beispiel nur einen Themenkomplex näher behandeln: das Thema des Krieges. Der Krieg ist bei Tolkien allgegenwärtig, er definiert den Normalzustand in „Mittelerde“, wo man sich schon seit jenen Zeiten bekriegt, als es noch keine Elben, Zwerge, Orks und Menschen gab und seit ihrer Ankunft erst recht („Die Schlacht an den Furten des Isen“, „Der große Krieg des Zorns“, „Das Verhängnis auf Schwertelfeldern“, „Die Schlacht der fünf Heere“ usw.). Die Verbindung zur bürgerlichen Moderne besteht darin, dass der Krieg für Tolkien – wie auch für uns alle – vor allem ein Politikum ist: ein Konflikt von ethnischen Gruppen, Stämmen oder Rassen um Herrschaft und Territorien, ein Anlass zur Herstellung zweckmäßiger Koalitionen, aber auch eine Gelegenheit, um auf der eigenen Seite der Front alte Rechnungen zu begleichen, partikulare Interessen durchzusetzen oder die Krone zu erobern. Natürlich gibt es Feindschaften und Konflikte auch im Mythos, im Epos, in der volkstümlichen Literatur, aber dort ist der Krieg kein ursprünglich politisches Phänomen. Denn die mythischen und heidnisch-epischen Helden kämpfen in der Regel mit schrecklichen Ungeheuern oder mit feindlichen Gottheiten, während die Konflikte zwischen den Menschen und ihren Gemeinschaften sich hauptsächlich aus privaten Gründen ergeben: In der Ilias kämpfen die Achaier und Trojaner deshalb gegeneinander, weil Paris Gefallen an einer fremden Frau findet, und Achilleus will nicht in den 58 RELA Dossier: Zoran Kravar Krieg ziehen, weil ihm der Heerführer seine Animierdame weggenommen hat; im Nibelungenlied stirbt Siegfried, entwickelt Gunther territoriale Ambitionen, zerstört Attila Burgund, weil Kriemhild Brünnhilde hämisch verrät, wer tatsächlich in der Nacht nach ihrer Heirat mit Gunther bei ihr lag. Im Unterschied zu Tolkien hat die archaische Narration Schwierigkeiten damit, den Krieg als eine politische Tatsache zu begreifen, weil sie ihn mystifiziert oder privatisiert, indem sie seine Ursachen oberhalb oder unterhalb der Sphäre des Systems zu finden glaubt. In der Tolkienschen Prosa der modernen politischen Philosophie begegnet uns also ein reicher phantastischer Überbau und zugleich eine regressive Resemantisierung. Aus einer Vielzahl an Beispielen wähle ich wieder eines aus: die Nebenerzählung aus Der Herr der Ringe über den Streit um Gondors Thron, den Denethor als Statthalter provisorisch eingenommen hat und auf den Strider alias Aragorn Anspruch erhebt. Der Antimodernismus dieser Episode liegt in der Natur von Aragorns Legitimation, die aus der Sicht des modernen politischen Verstandes als gegenstandslos erscheint (Aragorn ist ein Nachkomme eines Königs, der bereits 3000 Jahre vor dem Krieg um den Ring starb). Eine nüchterne realpolitische Skepsis wird in diesem Buch selbst zum Ausdruck gebracht, und zwar von Denethor, indem er es ablehnt, sich vor einem Emporkömmling zu verbeugen, der von einem Ahnherrn abstammt, dessen „Würde und Ehre längst vergangen ist“. Die Ideologie in Der Herr der Ringe gestattet allerdings nicht, dass Gondors politischer Streit im Geist des politischen Rationalismus gelöst wird, sondern sie favorisiert einen Herrscher mit einer prämodernen, transzendenten Legitimation. Und genau hier greifen die Phantastik und die weltanschauliche Archaik ein. Beide haben die Geschichte über den dynastischen Streit nicht hervorgebracht, aber sie beschleunigen dessen antimoderne Auflösung: Aus dem „zeitlichen Abgrund“ der Historie von Mittelerde steigt die Geschichte von Aragorns numenorischen Ahnen empor, die mit Zustimmung der Valinorischen Gottheiten eingesetzt wurden, und die Elben schmieden Elendils zerbrochenes Schwert neu. Den hohen Wert der Herkunft des Thronprätendenten bestätigt zudem die tote Armee aus Dunharrow, die für ihn in den Krieg zieht, um einen drei Jahrtausende alten Verrat zu sühnen. Positive Impulse gehen auch von der musealen Landschaft Mittelerdes aus, die über zahlreiche Requisiten verfügt, welche sich ausgezeichnet für eine Übertragung uralter Entelechien in neue Schicksale eignen. Wenn ich mich recht erinnere, wird sich Aragorn zusammen mit den Seinen erstmals seiner herrschaftlichen Aura bewusst, als sein Schiff die riesenhaften, königlichen Klippen in der Schlucht des Großen Flusses passiert: Frodo drehte sich um und sah Streicher. Aber war das noch Streicher? Der wettergegerbte Waldläufer war nicht wiederzuerkennen. Am Heck saß Aragorn, Arathorns Sohn, stolz und kerzengerade, und steuerte das Boot mit geschickter Hand; die Kapuze hatte er zurückgeschlagen, sein dunkles Haar wehte im Wind, und seine Augen leuchteten: ein König kehrte aus dem Exil zurück in sein Land. In der Art, wie sich in diesen Texten die Perzeption gesellschaftlicher Erscheinungen, die die Zeitgenossenschaft mit uns belegen, mit aus der literarischen Archaik übernommenen Motiven vermischt, scheint mir das schriftstellerische Werk Tolkiens mit jenem kulturgeschichtlichen Phänomen verwandt zu sein, TIONS mit dem ich mich in den vergangenen Jahren sub voce „Antimodernismus“ beschäftigt habe. Denn auch in der unter diesem Begriff von mir zusammengefassten Literatur feiert nirgendwo ein authentischer vormoderner Gedanke seine Auferstehung, vielmehr begegnen einem regressive Interpretationen moderner Thematiken, was mich zu der Einsicht in die paradoxe Struktur einer „Modernität des Antimodernismus“ geführt hat. Allerdings gibt es bei den von mir bislang studierten Antimodernisten auch etwas, was bei Tolkien nicht vorhanden ist, nämlich die Überzeugung, dass man die Moderne positiv verändern kann. Der „transzendente Realismus“ vormoderner Herrschaft, über den Julius Evola (Aufstand gegen die moderne Welt, 1934) schreibt, beinhaltet zahlreiche Aspekte, die sich mit Aragorns Charisma vergleichen ließen, aber Evola hofft darauf, dass die Geschichte eines Tages die Möglichkeit bieten könnte, die moderne Gesellschaft nach dem Modell der „traditionellen Zivilisation“ umzugestalten. Demgegenüber verbleibt die Tolkiensche Regression in der Karantäne der mit dem Etikett reine Phantastik und ideologische Naivität versehenen Textsorten, sodass die Wiederkehr des Königs auch von denen genossen werden darf, die bei den nächsten Wahlen für fortschrittliche Parteien ihre Stimme abgeben wollen. *** Ich komme jetzt zu dem Thema zurück, von dem ich ausgegangen bin: zur Geschichte von den Kindern Húrins, d. h. von dem Sohn Túrin und der Tochter Niënor. Sie hatte ich schon in einem Kapitel aus Silmarillion bemerkt, in einem Buch, bei dessen Lektüre ich ständig zurückblättern („ach du meine Güte, da habe ich schon wieder vergessen, wer dieser Fingolf ist, und wer war noch mal Finarfin“) und immer wieder in die RELA TIONS beigelegten Genealogien der Elben, Zwerge und Menschen hineinschauen musste. In Silmarillion ist nämlich ein umfangreicher Zeitraum thematisch relevant, es gibt eine Überfülle an Figuren, kollektiven Subjekten, Handlungen und (Kriegs-) Schauplätzen, sodass die Art der Darstellung sich stellenweise dem historiografischen Diskurs annähert und so das Bedürfnis nach Appendices in Form von Genealogien, Karten und Namensindexen schafft. Hier wird bereits jene Zusatzliteratur vorweggenommen („Geschichten“, „Enzyklopädien“ und „Atlanten“ von Mittelerde), in der die Welt der Tolkienschen Fiktion aus der erzählerischen Linearität in eine lexikonartige Planimetrie umschlägt. Wer also Silmarillion mit den durch die Lektüre der erzählenden Literatur erworbenen Gewohnheiten liest, wird rasch ermüden und vieles sofort wieder vergessen. Zeitweilig kann man dann doch aufatmen und das bei einigen Episoden, in denen die chronologische Hast von einem ausführlichen Erzählen abgelöst wird. Eine dieser Episoden ist die Erzählung von Túrin, dem Sohn Húrins. Ihre Besonderheit war offensichtlich auch Tolkien bewusst, da er die knappe Version aus Silmarillion (die selbst auf der Grundlage älterer Vorlagen einschließlich einer unvollendeten in alliterierenden Versen entstanden war) zu einer eigenständigen Erzählung auszuarbeiten versuchte. Dieses Vorhaben wollte er mehrfach umsetzen, besonders in der Zeit nach der Fertigstellung des Herrn der Ringe. Dabei gelang es ihm, fast alle Segmente der Erzählung zu entwickeln, aber nicht im Rahmen eines identischen Arbeitsplans. Die aus diesen Versuchen entstandenen Texte hatte Tolkiens Sohn bereits in den nach dem Tod seines Vaters erschienenen Bänden veröffentlicht (am umfangreichsten und vollständigsten 1980 in dem Band Unfinished Tales). Jetzt Dossier: Zoran Kravar hat er sie gesammelt und mit eigenen, seiner eigenen Aussage nach unbedeutenden Ergänzungen zusammengestellt. Bei der Kommentierung von Erzähltexten verwendet man das Wort „Mensch“ normalerweise als einen metonymischen Ausdruck für eine beliebige Textfigur („es handelt sich um einen Menschen, der ...“). Bei Tolkiens Texten muss man dieses Wort ausschließlich in seiner buchstäblichen Bedeutung verwenden, denn in den Geschichten von Mittelerde, und dies gilt insbesondere für Silmarillion, spricht man über viele Textfiguren, die keine Menschen sind. Insofern ist für Húrin, für seine Kinder und seine Frau Morwen das Menschsein ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Auch in ihrer Geschichte verflechten sich menschliche Schicksale mit den Lebenswegen von Elben und Zwergen. Wir begegnen selbst einem Drachen, der sogar einen Namen trägt (Glaurung) und alle Merkmale eines intelligenten Wesens vorweisen kann, einschließlich der Sprache. Er redet vernünftig, ist überaus gut informiert und dabei stets bösartig, sodass man allem, was er äußert, den hämischen Selbstkommentar von Dantes Vanni Fucci hinzufügen könnte: „Dies sag ich Dir, um dich damit zu kränken.“ Obwohl die Geschichte sich in einer Zeit ereignet, die einige Tolkiensche Jahrtausende vor dem Krieg um den Ring liegt, ist das Szenario typisch mittelerdisch: Menschen und Elben – ab und an mit griesgrämiger Hilfe von Seiten egozentrischer Zwerge, aber häufiger ohne sie – kämpfen gegen Orks und Ungeheuer, nur dass der dark lord hier Melkor/Morgoth heißt (auch Sauron ist schon anwesend, allerdings als Morgoths Diener), und die Wahrscheinlichkeit, dass die gute Seite eine Niederlage bei den Überfällen des Feindes, bei den Zerstörungen und ethnischen Säuberungen in den eigenen 59 Ländern und Städten (Dor-Lómin, Nargothrond, Gondolin, Menegroth) erleidet, ist viel größer als im Herrn der Ringe, wo es gelingt, die angegriffenen Territorien (Rohan, Gondor) zu verteidigen. Die Waffen, mit denen gekämpft wird, sind identisch mit denen aus dem Herrn der Ringe (Pfeil und Bogen, Speere und Lanzen, Streitäxte sowie Schwerter, die einen eigenen Namen tragen). Hierin zeigen sich die Paradoxien der mittelerdischen geschichtlichen Zeit: Neben allen äußerlichen Signalen der Vergänglichkeit und Historizität (die Landschaft verändert sich kataklysmisch, die Völker der Elben, Menschen und Zwerge brechen zu langen Wanderungen auf, ihre Staaten und Städte entstehen, bestehen eine gewisse Zeit und vergehen wieder, Generationen von Menschen mit ihren Eliten werden von neuen Generationen mit neuen Eliten abgelöst) bleiben bestimmte Veränderungen vollständig aus wie die, die man in unserer Welt unter dem Begriff des technischen und zivilisatorischen Fortschritts zusammenfasst. Im Gegenteil, wenn die Rede ist von der Erzeugung von Gütern und Artefakten, erfahren wir in Tolkiens Werk immer wieder, dass die neuen Zeiten den alten nicht gewachsen sind. In Mittelerde hat ein zwei- oder dreitausend Jahre altes Schwert einen höheren Gebrauchswert als ein neues. Auch dies könnte Gegenstand einer ideologiekritischen Lektüre sein, bei der die Affinitäten sichtbar werden zwischen der Tolkienschen Sicht der Geschichte als eines Prozesses der Dekadenz und der antimodernistischen Geschichtsphilosophie, für die die Veränderungen der wirklichen Welt – trotz vorhandener Beweise für einen Fortschritt – nur als Segmente einer auf lange Sicht fallenden Linie erscheinen. Diejenigen Leser, die nach der Lektüre von Húrins Kinder direkt zum Herrn der Ringe übergehen wollen, 60 RELA Dossier: Zoran Kravar seien darauf hingewiesen, dass Tolkiens „sekundäre Welt“ in der Zeit Húrins und Túrins anders aussieht als auf den der Wiederkehr des Königs beigelegten Landkarten. Die „Welt“ ist die gleiche und nennt sich Arda, aber die Geschichte spielt sich in „Beleriand“ ab, dem westlichen Subkontinent des mittelerdischen Festlands, der im Westen ans Meer grenzt und in seinem Inneren Gebirge, Flüsse, Wälder, Straßen, Dörfer vorweisen kann, alle benannt mit einem reichhaltigen Schatz an Toponymen, die auf ausgedachten Elbensprachen basieren und nicht immer leicht zu merken sind („Habe ich jetzt nicht Dorthonion mit Doriath verwechselt?“). Das Problem mit Beleriand besteht darin, dass es nur bis zum Ende der ersten Ardaschen Ära existierte. Es ging im „Großen Krieg des Zorns“ buchstäblich unter, dem letzten weltgeschichtlichen Ereignis in der Chronik von Silmarillion. Obwohl in diesem Krieg, in den sich auch die Gottheiten aus dem überseeischen Westen einmischten, Morgoth schließlich besiegt und aus dem sichtbaren Weltall vertrieben wurde, gelangten die Sieger zu der Überzeugung, dass Beleriand unheilbar mit Morgoths Bosheit infiziert war, sodass sie sich dazu entschieden, es unter Wasser zu setzen. Beleriands östlichstes Gebirge (Ered Luin) wurde so zur nordwestlichen maritimen Fassade von jenem Mittelerde, durch das später die Ringgesellschaft reist. *** Obwohl die neu veröffentlichte Tolkiensche Erzählung den Umfang eines Romans vorweisen kann, ist es nicht angebracht, sie mit diesem Begriff zu bezeichnen, weil ihre thematische Welt sich von dem unterscheidet, womit sich der Roman als literarische Textsorte nun bereits seit mehr als einem Vierteljahrtausend beschäftigt. Auf Erzählungen, die der Tolkienschen Erzählung wenigstens entfernt ähnlich sind und in deren Titel oder in deren Untertitel das Wort „Roman“ vorkommt, werden wir in der Literatur, die jünger als die frühe Neuzeit ist, nicht stoßen. Wäre die Erzählung Húrins Kinder wie ursprünglich gedacht in Versform verfasst worden, dann würde auf sie die Bezeichnung „Epos“ zutreffen. Und als Grundlage ihrer aktuellen Prosaform lässt sich auch wegen einer entsprechenden Handlungs- und Figurenkonzeption der „epischen Zustand der Welt“ erahnen. Die Hauptfigur in Húrins Kinder ist Húrins Sohn Túrin. Er verfügt in Übereinstimmung mit der mittelerdischen Skala ethischer Werte über unbestreitbare Tugenden (Kraft, Mut, Engagement für die Schwachen), sodass sein Einsatz für die richtige Seite während des ununterbrochenen Kriegszustands im ersten Ardaschen Zeitalter nicht in Frage steht. Dennoch stößt ihm von Kapitel zu Kapitel Unglück auf Unglück zu, und Unglück bringt er auch anderen, wobei sich die Schicksale durch ein Zusammentreffen ungünstiger Umstände oder durch tragische Ereignisse verändern, hinter denen man eine persönliche Schuld erahnen kann. Hier eine gekürzte Liste der Unglücksfälle Túrins: er ist unfähig, sich einer neuen Umgebung anzupassen (die Elbengemeinschaft in Doriath), sein übereilter Weggang aus Doriath verletzt die Einheimischen, enttäuscht diejenigen, die ihn lieben, und einige von ihnen, die nach ihm suchen, kommen dabei ums Leben. Durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände tötet er den Elben Beleg, seinen besten Freund. Die unterirdische Elbenstadt Nargothrond, wo man ihn als Ratgeber in militärischen Fragen aufnahm, setzt er, weil er seine Kampfkraft und seinen strategischen Verstand überschätzt, einem tödlichen feindlichen Angriff aus. Er kann die Liebe einer Elbenfürstin nicht annehmen, heiratet dafür TIONS am Ende unwissentlich seine eigene Schwester, die er zuvor geschwängert hat. Dieses letzte Unglück überlebt er nicht: Konfrontiert mit der Wahrheit über seine Ehe wählt er den Freitod, nachdem sich vorher bereits seine Schwester umgebracht hat. Dass er die Wahrheit erfährt, dafür sorgt der Drache Glaurung, der von Túrin zuvor tödlich verletzt wurde. In den vorangegangenen Kapiteln fungierte Glaurung übrigens als Regisseur der unerlaubten Beziehung zur eigenen Schwester: Bei der Zerstörung Nargothronds tötet er den Sohn Húrins nicht, sondern er lässt ihn entkommen, sodass dieser auf dem Gebiet von Beleriand herumirrt, wo sich auch seine Schwester aufhält. Der Drache Glaurung bewirkt, dass die Schwester Túrins ihr Gedächtnis verliert, weshalb sie sich, als es zu der verhängnisvollen Begegnung mit ihrem Bruder kommt, nicht richtig vorstellen kann. Den Bruder hätte sie so oder so nicht erkannt, weil er sein Vaterhaus bereits kurz nach ihrer Geburt verlassen hatte und in seinem späteren Leben ständig seinen Namen änderte und seine Abstammung verheimlichte. Die Geschichte von Túrin ist übersichtlich aufgebaut, eine kumulativ angelegte Aufeinanderfolge unglücklich endender Episoden, linear und fast rhythmisch aneinandergereiht werden sie von der Stimme eines Chronisten erzählt, die durch die Figurenrede zeitweilig ergänzt wird. Sowohl der Erzähler als auch die Figuren beschäftigen sich mit Ereignissen in der äußeren Welt und bedienen sich dabei einer Sprache, die dadurch, dass es ihr an Wörtern zu fehlen scheint, mit denen sich das Seelenleben ausdrücken lässt, viel stärker als die zeitweilig eingestreuten lexikalischen und syntaktischen Archaismen den Eindruck sprachlicher Archaik hervorruft. Genauso wie die anderen Tolkienschen Bücher ist auch Húrins Kin- RELA TIONS der im Hinblick auf seine rhetorische Form und seine Sprachphilosophie ein sehr konservatives Werk, unberührt von allen Entwicklungen, die die erzählende Literatur vom Ende des Realismus bis zur Avantgarde umgewälzt haben, unberührt vor allem von allen Überlegungen zum Anteil des sprechenden Subjekts, des Erzählens und der Sprache am Zustandekommen literarischer Themen und sprachlicher Gegenstände. Während die moderne Prosa den Gedanken von der Welt erschaffenden Produktivität der Sprache und seines Subjekts auch an einem Material ausprobiert, das die alltägliche Wirklichkeit dokumentarisch vermittelt, herrscht in Tolkiens Werken, in denen doch der Erzähler unmögliche Welten kreiert, die allesamt vom Text sich nicht ablösen lassen, der Anschein einer völligen Objektivität der Berichterstattung. Dies bedeutet nicht, dass Tolkien ein uninteressanter Erzähler wäre. In den Grenzen seines Konservativismus sowie in Übereinstimmung mit seinen ungewöhnlichen Thematiken und ihren weltlichen Horizonten gelingt es ihm, seine Erzählkunst zu diversifizieren, sodass man hinsichtlich jedes einzelnen seiner Werke sagen kann, dass es anders erzählt wird. In Silmarillion schlüpft die Stimme des Erzählers in die Figur eines fiktiven Elben-Chronisten, wobei der Anschein des Archaischen durch eine Anlehnung an das Fachwissen über die alte germanische Literatur, über deren Texte und Stile erreicht wird. Im Hobbit muss man sich an einen Erzähler aus der Kinderliteratur gewöhnen, der mit dem Alter seines Publikums rechnet, also mit einem Publikum, dem nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen. Wir treffen hier auf einen Erzähler, der das Bildhafte, die darstellerische Präzision, ein Erzählen ohne Digressionen, ohne zeitliche Sprünge liebt und dabei zu- Dossier: Zoran Kravar gleich noch Sinn für Humor zeigt. Im Herrn der Ringe ist der Erzähltext lakonisch und im Wesentlichen damit beschäftigt, die Veränderungen in der sichtbaren Handlung aufzuzeichnen. Wenn die Textfiguren sich ausruhen und miteinander reden, kündigt er leicht kommentierend ihre Ausführungen und Redeauftritte an. Dies geschieht in kurzen zusammenfassenden Passagen, die Regieanweisungen ähneln. Wenn sie aber reisen, dann begleitet er jeden ihrer Schritte mit ausführlichen und bis ins Detail gehenden topographischen Beschreibungen. Auskünfte über die Hintergrundhandlung überlässt er den Textfiguren. Dies gilt auch für die umfangreiche Vorgeschichte, die mehrere Kapitel aus der silmarillionischen und númenorischen „Mythologie“ umfasst. Wenn im Herrn der Ringe von der Entstehung des zentralen Rings und von der der untergeordneten Ringe berichtet wird, von Saurons tausendjähriger Vergangenheit, von Aragorns königlicher Herkunft, von der Geschichte Gondors, dann ergreifen Textfiguren das Wort, am häufigsten diejenigen, die mit einer übermenschlichen Hellsichtigkeit ausgestattet sind (Gandalf, Elrond, Galadriel). Nicht nur im Herrn der Ringe, wo die Textfiguren oft und lange sprechen, sondern auch in anderen Texten zeigt Tolkien Sinn für die Gestaltung der direkten Rede und für die dramatische Konfrontation der miteinander Sprechenden. Dies möchte ich nur nebenbei bemerken, weil seine dialogische Rhetorik zusammen mit ihren Untergattungen eine gesonderte Behandlung erforderlich macht und diese auch verdient. Ich möchte allerdings einen Gesprächstypus hervorheben, der bei ihm häufig vorkommt und für den es charakteristisch ist, dass die Gesprächsteilnehmer nur teilweise oder nur vorgeblich den thematischen Gesprächsfaden fortspinnen, indem sie in ihre Repliken 61 einen gewissen Überschuss an Inhalt einfließen lassen, normalerweise resultierend aus ihrer rassischen Natur und der damit einhergehenden informatorischen Privilegiertheit. Eine solche Rhetorik gibt es bei Tolkien häufig, und zu ihr passt die Idee Mittelerdes als eines rassisch und kulturell bunt gemischten Raumes. Besonders geschickt bedienen sich die Elben dieser Rhetorik, wenn sie sich mit Menschen unterhalten (dafür gibt es auch Beispiele in Húrins Kinder) oder mit Hobbits (vgl. Hobbit, III; Die Gefährten, I, 3). Ihre Extremform bilden Gespräche zwischen einander feindlich gegenüberstehenden Textfiguren. Diese reden bei Tolkien ohne Lärm und Zorn, aber mit dem Ziel, den Gesprächspartner tief zu erschüttern, um sich an ihm zu rächen oder um ihn mit Informationen zu vernichten, die belegen, dass ihr Wissen über ihn sein Wissen über sich selbst übertrifft. Ein schönes Beispiel hierfür ist das Gespräch zwischen Húrin und Morgoth zu Beginn von Húrins Kindern oder die grausame, wenngleich in ruhigem Ton formulierte Replik, mit der der verletzte Drache Glaurung der unglücklichen Niënor die Wahrheit enthüllt: Sei gegrüßt, Niënor, Tochter Húrins. Wir begegnen uns hier, bevor wir beide sterben werden. Freue dich, denn du hast endlich deinen Bruder gefunden. Und jetzt weißt du, wer er ist: ein Mörder aus dem Hinterhalt, ein Schurke für den Gegner, ein Wortbrüchiger für den Freund und eine Schande für seine Familie, Túrin der Sohn Húrins! Aber das schlimmste seiner Verbrechen wirst du in dir selbst noch spüren. Eine solche rhetorische Überwältigung, ein solches rhetorisches Zustechen oder Vernichten gibt es nicht oft in der Weltliteratur. Man könnte es bei antiken Schriftstellern finden, 62 RELA Dossier: Zoran Kravar in Szenen, wo Götter mit Sterblichen reden oder hellsichtige Sterbliche mit weniger hellsichtigen, wahrscheinlich auch in Dantes Hölle und, unserer Zeit näher stehend, in Wagners Musikdramen, zum Beispiel im Gespräch zwischen Wotan und Fricke im zweiten Akt der Walküre oder zwischen dem Reisenden/Wotan und seinen Gesprächspartnern (Mime, Alberich, Erda) im Siegfried. *** Wie ich schon gesagt habe, lese ich Tolkien in erster Linie deshalb mit Elan und mit einem Gefühl des Verständnisses, weil ich ihn als eine Fortsetzung jener nicht realistischen Literatur erlebe, wie ich sie vor langer Zeit kennen gelernt habe und von der ich mich nie ganz getrennt habe. Seine Geschichten – manchmal im Geiste der Tradition, manchmal originell und eigenwillig – verlebendigen, transformieren und reorganisieren Motive aus dem mythischen und folkloristischen Erbe, während in der Charakterisierung seiner Figuren die Tugenden und Fehler, die Taten und die Versäumnisse der archaischen Herrscher, der Hellseher, der Krieger und der Drachentöter wiederauferstehen. Dies gilt auch für das Werk Hurins Kinder bzw. für das Schicksal seiner Hauptfigur Túrin. Zwei aus der Reihe seiner unabsichtlichen Fehler – die Tötung des Freundes und die blutschänderische Ehe – erscheinen wie eine Variation der unbewussten Untaten des jungen Ödipus. An die Erzählung über Siegfried, allerdings eher in der Wagnerschen Version als in der ursprünglichen Fassung, erinnert die Tötung des Drachen, aber noch deutlicher der Umstand, dass Túrin durch sein eigenes Verhalten seine einzigartige Tugend vernichtet. Das Motiv der frühen Trennung von Bruder und Schwester und ihre spätere Wiederbegegnung in der Rolle einander potentiell Liebender stammt aus den Erzählschemata der volkstümlichen Ballade, die tragische Verwicklungen favorisiert, und zwar insbesondere solche, zu denen es zwischen den Mitgliedern des engeren Familienkreises kommen kann (vorsätzlicher oder unbeabsichtigter Brudermord, Vatermord, Blutschande). Allerdings denke ich, dass Túrins Geschichte von den erwähnten Werken und Traditionen abweicht, und zwar aufgrund ihrer etwas bestimmteren ethischen Dimension, die uns in dem Maße bewusst wird, wie es uns bei Túrin schwerer fällt, ihm seine Fehler zu vergeben. Ödipus geht zugrunde, weil er nicht gleich nach seiner Geburt getötet wurde, Siegfried macht unter dem Einfluss der Manipulationen Hagens die falschen Zügen, gegen die Figuren aus der Ballade arbeitet ein undurchschaubares Schicksal. Demgegenüber scheint Túrin sein Unglück selbst zu provozieren, durch seine Anhänglichkeit gegenüber falschen ethischen Normen, durch seine problematische Weltanschauung – und das unter Bedingungen, unter denen er wählen kann und über ein äußeres Korrektiv verfügt. Seine Hybris, so scheint es, besteht darin, dass er sich auf seine Menschlichkeit und auf die menschliche Natur im Allgemeinen verlässt. Ein reiner Humanist zu sein ist für viele selbst in unserer säkularisierten Welt nicht gerade empfehlenswert, dies ist jedoch auf jeden Fall die falsche Entscheidung in Mittelerde, wo über den Menschen gute und schlechte Gottheiten und Halbgottheiten (Valar und Maiar) stehen, wo ihn Elben hinsichtlich Vernunft und Ethos überragen, und sogar die Zwerge, die lange leben und sich alles gut einprägen, mehr Erfahrung vorweisen können. Túrin erschüttert mit seinen Unternehmungen diese Ordnung, die er auch mit seinen Worten bekämpft. In der Polemik mit dem Elben Gwindor aus Nargothrond, in der am deutlichsten Túrins Weltsicht zum Ausdruck kommt, stellt er sich, TIONS indem er den offenen Krieg mit Morgoth befürwortet, der Weisheit der Elben entgegen und wagt sich sogar, die Götter in Zweifel zu ziehen: “Valar!“ sagt Túrin. „Sie haben euch verlassen und verachten die Menschen. Worin besteht der Nutzen, wenn man übers endlose Meer blickt und sieht, wie die Sonne im Westen untergeht? Hier ist ein Valar, um den wir uns kümmern müssen, und das ist Morgoth, und wenn wir ihn am Ende nicht besiegen können, so können wir ihn doch wenigstens verletzen und behindern.“ Diese Worte sind blasphemisch und widersprechen zudem den weltgeschichtlichen Hoffnungen der Elben, die Gwindor in seiner Erwiderung auf Túrins skeptische Äußerung verdeutlicht: „Bei uns gibt es eine Prophezeiung, die besagt, dass eines Tages ein Bote aus Mittelerde durch den Schatten nach Valinor gelangt, und Manwë wird ihm gehorchen.“ Diese Eschatologie intendiert eine andere Politik als die Túrins: Bis zur versprochenen Lösung (die am Ende der ersten Ära sich tatsächlich einstellt) gilt es, sich zu verstecken, sich zu bewahren und abzuwarten. Der Konflikt zwischen den Positionen Túrins und Gwindors ist nicht dramatisch, zumal der Leser früh begreift, dass übermächtige böse Kräfte gegen Túrin eine Intrige spinnen, und man weiß, dass sein menschliches Selbstbewusstsein falsch ist. Das Drama besteht vielmehr darin, dass ihm mehrfach, aber stets vergeblich, die Gelegenheit geboten wird, durch die Revision seines Anthropozentrismus, d. h. durch das Akzeptieren der Ratschläge und Ermahnungen seitens der Elben, all seinem Unglück zu entkommen, wenigstens aber einem Teil davon: Wenn er auf seinen Freund Beleg gehört hätte, wäre er in das sichere Doriath zurückgekehrt; wenn er auf Gwindor gehört hät- RELA TIONS te, wäre Nargothrond nicht gefallen oder hätte wenigstens rechtzeitig evakuiert werden können; wenn er die Liebe der Elbenfürstin erwidert hätte, wäre es nicht dazu gekommen, dass er seine Schwester heiratet. Wenn wir von der tiefen Fiktion in das Reich ihrer Entstehung übergehen und den Autor ins Blickfeld rücken, dann könnten wir sagen, dass Tolkien in der Figur Túrins den Individualismus abstraft, während er eine ganze Reihe anderer menschlicher Textfiguren für ihre Zusammenarbeit mit den Elben und für ihre Bereitschaft zur Anerkennung der mittelerdischen natürlichen Ordnung belohnt. Eine naheliegende und die zugleich schärfste Antithese zu Túrin ist Tuor, sein Verwandter, gleichwohl Textfigur in einer selbstständigen Geschichte. Nicht nur, dass er an die Götter glaubt, sondern er spricht auch mit einem von ihnen, und die Elbenfürstin, die ihn liebt, nimmt er zur Frau. Die Richtigkeit ihrer Beziehung wird auch dadurch bestätigt, dass aus ihr Earendil hervorgeht, der Bote aus Gwindors Prophezeiung. *** Eine Opposition vom Typ Túrin – Tuor existiert in Tolkiens Geschichten an mehreren Stellen, zumal auch unter den Elben Individualisten zu finden sind. Der größte und der zugleich schlimmste Individualist in Mittelerde aber ist Melkor/Morgoth, der ursprünglich zum ardaschen Gottesensemble zählte, aber sich von diesem bereits bei der Erschaffung der Welt trennte. Die Bemerkung, dass der Individualismus in Tolkiens „sekundärer Welt“ zum Bösen oder zum Untergang führt, ist ein schöner Anlass, noch einmal daran zu erinnern, wie interessant die Tolkienschen Werke als mögliche Vorlage für eine ideologiekritische Lektüre sind. Als ich eingangs bereits über den Sinn eines solchen Zugangs zur Tolkienschen Fiktion schrieb, beschäftigte Dossier: Zoran Kravar ich mich kurz mit dem Gegensatz Denethor – Aragorn, den ich als Ausdruck eines Konflikts zwischen unterschwellig modernen und antimodernen Vorstellungen über die Legitimation von Herrschaft in dem von der Phantastik umgebenen und zugleich mit der Erfahrung der modernen Welt vermittelten Ereigniskontext dieses Textes interpretiert habe. Ich glaube, dass die Geschichte von Túrin sich aus ähnlichen Bestandteilen zusammensetzt, nur dass hier der Vertreter der modernen Wertvorstellungen (des anthropozentrischen Individualismus) ohne einen Gegensatz zu einer archaischen Alternative (die man in den anderen Geschichten finden kann) zerbricht. Auch der Ereignisrahmen erscheint nur von außen als phantastisch, weil er mit einem lang andauernden Kriegszustand identisch ist, der, wie auch woanders bei Tolkien, den historischen Kriegen näher steht als den mythischen und epischen. Der Ausgangspunkt in der Realerfahrung, und dies stimmt mit den Daten und Fakten aus Tolkiens Biographie überein, könnte der Erste Weltkrieg im Zusammenspiel mit seinen literarischen Präsentationen gewesen sein, die gemeinsam bei Schriftstellern unterschiedlicher ideologischer Orientierung die einhellige Vorstellung vom Krieg als einer alles umfassenden Gewalt erzeugten: Für diejenigen, die 1918 aus den Schützengräben zurückkehrten, hatte sich der Krieg ohnehin nicht auf der Welt abgespielt, sondern die Welt war im Krieg gewesen. Auch Tolkiens Kriege sind in diesem Sinne „Welt“kriege: In seinem Buch Silmarillion ist, nachdem Morgoth durch „plötzliches Feuer“ die Blockade durchbrochen hat, keiner in Beleriand mehr sicher, im Herrn der Ringe werden die entscheidenden Schlachten im Südosten geführt, aber die Hobbits begegnen bereits in Breej Flüchtlingen und Spähern, Sam Gamdschie erscheint in Galad- 63 riels Spiegel die Vision einer möglichen Verwüstung des fernen Auenland, während Frodo vom steinernen Stuhl auf Amon Hen den Krieg auf allen vier Seiten der Welt wüten sieht. Für einen Schriftsteller, der Kriege in Übereinstimmung mit den ethischen Prinzipien der modernen Zeit beschreibt und literarisiert, würde ein Mensch vom Schlage Túrins, der in einer nicht metaphysischen Weise an die Kriegswirklichkeit herangeht, der die Fähigkeit zu führen besitzt, sodass aus Wegelagerern Partisanen werden, der kleine Offensiven vorbereitet und das Leben in den befreiten Gebieten organisiert, sich nachgerade dazu anbieten, als positives Beispiel zu fungieren und durch ein glückliches Ende oder durch den Heldentod ausgezeichnet zu werden. Die literarische und filmische Fiktion, die mit den Ideologien der liberal-kapitalistischen Modernisierung einhergeht, ist vollgestopft mit Kriegsindividualisten, die als positive Helden dienen, von den „jungen Löwen“ bis zu Rambo I, II und III. Die Tatsache aber, dass in Húrins Kinder die in Túrins Worten und Werken verkörperten Werte entwertet werden, sehe ich als ein weiteres Symptom für Tolkien Antimodernismus an. Denn gerade die antimodernistischen Kreise von den Nietzscheanischen Vitalisten bis hin zu den konservativen Revolutionären und den Ideologen einer christlichen Restauration haben die Kritik des modernen Individualismus und die Favorisierung einer anderen Philosophie vom Menschen und der menschlichen Gemeinschaft forciert. Tolkiens Antimodernismus ist keine reine Hypothese, die sich allein durch eine methodologisch voreingenommene Analyse seiner Erzählungen verteidigen lässt. Von der Unbehaglichkeit in der modernen Welt berichtet der Autor auch in seinen nichtfiktionalen Texten, besonders in dem Essay On Fairy Stories (1939 – 47), wo er sie mit der 64 RELA Dossier: Zoran Kravar „Wildheit des Herzens“ eingesteht, was ich in den Repliken seiner Figuren so niemals gespürt habe, auch nicht in denen von Morgoth oder in den Repliken des Offiziers Saurons vor dem Schwarzen Tor. Der Essay über die Märchen beinhaltet auch eine kleine Liste moderner Übel, durch die wir in Versuchung geraten, die Tolkienschen Bestandteile der „Sub-Kreationen“, besonders die durch Schönheit oder Hässlichkeit ausgezeichneten, als ein imaginäres Echo auf vermeintliche ästhetische und ethische Defizite „unserer Zeit“ aufzufassen: die hässlichen als phantasievolle Vituperationen und die schönen als „eskapistische“ Entschädigungen. Die von Tolkien mit einer geradezu unwirklichen Güte ausgestatteten Gestalten wie Earendil und Frodo oder die hypertrophen Schönheiten wie Lúthien und Arwen können wir vielleicht besser begreifen, wenn wir sie auf der Grundlage der allgemeinen Haltung des Autors zum „Bösen und Hässlichen“ als allgegenwärtigen Kennzeichen des modernen Lebens betrachten. Die Architektur Tirions, Gondolins und Bruchtals ist vielleicht eine ästhetizistische Antithese und Angband und BaradDúr eine Verhöhnung der „Hässlichkeit“ moderner Gebäude, von der im Essay über die Märchen wiederholt und mit Nachdruck gesprochen wird. Zur modernen Politik äußert sich Tolkien in diesem Text nicht, aber die Gründe, weswegen sein Denethor geht und Aragorn kommt, Túrin scheitert und Tuor erfolgreich ist, lassen erahnen, dass auch in ihr Defekte vorhanden sind, ja sogar, wo diese sich befinden. *** Jedoch, ihr Liebhaber des Tolkienschen Werks, fürchtet euch nicht. Nachdem ich die Anwendbarkeit meiner geliebten hermeneutischen Methode auf das Tolkiensche Opus erprobt habe, denke ich nicht im ent- ferntesten daran, dass Húrins Kinder oder Der Herr der Ringe nur die Summe dessen sind, was man über sie mit Hilfe der vorgegebenen Methode oder mit irgendeiner anderen erfahren kann. Einen Literaturwissenschaftler, der ein literarisches Werk mit einer derartigen Überzeugung analysiert hätte, könnte man mit jenem Einwand konfrontieren, mit dem Gandalf in den Gefährten Saruman rügt: „Wer eine Sache zerstört, um sie zu erkennen, verlässt den Pfad der Weisheit.“ Wem es gelingt nachzuweisen, dass in dem von ihm untersuchten Werk nicht viel mehr vorhanden ist als das, was durch die Analyse sichtbar gemacht werden konnte, muss nicht vom Pfad der Tugend abgewichen sein, aber er hat in diesem Falle seine Zeit damit verschwendet, sich mit schlechter Literatur abzugeben. Die Erzählung Húrins Kinder kann allerdings eine ausreichende Anzahl an motivischen und strukturellen Bestandteilen vorweisen, die dahingehend wirken, dass auch ein erfahrener Leser zum einen ermuntert wird, weiterzulesen, zum anderen entmutigt wird, seine literaturwissenschaftliche Neugierde einzusetzen. Die Handlungsführung ist so, wie sie sein muss. Wenngleich episch linear erzählt, sind die einzelnen Ereignisse gut aufeinander abgestimmt, so stehen die Anhäufung der Túrinschen Schuld und die Entwicklung der Katastrophe in einem sinnvollen Verhältnis zueinander. Und die Spannung wird noch verschärft durch die Konfrontation von Túrins Selbstgewissheit mit einer unklaren, aber doch wahrnehmbaren Ankündigung des unglücklichen Endes. Kurz gesagt, es sind alle Bedingungen gegeben, unter denen ein reading for the plot das kritische Stirnrunzeln und die analytische Nachdenklichkeit verhindern. Und dann sind da auch noch die normalen Tolkienschen Köder: die verhängnisvollen Gesprä- TIONS che zwischen Gesprächspartnern verschiedenartiger Rassen, Weisheit und Hellsichtigkeit, großartige thematische Requisiten (große Räume, eine wilde Natur, riesige Gebirgsketten, ein diabolischer Feind) und natürlich vor allem die melancholischen Landschaften, in denen sich die geschichtliche und kosmogonische Tragik von Mittelerde und des ganzen Ardas als unfruchtbare und gleichwohl hübsch ausgedachte Kreationen verdichtet. Aber selbst in den Augenblicken, in denen subliminale ideologische Botschaften die einfache Freude des Lesens ein wenig trüben, kommt es nicht notwendig dazu, dass auch die ästhetische Zufriedenheit gestört wird. Die baufälligen antimodernistischen Phantasien, die verbrauchten regressiven Weltbilder können nämlich aus sich selbst heraus, befreit von den fiktionalen Inszenierungen zum ästhetischen Gegenstand werden, zu einem Modell, das Untergangssentimente zum Ausdruck bringt, die nicht auf das beschränkt werden können, wozu der Ruinenkult in der vorromantischen Malerei geführt hat: zu Szenen mit zerstörten, von Efeu überwucherten Schlössern oder Klöstern, um die herum unwissende Hirten ihre Herden weiden. Obwohl ich normalerweise am Ende eines Artikels nicht einen neuen ankündige, gestehe ich ein, dass ich mich in absehbarer Zeit gerne mit den Entwicklungen und Erschütterungen des kulturellen Gedächtnisses beschäftigen möchte, die die Umfunktionierung verworfener regressiver Weltbilder zu ästhetischen Attraktionen ermöglichen. Damit zugleich kündige ich an, auch weiterhin die Tolkienschen Texte lesen zu wollen, denn das Phänomen des weltanschaulichen Ruinenkults kann man nicht ernsthaft ohne einen Blick hinein in die Geschichten aus Mittelerde bearbeiten. Aus dem Kroatischen von Ulrich Dronske RELA TIONS 65 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 66 Dossier: @arko Pai} RELA TIONS ŽARKO PAIĆ wurde am 16. Oktober 1958 in Kutina geboren. Er ist Dozent am Studium für Modedesign an der Textiltechnologischen Fakultät der Universität in Zagreb, wo er Kultursoziologie, Modetheorie, Semiotik und visuelle Kommunikationen unterrichtet. Sein Diplom in Politologie und seinen Magistertitel für Philosophie hat er an der Fakultät für Politikwissenschaften in Zagreb gemacht und an der Philosophischen Fakultät in Zagreb den Doktortitel in Soziologie. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Theorie, Kultur und visuelle Künste Tvrđa, Vize-Chefredakteur der Zeitschrift Europski glasnik und Redaktionsmitglied des Magazins für visuelle Künste Art-e-fact. Außerdem war er Chefredakteur des Verlagshauses Izdanja Antibarbarus. Gemeinsam mit dem Zentrum für visuelle Studien in Zagreb organisierte er das internationale interdisziplinäre Symposium für visuelle Kultur und Kunst („Visual Construction of Culture“, Zagreb, Oktober 2007). Außer Studien in den Bereichen Philosophie, Soziologie und Theorie der Kunst und Ästhetik veröffentlicht er auch literarische Essays. Er ist der Verfasser dreier Gedichtbände (Aura, Hrvatska sveučilišna naklada, Zagreb, 1994, Opako ljeto, Ceres, Zagreb, 1998 und Uronjeni, Fraktura, Zaprešić, 2009). Seine Gedichte fanden Einzug in drei Anthologien der modernen kroatischen Gedichtkunst. Übersetzungen seiner Studien, Essays und seiner Poesie wurden in Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht, in englischer, französicher, deutscher, slowenischer, ungarischer, rumänischer und slowakischer Sprache. Er wurde mit dem internationalen Literaturpreis für die Literatur mitteleuropäischer Länder der österreichischen Stiftung KULTURKONTAKT aus Wien für das Jahr 2008 ausgezeichnet. Veröffentlichte Bücher: Njihalo na kraju stoljeća: kraj europskoga uma A.D. 1992., Biblioteka Hrvatskog radija, Zagreb, 1993; Aura (Poesie), Hrvatska sveučilišna naklada, Zagreb, 1994; Postmoderna igra svijeta, Durieux, Zagreb, 1996; Gotski križ, Ceres, Zagreb, 1997; Opako ljeto (Poesie), Ceres, Zagreb, 1999; Idoli, nakaze i suze: ideologijsko podjarmljivanje umjetnosti u XX. stoljeću, DHK, Zagreb, 2000; Montaigneov rez, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2004; Plemenski zavjet krvi, Plima, Ulcinj, 2005; Politika identiteta: kultura kao nova ideologija, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2005; Slika bez svijeta: ikonoklazam suvremene umjetnosti, Litteris, Zagreb, 2006; Izgledi povijesnog mišljenja: zbornik radova povodom osamdesete obljetnice rođenja Vanje Sutlića (Hrg.), Izdanje časopisa Tvrđa, HDP-Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2006; Moć nepokornosti: intelektualac i biopolitika, Izdanja Antibarbarus – Plima, Zagreb – Ulcinj, 2006; Projekt slobode: Jean-Paul Sartre – filozofija i angažman, Biblioteka časopisa „Nova Istra“, Pula, 2007; Traume razlika, Meandar, Zagreb, 2007; Vrtoglavica u modi: prema vizualnoj semiotici tijela, Altagama, Zagreb, 2007; Događaj i praznina: ogledi o kraju povijesti, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2007; Vizualne komunikacije: uvod, Centar za vizualne studije, Zagreb, 2008; Uronjeni (Poesie), Fraktura, Zaprešić, 2009 RELA TIONS 67 Landkarten für Irrende Nomadentum und Chaos am Ende der Geschichte Žarko Paić 1. Verloren im Territorium D er österreichische Schriftsteller jüdischer Abstammung Gustav Meyrink, Autor der phantastischen Erzählung über den Riesen Golem, sagt in einer seiner Parabeln: Sie irren durchs Leben dem Grabe zu wie Schwaden, die der Windhauch in den Sumpf zurücktreibt. Irrungen und Gräber, Winde und Sümpfe, gehören zum uralten Motiv des jüdischen Ahasvertums. Das Irren durch die Wüste auf der Suche nach dem gelobten Land ist die universelle Symbolik der Leiden und der Ohnmacht der Menschheit. Das gelobte Land zeigt sich nie. Alles, was übrigbleibt, ist die Erfahrung der Gefangenheit des Irrenden in seinem ewigen Irren durch die Wüste. Wir wissen, dass Meyrinks „Wüste“ die imaginäre Raum-Zeit des geistigen Mitteleuropas ist. Aber hier geht es nicht um Nostalgie nach einer verlorengegangenen Nostalgie aus der kulturellen Geschichte des modernen Europas. Das Reisen hat ein Ziel, das man zu erreichen trachtet. Das Irren, so scheint es, ist ein aussichtsloses oder zielloses Reisen. Zum Reisen kann man nicht verurteilt sein. Es ist eine Sache der Wahl. Aber die als Irren 1 2 begriffene Geschichte ist eine Art Verurteilung zur vergeblichen Suche nach dem Ziel. Auf Reisen ist es unmöglich, sich zu verirren, denn es existieren Landkarten und gekennzeichnete Wegpunkte. Irren ist im Vorhinein zum Verirren verurteilt, zum Verirren im – Territorium? Der Fremde, der Irrende, der Entwurzelte, der Heimatlose, der Emigrant, der Nomade... Die Geschichte der modernen europäischen Literatur und zugleich auch der Philosophie, die diese als Idee ermöglicht hat, ist wahrlich eine Geschichte derartiger Menschenfiguren, die ohne etwas fixes und beständiges geblieben sind oder sich auf der Flucht vor den Gefahren befinden, die aus der kollektiven Herkunftsbesessenheit hervorgehen, wie etwas Nationalismus, Rassismus oder die totalitären Ideologien des Faschismus, Nazismus und Leninismus/Stalinismus. In der Welt der Literatur scheinen diese Figuren gleichbedeutend zu sein. Für all diese Figuren steht außer Zweifel, dass es sich um den Anderen handelt. Sie sind Mitglieder einer Minderheit in Verhältnis zur Mehrheit einer Gemeinschaft. Die ethische Unreduzierbarkeit des Anderen als Person, die in Gemeinschaft mit anderen (der andere Andere) konstituiert wird, erweist sich schließlich nur als eine Art Postulat. Dies, nämlich die Achtung des Anderen, sollte ein universeller Wert sein. Die reale Lage gestaltet sich allerdings völlig anders. Die Ethik gibt moralische Ziele vor. Aber sie gibt sie stets aus der Perspektive einer bedingungslosen Erfüllungspflicht in der Zeit der Prozessualität vor. Emmanuel Lévinas war bestrebt, auf dem Spuren der Phänomenologie den Gedanken der Unterscheidung und der Identität zu errichten.1 Der Andere und anders sein in der Bedeutung der Nichtverwurzeltheit in den Stereotypen der mehrheitlichen Gemeinschaft heißt, Angehöriger von etwas Fremdem und Beunruhigenden zu sein. Aber dieses Denken ist als Ganzes ethischer Horizont und kein existenzielles Gefüge realer Strukturen gesellschaftlicher Vernetzungen und Verhältnisse der Machtverteilung in der Welt.2 Der Fremde ist nicht der Andere, weil er ein Fremder wäre, sondern, weil er den Ereigniszentren der modernen politischen Machtartikulierung zugleich fern und nahe ist. Warum besetzte die Figur des Nomaden die Plätze scheinbar synonymer literarischer Figuren des europäischen Mo- Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit Versuch über die Exteriorität, V. Masleša, Sarajevo, 1976. Aus dem Französischen von Nerkez Smailagić. Alain Badiou, Ethics: An Essay on the Understanding of Evil, Verso, London – New York, 2001, S. 18-29. 68 dernismus und der europäischen Dekadenz? Was hat die Figur des Nomaden mit der existentiellen Stellung des modernen Immigranten in den kapitalistischen „Lagern“ und „Camps“ westlicher liberaler Demokratien zu tun? Der Sinn des Nomadentums bezeiht sich heutzutage, im Zeitalter des Chaos am Ende der Geschichte, auf nichts Literarisches mehr. Es handelt sich um keine literarische Figur, keine literarische oder künstlerische Bewegung. Das Nomadentum ist in dieser Hinsicht bloße Metapher für den Zustand ständiger Bewegung in der Welt, nachdem diese, seit der Zeit der westlichen Kolonisierung, zur Raumzeit kapitalistischer Expansion geworden ist. Das Jahr, das auch symbolisch den Beginn dieses Zustands darstellt, gehört zum Ende des 15. Jahrhunderts – 1489. Auf seiner dritten Reise erobert Christoph Kolumbus Amerika und betritt mit seinen Schiffen fremdes Territorium. Im gleichen Jahr stirbt auch der größte Inquisitor in der Geschichte – Tomaso de Torquemada, ein dominikanischer Priester und Verfolger von Juden, Mauren, Ketzern und Frauen, die als Hexen angezeigt und verurteilt wurden. Er hatte über 300.000 spanische Mauren/Araber und Juden jenseits der Pyrenäen verbannt. Der Beginn der westlichen Moderne ist der Beginn des planetaren Nomadentums als Bewegung / Umsiedlung von a) Technologie und Kapital, b) Völkern auf der Suche nach neuen Territorien, c) Kulturen in der Bezeichnung fluider und hybrider Identität. Das Nomadentum ist kein geistiger Zustand des sich dem Entwicklungsraum der modernen Nation / des Staates nicht zugehörig und als in diesem nicht verwurzelt Empfindens. 3 RELA Dossier: @arko Pai} Dieser Modebegriff verbreitete sich nach dem Erscheinen von Gilles Deleuze / Felix Guattaris bahnbrechender Schrift Anti-Ödipus in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.3 In deren Werk kommt dem Nomadentum eine völlig andere Bedeutung zu, als jene des so oft besungenen, postmodernen, durch die als Labyrinth der neuen Medien begriffene Welt Irrenden. Der Begriff wurde entleert, weil der Nomade nicht als Person, die durch einen unbestimmten Raum irrt, „Subjekt“ ist, sondern als Angehöriger eines Stammes, eines Volkes, einer Gemeinschaft ohne festen Aufenthaltsort. So, wie es in der zeitgenössischen Kunst keine neomoderne Bewegung gibt, keinen derartigen Stil oder gar eine Tendenz, die Voraussetzungen der modernen Kunst zu überwinden, bezieht sich auch die Bezeichnung des Nomadentums im literarischen Sinn auf nichts als Idee bestimmtes. Um zum Konzept im Sinne einer künstlerischen Bewegung zu gelangen, benötigt das Nomadentum zweier Dinge: 1) dass sich die Kunstwerke ausschließlich mit einem Aspekt des modernen Nomadentums befassen, etwa mit der Berührung mit Wandervölkern außerhalb der modernen Geschichte (z.B. die zeitgenössische Kunst der Aborigines oder der Tuareg); 2) dass eine „Story“ theoretisch konstruiert wird, die die zerstreuten Fragmente von etwas scheinbar unzusammenhängendem aufgrund der fluiden Idee der Bewegung des Künstlers über die imaginären, symbolischen und realen Grenzen der modernen Geschichte hinweg in ein nichtganzheitliches Ganzes einfügt. In beiden Fällen handelt es sich um etwas Selbstverständliches. Aber da- TIONS durch, dass es selbstverständlich ist, ist es auch äußerst problematisch. Was, nämlich, ist die moderne Geschichte? Es handelt sich hier nicht um das bloße historiographische Problem der Bestimmung einer solchen Geschichte. Die moderne Geschichte des Westens ist allein dadurch modern, dass sie radikal mit jeglichem territorialen, national-staatlichem Verwurzelungsmythos bricht. Die moderne Geschichte ist, um mit Braudel zu sprechen, die Grammatik der Zivilisationen der Weltgeschichte. Ihr Schicksal ist das absolute Nomadentum in allen geographischen Gebieten der Welt. Die moderne Kunst und die moderne Geschichte sind gleichen Ursprungs. Die Hinausgeworfenheit aus dem heimatliches Wohnort in das Irren durch die Welt, die Bewegung und Zirkulation von Ideen, Arbeitskraft, Kapital, Technologie – das ist das einzige, was die Welt, die wir modern nennen, in ihrem Gleichgewicht hält. Aber Gleichgewicht ist immer eine Frage des Falls in den Zustand der Entropie. Jeder Teil einer komplexen Ordnung strebt dem Zerfall zu. Jeder Teil wird erst im Ganzen aufs neue zusammen- und auseinandergefügt. Auf die Frage, wer sich heute als Nomade bezeichnen kann, gibt es nur eine unbestimmte Antwort: alle und / oder niemand. Der Nomade ist nicht der sogenannte Weltreisende. Er ist auch nicht der künstlerische Wanderer durch verschiedene kulturelle Welten. Im Unterschied zu den Begriffen der Emigration, des Dissidententums und der Heimatlosigkeit, sind Nomaden in der modernen Welt alles andere als Irrende. Sie sind zeitweilige Migranten, aber keine illegalen Einwanderer in der imperialen Ordnung der globalen westlichen Welt. Nomaden stürzen nicht die legitime Ordnung der politischen Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Izdavačka knjižarnica Zorana Stanojevića, Sremski Karlovci, 1990. Aus dem Französischen von Ana Moralić. RELA TIONS Einschließung / Ausschließung, die auf der Idee des modernen Nationalstaates gründet. Die Europäische Union als Projekt stellt den kosmopolitischen Bürger nicht an die Stelle des kulturell bestimmten Subjekts der Anerkennung durch Nationen / Staaten. Sie verallgemeinert lediglich den kontingenten Inhalt der Volkssouveränität der Staaten auf der Ebene einer föderalen Struktur ökonomisch-politischer Macht. Illegale Einwanderer kehren tatsächlich nie in ihre „Heimaten“ zurück. Nomaden kehren nach ihren Wanderungen stets zur Anfangsstellung der Reise zurück. Illegale Einwanderer sind heute die einzig verbliebene Spur der totalen Mobilisierung des Nomadentums von Kapital / Technologie, Völkern und Kulturen in der globalen Weltordnung. Sie sind keine Nomaden, wohl aber biopolitisch (un)anerkannt in ihrem „nackten Leben“ im Umfeld der Ghettos und Slums, in denen sie ihr Dasein fristen.4 Politische Emigranten, Dissidenten und Heimatlose sind nur in der Ordnung der ideologisch-politischen Situation reinförmiger Totalitarismusherrschaft möglich, wie es mit dem Nazismus, dem Faschismus und dem Realsozialismus der Fall gewesen ist. Hybride Formen autoritärer politischer Ordnungen nach 1989 – China, islamische Staaten, Russland, Weißrussland – übernehmen nur das Modell des Ausschlusses der liberal-demokratischen Öffentlichkeit. Es bestehen auch weiterhin politische Emigranten, aber nur als Dissidenten, die nach Hause zurückkehren, wenn auch im Sarkophag. Heimatlosigkeit besteht schließlich gar nicht als flu4 5 6 7 Dossier: @arko Pai} ider Begriff, wie er im Zeitalter der politischen Emigration der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts überaus populär war. Heimatlos sein bezieht sich keinesfalls auf den Verlust der Staatsangehörigkeit. Die Schicksale der Emigranten jüdischer Herkunft haben zu dieser Zeit den Komplex der europäischen Melancholie besonders geprägt. Der Heimatlose ist kein Nomade. Vielmehr ist er eine auf fremdem Boden unverwurzelbare Figur. Wenn von der Erfahrung der Erinnerung an die Heimat und des Verlustes gerade dieser Heimat die Rede ist, findet die Nostalgie nach dem Ort der Verwurzelung ihren festen Stützpunkt in der Sprache. Heidegger hatte gedanklich aufs eindringlichste bewiesen, dass die gesamte Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik in ihrem technischen Geschick eine Erfahrung der Heimatlosigkeit des Menschen ist.5 Wo es keine Heimat gibt, gibt es auch kein Vaterland. Im dunklen Zeitalter der menschlichen Heimatlosigkeit ist Sprache das letzte Medium des Aussagens über das Wesen des Menschen. Wozu soll man dann heute überhaupt noch vom Nomadentum als Art der Existenz des modernen Menschen in der globalen Ordnung chaotischer Strukturen und vernetzter intersubjektiver Beziehungen sprechen? Ist denn die Entleerung des Begriffs als literarischer Metapher selbst nicht Grund genug, um aus dem Zauberkreis der literarisch-künstlerischen Produktion von Begriffen für den zusammenhanglosen Gebrauch herauszutreten? In den visuellen Künsten erwies sich der Begriff des Nomadentums in den achtziger Jahren 69 des 20. Jahrhunderts als regulativer Begriff nach der Erfahrung der Transavantgarde. Es war aber nicht völlig klar, was er hätte präzise ausdrücken sollen. Darauf hatte in einem anderen Zusammenhang der globalisierten Welt in einem Essay der Theoretiker der modernen Kunst Boris Groys6 hingewiesen. Totaler Tourismus ändert die Landschaften der Großstadt. Kunst und Architektur sind in ihnen nicht mehr der Spiegel des lokalen und regionalen Bauens. Der internationale oder globale „Stil“ der Großstädte passt sich ästhetisch an die Forderung nach Ausgleich von Unterschieden an. Identität im globalen Zeitalter ist das Resultat der Überkreuzung verschiedener Kulturen. Insofern lässt sich durch Nomadentum die Allokation des kulturellen Kapitals, der Informationstechnologie und der Konsumenten in der Reproduktion des neuen ökonomischen Angebots nur vorübergehend erklären. Nomaden sind kulturell verschieden, aber im Wesentlichen dieselben Verbraucher dieser globalen postmodernen Ökonomie. Es scheint, als gäbe es zwischen Touristen und Nomaden keinen wesentlichen Unterschied.7 Seit 2003 und der Berliner Weltkonferenz über das Nomadentum der Kultur wurde auch das erste Institut für Nomadentum eröffnet. Die künstlerischen Projekte innerhalb dieses Instituts richten sich auf das Problem der neuen kulturellen Identität, der neuen Medien und der Globalisierung, der Transkulturalität und des Kosmopolitismus. Mit Nomadentum wird heute die Erfahrung der Übergangs aller kultureller Grenzen der modernen Nation / des Roberto Esposito, Bíos: Biopolitics and Philosophy, University of Minnesota Press, Minneapolis – London, 2008. Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1976. Boris Groys, „The City in the Age of Touristic Reproduction“, in: Art Power, The MIT Press, Cambridge Massachusetts, London – New York, 2008, Se. 101-110. Siehe dazu John Urrys soziologische Studie, Sociology beyond Societies: mobility for the twenty-first century, Routledge, London – New York, 2001. 70 modernen Staates bezeichnet. Dieser Begriff wird auf ein imaginäres Labyrinth des literarischen Phänomens der Schriftsteller, Philosophen oder Künstler angewandt, die einfach durch die Welt reisen und sog. Erfahrungen der eigenen und fremden Kultur im allgegenwärtigen Gemisch von allem mit allem austauschen. Das Durchkreuzen und Verknüpfen verschiedener Traditionen wird zum neuem Kulturprodukt. Dabei bleibt es aber unklar, warum sich dies Nomadentum nennen sollte. Im Rahmen der neuen postdisziplinären Kulturwissenschaften (cultural studies) wird unter diesem Begriff eine Reihe kultureller Praktiken verstanden, die im sog. Cross-over, bzw. dem multikulturellen Umfeld westlicher pluralistischer Gesellschaften entstanden sind. Es bleibt aber weiterhin unklar, warum die ökonomische Migration aus den Ländern der Dritten Welt in den Westen, das Flüchtlingswesen und die Aussiedlung mit einem präzise bestimmten Begriff gleichgesetzt wird, der Völker, ethnische Gruppen und Stämme bezeichnet, die auf der Suche nach Weidegründen und ergiebigeren Nahrungsquellen zusammen mit ihrem Vieh Wüsten und Einöden durchwandern. Ursprünglich bezog sich der Ausdruck nomades gerade auf derartige Volksgruppen, nicht aber auf Personen mit einem Hang zum Reisen, Emigranten, Migranten oder Vertriebene. Die Juden waren keine Nomaden, obwohl sie von ihrer historischen Herkunft her mit verschiedenen Nomadenstämmen in Verbindung stehen. Traditionelle Nomadenkulturen sind Stammesgemeinschaften in Afrika und Asien, indianische Stämme in Nordamerika und einige Gruppen von Abori8 9 10 RELA Dossier: @arko Pai} gines in Australien. Die einzige ursprüngliche nomadische Kultur in der modernen Welt, die in historischer Hinsicht Erinnerungen an die tragischen Züge des absolut Anderen, sowie ihre Nichtzugehörigkeit zu Staaten / Nationen in ihren Spuren trägt, ist das überall umgesiedelte und nirgends ständig angesiedelte Volk der Roma. Daher wird in allen Volksüberlieferungen des Westens der Irrende mit dem Schicksal des „Zigeuners“ gleichgesetzt. Das Nomadentum überschreitet in diesem Sinne jeglichen künstlerischen Protest. Die Roma sind die einzigen authentischen Nomaden von den Ursprüngen bis zum Ende der Geschichte. Den zweiten, nicht weniger wichtigen Schritt im Überdenken des Nomadentums lieferte der Theoretiker der neuen Medien und des digitalen Zeitalters Vilém Flusser mit seiner Utopie von der telematischen Informationsgesellschaft.8 Beide Paradigmen waren kennzeichnend für die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Während Deleuze / Guattari unter Nomadentum die Struktur des Kapitalismus in der Produktion von Wunschmaschinen (Kriegsmaschinen und Kapitalreproduzierungsmechanismen als objektivierte Wünsche) über die Grenzen moderner Territorien hinaus verstehen, leitet Flusser die These von den medial vermittelten gesellschaftlichen Verhältnissen als technischer Produktion von Fernkommunikation ab. Besonders berücksichtigen werden wir hier Flussers Paradigmen im Hinblick auf die Frage des strukturellen Rahmens der globalen Welt als RaumZeit des Endes der Geschichte mit den grundlegenden Merkmalen der Simultanität, der Virtualität und des Kreisens von Informationen in Im- TIONS plosion (Verdichtung und Zusammenziehung) und Entropie (chaotische Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse). 2. Telematische Gesellschaft und Nomadentum Vilém Flusser ist neben Marshall McLuhan der bedeutendste Theoretiker der Medien und des digitalen Zeitalters.9 Durch sein Konzept des technischen Bildes, das die Welt als digitales Bild generiert, eröffnete er die Möglichkeit, dass die Erkenntnis der Welt im modernen Zeitalter aus der Medienperspektive heraus verstanden wird. Die Verbindungen zwischen den Menschen im Zustand der Aufhebung der direkten und physischen Kommunikation sind durch technologische Vernetzungen von Verhältnissen vermittelt. Daher ist seine Idee von der Entstehung einer telematischen Informationsgesellschaft die Verwirklichung der Voraussetzungen der medialen Kultur überhaupt. In seinem kurzen, aber weitgreifenden Essay über das Nomadentum betrachtete Flusser, im Unterschied zu Deleuze / Guattari, die Frage des Nomadentums außerhalb der Machtartikulierung in der Kontrollgesellschaft.10 Sein Paradigma ist zugleich ein ontologisches für das neumediale Nomadentum, während jenes von Deleuze / Guattari ein sozial-anthropologisches ist. Beide sind natürlich maßgebend für das Überdenken eines Konzepts am Ende der Geschichte, dem seine Kompliziertheit und sein Chaos die Grenzen der Geltung vorgeben. Flusser hat die menschliche Geschichte in drei Epochen eingeteilt: 1) das paläolithische Zeitalter der Agrikultur; Vilém Flusser, „Nomadische Überlegungen“, in: Medienkultur, Fischer, Frankfurt a. M., 1997, S. 150-159. Siehe dazu: Žarko Paić, Visuelle Kommunikationen, Einleitung, Centar za vizualne studije, Zagreb, 2008, vor allem das zweite Kapitel „Medien: Zeichen-Botschaften-Codes“. Vilém Flusser, „Nomadische Überlegungen“, in: Medienkultur, Fischer, Frankfurt a. M., 1997, S. 150-159. RELA TIONS 2) das neolithische Zeitalter, das 1990. endet und 3) das Zeitalter des neuen Nomaden- tums, als jenes, das der Zukunft gehört. Das letzte Zeitalter ist gerade jenes, das sich durch den posthistorischen Verlust des fixen Territoriums auszeichnet. Das, was wir heute Globalisierung nennen ist daher nichts anderes als der Zustand der totalen Mobilisierung aller menschlichen, natürlichen und kulturellen Ressourcen. Im Unterschied zum Begriff des Nomadentums als künstlerischer Bewegung ohne klare stilistische Merkmale, Tendenzen und artikulierte Ideen, ist das neue Nomadentum, von dem bei Flusser die Rede ist, ein phänomenologisches Ereignis der Ausgeräumtheit des Menschen im Zustand der totalen Bewegung in allen Richtungen. Der Mittelpunkt existiert nicht mehr. Das grundlegende ontologische Merkmal des Nomaden ist, dass das ewige Herumirren und die ständige Suche jenseits des erreichten Ziels sein „Schicksal“ ist. Der Unterschied zwischen Reisen und Irren besteht also darin, dass der Nomade niemals am Ende seines Weges angelangt. Während die Migration der Bevölkerung auf der Suche nach einem „neuen Heim“ und einer „neuen Heimat“ gründet, seien diese auch nur vorläufig, ist für das Nomadentum der Zustand der Offenheit des endlosen Irrens kennzeichnend. In einem anderen Diskurs wirft Flusser das Problem der Übergangs aus der industriellen in die Informationsrevolution auf. Das Ende des neolithischen ist zugleich der Anfang des Informationszeitalters. Durch Einführung der (globalen) Informationsökonomie verwandeln sich industrielle in fluide telematische Ge11 12 Dossier: @arko Pai} sellschaften. Die Medien sind nicht mehr bloße Kommunikationsmittel. Sie sind die Bedingung der Existenz und das Wesen des digitalen Zeitalters. Der Mensch kann am Ende der Geschichte nicht mehr Subjekt dieses Prozesses des medial-informatischen Nomadentums sein. Er ist mediales Erzeugnis, ein Netz kommunikativer Verhältnisse, ein verstellter / hinausgestellter Irrender zwischen verschiedenen, durch die Logik der Fernkommunikation miteinander verbundenen kulturellen Welten. Um in einem derart ungesellschaftliche Zustand der telematischen Gegenwart überhaupt leben zu können, ist der Mensch medial durch sein Eintauchen in die Ereignisse des technologischen Weltbilds bestimmt.11 Die Ungewissheit seines vorgeschichtlichen „Schicksals“ zeigt sich in der Unmöglichkeit, Raum / Zeit totaler Gegenwart in der globalen Zirkulation von Informationen einzunehmen. Die Implosion (Verdichtung und Zusammenziehung) der Informationen erzeugt den erwarteten Effekt der Entropie der Gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen. Die neuen Medien nehmen die Stellung der erkenntnismäßig-rezeptiven „vierten Haut“ des Menschen ein. Dadurch wird auch der Begriff der Kultur in traditionellem humanistischen Sinne in Frage gestellt. Zusammengefasst ausgedrückt, die neuen Medien sind die Technokultur des neuen Nomadentums. Diese gründet auf den kreativen Spielen der Simulation und den kybernetischen Voraussetzungen einer Gesellschaft ohne Subjekt der ursprünglichen Gesellschaftlichkeit. Die Technokultur tritt in den menschlichen Körper ein und verwandelt ihn in eine Maschine, die denkt und erlebt. Insofern gehört das Nomadentum nicht mehr 71 zum paläolithischen Zeitalter, vielmehr ist es das Resultat des Verlustes von Lokalität und Beheimatung auf einem bestimmten national-staatlichen Territorium. Das digitale Zeitalter erfordert jene Art des Irrens, die nie mehr in einer „Stabilität im Wandel“ (Heidegger) zur Ruhe kommen kann. Flussers Paradigma des neuen Nomadentums ist ein tiefer Einschnitt in alle verbliebenen Lebensmechanismen der humanistischen Kultur. So wie Heidegger in seinem berühmten „Brief über den Humanismus“ das Ende des Menschen als Subjekts metaphysisch durchdacht hatte, eröffnet Flusser im neuen Nomadentum der Technokultur radikal die Möglichkeit, das Ende der Geschichte aus der Perspektive des Endes der Geschichte der Medien zu betrachten.12 Was ist das Ungeheuerste in diesem für das Verständnis der Welt schlechthin unbestreitbar unentbehrlichem Paradigma des Nomadentums? Nichts anderes, als Flossers These, es sei von einer epochalen Veränderung die Rede, die sogar radikalere Folgen hat, als alles, was nach Hegel von der Posthistorie gesagt wurde. Nomadentum ist nicht nur ein alter Begriff aus der Praxis dem paläolithischen Zeitalter der Agrikultur im neuen technologischen Umfeld. Weit von der bloßen modernen Verblendung durch das Konzept der künstlerischen Fixiertheit auf das Irren durch verschiedene kulturelle Welten entfernt, ist hier von etwas bedeutend Tieferem und daher auch wesentlich Dunklerem die Rede. Die epochale Veränderung trifft mit ihren Folgen nicht nur die sog. gesellschaftlichen Formen der Existenz des Menschen in den entwickelten und unentwickelten Gesellschaften der Gegenwart. Vilém Flusser, Kommunikologie, Fischer, Frankfurt a. M., 2005. Siehe dazu: Dieter Mersch, Medientheorien zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg, 2006, „Vilém Flusser und die telematische Gesellschaft“, S. 136-153. 72 Es handelt sich um einen Bruch in der gesamten Denkstruktur des linearen Ablaufs der Geschichte. Das Ansiedeln in einem geographisch bestimmten Gebiet der Allokation des Kapitals ist nicht mehr möglich. Wenn bereits moderne Architekten (Bernard Tschumi, Jean Nouvel, Rem Kolhaas) in ihren Projekten Fragen der vorläufigen Lebenszonen in den Großstädten der Gegenwart aufwerfen, treffen wir aufs Neue auf das Problem der Bestimmung der Reichweite des neuen Nomadentums.13 Der Nomade hat keinen „Namen“. Die Nomaden sind keine Stammesgemeinschaften mehr und schon gar nicht Völker oder Völkergruppen. Die epochale Veränderung, „radikaler noch als die Posthistorie“, von der bei Flusser die Rede ist, ist die radikale Dekonstruktion der Idee von der fixen Identität historischer Völker. Ist der moderne Nomade weder ein „Jemand“, noch ein „Niemand“, entspricht auch das zeitgenössische Konzept der Nation nicht mehr der Bewohnbarkeit eines fixen Territoriums. Die Staaten aus dem modernen Zeitalter der territorialen Souveränität beruhen noch auf derselben Bestimmung der Einnahme und der Begrenzung des Territoriums. Aber das Territorium wird nicht mehr besiedelt, vielmehr wird in / auf ihm verweilt. Das Konzept der Eingeborenheit als jenes, das der Nation in kulturellem Sinne ihren Daseinsgrund verleiht, hatte sich bereits im ersten Akt der politischen Konstruktion einer Nation / eines Staates in der modernen Geschichte als brüchig erwiesen. Amerika, bzw. die USA, sind eine universelle Konstruktion des politischen Folkes ohne den Mythos vom eingeboren Sein. Es ist die 13 14 15 RELA Dossier: @arko Pai} Konstruktion eines Territoriums, das sich vor dem ständigen Einbrechen neuer Migranten zurückzieht. In seiner imperialen Macht ist es aber ein Gebiet der übernationalen Souveränität des neuen Nomadentums. 3. Unruhe als planetare Treibkraft Das Nomadentum gehört zu einem Zustand der globalen Ordnung und nicht zur Stellung des Subjekts inmitten dieser. Deleuze /Guattari sagen in ihrem Anti-Ödipus, dass sich der „nomadische und mehrdeutige Gebrauch zusammenfügender Synthesen dem segregativen und zwei-eindeutigen Gebrauch widersetzt.“14 Das heißt, dass das Nomadentum statt des rasenden Reisens in allen Richtungen die ontologisch-existenzielle Erfahrung des Vernetzens und Durchkreuzens voraussetzt. Selbst, wenn er nicht außerhalb des eigenen Umfelds reist, ist der Mensch ein planetarer Irrender in einer Epoche, die weder über eigene Orte, noch über eigene Un-Orte verfügt. Das wohl deutlichste Beispiel für diese These liefert das gesamte literarische Werk des portugiesischen Autors Fernando Pessoa. In Das Buch der Unruhe wird durch die „Hand“ des Hilfsbuchhalters Bernard Soares gerade dieser gestörte Verlauf ohne festen Ausgangspunkt beschrieben. Die Notwendigkeit des Herumirrens zwischen allen möglichen Formen der diskursiven Schrift des post-historischen Zeitalters erfordert Reflexionen, die auf paradoxe Weise Dekadenz und Avantgarde miteinander vereinen. Pessoa hatte Lissabon niemals verlassen und war dennoch ein ontologisch-existenzieller „Nomade“ der planetaren Bewogenheit jenseits jeglicher Grenzen der modernen Sprache.15 TIONS Die Bewegung aus dem Bedürfnis nach dem Wunschgegenstand heraus ist kein zielloses oder gezieltes Reisen. Es ist ein Bedürfnis, das aus dem Grundbedürfnis nach der Erhaltung der existenziellen Gemeinschaft im leeren Territorium hervorgeht. Die Erfahrung des Nomadentums ist kein zielloses durch die Welt Reisen, sondern die Einnahme von Raum und Zeit im leeren Territorium. Wie kann ein Territorium leer sein? Es gibt kein erfülltes Territorium. Die Leer bezieht sich hier nicht auf eine physikalisch-metaphysische Qualität des Raumes. Um ein Territorium einnehmen zu können, muss man es entweder besiedeln, sofern es von Menschen unbesiedelt ist, oder, falls es von anderen Gruppen, Völker oder Stämmen bereits besiedelt worden ist, durch gewaltvolle Ausrottung und Vertreibung der ursprünglichen Bewohner dieses Gebiets erobern. Die Leere des Territoriums ist der historische Ort des „wüsten Landes“. Andererseits ist das Territorium der „verbrannten Erde“ (Terra Combusta), eines Landes, das dadurch, dass es durch Krieg und Zerstörung verwüstet worden ist, paradoxer Weise zum Ausgangspunkt einer neuen Kultur wird, nicht verwüstet. Obwohl an die gnostische dunkle Materie – Nigredo – erinnernd, verwandelt sich das Territorium aus dem Nichts in ein Land vorläufiger Bewohnbarkeit. Die gesamte Geschichte von Kontinuität und Akulturation im Sinne von Übernahme und Übertragung kultureller Archetypen, z.B. der Ägypter bei den Griechen, der Skythen in der georgischen Kultur oder der vandalischen Stämme, die auf den Ruinen des alten Roms das mittelalterliche Europa aufbauten, Aaron Betsky, Violated Perfection: Architecture and Fragmentation of the Modern, Rizzoli International Publication, New York, 1991. Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Izdavačka knjižarnica Zorana Stanojevića, Sremski Karlovci, 1990, S. 86. Aus dem Französischen von Ana Moralić. Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, Bd. I-II, Konzor, Zagreb, 2001. Aus dem portugiesischen von Tatjana Tarbuk, Nachwort: Žarko Paić: „Traum und Verwandlungen“. RELA TIONS erweist sich als nur teilweise richtig. Die Diskontinuität mit der historischen Vergangenheit ist ein Bruch mit der Linearität ein und desselben. Der Neubeginn der Geschichte war nicht bloß Merkmal der historischen Avantgarde in der Kunst des 20. Jahrhunderts.16 Das ist das Erbe der Weltgeschichte in allen geographischen Gegenden der Welt. Deshalb konnte Walter Benjamin ohne jeglichen Zynismus behaupten, die Dokumente der Kultur seine zugleich Dokumente der Barbarei. Um zu zeigen, dass Nomadentum als Zustand keine eigenen „Subjekte“ hat, wollen wir den Sinn eines uralten Spruchs erörtern. Dem rumänisch-französischen Philosophen Emile M. Cioran verdankt er seine Berühmtheit, zugleich aber auch seine Selbstverständlichkeit für den Zustand des Menschen in der modernen Welt.17 Warum? Gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem ursprünglichen und dem posthistorischen Nomadentum? 4. Nomadentum ohne Subjekt Dieser berühmte uralte tibetanische Spruch sagt: „Das Vaterland ist nur ein Zeltlager in der Wüste“. Lager und Lagern bezieht sich hier nicht auf die Negation der Menschlichkeit. Es handelt sich lediglich um eine vorläufige Station auf dem Weg durch einen / zu einem Ort, der nicht das Ziel der Reise ist. Im Lager sein bedeutet, seinen Platz haben. Vor biologischer Bedrohung, Witterungsbedingungen und dem Einbruch eines 16 17 18 19 Dossier: @arko Pai} feindlichen Heeres geschützt sein, sowie die Sicherheit der Gemeinschaft genießen können, bedeutet, sich im „Vaterland als einem Zeltlager in der Wüste“ zu befinden. Dieser rätselhafte Spruch scheint zum Gemeinplatz des modernen Unbehagens in einer von der Unausweichlichkeit eines ständigen Bewegens ohne klares Ziel erfassten Welt geworden zu sein. Was ist der Sinn der Globalisierung und Planetarisierung der Welt? Die Antworten auf diese Fragen sind immer die gleichen. Es wird behauptet, es sei notwenig und unausweichlich, die Welt auf ein einheitliches und gleichbedeutendes gemeinsames Schicksal zurückzuführen. Es ist nicht möglich zurückzubleiben und sich außerhalb dieser rasenden Bewegung zu befinden. Wird dies durch die Logik der Bewegung des Kapitals über alle begrenzten Zonen der internationalen Weltordnung hinaus bestimmt, ist im Vorhinein klar, dass in der Idee des Kapitals das global-historische Abenteuer der Überschreitung der Grenzen der Nation, des Staates, des Vaterlands in allen modernen Bedeutungen dieses Wortes enthalten ist.18 Der Begriff des Ziels ist dabei vom Zweck der Reise zu unterscheiden. Ziel ist gleichbedeutend mit Sinn, der Zweck ist aber stets teleologisch bestimmt. Dass die Reise überhaupt keinen Sinn, aber dafür einen Zweck hat, ist vielleicht die richtige Aussage über das, was sich im Zeitalter des Endes der Geschichte abspielt. Das Ziel der Reise ist nicht der Schlusspunkt des Weges. Das eschatologische Denken des frühen Christentums nimmt 73 z.B. die Apokalypse als den endgültigen Zustand der Geschichte an. Danach kommt das endlose, ewige Jetzt und in alle Ewigkeit – das Reich Gottes. Die gesamte Geschichte ist nur eine „lange Reise durch die Nacht“, bis zu jenem Punkt, an dem die Frage nach Ziel und Zweck nicht mehr gestellt wird. In seinen Historisch-philosophischen Thesen unterschied Walter Benjamin, als einer der Seltenen im geschichtlichen Denken des 20. Jahrhunderts, zwischen dem ontologischen (metaphysischen) und dem anthropologischen Horizont der Geschichte.19 Der Sinn als Ziel (Meta) dessen, wohin gereist wird, ist nicht im Vorhinein vorgegeben. Es handelt sich um eine ursprüngliche Offenheit, als Freiheit des Erscheinens des Göttlichen, des Seins und des Seins des Wesens auf dem Weg. Zweck ist hingegen Etwas Endgültiges und Einmaliges. Der Sinn verleiht dem Zweck den zureichenden Grund, damit es überhaupt möglich wird, irgendwohin zu reisen. Der Sinn beantwort die Frage nach dem Warum und Wozu, oder er tut es nicht, während der Zweck auf die Frage des Grundes, wie und mit welchen Mittelnd das Verschmelzen des Anfangs und des Endes der Reise zu verwirklichen sei, Antwort gibt. Wenn wir uns für den tibetanischen Spruch über jenes entscheiden, was in der Debatte über den „Sinn des Nomadentums“ im Zeitalter des Endes der Geschichte notwendig und unausweichlich zu überdenken sei, sollten wir noch einmal bei der Deu- Alexander Demandt, Vandalismus, Gewalt gegen Kultur, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Nikica Petrak. „Das Vaterland ist nur ein Zeltlager in der Wüste“, heißt es in einem tibetanischen Text. Ich gehe nicht so weit: ich gäbe alle Landschaften der Welt für die meiner Kindheit hin. Immerhin, muss ich hinzusetzen, wenn ich ein Paradies daraus mache, sind die Zaubertricks oder schwachen Stellen meines Gedächtnisses daran schuld. Verfolgt werden wir alle von unseren Ursprüngen; die Empfindung, die mir die meinigen einflößten, lässt sich zwangsläufig nur in negativen Ausdrücken wiedergeben, in der Sprache der Selbstbestrafung, der freiwilligen und öffentlich bekundeten Demütigung, der Zustimmung zum Unheil. Sollte für eine derartige Vaterlandsliebe die Psychiatrie zuständig sein?“ – Emile M. Cioran, „Zwei Arten Gesellschaft“, in: Wille zur Ohnmacht: Geschichte und Utopie – Der Absturz in die Zeit, Demetra, Zagreb, 1995. Aus dem Französischen von Gordana V. Popović (Hrsg.). Žarko Paić, Politik der Identität: Kultur als neue Ideologie, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2005. Walter Benjamin, Der neue Engel, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Snješka Knežević. 74 tung dieses Spruchs halt machen. Was besagt er eigentlich? Dass Vaterland nur ein Zelten in der Wüste sei und nichts weiter? Oder weist er auf etwas anderes hin, was hier nicht ausgedrückt wurde? Die Wüste ist räumlich unbestimmt. So wie der Meerarchipel, erscheint auch die Wüste im messbaren menschlichen Überwinden des Raumes, in dem man ihn kreuz und quer durchwandert. In geometrischer Hinsicht ist von Fläche die Rede. Jede Fläche hat ihre territoriale Begrenzung. Die Griechen nannten die Erde einen Wanderstern (planetes).20 Wanderer sind daher keine verirrten Reisenden, die versehentlich vom Ziel der Reise abgewichen wären. Die Erde allein ist ein Wanderstern in seiner Bewegung durch die Weiten des Kosmos. Wanderer sein bedeutet notwendigerweise, von der ungeheueren Macht des Lebens in seiner ständigen Bewegung bewogen worden sein. Um die Bewegung überhaupt einem Ziel zuführen zu können, ist es notwendig, vorläufig am räumlich-zeitlichen Punkt der Nähe und der Entfernung vom Ziel halt zu machen. Territorium ist daher die Einnahme von Raum für die Orientierung auf ein nahe oder fern gelegenes Ziel. Das Lagern und das Lager, das bildlich mit Vaterland gleichgesetzt wird, nimmt ein Territorium ein. Um ein Zeltlager aufschlagen zu können, ist es notwendig, ein Territorium einzunehmen. Dieser Ort ist durch reale und imaginäre Grenzen eingegrenzt. Im symbolischen Sinn, der aus diesem Spruch offensichtlich über alle räumlich-zeitlichen Besonderheiten hinausgeht und zur allgemeinen Metapher eines Zustands der Entwurzelung wird, ist das Vaterland als Lager in der Wüste ein vorläufiges Territorium. Es kann nicht für immer einge20 21 RELA Dossier: @arko Pai} nommen werden, da es notwenig ist, sich wegen etwas, was wir das Ziel der Reise nennen, zu bewegen, obwohl sich in diesem Ziel etwas unerhörtes und ungeheueres zeigt: nämlich, dass gereist wird, weil einfach gereist werden muss. Die Reise sei die Suche nach einer „besseren“, „schöneren“, „gerechteren“ und „wahrhaftigeren“ Welt? Ziehen wir noch einmal den tibetanischen Spruch in Betracht. Vaterland, Lagern, Wüste – wer ist eigentlich das „Subjekt“ der Bewegung auf etwas unbestimmtes, unbekanntes und noch dazu unerreichtes zu? Ist es das Vaterland als Lager / Lagern in der Wüste oder die Wüste als abstrakt-konkreter Raum? Das Lager ist die Architektur des eingenommenen Territoriums. Es wird nicht bewohnt. Im Lager hält man sich vorläufig auf. Ein Vaterland haben scheint eine art vorläufig Sein vorauszusetzen. Sich aufhalten und bewohnen sind keinesfalls gleichbedeutende Wörter. Dort, wo man sich aufhält, ist die Dauer des Aufenthalts durch die Unmöglichkeit des dauerhaften Aufenthalts begrenzt. Das moderne Konzept der Nation in der westlichen rechtlichpolitischen Tradition ist mit dem Begriff des eingeboren Seins (natio) als angesiedelt Seins auf einem Territorium verbunden. Der Begriff des Territorium selbst ist die Grundlage des neuzeitlichen Naturrechts. Dem Menschen stehen aufgrund seiner Geburt die unentäußerbaren Rechte auf Freiheit und menschliche Würde zu. Aber dieses unentäußerbare Recht stellt lediglich die Möglichkeit der Verwirklichung innerhalb der vorgegebenen formalen und realen Grenzen des Rechts schlechthin dar. Die Verwurzelung im heimatlichen Boden und das eingeboren Sein in die Nation als orga- TIONS nische politische Gemeinschaft sind bereits das kontingente Feld der Ausschließung aller Anderen (nicht verwurzelten und nicht eingeborenen). Die Grenzen der Territorien sind die Grenzen zwischen Nationen / Staaten. In der Gemeinschaft eingeboren und angesiedelt sein, bedeutet, als Subjekt der Nation / des Staates, bzw. als ihr Angehöriger21 Anerkennung zu genießen. Das Recht auf Existenz ist im politischen Sinne des Wortes das Recht auf die Erfüllung der realen Existenz der Freiheit in der modernen Welt. Ohne Erfüllung der Freiheit im politischen Sinne staatsbürgerlicher Rechte existiert die Möglichkeit der Existenz innerhalb der internationalen Ordnung der Nationen / Staaten nicht. Wer also ist das „Subjekt“ der Bewegung auf dem „Wanderstern“? Der tibetanische Spruch weist auf folgendes hin: 1) Raum als vorläufiges Territorium, in dem sich das „Schicksal“ des Volkes ereignet und nicht jenes abstrakter Identitäten von Einzelnen außerhalb der Gemeinschaft; 2) Zeit als endgültige Grenze des Verschiebens des Vaterlands von einem Punkt zum anderen; 3) das Verschieben der Grenzen des Territoriums im ständigen Bewegen durch die als Wüste begriffene Welt; 4) die Unmöglichkeit der Einnahme der Welt, der als „Wanderstern“ dem Anfangspunkt der Reise zugleich unendlich nah und unendlich fern ist. Das Vaterland wird im ständigen Bewegen verortet. Das Lager ist ein vorläufiger Aufenthalt und nicht das dauerhaft angesiedelte Aufenthaltsgebiet. Die ursprünglichen Wandervölker wurden nicht in die Wüste Kostas Axelos, Einführung in das zukünftige Denken – Unterwegs zu einem planetaren Denken, Stvarnost, Zagreb, 1972. Aus dem Französischen von Franjo Zenko. Giorgio Agamben, Homo Sacer, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2002. RELA TIONS vertrieben. Sie sind „Wüstenvölker“, nicht weil sie die Wüste besiedeln würden, sondern weil sie sich auf der Suche nach Nahrung, Wasser, Oasen, sowie dem Schutz vor „unmenschlichen“ Existenzbedingungen in ihr bewegen. Die Nomaden wurden nicht der Geschichte verwiesen. Sie sind gerade deshalb, weil sie nicht angesiedelt und durch Staatsgrenzen nicht territorial bestimmt sind, nicht-geschichtliche Völker. Das bedeutet aber auf keinen Fall, sie wären ohne Bewusstsein vom eigenen Ursprung in Mythen, Legenden, Geschichten, kurz, dem Imaginarium all dessen, was das Wesen der ursprünglichen Gemeinschaft ausmacht, die auch im Zeitalter des Endes der Geschichte der globalen Ordnung der Nationen / Staaten überlebt. Nomaden haben ein Vaterland, aber keinen Staat. Der tibetanische Spruch weist auf das irrende „Schicksal“ von ständig in Wanderung begriffenen Völkern hin. Ohne Lager gibt es kein Vaterland. Ohne Wüste gibt es keine Notwendigkeit, sich kreuz und quer durch Nichtraum und Nichtzeit zu bewegen. Ist dadurch der Sinn dieses offensichtlich mehrdeutigen Spruchs erschöpft? Noch einmal – was ist ein Vaterland? Die Wiege, die Heimat, die Landschaft einer Nation, die durch staatliche Macht errichtet wird? Oder ist Vaterland nur die Nostalgie nach der „verlorenen Heimat“? Der Titel einer Essaysammlung des Schriftstellers Salman Rushdie weist ausdrücklich darauf hin, was sich heutzutage unter diesem metaphysischen, beinahe poetischen Begriff des Schutzes und der Obhut des Menschen als Person in 22 23 24 Dossier: @arko Pai} der Gemeinschaft gerade noch denken lässt – Imaginary Homelands.22 Rushdie ist ein beispielhafter Fall der hybriden Identität des modernen Menschen ohne Heimat oder mit mehreren Heimaten. Und diese sind allesamt imaginär und real zugleich, weil sie vorläufig sind. Lassen wir alle möglichen modernen Varianten des Erlebens von Heimat außer Acht, befinden wir uns vor der entscheidenden Wende hin zu etwas höchst wunderlichem. Dadurch, dass es durch das Problem der rasenden Bewegung von Völkern, Gruppen und Einzelpersonen auf der Suche nach der nackten Existenz, neuen geistigen Erfahrungen oder aber dem touristischen Wunsch nach der Begegnung mit dem „Unbekannten“ (exotischen) über die territorial bestimmten Grenzen der Nationen / Staaten hinweg überhaupt am Ende der Geschichte erscheint, verliert das Nomadentum seine substanzielle Bedeutung. Es mag paradox klingen, aber je mehr man davon spricht, desto weniger existiert es, oder es existiert überhaupt nicht. Dasselbe gilt für die Rückkehr der Religion in die modernen Gesellschaften. Je mehr Gott in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht Macht zu haben scheint, umso gewisser ist es, dass Religion zur neuen Kultur der Leere oder des Lebensstils wird. Wer wahrhaft über Gott nachdenkt, dem steht der Sinn nicht nach Religion. 5. Relokationen Ist die Welt die globalisierte RaumZeit der Relokation (Verlegung) des 75 Kapitals als transzendentaler Bedingung aller denkbaren gesellschaftlichen Verhältnisse, so ist das Nomadentum nicht mehr die Ausnahme des Herumirrens der Anderen auf der Suche nach dem Unbekannten. Im Gegenteil, die Welt hebt in der globalen Ordnung der Entwurzelung, deren Grundmerkmal die massenhafte (I)migration der Bewohner der Dritten Welt in den Westen ist, die Idee der Heimat auf. Das Volk wird im postmodernen Konzept der Nation / des Staates auf das ethnische Substrat der Gemeinschaft zurückgeführt, der die kulturelle Identität als einzige noch einen Sinn verleiht.23 Heimat ist im planetaren Zeitalter nicht nur die „gedachte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), die im modernen Zeitalter der Nation zustand, sondern ein vernetztes „Lager in der Wüste“. Alles wird verteilt und verlegt. Alles wird durchkreuzt und überkreuzt. Alles verschwindet und geht in der rasenden, ziellosen Bewegung der Welt verloren. Der lineare Fortschritt / die lineare Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein der Produktion wegen, von der im 19. Jahrhundert Karl Marx in Das Kapital im Diskurs der Dekonstruktion von Hegels Logik des absoluten Geistes gesprochen hat, führt zur Komplexität der Welt im Zeichen von Chaos und Entropie. Was sagen uns die maßgebendsten soziologischen Studien der Globalisierung und der Informationsgesellschaft, wie z.B. Manuel Castells’24 Theorie der vernetzten Gesellschaft? Nur, dass das Nomadentum ohne Subjekt zur Bedeutung der traditi- Salman Rushdie, Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-1991, Penguin, London, 1991. Homi K. Bhabha, Location of Culture, Routledge, London – New York, 1994. Manuel Castells, Der Aufstieg der vernetzten Gesellschaft, Golden Marketing, Zagreb, 2000. Aus dem Englischen von Ognjen Andrić. – „Die neue Ökonomie ist in den letzten beiden Jahrzehnten auf globaler Ebene entstanden. Ich nenne sie Informations- und Globalökonomie, um ihre grundlegenden Unterscheidungsmerkmale festzustellen und ihre gegenseitige Durchdrungenheit zu betonen. Es ist eine Informationsökonomie, weil die Produktivität und die Konkurrenzfähigkeit der Einheiten oder Faktoren in dieser Ökonomie (egal, ob es sich dabei um Unternehmen, Regionen oder Nationen handelt) im Grunde von ihrer Fähigkeit abhängen, die auf Wissen gründende Information effektiv erschaffen, bearbeiten und anwenden zu können. Sie ist eine Globalökonomie, weil sie den Kern der Aktivitäten der Produktion, des Verbrauchs und der Zirkulation darstellt...“ (S. 99). 76 RELA Dossier: @arko Pai} onellen Verbindung des Volkes, der Gemeinschaft, des Territoriums, der Nation / des Staates und der modernen Person gehört. Als Hannah Arendt vorhergesagt hatte, das 21. Jahrhundert werde – im Unterschied zum 20. Jahrhundert, das im Zeichen von Vertreibungen und Flüchtlingswellen verlief – im Zeichen von Bevölkerungsmigrationen verlaufen, war die grundlegende Frage der Welt schlechthin aufgeworfen. Metaphorisch gesprochen, das Zeitalter der Lager und das Zeitalter der Vaterländer ist im Zeitalter der Informationsund Globalökonomie abgeschlossen. Die Nomaden haben jedes erdenkliche leere Territorium als Unterkunft und Oase in der Wüste verloren. Die Welt wurde zu einer einheitlichen, ununterschiedenen Raum-Zeit der Bewegung in allen Richtungen über und jenseits der Grenzen der universalen Wüste. Die Verlorenheit im Territorium und die Subjektlosigkeit im Zeitalter der Rückkehr zur Idee des Subjekts sind im modernen Denken, vom Poststrukturalismus bis zur Lacanschen Psychoanalyse, scheinbar gleichbedeutende „Geschichten“. Die Idee des Subjekts bezeichnet die Konstruktion der Gegenständlichkeit der Umwelt. Das Subjekt ist seit dem Beginn der neuzeitlichen Philosophie und danach auch der modernen Kunst – die Konstruktion einer Objektwelt in Raum und Zeit der Entleerung der Welt schlechthin. Die neuzeitliche Philosophie geht vom reinen Denken aus. Im Akt der Selbsterrichtung jeder möglichen und realen Welt (Descartes) eröffnet sich der gesamte Raum des Denkens schlechthin. Die moderne Kunst reinigt radikal ihren Raum, indem sie sich zur Freiheit als der Leere aller anderer Bestimmungen hinwendet (Cézanne). Nur in diesem Sinne kann bedingt gesagt werden, die moderne Kunst sei vom Akt ihrer eigenen Begründung an zum Herumirren in Wüsten verurteilt und ihr Schicksal sei das planetare Nomadentum ohne Subjekt. Die Kunst-in-Bewegung (Art on the Move) gehört zur einer offenen Welt, in der alles abläuft, als sei das Wandern von einem zum anderen geographischen Ort bereits ein Ereignis der kinetischen Mobilisierung des modernen Menschen. Das künstlerische Nomadentum setzt die Mobilität von Kapital und Technologie als eigene unumgängliche Daseinsbedingung voraus. Das Problem ist lediglich, dass am Ende der Geschichte, wenn das Nomadentum nicht mehr die Eigenschaft der Beweglichkeit eines pastoralen oder nichtpastoralen Volkes bezeichnet, sondern eine universale Bezeichnung für subjektlose, mit zuverlässigen geopolitischen und geostrategischen Landkarten ausgestattete Wanderer darstellt, das Wandern kein aussichtsloses Umherirren mehr ist. Es ist die Reise und das Abenteuer des Reisenden im Passieren der „Kreuzstationen der Melancholie“, wie es ein Fragment aus Benjamins Zentralpark ausdrückt. Der australische Schriftsteller Bruce Chatwin, Autor der wahrscheinlich schönsten Postmodernen Reiseberichte (In Patagonien, Traumpfade, Utz) verbrachte einen großen Teil seines Lebens unter den Aborigines in der Wüste. Insofern ist seine Bestimmung des Nomadentums das erfahrungsgemäße und durchdachte Schicksal der Verwurzelung / Entwurzelung im und aus dem ursprünglichen Boden. Nomadentum ist, so Chatwin, das Verlagern in Landschaften tiefer Verlassenheit, Leere und Einsamkeit, aus denen das erhabene Gefühl der Überwindung der modernen Beklommenheit des Einzelnen hervorgeht. Die Nomaden waren das Treibrad der Geschichte. Aus dem Nomadentum gingen die monotheistischen Religionen hervor. Das Verschwinden der Nomaden und die Umwandlung der TIONS Welt in einen „globalen Park für Nomaden“ entspricht der ungeheueren Logik des neoliberalen Kapitalismus, die Welt in ästhetisierte temporäre Zonen des Lagerns, des Tourismus und des Spektakels zu verwandeln. Die paradoxe Logik des Spektakels des Kapitals liegt darin, dass sie zugleich die Natur verwüstet, ohne die das Nomadentum keine Zufluchtsorte mehr hat. Andererseits erlebt die Natur ihre biogenetische und biopolitische Wiederauferstehung, indem sie ökologisch versorgt, behütet und vor unkontrollierten Verwüstungen beschützt wird. Beide Seiten, jene zerstörerische und jene aufbauende, jene, die verwüstet und jene, die das Erbe der Natur hegt und bewahrt, sind Mechanismen der Selbstreproduktion der Kultur der globalen Informationsökonomie des Kapitals. Die Tiefenökologie (Deep Ecology) nutzt animistische Erfahrungen nichtgeschichtlicher Urvölker, etwas der Indianer in Nordamerika oder der Aborigines in Australien, nur um ethisch auf den Richtungswechsel der Ideologie der brutalen Ausbeutung des Planeten hinzuweisen. Die Betonung liegt auf dem ethischen und utopischen Schrei nach dem Verlorenen. „Zurück zur Natur! Respekt für die Tiere und ihre natürlichen Rechte! Hüten wir unsere gemeinsame Umwelt!“ Aber, was ist das metaethische Ziel dieser Art ökologischen Fundamentalismus der Postmoderne? Wie immer, er ist transparent in seiner Vermummung der Rückkehr zu den heiligen Zielen des Zusammenlebens von Mensch, Tier und technologisch hergestellten Engeln und Dämonen. Es handelt sich um eine neue Art des planetaren oder globalen Tourismus. Nomaden als künstlerische Wanderer sind die Vorgänger der kulturellen Touristen. Sie sind die Avantgarde, die am Ende der Geschichte in Ausstellungsstücke verwandelt wurde, RELA TIONS ästhetisierter Kitsch für die Bedürfnisse des symbolischen Austauschs von Kapital und Spektakel. Die Ironie des künstlerischen Nomadentums liegt darin, dass es nur scheinbar eine subversiv-kritische Reise ins Unbekannte darstellt, allerdings immer nur in eine Gemeinschaft, die intellektuell und erfahrungsmäßig über dieselben Merkmale verfügt, an welchen geographischen Ort sie sich auch befinden mag. Der Nomade kann niemals wirklich jener Andere werden, den er bewundert und verehrt. Das ist der Fatalismus der kulturellen Kontingenz. Der Nomade als „Subjekt“ kann Tantra oder ZenBuddhismus praktizieren, ein sufistischer Mystiker sein, alle Rätsel der mystischen Erfahrungen der alten Indianerstämme aus Mexiko kennen, wie Artaud25 es ausgedrückt hatte. Das Nomadentum kann ohne die Idee der Natur und der Erhabenheit eines wilden Territoriums auskommen, das zu bereisen ist, um in Gesellschaft von Erlebnissen Ekstase als eine Art ästhetisierter mystischer Erfahrung archaischer Räume zu erleben. Daher erscheint es keinesfalls kreativ, alle wichtigen Künstler der westlichen Moderne, von Goethe bis Chatwin, aufzuzählen, wie dies der Theoretiker des Nomadentums in der Literatur Michael Haerdter in einem seiner Essays26 tut. Alle bahnbrechenden Künstler der historischen Avantgarde, des Surrealismus und der Neoavantgarde, von Malewitsch bis Artaud, von Duchamp bis Kiefer, sind radikale „Reisende“. Aber ihr Reisen ist alles andere als Nomadentum. Gereist wird durch den Raum der Geistlichkeit zwischen längst vergangenen Epochen, um einen Dialog zwischen „toten“ und „lebendigen“ 25 26 27 Dossier: @arko Pai} Zeitgenossen aufzustellen. Zwischen verschiedenen historischen und kulturellen Ideenmegalithen spielt sich das geistige Abenteuer der Erfahrungen des gegenseitigen Verbindens der Natur, der Erhabenheit, der Undarstellbarkeit und des Ikonoklasmus einer Welt in rasender, endloser Bewegung ab. Die visuell einprägsamste Darstellung des Nomadentums gibt in diesem künstlerischen Sinne Wim Wenders in seinem Film Bis ans Ende der Welt. Die Schlussszenen sind faszinierende künstlerische Bilder eines neuen Mediums, wie der Film es ist, in den Weiten der australischen Wüsten und Einöden, Höhen und bodenlosen Schluchten, wo nomadisch das Volk der Aborigines mit all seinen uralten Legenden und Erzählungen vom Land und dem Platz der Götter, der Natur und des Menschen auf der Erde existiert. 6. Am Ende war das Chaos... Paradox ist, wie auch Gilles Deleuze zu bestätigen weiß, jene Bestimmung des Nomaden, der zufolge er sich nicht bewegt und nicht reist. In der Ordnung der Komplexität der modernen Welt ist das Nomadentum ein Ereignis der gegenseitigen Verflechtung von Ordnung und Chaos. Ist gemäß der mythischen Vorstellung der Anfang mit dem Chaos verbunden, so herrscht am Ende der Geschichte dieselbe Situation. Das Chaos ist nicht das Gegenteil der Ordnung. Im Gegenteil, das Chaos ist chaotisch, weil es die Kräfte vibrierender Schwingungen zwischen Masse, Energie und Information in sich trägt.27 Aktuell und virtuell lässt sich in jenem, was heutzutage als gegenseitige Wirkung fraktaler Ein- 77 heiten eines Netzes aus Faktoren erkannt wird, die eine Ordnung, z.B. jene der globalen Informationsökonomie, bilden, das Wirken der Kräfte des neuen Schaffens und der Destruktion aufweisen. Das Virtuelle geht dem Aktuellen in der Konstruktion von Objekten voraus, deren Architektur in der umliegenden Welt nicht existiert. Auf diese Weise erhält das Nomadentum elementare Merkmale der Imagination. Was vorgestellt werden kann, ist weder unreal noch surreal. Imaginäre Flächen sind zugleich virtuell und aktuell. Chaos ist, also, nicht das Gegenteil von Ordnung. In der Literatur des 20. Jahrhunderts existieren zwei „Fälle“ einer solchen planetaren nomadischen Imagination. Sowohl Literatur, als auch visuelle Künste, sowohl Philosophie, als auch Architektur, können nur planetar existieren. Die Weltliteratur, von der Goethe träumte, existiert virtuell-aktuell in der Ordnung der Medien, durch die die Welt schlechthin gebildet wird (Sprache, Symbole, Zeichen, Codes). Zwei „Fälle“ der Imagination, die ontologisch der Realität vorausgeht, sodass sie fantastisch und onirisch konstruiert wird, finden sich in der Literatur von Jorge Luis Borges und Fernando Pessoa. Im ersten „Fall“ wird die Idee der Ewigkeit und der endlos vernetzten Spiegel des Texts mit dem Nomadentum als Mythos und fantastischem Raum der Welt aller Epochen gleichgesetzt. Im zweiten wiederum erscheint der Traum nicht mehr als innere Realität im Gegensatz zur äußeren. Der Traum ist eine virtual-aktuelle Wanderung / Reise durch den formal begrenzten Sprachraum des Träumenden, aber auch durch die real unbegrenzten Weiten der Ima- Antonin Artaud, Tarahumara und andere Werke, Litteris, Zagreb, 2003. Aus dem Französischen von Marija Bašić. Michael Haerdter, „NeMe: Remarks on modernity, mobility, nomadism and the arts“, http://org/main/137nomadism. Giles Deleuze, Logik des Sinns, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1993. Deleuzes Philosophie wird im Hinblick auf die Frage nach der Bestimmung des Territoriums, des Chaos und der Kunst auf außerordentlich originelle Weise in Elizabeth Grosz’ Buch Chaos, Territory, Art: Deleuze and the Framing of the Earth, Columbia University Press, New York, 2008, interpretiert. 78 gination. Das Nomadentum ist daher kein virtuell-aktueller Zustand der Welt in Bewegung, und genauso wenig ist es eine „neue“ künstlerische Bewegung oder ein Stil, der aus den erschöpften Möglichkeiten der modernen Kunst hervorginge. Imagination ermöglicht in seinem medialen Überwinden räumlich-zeitlicher Grenzen ein „neues Leben“ für das Nomadentum. Gerade das ist der Sinn von Flussers Paradigma von der telematischen Gesellschaft oder dem kommunikativen Herumirren im Verschwinden des Unterschieds zwischen Nähe und Ferne. Die nomadischen Stämme waren im Zeitalter der paläolithischen Kultur der Welt als Fläche in den Räumen der Wüsten und grünen Weiten gegenüber offen. Ihre Wanderungen waren stets durch einen äußerlichen Grund bestimmt: dem Übeleben, das durch ein Existenzmittel ermöglicht wird – das Zähmen von Haustieren. Pferde und Kamele als tierisches Mittel realer und symbolischer Kommunikation nomadischer Völker waren den Bedingungen der Räume angepasst, die es zu durchqueren und einzunehmen galt. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist der Nomade die Extension des Lasttiers (Pferd oder Kamel) auf seinem weg von einem Ort zum anderen. McLuhan hat die Medien anthropologisch als menschliche materiell-geistige Prothesen bestimmt. Im Nomadentum des Chaos am Ende der Geschichte ist der Mensch nichts anderes mehr, als die Extension einer digitalen Erinnerungsmaschine, die mit Hilfe neuer Landkarten für Irrende die Welt umschreibt und illustriert. So geht schließlich der Unterschied zwischen Reisen und Irren immer mehr verloren. Man reist irrend und irrt, das „bereits Gesehene“ durchreisend. Das „bereits Gesehene“ wird im Akt der Imagination aufs neue rekonstruiert. 28 RELA Dossier: @arko Pai} Es kann nicht mehr geschrieben werden, was Nomadentum, bzw. wer Nomade sei. Ohne Antwort auf die Frage nach dem Charakter der verlorenen Weltlichkeit der verlorenen Welt, die zum technischen oder digitalen Bild und Medium der eigenen Bildlichkeit geworden ist, ist es vergeblich, die alten Streitgespräche über die Realität und Objektivität einer solchen Welt und die Subjektivität des Subjekts als des Erzeugers einer solchen Welt zu wiederholen. Wenn es unmöglich geworden ist, über das Nomadentum ohne Nomaden etwas mit Sicherheit und Bestimmtheit zu sagen, und das ist der eigentliche Sinn der „Story“ vom Ende der Geschichte, mit dem wir uns in jeder Form seines Ausdrückens der Formen und Inhalte einer gleichbedeutenden Weltstruktur konfrontieren, bleibt uns zweierlei übrig: entweder zu verstummen und zu schweigen, wie es auf radikale Art und Weise Ludwig Wittgenstein getan hatte, oder Vertrauen zu haben in jene Art der Aussage, die durch die Sprache gerade dieses Verstummens und Schweigens das Verstummen und Schweigen zu überwinden vermag. Ein Nomadentum ohne Nomaden entspricht einem Bild ohne Welt, das als Fläche und Rahmen der chaotischen Ordnung des Lebens selbst ständig aufs neue verbildlicht wird. Verstummen und Schweigen „reden“ mehr darüber, als sie auszusagen vermögen. Die poetische Sprache ist die sublime Erfahrung dieser Grenzübertretung. Über die Erfahrung der Wüste und des Nomadentums kann gerade derjenige sprechen, der auf neognostische Weise aus dem realen Reisen / Irren durch die globalen Wüsten hinausgeworfen wurde. In der kroatischen Dichtung des 20. Jahrhunderts – vielleicht könnte auch gesagt werden, im Rahmen der planetaren Marija Čudina, Parallele Vulkane, GZH, Zagreb, 1982., S. 16. TIONS Imagination derselben Zeit, als das Nomadentum der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mehr wird, als nur ein verbindlicher Begriff – veröffentlichte Marija Čudina ihren testamentarischen Lyrikband Parallele Vulkane, ihr abschließendes, aussagendes „siebentes Siegel“. Im Gedicht Die Wüste, mit dem der Band beginnt, drückt Marija Čudina im 10. Fragment das Wesen davon aus, was hier in Frage steht – des Nomadentums und des Chaos am Ende der Geschichte. Ich erinnere mich, oft schloss ich die Augen, wies mit dem Finger den Weg zum Himmel und sah niemals nach, was sich dort ereignet. Gut, ich ging, traf niemanden und hoffte nur insgeheim, jemand würde mir aus der Ferne dennoch folgen und ich sei nicht ganz allein in dieser Wüste, die kein Ende nimmt. Es scheint doch jedem, in der Wüste würde jemand ihn betrachten. Man soll aber nicht glauben. Von der Stille bezaubert, wer kann schon die Folgen des Irrens wissen?28 Objekte sind stets die Illusion des Blicks. Das Nomadentums im Zeitalter des Chaos am Ende der Geschichte hat seinen Sinn überhaupt nur noch darin, dass das Wort Sinn seinen Sinn verloren hat. Der Sinn des Chaos liegt darin, dass es keine neue Ordnung auf den Ruinen der alten schafft. Das Problem liegt aber dennoch in der Frage, wie und mit welchem Recht wir von Anfang und Ende reden können, ohne die Zeit zu überdenken, die jeder möglichen Verdichtung und Zusammenziehung (Implosion) des Raumes vorausgeht? Nomadentum ist das planetare Schicksal des Irrens am Ende der Geschichte. Das ist weder ein Merkmal, noch ein Zustand. Das ist der Anfang vom Ende des RELA TIONS epochal bestimmten Abenteuers der Geschichte, das analog dort beendet wird, wo die Welt der monotheistischen Religionen, der Apokalypse, der Metaphysik des Scheins und der Besessenheit mit der Erlösung des Menschen entstanden ist. Die Nomaden brauchen ihre Wüste, selbst wenn sie nicht da ist, um in ihr die Möglichkeit eines neuen Vaterlands haben zu können, sei es auch im virtuellen Lager im Mond- Dossier: @arko Pai} schein. Wüste und Einöde, wie sie von Marija Čudina besungen werden, erfordern den Blick des Anderen. Der kommende Gott der telematischen Gegenwart im Zeitalter der Medien offenbart sich weder als Gott der Nähe / Ferne, noch als die rettende Wende der Geschichte zu ihrem Neubeginn hin. Schweigen und Verstummen sind das einzige, was vom Nomadentum heute überlebt hat. Jeder irrt alleine durch die 79 Folgen des Reisens durch die endlose und bildlich faszinierende Einöde dieses sterbenden Wandersterns. Den Anderen benötigt er, damit sein Irren einen Sinn hat, bzw. als ob es einen Sinn hätte. Über das Nomadentum kann nichts Wesentliches mehr gesagt werden. Aus dem Kroatischen von Boris Perić Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA 80 TIONS Gott ohne Religion: Die Leere der Welt und das Ereignis der Offenheit Žarko Paić 1. Nihilismus und Religion E s gibt etwas Rätselhaftes selbst noch im Rätsel des Verhältnisses zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen in der Geschichten. Dies ist von Anfang an der Unterscheid zwischen den Grundworten der Philosophie. Die Frage nach dem Sein, Gott und dem Menschen gehört in die onto-theo-anthropologische Struktur der Metaphysik. Sein und in der Weise der Gegenwart Gottes sein bezeichnet den Grundmodus des Verständnisses der Welt als Sinnhorizont. Er erhält seinen Sinn erst in Bezug auf etwas ihm zugleich innerliches und äußerliches, immanentes und transzendentes. Aus dem Verb sein (einai, esse) werden alle logisch-sprachlichen Aussagen abgeleitet. Unser Denken ist ein metaphysisches und unsere Sprache notwendigerweise eine geschlossene Struktur der Geschichte, deren grundlegendes Merkmal durch die vertikal-horizontale Ordnung von Gott, Sein und Menschsein bestimmt ist. Von Gott sprechen bedeutet, von „jenem“ sprechen. Jenes, das ein derartiges Sprechen ermöglichst, ist das „Jenige“ jenseits von diesem und jenem. In Hegels Die Phänomenologie des Geistes finden wir eine Erklä1 rung für die räumliche Bestimmung des Bewusstseins, das seine Orientierung in der Zeit erst dann erhält, wenn es sich selbst vom Anderen mit Hilfe der Unbestimmtheit der dritten Person Singular unterscheiden kann. Es ist jenes, das „vorhanden“ ist oder „nicht“. Die Sprache strukturiert sich also nicht als Unbewusstes (Lacan), sondern „jenes“ in der Sprache Außersprachliche zeigt sich als Bedingung der Möglichkeit der Sprache überhaupt. Von Gott zu sprechen, geht aus der metaphysischen Struktur der Sprache hervor. Die ursprüngliche Bestimmung von Gott als Wort (logos) im Evangelium des Johannes – „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ – zeigt, dass die Sprache als „göttliche Gabe“ an den Menschen verstanden wird, die ihn von allen anderen Wesen unterscheidet. Aristoteles’ Definition des Menschen als zoon logon echon eröffnet sich in der christlichen Übersetzung des Johannesevangeliums in der gesamten Macht des Sprechens, das das Ereignis der Verständigung zwischen Gott und dem Menschen ermöglicht. Leere tut sich auf, wenn sich die Welt als Feld von Zeichen zeigt, die lediglich auf andere, von ihrem Bezeichnenden selbständig gewordene Zeichen hinweisen. Die Semiotik der Religion zeugt in unserer postsäkularen Zeit von der gedanklichen Leere und Ereignislosigkeit des Überschusses an Kommunikation. Das lebendige Wort über Gott und der lebendige „letzte Gott“, von dem Schelling und Heidegger sprechen, verwandelt sich in eine totes Testament, eine Erinnerung an das Ereignis ursprünglichen Glaubens. Wie soll man im gegenwärtigen Zeitalter überhaupt an die Frage nach Gott herantreten? Philosophisch, theologisch, religiös? Die Frage nach Gott ist heutzutage die Frage nach den Fundamenten einer fundamentslosen Welt. In ihr erscheint Gott durch die Inflation der „Rückkehr der Religion“.1 Daher sind die Fragen, ob Gott existiert, ob „er“ tot ist, oder nicht, und alle daraus abgeleiteten Varianten er ursprünglichen ontologisch-metaphysischen Frage, im Wesentlichen mit der historischen Manifestierung der Leere der Welt und des ihr zugleich gebotenen Schenkens des Ereignisses der Offenheit verbunden. Die Sprache und das Denken „haben“ innerhalb des Sinnhorizonts der Metaphysik, die die Zeit und das Lebhaftigkeit des Lebens immer als Zweiheit der ursprünglichen und der entfremdeten (falschen), die Siehe dazu: Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“; in: Jacques Derrida / Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001, S. 107-124. RELA TIONS Lebhaftigkeit des Lebens aber als ursprüngliche und vom Ursprung abgewandte, falsche und uneigentliche voraussetzt, die Möglichkeit, den unüberschreitbaren Horizont der Welt zu durchbrechen. Die Frage danach, ob Gott existiert, ob er ein lebendiger Gott, oder zur toten Religion des Trostes und der Sehnsucht nach ursprünglichem Glauben geworden ist, stellt sich jedes Mal, wenn die Welt in ihrer Leere und dem Ereignis der Offenheit keine andere Möglichkeiten mehr hat, die Zeit zu verstehen, außer als Einsicht in das Erfüllte, Beendete, historisch Abgerundete und insofern Vollstreckte. Aber das Wort, das über die ontologisch-metaphysische Struktur des Denkens und des erst aus diesem abgeleiteten rettenden Glaubens und nicht umgekehrt hinausgeht, ist weit mächtiger als jegliche reale Existenz des Göttlichen in der Welt. Es ist ein Wort, das gewöhnlich als Bezeichnung für Besitz angesehen wird, als etwas Korruptes, dem Sein entgegengesetztes. Es geht, also, um das Wort haben. Sein hat keinen höheren ontologischen Status als haben. Im Gegenteil, um überhaupt sein zu können, muss man Sein „haben“, Verantwortung für seine Existenz übernehmen und Bezug zum Sein, zu Gott und der Welt haben.2 Natürlich „hat“ alles, was hier angeführt wurde, seine Spuren in den Gedankenreflexen Martin Heideggers hinterlassen, aus der Zeit seiner Abkehr von 2 3 4 5 6 7 Dossier: @arko Pai} Ontologie und Metaphysik, sowie des Versuchs, mittels eines anderen Sprechens zum neuen Ursprung der Welt zu gelangen.3 Das Rätsel des historischen Verhältnisses zwischen dem Göttlichen und dem Menschen, schlussfolgert Heidegger in Die Zeit des Weltbilds, liegt einfach darin, dass es als unantastbar gilt, Gott sei etwas Ewiges, ohne Rücksicht auf den Wandel der historischen Epochen, in denen seine Idee zum Vorschein kommt unveränderliches, und nicht etwas, was seinen historisch-epochalen Platz (Topos) einnimmt und in den Grenzen einer bestimmten Zeit erscheint und auflebt.4 Die Frage nach Gott im Rahmen der Metaphysik ist eigentlich die Frage nach dem Sinn und der Haltbarkeit der Metaphysik überhaupt. Deshalb bedeutet von Gott reden seit den Anfängen der Philosophie, über die Grenzen der Beziehung zwischen dem Sein, dem Göttlichen und dem Weltlichen im Verhältnis zum historischen Ort und der historischen Zeit des Manschen zu reden. Dass durch Sprache auf die Existenz jenes Wesens, als des höchsten, nichterschaffenen, vollkommenen Einen – in der Tradition der scholastischen Ontologie des ens perfestissimum als ens increatum – hingewiesen werden kann, bestätigt Heideggers Gedanken aus der Schrift / der Vorlesung Was ist Metaphysik?, demzufolge metaphysische Fragen dem Menschen angeboren sind.5 81 Das Rätselhafte im Rätsel der historischen Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen scheint nichts anderes zu sein, als dass sich die Sprache, durch die das Göttliche benannt wird, historisch ihrer metaphysischen Ansprüche entleert und auf bloße kulturelle, ideologische, weltanschauliche und Wertausdrücke „verfällt“. Als gedanklicher Rahmen der Aufbewahrung des Christentums in der Situation seines Verschließens in trockenen Text und das tote Grab des Glaubens, legt die gesamte christliche Theologie des 20. Jahrhunderts Zeugnis darüber ab, was bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit Nietzsche als das Zeitalter des europäischen Nihilismus diagnostiziert wurde.6 Die Religion und die Theologie, die bestrebt ist, ihr in der Welt der Wissenschaft, der Philosophie und der Kunst, die autonom auftreten und sich nicht mehr auf die Glaubwürdigkeit der Offenbarung berufen, eine metaphysische Berechtigung zu geben, stehen nicht außerhalb des Nihilismus der historischen Welt. Seit beginn der Neuzeit bestimmt der Nihilismus den Sinn des menschlichen Seins.7 Sind Religion und Theologie, die ihr das Fundament des Glaubens liefert, unabhängig davon, ob es sich um das Christentum, den Islam, oder den Judaismus, als führende monotheistische Religionen und der globalen Welt handelt, tief in ihren Fundamenten nihilistisch, wie es auch In der theologischen Variante des christlichen Existenzialismus, nach dem das Sein Gottes als Existenz seine Essenz bestimmt, wurde dies in Gabriel Marcels Buch Sein und Haben: Ein metaphysisches Tagebuch (1928-1933), Bibl. Logos, Veselin Masleša, Sarajevo 1989, aus dem Französischen von Marin Cvijović, am radikalsten vollzogen. Aber Marcel versteht das Sein als Anwesenheit im Horizont der Zeit als Ewigkeit/Endlosigkeit und den Menschen als Existenz, die in Berührung mit Gott notwendigerweise die Welt des materiellen und physischen Besitzens von Dingen auflösen muss. Daher ist für ihn Sein ontologisch vorrangig vor jenem, was in der physischen Welt als Haben/Besitz des Menschen über seine Umwelt erschient. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie – Vom Ereignis, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1989. Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, Gesamtausgabe, Bd. 5, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1977. Martin Heidegger, „Was ist Metaphysik“, in: Wegmarken, V. Klostermann, Frankfurt a. M., 1976. Als Darstellung der teleologischen Wenden und programmatischen Thesen im Verhältnis zur Philosophie, den doktrinierten Quellen des Glaubens und des institutionalisierten Zustand, wie etwas der Vatikanischen Konzile der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist das Buch: Rosino Gibellini, Theologie des XX Jahrhunderts, Kršćanska sadašnjost, Zagreb, 1999 (aus dem Italienischen von Darko Grden und Josip Krpeljević) instruktiv. Siehe dazu: Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005. 82 RELA Dossier: @arko Pai} mit der Metaphysik im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen Weltbilds der Fall ist, stellt sich die berechtigte Frage, warum am Ende der Modernität, in unserem posthistorischen Zeitalter, erneut von der Rückkehr der Religion gesprochen wird und nicht von der Rückkehr Gottes in eine „Welt“ nach dem Ende der Geschichte? Einer der Gründe für das Ersetzen Gottes durch die gesellschaftliche Macht der Religion in Zeitalter des Verschwindens der Gesellschaftlichkeit überhaupt und ihrer Verwandlung in Kommunikationsverbindungen zwischen den Menschen, liegt gewiss in der Unmöglichkeit, die Idee Gottes noch immer auf den alten metaphysischen Grundlagen aufrecht zu erhalten. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass Papst Johannes Paul II Zeit seines Pontifikats andauernd das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen in der modernen Geschichte renoviert hatte. Einmal wurde die Hölle zum symbolischen Ort des Jenseits und nicht mehr zur real-räumlichen Strafe für Sünder erklärt; ein andermal erlebte selbst die göttliche „Kommunikation“ mit dem Menschen ihre dramatische Umkehr, beinahe vergleichbar mit jenem, dem sich der Theologe Karol Woytila widersetzt hatte: nämlich, Nietzsches Lehre vom Tode Gottes. Als Befürworter von Schellers materieller Wertethik, musste Woytila, bzw. Papst Johannes Paul II die Macht des ursprünglichen Glaubens jenseits der Zeitlichkeit annehmen, nicht aber die Art und Weise der außer Frage stehenden Kommunikation Gottes und des Menschen nach der Erfahrung der totalitären Ordnungen, des Holocaust und der Massenvernichtungen der Menschheit im Namen eines Ersatzes für Gott oder von Gott selbst. In einer Homilie kurz vor seinem Tod sagte er, Gott würde sich nicht mehr an den Menschen wenden, er habe auf die Welt verzichtet und sich von dieser abgekehrt. Der Rest ist Schweigen: das Schweigen der Theologie und das Schweigen über den Sinn seiner Homilie. Kann eine derartige Behauptung als etwas völlig Zufälliges außer Acht gelassen werden, als sei es bloß in einem Zustand der Enttäuschung wegen der Unmöglichkeit, im globalen Zeitalter die Weltsituation zu ändern, gesagt worden? Die Antwort ist negativ. Gottes Verzicht auf den Menschen führt uns auf radikalste Weise in das abgeschlossene Ereignis des Weltnihilismus ein. Danach bleibt lediglich die Möglichkeit der Umkehr des gesamten historischmetaphysischen Abenteuers seit Urzeiten bis hin zum Ende der Geschichte übrig. Nach dem verschwinden der messianischen Verzückung, bleibt nur noch der Schritt nach außerhalb des postmetaphysischen Glaubens übrig – die Eröffnung der Möglichkeit des Ereignens eines Gottes ohne Religion. Im Unterschied zum Buddhismus als Religion ohne Gott, in der es weder Heilige, noch Hölle, noch Paradies, einen Messias oder Eschatologie gibt, sondern nur die Erweckung des Bewusstseins (des Geistes) des Menschen als Person, die der kosmischen Leere der Welt gleichgesetzt ist, wir hier versucht, nach dem Ende der Geschichte den Weg für ein völlig anderes Ereignis zu eröffnen. Ein derartiges Ereignis ist das Unerhörteste und Rätselhafteste. Kann denn ein Gott ohne Religion noch überhaupt die Möglichkeit „haben“, der kommende „lebendige Gott“ zu sein, der durch Liebe den Sinn der Freiheit als Abgrund des menschlichen Seins erschließt? Um philosophisch glaubwürdig durchdenken zu können, warum weder Religion noch Philosophie Einsicht in das Rätsel des Endes des historischen Zeitalters des Nihilismus gewähren, aus dem heraus einzig noch das massenhafte Flehen nach Rettung und die massenhafte globale TIONS Religiosität als Erlebnis der entgötterten Hysterie des Glaubens in der Gestalt von Kultur / Ideologie verstanden werden können, ist es notwendig, zunächst die radikale Frage zu stellen: hat denn Gott in seiner historisch-epochalen Auferstehung, der Erlebnis des Glaubens und seinem Rückzug aus der Welt Religion als menschliche, allzu menschliche Spur von Verasammlung und Gemeinschaft überhaupt nötig? Oder ist im Wesen der Religion bereits jene Art ursprünglicher Verknüpfung zwischen dem Menschen und dem Transzendenten enthalten, die auf der Verabsolutisierung bestehender gesellschaftlich-kultureller Verhältnisse in der Welt beruht, denen zufolge die Macht in der gesellschaftlichen Hierarchie das legitime Recht beansprucht, das Göttliche und dessen Attribute zu benennen? Mit anderen Worten, ist die gesellschaftliche Ordnung seit Urzeiten patriarchal, blutrünstig primitiv und unerhört reduktiv, da sie die Anderen (vor allem die Frauen) aus dem Kreis der Benennung und dem Bestimmen über das Gesetz der Gemeinschaft ausschließt, ist das Religiöse von seinem Wesen her etwas historisch entziehendes. Das Wesen der Religion ist nur aus dem Wesen des göttlichmenschlichen Verhältnisses innerhalb der Geschichte bestimmbar, als Verhältnisses des Eröffnens und der Zurücknahme der Liebe, des Guten, des Wahren und des Schönen. Die gebotene Schenkung oder die im Gegenzug zu erfolgende Ermöglichung eines derartigen Verhältnisses kann niemals die Reduzierung der menschlichen Freiheit sein. Daher ist die Religion historisch an etwas ihr weit mehr Zugehöriges gebunden, als jegliche Verbindung zum Transzendenten. Religion ist die macht der Reduktion des primären Verbindung des Menschen als universalen Wesens der Freiheit mit dem Göttlichen, solange das Göttliche aus der mensch- RELA TIONS lich begrenzten historischen Freiheit abgeleitet wird. Religion ist stets die unbegründete Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Rettung des Menschen und seiner Welt. In allen historischen Situationen, vor allem aber in der Gegenüberstellung des Menschen mit seiner endgültigen Grenze – dem Tode – erscheint die Religion als Antwort. Was bedeutet, Religion sei Antwort? Antwort worauf? Jacques Derrida behauptete in seiner 1994 anlässlich eines Symposiums auf Capri gehaltenen Vortrags „Der Glaube und das Wissen: Die beiden Quellen der Religion in den Grenzen der gewöhnlichen Vernunft“: „Religion? Antwort: Religion ist Antwort.“8 In allen neueren Erörterungen der sog. „Rückkehr der Religion“ in gegenwärtige westliche Gesellschaften nach der ersten Versuchung der globalen Weltpolitik liberaler Demokratien durch gegen Amerika gerichtete terroristische Drohungen zu Beginn es 21. Jahrhunderts wiederholt sich so gut wie jedes Mal dieselbe Aussage: „Religion ist die Antwort... auf die Krise der westlichen Rationalität, der Demokratie, des Liberalismus, der materialistischen Natur des globalen Kapitalismus, des konsumorientierten Lebensstils, des eigentümerischen Charakters des Individualismus, der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit, des Narzissmus usw.“ Ist Religion die Antwort auf etwas in erster Linie gesellschaftliches und in der Welt faktisch verfügbares, dann ist noch immer von etwas die Rede, das mit Gott primär nichts zu tun hat. Eine gesellschaftliche Antwort auf eine gesellschaftliche Krise kann etwas sein, das die Möglichkeit neu8 9 10 11 Dossier: @arko Pai} er gesellschaftlicher Verhältnisse erst zu erstellen hat. Der Sinn der Religion als gesellschaftlichen Verhältnisses liegt gerade darin, dass die gesellschaftliche Veränderung von der Konversion des Menschen als gesellschaftlichen Wesens ausgeht, das seine Gesellschaftlichkeit aus seiner primären Religiosität bezieht. Geistige Erneuerung oder die Rückkehr zu den Quellen des Glaubens lautet die richtige Übersetzung des gegenwärtigen religiösen Fundamentalismus. Solange ein solches Religionsverständnis aus der Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen der Modernität mit Betonung auf den heiligen Quellen der Tradition abgeleitet wird, ist jede Rückkehr der Religion nichts Anderes, als diese oder jene Variante eines religiösen Fundamentalismus.9 Die Fundamente werden nicht hinterfragt. Sie werden nicht angezweifelt. Dadurch wird die Geschichtlichkeit der religiösen Erfahrung verewigt. Darauf hatte bereits Schelling in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie kritisch hingewiesen. Die Entstehung des Monotheismus stellt den ersten und entscheidenden Moment eines radikalen theomachischen Bilderstreits dar. Ein Gott verdrängt die alten Götter, so wie die Religion den Mythos aus dem gesellschaftlichen Rahmen der menschlichen Existenz verdrängt. Wie soll dann verstanden werden, dass die Rückkehr der Religion nicht die Rückkehr zu Polytheismus der vormonotheistischen Welt bezeichnet? Ausnahme ist nur die pseudokulturelle Wende der neuen europäischen metapolitischen Rechten hin zu den Göttern der alten Grie- 83 chen. Dies geschieht aber nur als Kritik der Schwäche des postmodernen Christentums, das den Kult des Lebens gegen die Liebe nicht als seine ursprüngliche Macht, die tragische Zweiheit des Dyonisos gegen den Gekreuzigten zu überwinden, emporhebt. Jede Rückkehr der Religion zeigt sich letztendlich als Erneuerung von etwas wesentlich unerneuerbarem. Am Ende der Geschichte scheint es, die einzige therapeutische Macht der Religion liege in einer Art „Nostalgie nach dem Absoluten“ (Georg Steiner).10 In einer äußerst umstrittenen Interpretation des heutigen islamischen Fundamentalismus nannte der französische „neue Philosoph“ André Glucksmann die Selbstmordterroristen moderne religiöse Nihilisten.11 Analog zu den russischen anarchistischen Attentätern vor der Oktoberrevolution, wurden die islamischen Terroristen durch einen Begriff bezeichnet, der auf keinen Fall in einer profanen Aussage zu gebrauchen ist. Massenmorde an Anderen wegen der Erfüllung eines „heiligen Ziels“ durch Terror als Mittel / Zweck totaler Mobilisierung des islamischen Glaubens gegen den „gottlosen“ Westen, können auf nicht als nihilistisch bezeichnet werden, weil aus dem Wesen des Nihilismus eine allgemeine Herabwürdigung der Existenz von Werten (Glaube, Kultur, Nation, Staat, Gesellschaft, Wellt) hervorgeht. Dennoch wurde in diesem ungeschlachten und unangemessenen Begriff etwas intuitiv getroffen. Es geht darum, dass Nihilismus und Religion im gegenwärtigen wissenschaftlichtechnischen Zeitalter des Endes der Geschichte einander aus jenem ablei- Jacques Derrida, „Glaube und Wissen: Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: Jacques Derrida / Gianni Vattino, Die Religion, Suhrkamp, 2001, S. 46. Siehe dazu: Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religion: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, C. H. Beck, München 2001, 2. Auflage. Georg Steiner, Nostaliga for the Absolute, Anansi, Toronto, 2004. André Glucksmann, La troisiéme mort de Dieu, NIL, Paris, 2000. 84 ten, das ihnen die Macht der gesellschaftlichen Legitimation verleiht. Die Entwürdigung des ursprünglichen Sinnes der Religion durch ihre Rückkehr in Gestalt von Kultur / Ideologie – Christentum, Islam, Judaismus usw. – wird stets durch gesellschaftliche Gründe der Knüpfung neuer Verbindungen zwischen den Menschen gerechtfertigt. Im postmodernen Zeitalter ist Religion nicht mehr auf den Raum Europas, Amerikas oder eines anderen Kontinents beschränkt. Die Religion ist in ihrer universellen Mission der Konversion Anderer oder der Tolerierung des Anderen global geworden. Deshalb ist die Einzige religiöse Antwort auf die Krise der gegenwärtigen Welt der Versuch, einen globalen oder Weltethos (Hans Küng), oder aber die neue globale Instantreligion des New Age zu etablieren. Ist es aber nicht eigenartig, dass Religion ins Wesen des Nihilismus eingeordnet wird? Von Dostojewskij bis heute wird Nihilismus stets als der Tod Gottes und die Entstehung offener Räume für das Zeitalter der Ideologien bestimmt. Dostojewskijs oft missbrauchte Aussage: „Gibt es keinen Gott, dann ist alles erlaubt“ ist jedoch keine Antwort auf den Nihilismus der gegenwärtigen Welt, sondern in erster Linie eine lapidare religiöse These über das, was geschieht, wenn die Welt ihr Verhältnis zum Göttlichen verliert. Das Problem liegt darin, dass sich die Religion als gesellschaftliche Antwort auf die Krise der Selbstverständlichkeit der Welt stets ideologischer Interpretationen dessen bedient, was Gott traditionell „ist“ und wie er sich dem Menschen gegenüber verhält. Die Unantastbarkeit der göttlichen Offenbarung in den mono12 13 RELA Dossier: @arko Pai} theistischen Religionen wird auf die gesellschaftliche Ebene der Säkularisierung der gegenwärtigen Gesellschaften übertragen. Auf diese Weise wird das Geschichtliche, das inmitten einer ursprünglichen patriarchalen Stammeskultur entstanden ist, bedingungslos auf eine völlig andere Epoche übertragen. Tradition ist nichts versteinertes oder totes. Sie ist lebendig, wenn sie „diese“ Zeit durch universelle Botschaften der Liebe, der Wahrheit, des Guten und der Sinnhaftigkeit des Lebens inspiriert. Die letzte große Philosophie der Religion und der Kunst war jene Schellings. Das Kommen Gottes in eine ausgeleerte Geschichte war nicht auf die Weise heutiger vulgärer Interpretationen der Rückkehr der Religion gedacht. Im Gegenteil, Schelling musste annehmen, dass die Zeit des „lebendigen Gottes“ als Mission Jesu Christi im Zeitalter der vergangenen mythischen und religiösen Kunst einzig dann eine kommende werden kann, wenn sich das Göttliche aufs neue im wirklichen Menschen als dessen metaphysisches Bedürfnis und dessen metaphysischer Modus vivendi verkörpert.12 Alles andere ist vergebliches Wiederholen von etwas, das aus der toten geschichtlichen Welt längst verschwunden ist. Wird jedoch das Wesen der Religion aus Hegels Geschichtsphilosophie gedacht, dann ist offensichtlich, dass der Fortschritt im Freiheitsbewusstsein ein notweniger Schritt in Richtung Aufklärung des Religiösen innerhalb der Religion selbst ist. Die Religion hatte aus seinem System des absoluten Geistes heraus zwar keine Apokalypse erlebt, wie etwa die Kunst, die sich auf einem niedrigeren Erscheinungsgrad des Absoluten befindet. Es wäre aber durch- TIONS aus logisch, dass Gott im Zeitalter der wissenschaftlichen Erscheinung des Absoluten auf ein Kunstwerk / Kunstereignis im einer Welt des totalen Nihilismus reduziert wird. Die Philosophie der Religion, wie sie von Hegel gedacht wurde, ist nicht nur als solche und auf diesen Spuren nicht mehr möglich, vielmehr ist mit dem Ende der Geschichte die Religion selbst an ihrem Ende angelangt, da sie in der Welt über keine substantielle Einheit mehr verfügt. Marx kam in seiner Feuerbach-Kritik zum Schlusspunkt der modernen Religionskritik als gesellschaftlichhistorischer Kritik der menschlichen Entfremdung. Die anthropologische Kritik der Metaphysik musste daher notwendigerweise eine derartige Kritik der Angeschlagenheit der ganzheitlichen menschlichen Natur zu ihrem Gegenstand machen. Heutzutage muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass es sinnlos ist, Marx diesen vulgären Atheismus als Ideologie der Berechtigung zur Unterdrückung von Religion in totalitären realsozialistischen Regimes des 20. Jahrhunderts vorzuhalten. Das Problem ist weit komplizierter und kann durch dogmatische Argumente von links und von rechts nicht gelöst werden. Auch Marx’ Religionskritik gehört zum Nihilismus der gegenwärtigen Zeit, genauso wie alle ihr entgegengesetzten Versuche der gegenwärtigen Rückführung der Religion in die postsäkularen Gesellschaften des Westens.13 Das sind nur zwei Seiten ein und desselben Zauberkreises. Dasselbe gilt für den vulgären Gebrauch der Wörter Theist und Atheist. Beides sind nur weltanschauliche Positionen. Und Weltanschauung ist stets ein subjektiver Zugang zu einer Welt F. W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, Bd. I, Erstes Buch: Monotheismus, zweites Buch: Mythologie, Demetra, Zagreb, 1997, aus dem Deutschen von Damir Barbarić. Siehe dazu: Giorgio Agamben, „Time and History: Critique of the Instant and the Continuum“, in: Infancy and History: On the Destruction of Expirience, Verso, London – New York, 2007, S. 97-116. RELA TIONS als etwas Objektivem. Aus dem eigenen, begrenzten Standpunkt heraus wird bewertend, also ideologisch oder kulturell, was ein und dasselbe ist, über den Standpunkt des Anderen geurteilt. Der rücksichtslose, sektenhafte Atheismus ist gleichbedeutend mit seinem Anderen. Der atheistische Gläubige und der theistische Ungläubige, der glaubt, Gott würde ihn bewegen, so wie der Atheist verneint, er würde in Einklang mit einer „höheren Gewalt“ in der Geschichte handeln, sind nichts anderes als symbolische Figuren heiliger / profaner Krieger, die um die Macht der eigenen Weltanschauung kämpfen. Die Frage des metaphysischen Glauben an Gott geht über den vulgären Theismus und Atheismus hinaus. Es ist nicht die Frage, ob Gott existiert oder nicht, sondern, ob dem Göttlichen im historisch-epochalen Geschick des Nihilismus, der alles beherrscht, was überhaupt existiert, ein Platz zukommt. Besteht die Möglichkeit der Überwindung dieses Geschicks durch ein neues Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen? Als Nihilismus ist der historische Abschluss der Epoche der Herrschaft des wissenschaftlich-technischen Zeitalters zu bezeichnen. Alles hat in einer derartigen Zeit den Charakter des Nichtigen und Entwürdigten. Alles in einer solchen Welt ist entweltlicht und entgöttert, ja sogar die Idee und die Existenz von Gott selbst. Das Problem, das uns in unserer modernen Existenz auf Schritt und Tritt einholt, ist nicht das Problem oder die Frage der Belebung des Göttlichen auf den gleichen Grundlagen des Nihilismus der gegenwärtigen Zeit, sondern das Problem der Verschmerzung und Verkraftung einer Welt, in der weder Philosophie noch Religion mehr substantielle Bedeutung für die Zukunft haben. Die Philosophie und die Reli14 Dossier: @arko Pai} gion der Zukunft sind keine zukünftige Philosophie und Religion. Über die Zukunft ihrer möglichen Beziehung entscheidet nichts mehr, außer der Möglichkeit eines neuen epochalen Ereignisses. Was sich als einzig wichtig zeigt, geht aus dem Sinn der Antwort auf die Frage hervor, ob sich die Welt in ihrer Weltlichkeit auf den Grundlagen der veralteten metaphysischen Idee der Ewigkeit, Unabänderbarkeit und Beständigkeit des Einen, als Quelle der allgemeinen Erkenntnis, der Werte und der ethischen Bedingungslosigkeit des menschlichen Handelns in Einklang mit diesen traditionellen Begriffen noch weiterentwickeln kann. Es gibt zahlreiche Bestätigungen für die Annahme, dies sei unmöglich. Biogenetische Forschungen stellen in den modernen Wissenschaften die Idee der Trennung von Natur und Kultur, des Menschen und seiner technischen Umgebung, radikal in Frage. Die Bioethik ist ein Symptom des gegenwärtigen wissenschaftliche, kulturellen und technologischen Nihilismus, gerade weil sie die Möglichkeit der Bremsung der Entwicklung des (Un)Menschlichen durch traditionelle Verbote voraussetzt, die aus Metaphysik und Glauben hervorgehen. In wessen Namen sollte reproduktives Klonen nicht zugelassen werden? In wessen Namen sollte das Recht auf kontrollierte künstliche Befruchtung nicht zugelassen werden? In wessen Namen sollte die Abtreibung als Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, verboten werden? In allen außerordentlich komplexen theologisch-ethischen Antworten auf diese Fragen tauchst Gott als letzte Instanz des Verbots auf. Dabei geht es nicht einmal um die Trennung des Göttlichen und Heiligen, im Sinne der Nichtreduzierbarkeit des Heiligen auf das Höhere, vom bloß leben- Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, S. 338. 85 digen, gesellschaftlichen, kulturellen und ethischen Wesen. Das Heilige ist kein säkularer Ersatz für das Göttliche. Der Ort des Heiligen ist jener Ort, von dem Man auf Gott zugeht, jenseits aller religiös-sittlichen Grenzen der historischen Menschheit. Das Heilige ist die lebendige Offenbarung der Freiheit für den Zugang zu jenem, das in der allgemeinen Offenheit der Ereignisse versagt und leer geblieben ist. Von Rudolf Otto bis Max Scheler und Martin Heidegger, versuchte man in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Freiheit für einen möglichen Zugang zum Göttlichen zu schaffen, aber auch für die mögliche Eröffnung eines neuen Verhältnisses zwischen dem Menschen und dem Göttlichen: “Ob und wie der Gott und die Götter sich versagen und die Nacht bleibt, ob und wie der Tag des Heiligen dämmert, ob und wie im Anfang des Heiligen ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann?“14 2. Der postmetaphysische Glaube Der Übergang aus der Vielzahl von Gottheiten (Polytheismus) in die Existenz eines Gottes (Monotheismus) scheint nicht mehr, ein selbstverständliches Ereignis in der Geschichte zu sein. Alle Erklärungen, von Schelling bis zu den postmodernen Versuchen, eine Art neuen postmetaphysischen Glauben zu errichten (Gianni Vattimo) zeugen von einer Wende, die für das vernünftige Bewusstsein ungeheuer unerreichbar ist. Ein Gott entspricht formal und materiell dem globalen Weltzeitalter der Einheit der Unterschiede am Ende der Geschichte. Die Weltreligionen bemühen sich heute mehr mit Worten als wirklich um die Möglichkeit einer Zusammenkunft und eines Dialogs über die künftige Einheit des 86 Glaubens. Während die Unmittelbarkeit ein Merkmal des Polytheismus war, erscheint der Monotheismus als notwendiger Schritt in der Erschließung eines Raumes für die Vermittlung dieses Bewusstseins – des hegelianischen absoluten Geistes – durch ursprüngliche Heilige, Gesandte und göttliche Vermittler: Jesus Christus, Mohammed. Die philosophischen Theorien über den Sinn der Religion sind zum Zeitpunkt ihrer triumphalen Rückkehr auf die globale gesellschaftliche Bühne nicht mehr maßgebend, dieses Phänomen von einem absolut gewonnenen Standpunkt aus zu beurteilen. Es kann sogar behauptet werden, dass jeglicher neue Versuch einer Religionsphilosophie auf den Spuren Schellings oder Hegels unglaubwürdig bleiben würde. Alles, was sich scheinbar pragmatisch sinnvoll zeigt, sind die Beschreibung und die Analyse sog. gesellschaftlicher und kultureller Phänomene der Religiosität und der Religion im gegenwärtigen Zeitalter. Was für die Philosophie gilt, trifft auf gleiche Weise auch für die zeitgenössischen theologischen Reflexionen über Gott und die Religion zu. Zwei grundlegende philosophische Methoden und Orientierungen sind im zeitgenössischen Denken für das Verständnis dieses neuen Verhältnisses gegenüber der Frage des Göttlichen und der Geschichte von wesentlicher Bedeutung. Die eine ist Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie, die andere Derridas Dekonstruktion des Logozentrismus der westlichen Metaphysik. Aus ersterer ging die These von der ontologischen Differenz zwischen Sein und Wesen hervor, aus letzterer 15 16 17 18 RELA Dossier: @arko Pai} die ontisch-ontologische Differänz (différance) zwischen Sein und Wesen. Differenz und Differänz sind keine unterschiedlichen Ausdrücke für ein und dasselbe. Während Heidegger die Offenheit des Ereignens von Sein und Zeit in der Geschichte denkt, versucht Derrida, die Idee des Fundaments selbst, im Sinne eines geschichtlich sich versagenden Ausdrucks für das Fundamentlose, zu zerlegen. So orten sich auch die theologischen Überlegungen über Gott im 20. Jahrhundert zur einen oder zur anderen Orientierung, obwohl aufgrund der traditionellen Auffassung der Metaphysik das Göttliche notwendigerweise als das Fundament des Glaubens vor dem Horizont des Überzeitlichen und Übergeschichtlichen verstanden wird.15 Die Schwierigkeiten im Denken des Göttlichen am Ende der Geschichte gehen aus den Schwierigkeiten im Verständnis von Gott, der Metaphysik und der Geschichte hervor.16 Von Bultmanns dialektischer Theologie bis zu Tillichs neuem eschatologischen Zugang zum Göttlichen in der Geschichte, stoßen wir auf Spuren von Heideggers Gedanken über die Offenheit des Ereignens des kommenden (Gottes und der Götter) in einer Welt ohne ursprüngliche Verbindung (Religion) und ursprünglichen Bezug zum Denkabern und Sagbaren (Philosophie). Am Ende des 20. Jahrhunderts läuft die Dekonstruktion der westlichen Metaphysik vor Derridas Denkhorizont in einem gänzlichen neuen Versuch zusammen, einen postmetaphysischen, dem gegenwärtigen Zeitalter entsprechenden Glauben zu „begründen“. TIONS Wozu überhaupt das Bedürfnis nach einem neuen, postmetaphysischen Glauben? Liegt in seiner Forderung nicht bloß eine Art Zeitgeist der allgemeinen Zerstreutheit und Nichtgesammeltheit des Denkens über das Wesentliche in der gegenwärtigen „Nostalgie nach dem Christentum“, nach dem nihilistischen Tode Gottes? Auf diese Weise erklärte der slowenische Philosoph Tine Hribar die Wende der Dekonstruktion der Metaphysik als Dekonstruktion monotheistischer Religion im postmodernen Zeitalter. Natürlich bezieht sich das alles nur auf den Versuch Gianni Vattimos und seines „schwachen Gedankens“ (pensiero debole), die Möglichkeit eines atheistischen Christentums ohne metaphysische Fundamente oder jenseits der geschichtlich institutionellen göttlichen Offenbarung zu eröffnen.17 Die andere Richtung derselben Nostalgie nach dem Christentum ist laut Hribar in der neomarxistischen Erneuerung der Figur des heiligen Paulus in den theoretischen Schriften Alain Badious und Slavoj Žižeks anwesend.18 Die Gründe für eine derartige Nostalgie liegen nicht nur im Verlust des Heiligen im Nihilismus der Welt, und auch nicht nur im Fehlen von Mysterien und Mystik in den materialistischen Geschichtstheorien. Vielmehr gehen sie aus dem allgemeinen Verlust des Sinns der Geschichte nach dem Abschluss der Metaphysik hervor. Bevor ich zeige, worin der Sinn und die offensichtliche Schwäche der „Begründung“ eines postmetaphysischen Glaubens für das gegenwärtige Zeitalter im Sinne Vattimos liegen, wobei dasselbe in einer anderen Art der Interpreta- Siehe dazu: Tine Hribar, Evangelium nach Nietzsche, Zbirka PHAINOMENA, Nova revija, Ljubljana 2002. Aldo Giorgio Gargani, „Die religiöse Erfahrung: Ereignis und Interpretation“, in: Jacques Derrida / Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001, S. 144-171. Tine Hribar, ebenda, S. 216-303. Alaine Badiou, Der Heilige Paulus: Die Begründung des Universalismus, Naklada Ljevak, Zagreb, 2006, aus dem Französischen von Leonardo Kovačević, Slavoj Žižek: Über den Glauben: Gnadenlose Liebe, aus dem Englischen von Marin Miladinov, Algoritam, Zagreb, 2005. RELA TIONS tion auch die Belebung des heiligen Paulus in Badious und Žižeks Wende zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens ohne offenbarten Gott des institutionellen Christentums betrifft, ist es notwenig, noch präziser zu zeigen, warum die Religion die leer gewordene Stelle der Geschichtsmetaphysik im Zeitalter des Nihilismus einnimmt. Warum wurde, also, nach Nietzsche und Hegel der Gedanke vom Ende der Religion schlechthin nicht entschlossen ausgesprochen, nachdem Heidegger der Philosophie und der Kunst im Rahmen des Endes der Metaphysik überhaupt das Todesurteil ausgesprochen hat? Das Wesen der Religion liegt in der Antwort auf den Sinn der menschlichen Geschichte als Geschichte des Heils. Gemeinschaft und barmherzige Liebe (agape und caritas) nahmen im Christentum in allen historischen Epochen, seit der Entstehung des Christentums bis heute die Stelle des Mit-Seins in der Überwindung der endgültigen Existenz des Menschen als selbständigen Wesens der universalen Bedrückung ein. Die Antwort liegt also jenseits des historischen Zerfalls jeglicher gesellschaftlicher Bindungen im Zeitalter des Nihilismus der Welt als solcher. Die Religion überlebt ihren metaphysischen Tod, nur wenn es ihr gelingt, die voneinander getrennten Gebiete der Wirkung des Göttlichen und des Menschlichen in der Geschichte abermals zu vereinen. Die Idee der Gemeinschaft ohne Liebe ist, als Grundidee der Verbindung zwischen Mensch und Gott, auch unter der Voraussetzung der Reduzierung von Liebe auf die Wahrheit des Erhalts der Gemeinschaft unter der Ägide der Gerechtigkeit (Islam). 19 20 Dossier: @arko Pai} Ohne ursprüngliche Begründung im Ereignis der göttlichen Liebe und der menschlichen Gemeinschaft, geht die Religion insofern über ihre historische Mission hinaus, als sie entweder das Kommen des „lebendigen Gottes“ erwartet (Messianismus), oder sich als diesseitiges Gesetz der Gemeinschaft für die jenseitige Welt konstituiert. Der Tod und die Überwindung der endgültigen Grenze erhält die Religion auch nach dem Tode Gottes im Nihilismus der wissenschaftlich-technischen Welt am Leben. Wie es auch bei Philosophie und Kunst der Fall ist, sind ihre Grundlagen zerstört. Die Welt, innerhalb derer sie wirkt, entspricht nicht mehr den ursprünglichen Grundsätzen des Glaubens. Daher wird das Ende der Religion, zusammen mit dem Ende der Metaphysik, als „Nostalgie nach dem Absoluten“ verstanden, unter allen Aspekten des historischen Erscheinens von Christentum, Islam, Judaismus und anderen Weltreligionen. Es ist keineswegs verwunderlich, warum die Fundamente des postmetaphysischen Glaubens von einem Zustand ausgehen, den Vattimo als das Zeitalter des postchristlichen Todes Gottes bezeichnet und nicht als Antichristentum der Grundstimmung. Die Religion wirkt nur in den gesellschaftlichen Bedingungen einer universalen Heilsgeschichte. Die europäische Säkularisierung, die mit der Aufklärung beginnt, wird zur Hauptnorm gegenwärtiger theologischer Diskurse. Das ist die Voraussetzung jeglichen zukünftigen Glaubens und jeder möglichen Rückkehr der Religion.19 Die neue, postreligiöse Kultur erfordert laut Rorty und Vattimo eine neue Art der Interpretation des Endes der Metaphysik, die Dekonstruktion der westlichen Ontologie und ein 87 neues Denkparadigma für eine mögliche Zukunft der Religion. Ist die Säkularisierung Voraussetzung des theologischen Diskurses der Gegenwart, dann ist es auch nicht mehr das Problem, wie in den kulturell pluralistischen Gesellschaften liberaler Demokratien einen Dialog zu erreichen wäre, sondern wie das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen in der Situation des Todes Gottes und des Todes des Menschen als metaphysischer historischer Konstruktionen gedacht werden soll. An dieser Stelle sollte daran erinnert werden, dass der Streit über die konstitutiven Bestimmungen dieses Dialogs im heutigen Europa durch eine radikale säkulare Stellungnahme bestimmt ist: Gott und die christlichen Ursprünge Europas sind nicht die Fundamente der neuen europäischen Gemeinschaft. Daher ist durchaus zu erwarten, dass sich das institutionelle Christentum, insbesondere die katholische Kirche, gegen eine derartige programmatische Stellungnahme ausspricht. Sie empfindet sie als Hauptgrund des moralischen Nihilismus und Relativismus des gegenwärtigen Europa.20 Die Frage, die gestellt werden muss, bevor die „Grundlagen“ eines postmetaphysischen Glaubens für das gegenwärtige Zeitalter erörtert werden, ist zugleich auch die Frage, die aus der Natur der Dekonstruktion der westlichen Ontologie als Metaphysik hervorgeht. Von was für einem und welchen Gott sprechen wir, wenn von seinem Tod im Zeitalter des Nihilismus der wissenschaftlich-technischen Welt die Rede ist? Ist es ein kanonisierter und theologisch fundierter Gott der institutionellen Religion oder ist es ein anderer Gott? Handelt es sich, also, um den Gott der insti- Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005. Siehe dazu: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion, Herder, Freiburg-Basel-Wien, 2005, 6. Ausgabe, und: Jürgen Hagbermas, Glauben und Wissen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001. 88 tutionellen monotheistischen Religionen oder vielleicht um einen „Gott der Philosophen“ (Walter Schulz).21 Die Frage bezieht sich auf das Wesen des Streits um den Charakter und die Natur der Säkularisierung als Voraussetzung eines methodischen Atheismus der westlichen Geschichte in ihren konstitutionell-politischen Grundlagen der Demokratie. Marx hatte bereits 1843 in seinem Aufsatz Zur Judenfrage gezeigt, dass die eigentliche Voraussetzung für den Ausgang aus einer theokratisch-politischen Ordnung der Abhängigkeit des Menschen von Gott die Errichtung einer neuen „politischen Theologie“ ist. Um sich der Sprache der modernen Säkularisierung zu bedienen, kann gesagt werden, Gott müsse demokratisiert werden. Er muss „diese“ Welt verlassen, weil die Religion paradoxerweise zum Hindernis für die eigentliche Freiheit des Menschen geworden ist. Die Religion hat die Voraussetzungen der freien Welt nicht ermöglicht, sonder ist in ihrer institutionellen Form eine Legitimierung der Macht ohne Liebe und Wahrheit. Der historische Tod der Religion und ihre Rückkehr oder Erneuerung (Revival) bezieht sich auf das Ereignis der Säkularisierung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften. Daher ist selbstverständlich, dass von der Rückkehr der Religion zu reden nicht zugleich von der Rückkehr Gottes zu reden bedeutet. Niemand kann mehr das Recht für sich beanspruchen, über seine Rückkehr in die gegenwärtige Welt zu sprechen. Die Situation ist hermeneutisch als geistige Leere und ein Ereignis der Offenheit verfügbar. In dieser Kluft der Erwartung eines kommenden Gottes ohne Religion entsteht die „kleine Erzählung“ der Postmoderne über die 21 22 RELA Dossier: @arko Pai} neuen „Grundlagen“ des postmetaphysischen Glaubens. Gianni Vattimo versteht die Hermeneutik am Ende des 20. Jahrhunderts als etwas weit mehrbedeutenderes als das griechische Wort koiné. Die humanistische Kultur und die humanistische Wissenschaft schlechthin bilden die „Ontologie der Aktualität“, bzw. die Philosophie der spätmodernen Welt, in der die Welt als ein Spiel von Interpretationen verstanden wird.22 Für Vattimo wird daher das Wort Dekonstruktion auf die gesamte metaphysische Tradition angewandt. Von Nietzsche über Heidegger bis hin zu Derrida hat die Interpretation der Geschichte der Ontologie einen dekonstruktiven Charakter. Die Gleichsetzung von Sein und Wesen führt dazu, dass Gott im Laufe der gesamten westlichen Metaphysik als höchstes Wesen verstanden wird, während das Sein auf diese Weise in seinem Wesen zur Wesentlichkeit der Wesen zerlegt wird und dadurch sine ursprüngliche Offenheit einbüßt. Gott in ontologischer Unterscheidung zum Sein zu denken setzt die Dekonstruktion der Metaphysik voraus. Am Ende der Modernität, bzw. der spätmodernen Welt führt uns Nietzsches These über den Tod Gottes in die radikale Dekonstruktion der Metaphysik ein. Die Geschichtlichkeit ist von Ausgangspunkt der metaphysischen Idee der Ewigkeit und Unabänderbarkeit aus nicht mehr zu besehen. Historisch erscheint Gott im Ereignis einzigartiger Offenheit von Sein und Zeit, und zieht sich in diesem auch zurück. Daher befindet sich die Grundlage des einzig möglichen postmetaphysischen Glaubens für Vattimo in der Kluft zwischen den Welten: jener, die am Nihilismus der planetaren Technik zerfallen TIONS ist und jener, die sich im Intermezzo des Nihilismus als postmodernes Zeitalter ankündigt. Was für Vattimos Verhältnis zur Religion in ihrer christlichen Gestalt als Paradigma der westlichen Metaphysik wesentlich ist, ist die Tatsache, dass sich das Sein als Grundlage nicht aus sich selbst heraus versteht, und auch nicht aus seinem Verhältnis gegenüber Gott. Für ihn ist Gott nicht Sein, denn das würde gerade dasselbe bedeuten, was die Dekonstruktion der Idee der Grundlagen im Logos von Nietzsche über Heidegger bis hin zu Derrida zu zerlegen sucht. Auf diese Weise hat Gott in seiner Idee und Existenz jene Art Anwesenheit, die zugleich Abwesenheit und daher stets ein gewisser Mangel an Fülle ist. Ein solcher Gott ist nicht der allmächtige und weltgeschichtlich alles könnende Gott, wie Jahve es im Alten Testament gewesen ist, sondern ein Gott der Entfernung und des Vertrauens. Vattimo interpretiert das Göttliche als jenes, das sich mit Liebe und Demut dem Menschen gegenüber verhält. Schon die Interpretation selbst eröffnet – als Dialog im Sinne einer Hermeneutik und Dekonstruktion der Idee der Grundlagen – das Problem der Sinnhaftigkeit des Sprechens. Diese ist die Erfahrung der Spur und der Differenz. Auf dieser Spur und der Differenz zum allmächtigen Gott der negativen Theologie wird das „schwache Denken“ und sein postmetaphysischer Glaube aufgebaut. Statt nach den Grundlagen (arché) zu suchen, ist es notwenig, den ursprünglichen christlichen Gedanken der Gemeinschaft der barmherzigen Liebe (agape) zu beleben. Das endgültige Resultat dieses postmetaphysischen Interpretationsspiels mit dem Geist des ursprünglichen Christentums liegt für Vattimo dar- Walter Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Matica hrvatska, Zagreb, 1996, aus dem Deutschen von Damir Barbarić. Gianni Vattimo, „Gadamer and the Problem of Ontology“, in: Gadamers Century: Essays in Honor of Hans-Georg Gadamer, (Hrsg.) J. Malpas, U. Arnswald und J. Kertcher, The MIT Press, Cambridge, Massachusetts, London-New York, 2002, S. 305-306. RELA TIONS in, dass mit Hilfe der Barmherzigkeit (caritas) als ursprünglicher Frömmigkeit (pietas) die historisch-metaphysische Grundlage des institutionellen Glaubens des Christentums von „Grund auf“ dekonstruiert wird.23 Das Christentum ist nicht verworfen. Es ist nicht überwunden, im Sinne der Entstehung einer globalen Instantreligion. Im Gegenteil, es wurde durch den Versuch bestätigt, seine metaphysischen Grundlagen im Zeitalter des Nihilismus zu verschmerzen. Statt der buddhistischen Religion ohne Gott, zielt der postmetaphysische Glaube auf eine Art Erwartung Gottes ohne metaphysische Religion. Der postmetaphysische Glaube ist in der gegenwärtigen philosophischen Debatte über Gott und die Rückkehr der Religion die einzig „neue“ Position, die versucht, die Erfahrung des Denkens im Zeitalter des Endes der Metaphysik und die Religion im Zeitalter des Nihilismus miteinander zu versöhnen. Ist dieser Versuch glaubwürdig? Der Schlüsselgedanke dieser paradoxen Verteidigung, Kritik und Belebung des Christentums zu anderen Zwecken ist eine neue Interpretation der Erlösungsgeschichte. Für Vattimo bezeichnet die Erlosungsgeschichte auf keinen Fall eine Steigerung oder Glorifizierung der Macht Gottes. Gemäß der Dekonstruktion der Macht überhaupt, die ihre Grundlagen in der wissenschaftlichtechnischen Aufwerfung des Seins in der Neuzeit hat, muss Macht so dekonstruiert werden, dass die Geschichte ihrer Reduktion in politische und gesellschaftliche Macht, sowie die Struktur der Macht als Macht der Strukturen dekonstruiert werden. Ist nämlich die Macht zur strukturellen Gewalt der Politik reduziert, die ihre Legitimierung in der Religion als Kultur / Ideologie findet, befinden wir uns im Zauber23 Dossier: @arko Pai} kreis einer Geschichte ohne Erlösung. Das gegenwärtige Zeitalter ist gerade durch strukturelle Gewalt als Macht der globalen imperialen Politik des Westens bestimmt. Kriege im Namen Gottes und die Rückkehr der Religion als Fundamentalismus, bestätigen den Zweifel an der Fortsetzung einer metaphysischen Struktur der Geschichte, auf der monotheistische Religionen wie das Christentum gründen. Daher wendet sich Vattimo aus zwei Gründen eine Neuinterpretation der Erlösung zu: (1) um die institutionelle Variante des christlichen Verständnisses der Heilsgeschichte als Steigerung der Macht Gottes zu dekonstruieren und (2) um die neue Grundlage für einer vertrauensvolleren, gemilderten, frommeren Version des postmetaphysischen Glaubens ohne eigene feste „Grundlagen“ aufzudecken. Der hermeneutische Weg zum Verständnis der Heilsgeschichte führt durch die Rückkehr zum ursprünglichen Sinn der Religion als Offenheit des Ereignisses. Der lebendige Gott ist nicht jener, der aus der historischen Vergangenheit kommt, sondern der kommende Gott der Liebe, der Frömmigkeit und der Heiterkeit. Der postmetaphysische Glaube hat keine anderen Grundlagen, außer in der Entmachtung der Idee der Macht als Grundlage für die strukturelle Gewalt der Geschichte in Form der ungeheueren Macht der Institutionen. Warum ist der Glaube in seiner postmetaphysischen Gestalt der Un-Macht und der Nicht-Begründung immer noch Glaube? In einem Buch, das davon ausgeht, einer neuen Art der Ausführung und Deutung des Glaubens eine demütige „Grundlage“ zu geben, ist es in erster Linie notwenig, einen gedanklichen Raum dafür zu schaffen, dass es dem Menschen möglich ist zu glauben, dass er glaubt. Gianni Vattimo, Credere di credere, Garzanti, Mailand, 1996, S. 124-125. 89 Es handelt sich offensichtlich um eine der Möglichkeiten, den Glauben im Zeitalter des Verschwindens oder des Endes der Metaphysik zu denken, die im Laufe der Geschichte, bis hin zum Zeitalter der Säkularisierung, in erster Linie das Christentum geformt hat. Es wäre falsch, anzunehmen, es handle sich hier um einen atheistischen Anhang an die Konversion zum Christentum, wovon auch in Vattimos Texten die Rede ist. Genauso unangemessen wäre es auch, diesen Versuch, Gott im postmodernen Zeitalter zu denken, als eine Art skeptischen (A)Gnostizismus zu bezeichnen. Ein Zugang zu Gott ist weder auf philosophische, noch auf religiöse Weise mehr möglich, da wir nach dem Ende der Metaphysik mit dem „schwachen Denken“ und den „kleinen Erzählungen“ der Belebung des Subjekts des Denkens und des Glaubens konfrontieren. 3. Aussichten für die Zukunft? Die Einheit der historischen Erfahrung und des Erlebens Gottes als Idee, Begriff und Existenz im Sinne einer göttlich-menschlichen Person ist durch eine andere Art der Bildung der Wirklichkeit der Weltgeschichte unwiderruflich zerstört worden. Gott wendet sich im Umfeld der großen, monotheistischen Religionen nicht mehr durch seine Stellvertreter oder authentischen Zeugen des Glaubens an die Menschheit. Darüber, ob, wann und unter welchen historischen Umständen ein Zeitalter durch allgemeine göttliche Attribute ausgezeichnet wird, entscheidet nicht die Religiosität des Menschen als Einzelnen oder Teils der Gemeinschaft. Der Konflikt zwischen dem Theisten und dem Atheisten ist dabei ein weltanschaulicher, kulturell/ideologischer Konflikt, um etwas, was weder mit Gott im Sin- 90 ne seiner Existenz oder Nichtexistenz, noch mit dem grundlegenden Sinn der Ontologie als Metaphysik zu tun hat. Man kann weder Theist noch Atheist sein, sondern nur bereit für einen Dialog mit dem möglichen Ereignis des ursprünglichen Glaubens und dem realen Ereignis des Verschwinden oder des Todes Gottes, seines Entgleitens aus der beendeten Geschichte. Konflikte sind stets durch etwas äußeres bestimmt. Daher sind sie destruktive Beweise für die strukturelle Gewalt der Zeit. Der islamische Fundamentalismus trägt heute auf radikalste Weise diesen kulturell/ ideologischen Kampf gegen die Säkularisierung der Welt, bzw. gegen die eigene Leere und geistige Ohnmacht aus. Die katholische Kirche 24 RELA Dossier: @arko Pai} setzt als Paradigma der Weltreligion auf denselben Grundlagen des Ökumenismus ohne Dialog dieselbe metaphysische Geschichte über die Grundlagen des Glaubens, der über Verstand und Vernunft hinausgeht, fort.24 In allen aktuellen Fällen fällt die Freiheit der Person, als nichtreduzierbaren „Subjekts“ des Ereignisses des Glaubens in den Hintergrund. Der theologische Machtdiskurs lässt keinen Zweifel an jenem zu, was der fragile postmetaphysische Glaube als Grund seines eigenen Versuchs der Verschmerzung der Geschichte im Zeichen des Opferns von Freiheit und Barmherzigkeit aufgestellt hat. In einer Zeit, in der die mögliche Ankunft eines Gottes ohne Religion das einzig sinnvolle Ereignis der Offenheit darstellt, erscheint es ge- TIONS radezu notwendig, jenseits jeglichen angeeigneten Rechts auf Göttliche zu denken, wie es sich seit Anbeginn in verschiedenen monotheistischen Weltreligionen erhalten hat. Die Möglichkeit haben, einen Zugang zum Göttlichen jenseits der Metaphysik zu denken, bedeutet, imstande sein, nicht zu glauben, der Glaube sei die einzig akzeptable Antwort auf die Nichtigkeit und die Leere des gegenwärtigen Zeitalters. Der offenbarte Glaube erfordert Geschichte und Zeit als Horizont der Zukunft. Hat ein Gott ohne Religion denn noch eine Zukunft? Aus dem Kroatischen von Boris Perić Richard Rorty / Gianni Vattimo, The Future of Religion, Columbia University Press, New York, 2005, Gespräch zwischen Rorty, Vattimo und Santiago Zambal, S. 55-81. RELA TIONS 91 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA 92 TIONS Herrschaft des Genusses: Inszenierung des Lebens als sozialen Erlebnisses Žarko Paić 1. Vom Zentralpark zum Rummelplatz W ie hat alles begonnen und wann? Es ist niemals möglich, den Wandel des herrschenden „Zeitgeists“ mit historiographischer Präzision festzulegen. Lamentationen darüber, wie unausstehlich es geworden ist, „berühmten Hohlköpfen“ (J. Epstein) aller Tageszeitungen, Fernsehprogramme und Internetportale dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie vor uns ihre öffentlichen Laster und privaten Lebenstraumata bekennen, führen tatsächlich zu nichts. Ebenso verfehlt ist es, unaufhörlich von Ideologiekritik, als jener Art und Weise zu sprechen, auf die sich das Medienzeitalter, an dem wir alle teilnehmen, als die Sprache unseres kollektiven Unbewussten strukturiert. Im ersten Fall sind wir alle einer Meinung: es ist tatsächlich unausstehlich, aber wir sehen ihnen alle weiterhin zu, auch wenn wir nicht zuhören, worüber sie reden. Aber das, worüber sie reden, ist nur die Grundregel der modernen Medien. Peter Sloterdijk konnte dieselbe Medienmatrix auch 1 2 3 für sich selbst anwenden, obwohl er in Die Kritik der zynischen Vernunft offensichtlich nicht so selbstironisch gewesen ist.1 Ist aber die Bühne oder Szene des „Subjekts in der Welt“ einmal betreten, um den Massennutzern die Wahrheit über das Wesen unserer Zeit als Medienzeitalter zu enthüllen, gilt sowohl für Intellektuelle, als auch führ „berühmte Hohlköpfe“ ein und dasselbe Modell. Sloterdijk paraphrasierend, müssen Intellektuelle Schausteller werden, Schausteller hingegen Intellektuelle, denn die Logik der Medien ist ein „sowohl, als auch“, eine Reihe, die die Ideen von Enzyklopädie und Zirkus miteinander verbindet.2 Im zweiten Fall, wenn die Herrschaft des Genusses in all ihren Verwandlungen das Bedürfnis nach der Freiheit des Aufgebens auferlegter Genussregeln der modernen Gesellschaft völlig aus dem Bewusstsein verdrängt hat, ist die Trennung zwischen Narzissmus und Voyeurismus, bzw. zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Verlangens vollzogen.3 Die „Ikonen“ der Medienwelt artikulieren nicht mehr, wie einst Marilyn Monroe, die süßen Sehnsüchte eines massenhaft narkotisierten Publikums. Das Melodrama ist nicht mehr „in Mode“. Es bedarf etwas größeren und „morbideren“: dass die „Ikonen“ abermals sakralisiert werden und der Prozess der Aufklärung der Unaufgeklärten beginnt. Wenn uns Madonna siegreich enthüllt, wie fasziniert sie in ihrer „neuen Phase“ von der hebräischen Kabbala ist, zeigt die Perversion der Spektakelgesellschaft ihr wahres Gesicht. Die kulturelle Leere der Berühmtheiten wird durch Faszination mit uralten religiösen Quellen, exotischem Animismus und gesellschaftlichem Engagement zugunsten politisch und kulturell unterdrückter Völker außerhalb des Westens (Tibeter, Aborigines, usw.) ersetzt. Die totale Abnahme jeglicher Vergoldung von den Figuren der Verehrung und der Faszination ist von Anfang an in die Struktur dieses „kulturellen Strippens“ hineingeschrieben. Im ersten, die Wende bezeichnenden literarischen Werk zu diesem Phänomen, mit dem Hollywood die Welt zum Produkt kultureller Indus- Zum Wandel des öffentlichen Intellektuellen zum „Entertainer“ und „Star“, siehe: Lewis Coser: „Der Intellektuelle als berühmte Persönlichkeit“, im Rahmen des Themenschwerpunkts „Dossier: Intellektuelle“, Europski glasnik, 11/2006, S. 249-262, aus dem Englischen von Mirjana Paić Jurinić; sowie extensiv über das Verhältnis zwischen Intellektuellen, Medien und Politik: Žarko Paić, Die Macht der Unbeugsamkeit: Der Intellektuelle und die Biopolitik, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2006. „Die Massenmedien erst haben eine Kapazität entwickelt wie sie keine rationalistische Enzyklopädie, kein Kunstwerk und keine Lebensphilosophie in diesem Ausmaße gekannt haben: mit unermesslicher Fassungskraft steuern sie auf das zu, wovon die große Philosophie. Christopher Lasch, Narzisstische Kultur: Das amerikanische Leben im Zeitalter reduzierter Erwartungen, Naprijed, Zagreb, 1986, aus dem Englischen von Višnja Špiljak. RELA TIONS trie bezwungen hat, formal in Klaus Manns Autobiographie Wendepunkt, tatsächlich aber in der Anbahnung eines Genres, das Literatur und Leben übertrifft, um in eine skandalöse Chronik seiner Zeit überzugehen, beschreibt der Autor des Mephisto, als radikalter Kritik der Ideologie der Kunst im Dienste einer totalitären Gesellschaft, verschiedene „Events“ aus dem L. A. der späten zwanziger Jahre im Umfeld des entstehenden Glamours und der Geburt von „Stars“ und „Berühmtheiten“.4 Marlene Dietrich und Greta Garbo opferten den hohen Geschmack des europäischen Modernismus, das Theater des bürgerlichen Individualismus, zugunsten des Kults des Neuen – der Popularisierung der Kunst durch den Film. Aber bereits dieser Wandel war ein Wendepunkt. Mehr Beachtung schenkt Klaus Mann der gesamten parallelen Welt der Erschaffung neuer Idole. Sogenannte gesellschaftliche Ereignisse, Massengelage, Partys im Anschluss an Filmprojektionen, SexLife und Affären, Klatsch und die mediale Formung der „Stars“, zeigen sich bereits am Anfang von Hollywood als „Traumfabrik“ als negative Verwirklichung gewisser Thesen aus Hegels Die Phänomenologie des Geistes. In der Dialektik des Verhältnisses zwischen Herr und Diener vollzieht sich die historische Entwicklung. Das Selbstbewusstsein der Freiheit durchwandelt die Reflexion von der Geburt des Subjekts aus den Ketten der Geschichte. Der Diener übernimmt die Formung der Geschichte im Zeichen befreiten Neids und Hasses gegenüber dem Herren und zwar so, dass er all seine Laster als seine eigenen neuen Tugenden wiederholt.5 Im Anderen und physiologische Funktionen und nicht geistige Merkmale sehend, entsteht eine Literatur von 4 5 6 Dossier: @arko Pai} Tagebucheinträgen des bislang vernachlässigten und notwendigerweise ungebildeten Anderen. Ortega y Gasset bezeichnete das als den Aufruhr der Massen im 20. Jahrhundert. Der Wandel der Hochkultur zur Massenkultur ist gewiss nicht nur das Resultat des Verfalls des gewichtigen Geistes zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“, um dieses rätselhafte Syntagma aus Kunderas reflexivstem Roman zu benutzen. Vor allem, worum geht es eigentlich, wenn heutzutage alle, nicht nur Philosophen, Soziologen, Kulturologen und Zeitkritiker, von der pervertierten Medienwelt im Zeitalter einer die Illusion echter Realität produzierenden Spektakelgesellschaft sprechen? Die Herrschaft des Genusses ist längst kein Vorrecht des Westens mehr. Der globale korporative Kapitalismus hat die Losungen der liberalen Demokratie in memoriale Museen verbannt. Statt Freiheit, Menschenrechte und Individualismus findet die Beherrschung der neuen Weltmärkte ihre ideologische Berechtigung in einer neuen diskursiv-visuellen Rhetorik. Die Wende ist ungeheuerlich, weil ab jetzt auf die Karte der abstrakten Konkretheit gesetzt wird. „Wie bieten euch nicht nur die Freiheit der Wahl, sondern auch Glück, Wohlstand und Konsumgenuss!“ Das Akzeptieren dieser Wahl ist ultimativ. Es gibt keine Alternative. Oder, besser gesagt, jede Alternative ist nur ein hartnäckiges Ablehnen der Modernität als Fortschritt. Kann denn die freie Wahl von „Glück“, „Wohlstand“ und „Genuss“ abgelehnt werden? Eine vernünftige Antwort wäre hier negativ. Aber der Konflikt zwischen der westlichen Globalisierung und dem islamischen Fundamentalismus nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 war nicht nur 93 ein ideologischer, keine bloße Frage verschiedener kultureller Modelle der gesellschaftlichen Entwicklung. Vielmehr liefert dieser Konflikt den Beweiß, dass sich die Grundfrage der Welt nicht mehr auf zu viel oder zu wenig Freiheit und Demokratie bezieht, sondern auf die zu große oder zu geringe Verteilung materieller Güter des verdinglichten Kapitals. Soziologische vergleichende Wertanalysen innerhalb der globalen Ordnung nach den neunziger Jahren versuchten, diese Unausgeglichenheit der Verteilung, sowie die Unterschiede im Konzept der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Einführung des Begriffs des sozialen und kulturellen Kapitals zu verdeutlichen, demzufolge die Werte als materialistische und postmaterialistische bestimmt werden können.6 Der kulturelle Determinismus war dabei nur eine „neue“ Erklärung des „alten“ soziologischen Konzepts, demzufolge der ökonomische und politische Fortschritt in gewissen Gesellschaften in der Geschichte kein Zufall ist. Max Weber bestimmte in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die Grundlagen für ein derartiges Verständnis. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Aufstieg der USA als Vollzieher der kapitalistischen Modernisierung war, wurde seit den achtziger Jahren Kraft derselben historischen Logik auf Japan übertragen. Das kulturelle Kapital der Nation/des Staates ist entscheidend für die Beherrschung komplizierter globaler Machtkonfigurationen. Die Ökonomie ist demnach keine blinde Macht, sondern eine kulturell bestimmte Macht der globalen Verwaltung. Paradox uns logisch zugleich ist der Schluss, dass jene Werte, die von den Menschen nach dem Heraustreten Klaus Mann, Wendepunkt: Eine Biographie, GZH, Zagreb, 1987, aus dem Deutschen von Dragutin Horvat. G. W. F. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Naklada Ljevak, Zagreb, 2000, aus dem Deutschen von Milan Kangrga. Ronald Ingelhart, Culture Shift in Advanded Industrial Society, Preinceton University Press, Princeton, 1990, und Modernization and Postmodernization: Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies, Princeton University Press, Princeton 1997. 94 aus einem langfristigen Laben in materiellem Notstand und politischer Unfreiheit aufgenommen werden, durch den Wunsch nach dem Besitz materieller Objekte des „Glücks“ und des „Wohlstand“ vermittelt werden. Der Genuss wird daher gesellschaftlich als materialistischer Hedonismus des Konsums verstanden. Postmaterialistische Werte, wie etwas das Investieren in eigene kreative Lebensführung, Bildung und Disziplinierung des Körpers im Einklang mit den unter New Age verstandenen holistischen Doktrinen eines gesunden geistigen Lebens, scheinen notwendigerweise erst dann auf, wenn die postmoderne Gesellschaft an der kritischen Schwelle der eigenen „Bewusstmachung“ über die Grenzen des Konsums angelangt ist. Werte werden gewonnen. Sie sind nicht im Vorhinein garantiert. Der gewohnte Unterschied zwischen modernen und postmodernen Werten in den Analysen der modernen Soziologie geht aus den Unterschieden im Verständnis dessen hervor, was das Wesen von Moderne und Postmoderne ausmacht. Es handelt sich um das Gefüge und die Artikulation der Grundideen einer epochal bestimmten Geschichte im Zeichen des Fortschritts und der Entwicklung von Gesellschaft, Kultur und Lebensweise. Die Moderne beruht auf der Universalität der Ideen des historischen Fortschritts, die Postmoderne hingegen auf der Partikularität der Ideen der Entwicklung. Identität und Unterschiede bestimmen die Postmoderne, die Moderne hingegen das Bewusstsein vom Ganzen und Gleichbedeutenden der geschichtlichen Beherrschung der Welt.7 Im Grunde handelt es sich jedoch um dasselbe, das als Ausgangspunkt und Bewusstsein vom Ende einer epo7 8 9 RELA Dossier: @arko Pai} chalen Weltkonstruktion verstanden werden kann. Dies geschieht mit Gesellschaft und Kultur im Zeitalter des Übergangs in Massenkommunikation und Technokultur, was in unserer Zeit auf gleiche Weise auch alle anderen Lebenswelten betrifft.8 Die zeitgenössische Kunst ist dabei ein zuverlässiger Indikator des aus der Idee des Fortschritts / der Entwicklung hervorgegangenen Unbehagens. Es ist unmöglich, moderne und zeitgenössische Kunst radikal untereinander zu unterscheiden. Malewitsch und Duchamp sind als Vorreiter der historischen Avantgarde nicht durch einen Abgrund von den Werken/Ereignissen der Neoavantgarde der sechziger Jahre getrennt. Alle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Begriffe für die Bestimmung des Übergangs von Kunst in Lebenskonstruktion (Objekte, ready made, Ästhetisierung des Lebens) sind noch im Umlauf. Umso mehr zeigt die Rückkehr zu den Ideen der Moderne im Zeitpunkt der Erschöpfung durch die unentwegte Forderung nach der Erfüllung des Kults des Neuen in welchem Maße der Zauberkreis des Fortschritts / der Entwicklung nicht nur ein Problem des Verständnisses der Kompliziertheit von Gesellschaft und Kultur in der globalen Weltordnung, sondern vielmehr ein Problem des Sinnhorizonts des von der Zukunft Erwarteten darstellt. Wird nicht mehr erwartet, als die Verwirklichung der Welt als kapitalistischer globaler Korporation, so handelt es sich um eines der wichtigsten Resultate des modernen/postmodernen gesellschaftlichen Entwicklungsmodells in der Transformierung des humanistischen Kulturbegriffs. Es wird nicht mehr erwartet, dass die Kultur eine regulative Funktion der TIONS Führung eines guten Lebens in Einklang mit den Idealen der Aufklärung erfüllt. Sie ist nur ein fluides, wandelbarer Stabilität unterliegendes Markenzeichen der wechselhaften Identität des modernen Menschen. Wenn Kultur vor der Freiheit der Wahl des Lebensstils verschwindet, ist die Epoche der historischen Begebenheiten als geistiger Substanz des Menschen beendet. Das Subjekt ist von der Substanz getrennt. Keines der beiden ist mehr gerechtfertigt, weil beide äußerlich, medial konstituiert werden. In seinen Historisch-philosophischen Thesen setzt Walter Benjamin die Idee der Fortschritts aufgrund einer Analyse von Klees Allegorie Angelus Novus mit einer Katastrophe gleich.9 Hierbei handelt es sich jedoch um nichts anderes, als um die Einsicht, dass sich die Unmöglichkeit der Rückkehr ins Umfeld des „alten“ Weltkonzepts als Problem der (Un) möglichkeit des Neubeginns einer anderen Geschichte eröffnet. Statt Benjamins Zentralpark als Widmung an den hohen Modernismus schlechthin, mit Baudelaire an der Spitze der geistigen Pyramide von Imagination und Leben), kann das, womit wir uns am Ende der Geschichte konfrontieren als die Verwandlung der Welt in einen globalen Rummelplatz oder das Spektakel der Kultur als Entertainment bezeichnet werden. Unter diesem Phänomen bricht alles zusammen. Es verschwinden die kritischen Orientierungspunkte. Es erscheint, als sei es des Intellektuellen unwürdig, sich mit den Frivolitäten der Mode zu befassen, als sei es schändlich, sich auf die Ebene von populistischem Kitsch herabzulassen. Die Wiederholung der Kritik des Zeitgeists einer Epoche, in der noch universelle Ideen der Schönheit, der Wahrheit, des Sinns Mike Featherstone, Consumer Culture and Postmodernism, SAGE, London-New York, 1991. Žarko Paić, Visuelle Kommunikationen; Einführung, Centar za vizualne studije, Zagreb 2008, Debra Benita Shaw, TECHNOCULTURE: The Key Concepts, Berg, Oxford – New York, 2008. Walter Benjamin, Der neue Engel, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Deutschen von Snješka Knežević. RELA TIONS und der Wertordnung herrschten, erscheint uns jedoch ebenso vergeblich. Brochs Analysen des Wertzerfalls in den Romanen und Essays über Moderne und Zeitgeist, können zum Beispiel als letztes Aufflackern einer Diagnose des Einstürzens einer metaphysischen Ordnung dienen, hinter der nicht das Schlusswort der Apokalypse steht, sondern etwas zutiefst perverses: das Hervorheben der Banalität in den Rang des Erhabenen. Hat Broch in seinen Essays über die Musealisierung von Wien als historizistischer Kitsch-Stadt, aus der die Geschichte verschwunden ist, um durch Illusion und historische Faszination ersetzt zu werden, das nicht aufs Treffendste beschrieben?10 Wer verstehen will, warum die Entertainment- und Celebrity-Kultur heutzutage zum unumgänglichen Phänomen der modernen Spektakelgesellschaft geworden ist, darf nicht von der im Vorhinein gebildeten Vorstellung ausgehen, die Moderne sei in ihrem Wesen ein ganzheitliches Projekt der Selbstverwaltung höherer Werte, während das, was nach dem Ende der Postmoderne folgt, eine vulgäre Verwirklichung der Tyrannei der Lebensstile währe. Eine derartige Überlegungsweise ist eine Einbahnstraße. Der Kulturpessimismus verachtet in seiner vulgären Form die populäre Kultur im Namen der „alten“ Werte des Stils, des Geschmacks und des geistigen Lebens als Ganzem. Andererseits greifen die Befürworter von jenem, was jetzt aktuell, neu, im Trend ist, stets die Elitekultur als nostalgischen Konservativismus des hohen Modernismus. Dieser Konflikt zwischen den „Neuen“ und den „Alten“ war in Frankreich im 19. Jahrhundert an die Frage der Ästhetik und der Kunst gebunden. Es handelt sich aber in erster Li10 11 12 Dossier: @arko Pai} nie um einen Konflikt im innersten Wesen der epochal bestimmten Idee der Neuzeit als Weltbilds, das sich aus der Idee der Aktualität konstruiert. Die Neuheit des Neuen bestimmt im Akt der augenblicklichen Veraltung das, was die Gesellschaft, die Kultur und die Welt des menschlichen Lebens darstellt. Bereits Baudelaire und Rimbaud hatten angekündigt, auf welche Weise die Richtung der Imagination und der Reflexion über das Neue die bezaubernden Kammern der modernen Besessenheit vom neuen Mythos, in dem „verrückte Jungfrauen“ und „Prostituierte“ an die Stelle der zerstörten Ideale einer theokratischen Geschichtsordnung treten, durchläuft. Der Eintritt der Massen und der Stadt in das ästhetische Imaginarium der Moderne stellt den Ausgleich von hoher und Massenkultur dar. Aber die ereignet sich nach wie vor im Zeichen der Durchdrungenheit des Einen mit dem Anderen.11 Die Wende tritt zu jenem Zeitpunkt ein, wenn sich die Wirklichkeit selbst radikal medial als Bild und Szene des Ereignisses der gesellschaftlichen Transparenz konstruiert. Daher ist grundlegende Voraussetzung, dass es sich bei allen soziologischen Analysen der modernen Spektakelgesellschaft und der kulturellen Kritik des konsumorientierten Kapitalismus um einen Versuch handelt, die Widersprüche des Prozesses des historischen Zerfalls der Gesellschaft in Kommunikationsnetze der Beziehungen und der Kultur in Fragmente der Lebensstile zu verstehen. Wenn sich Bild (Image) und Szene ins Zentrum des Lebens des befreiten Einzelnen stellen, der sein Dasein durch den Kauf fremder Identitäten bestreitet, betreten wir, statt der großen Geschichten der Moderne über gesellschaftlichen Fortschritt / Ent- 95 wicklung, Klassenkonflikte und politische Ideologien, das Labyrinth der Beichten, die „Orgien der Intimität“, sowie das Bedürfnis nach dem Eingeständnis, Emotionalität und Erlebnis seien die einzigen Überbleibsel des beklemmend gespaltenen zwischen seiner Eigentlichkeit und der Suche nach einer neuen Identität gespaltenen Subjekts. Christopher Lasch nennt dieses Phänomen in seiner Analyse der amerikanischen Kultur der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts den neuen Narzissmus.12 Wie wird Narzissmus bestimmt? Es handelt sich weder um ein bloßes psychologisches Phänomen, noch um eine „Krankheit“ in der modernen Spektakelgesellschaft. Von Narzissmus wird hier nicht als von der ausdrücklichen Selbstverliebtheit des Einzelnen und seinem Mangel an Solidarität mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gesprochen. Damit Narzissmus zur psychosozialen Grundlage der Kultur werden kann, ist vielmehr die gegenseitige Wirkung zwischen dem Einzelnen und dem System, der Kultur und der Gesellschaft in ihrem Zustand der Entropie nötig. Das Bedürfnis nach dem Anderen spiegelt sich im ständigen Zustand der Inszenierung eines Ereignisses, das die Kultur in Unterhaltung und Spektakel verwandelt. Der Spiegel ist die symbolische Repräsentierung der Person. Diese konstituiert sich durch den Blick. Dies ereignet sich jedoch erst, wenn andere in den Blick miteinbezogen sind. Lacan hatte die Identität der Person in ihrer Entwicklung als den Ausgang aus der narzisstischen Phase der Selbstreflexion in die Konstituierung des Anderen bestimmt. Der Blick des Anderen ermöglicht der Selbstreflexion den Gegenstand der Erfahrung und des Hermann Broch, Zeit und Zeitgeist: Essays über die Kultur der Moderne, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2007, aus dem Deutschen von Nikica Petrak. Walter Benjamin, The Arcades Project, Harward University Press, Harward, 1999. Christopher Lasch, a. a. O., S. 18. 96 Erlebens.13 Es ist paradox, dass das Phänomen des Narzissmus in der modernen Spektakelgesellschaft die Individualität nicht in die höchsten Höhen des Selbstseins erhebt. Individualität ist die Illusion der postmodernen menschlichen Identität. Der Mensch erhält sich selbst erst in der Ersatzfunktion des Spielers eines der Lebensstile (Lifestyles).14 Da sich seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts die gesamte Welt durch Globalisierung unter der Maske der einzig dominanten Ideologie des Endes der Geschichte – des Neoliberalismus – in eine Szenenbühne für das Konsumspektakels verwandelt hat, haben wir es nun mit der Universalisierung des neuen Narzissmus auf alle gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte überhaupt zu tun. Das andere Paradox des Narzissmus ist, dass sich die Identität auf der Suche nach Eigentlichkeit genau auf dieselbe Weise konstituiert, auf die Hegels Diener sich selbst im Spiegel der Geschichte sieht. Die Öffnung der Pandorabüchse der Emotionen, Erlebnisse und offenen Wunden der Psychogeschichte des Subjekts ist nötig, damit die Person in einer medial vermittelten Gesellschaft die Unterstützung und das Vertrauen des Anderen erhalten kann. Unter der Haut sind wir alle gleich. Es existieren weder höhere ideale Lieben noch mythisch erhabene Wesen. Aber die „Stars“ und „Berühmtheiten“ sind dadurch nicht in der Masse der Durchschnittlichen verschwunden. Im Gegenteil, die Celebrity-Kultur beruht auf der Idee der postmodernen Demokratisierung des Ruhmes. Mit der neoavantgardistischen Kunstbewegung des Pop-Art und Andy Warhol 13 14 15 16 RELA Dossier: @arko Pai} ist der Prozess der Vermassung der Kulturüberhaupt errichtet und zugleich abgeschlossen worden. Sein oft zitierter Satz – „Jeder wird mindestens 15 Minuten berühmt sein“ – verwirklichte sich in der Inszenierung der Welt als Reality-Show. Zwischen der Anonymität und der öffentliches Figurierung des Lebensstils des Medienstars besteht scheinbar kein Unterschied mehr. Das Problem ist jedoch anderenorts anzutreffen. Damit es überhaupt zu einer derartigen Verwandlung oder Demokratisierung der Celebrity-Kultur kommen konnte, war die Aufhebung des Unterschieds zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre des gesellschaftlichen Daseins in den westlichen bürgerlichen Gesellschaften nötig. Am höchsten Gipfel des neuen Narzissmus angelangt, wurde der Individualismus zu einem veralteten Konzept des modernen Bewusstseins von der Identität der Person. Doch wer oder was ist überhaupt eine Person? Die mediale Welt der als Unterhaltung begriffenen Kultur hat dieses rasende Verlangen nach der verlorenen Eigentlichkeit längst erkannt. Stars und Berühmtheiten können in keiner Form ihres öffentlichen Wirkens Stars oder Berühmtheiten sein, wenn sie keine Personalities (Persönlichkeiten) sind. Aber die postmoderne Identität ist nicht die geistige Einheit der ganzheitlichen Person. Es handelt sich um die Fragmentierung der Identität, ein Mosaik aus verschiedenen Figuren, die einander ausschließen und auf diese Weise die hybride Identität der zerstörten Persönlichkeit der modernen Erlebnisgesellschaft bilden. Der deutsche Soziologe Gerhard Schulze führt in TIONS seiner gleichnamigen einflussreichen Studie daher mit Recht neue soziologische Begriffe für diesen Prozess der kulturellen Vermassung und die narzisstische Natur der Medienspektakel ein, die unser gesamtes gesellschaftliches System formen – Szene, gesellschaftliche Landschaft, Lebensstile, soziale Segmentierung, Ästhetisierung des Alltags.15 2. Die Performativität des symbolischen / kulturellen Kapitals Die Verbindungen zwischen Kultur als Unterhaltung und den gesellschaftlichen Figuren berühmter Persönlichkeiten (Celebrities) sind untrennbar. Ist die Kultur die profanierte Substanz der Gesellschaft, dann sind ihre „Stars“ die Subjekte der Konstituierung postmoderner Identität. Sie sind keine wirklichen Personen, sondern Figuren und „Ikonen“ einer artifiziellen Welt. Es gibt kein Entertainment ohne dessen Akteure. Die Unterscheidung zwischen den Szenenfiguren und dem Publikum entspricht dabei noch der Unterscheidung in der Repräsentation der gesellschaftlichen Klassen, Schichten und Status. Bis hin zur avantgardistischen Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft beruhte das Theater auf derartigen sozial-kulturellen Voraussetzungen. Zum radikalen Schnitt kommt es, wenn die Szene in die gesellschaftliche Konstruktion des Lebens selbst übertragen wird. Die Stadt wird zum Theater, die Straße zum Spielraum für das moderne Drama, während die Szene selbst zur Inszenierung des Lebens als realer Illusion menschlicher Massenexistenz derealisiert wird.16 Jacques Lacan, Ecrits, W.W. Norton & Company, London-New York, 1996. „Trotz gelegentlicher Illusionen der eigenen Allmacht, benötigt der Narziss andere, um Selbstachtung zu erleben. Er kann nicht ohne das Publikum leben, dass ihn bewundert. Seine augenscheinliche Freiheit von familiären Bindungen und institutionellen Zwängen gibt ihm nicht die Freiheit, allein und auf seine Individualität stolz zu sein.“ – Christopher Lasch, a. a. O., S. 11. Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag, Frankfurt a. M. – New York, 2005, 2. Auflage. Siehe dazu: Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1974, Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hrsg.), Ästhetik der Inszenierung, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2001. RELA TIONS Seit Beginn der Rückkopplung der Kultur als Unterhaltung und der gesellschaftlichen Funktion berühmter Persönlichkeiten in der Entlastung des leidenvollen Lebens im Werkbetrieb, die tatsächlich mit dem Film, als dem Paradigma der modernen Kunst einsetzt, kann gesehen werden, wie sehr die Kulturindustrie als Sektor ideologisch auf die Unterdrückung jeglicher subversiver Veränderungen des kapitalistischen Systems der Lebensreproduktion ausgerichtet ist. Brechts propagandistisches und aktivistisches Theater ist das beste Beispiel einer Reflexion über diese „neue Ideologie“, die Kultur ins Zentrum einer neuen Verzauberung der Massen stellt. Davon zeugt die Karriere des Kulturbegriffs im 20. Jahrhundert. Anthropologische Untersuchungen traditioneller Gesellschaften und Völker zielten in den amerikanischen gesellschaftlichhumanistischen Wissenschaften unter dem Begriff Kultur (culture) auf eine allumfassende Lebensweise (religiöse Rituale, Alltag, Gebräuche, symbolische Ordnung). Der humanistische Begriff der Kultur im Sinne künstlerischer Produktion war in der amerikanischen soziologischen Tradition nicht verwurzelt. Den Grund dafür liefert die Tatsache, dass es sich bei der amerikanischen Gesellschaft von Anfang an um eine moderne Gesellschaft handelt. Seine Tradition ist politisch errichtete Modernität. Daher trifft der Übergang in das Umfeld der Massengesellschaft mit den Tendenzen der Populärkultur, die vor allem unterhalten will, überein.17 Warum ist Hollywood mehr als bloße Metapher des Schicksals der Kultur vom 20. Jahrhundert bis heute? Indirekt ist dies auch die Beantwortung der Frage, warum das amerikanische Modell der Kultur als Unterhaltung (Entertainment) eine 17 18 Dossier: @arko Pai} ideologische Vorherrschaft über allen anderen Formen des hohen Stils und Geschmacks der europäischen Moderne erreichen konnte. Kehret man noch einmal zu den Aufzeichnungen aus Klaus Manns Wendepunkt zurück, fällt auf, dass er einer der ersten europäischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist, die ohne jeglichen Anfall von Kulturpessimismus, den grundlegenden Wechsel des Kulturparadigmas im 20. Jahrhundert erkannt haben. Amerika hatte die sozial-kulturellen Unterschiede im Zugang zur Produktion des symbolischen Lebenssinns aufgehoben, indem der Grundsatz der politischen Konstruktion von Demokratie zugleich zum Grundsatz der Kultur gemacht wurde. Die Freiheit verwirklicht sich auf dem Markt der Lebenschancen. Die Kultur beruht auf der Aufhebung aller Hierarchien. Der Massengesellschaft entspricht Massenunterhaltung. Diese entlastet die Grenzen des Kapitalismus und der liberalen Demokratie, statt sie zu transzendieren. Im Gegensatz zum radikalsten Kritiker dieses Konzepts der Verwandlung von Kultur in Unterhaltung, sah Klaus Mann in den populistischen Formen der neuen Kunst nicht, wie Theodor W. Adorno, ein Ereignis unausweichlicher Dekadenz, wie etwa im Fall der Entstehung des Jazz – eines Musikstils von unten.18 Die ästhetische Funktion der als Unterhaltung begriffenen Massenkultur liegt, also, nicht in der transzendierung der realen Welt, sondern in deren Entlastung und Katharsis. Der Katharsis kommt jedoch nicht mehr die symbolische Funktion der Überwindung der Beschränkungen des Massendaseins des Einzelnen zu. Unterhaltung ist „nützlich“, weil sie von den Sorgen des Alltags entlastet. Sie 97 ersetzt den geistigen Genuss durch körperlichen. Durch diesen Wechsel werden alle Dränge und alles Verlangen nach dem (Un)möglichen in den Grenzen des moralisch Zulässigen gewonnen. Die Unterhaltung dient ausschließlich dazu, das Publikum von den Sorgen des Alltags abzulenken, nicht aber, es zur Wahrheit der Kunst im Sinne der Überwindung der Welt überhaupt zu erheben. Diese Wende oder „Wendepunkt“ ereignete sich in ihrer paradigmatischen Form mit dem Film als neuem Medium. Die Kultur als Unterhaltung war von Anfang an medial konstruiert. Der symbolische Wertüberschuss einer derartigen Kultur zeigt sich und wird gedeutet als realer Profit, ausgedrückt in Einschaltquoten, Gewinn und medialem Echo. Worin besteht aber der grundlegende Unterschied zwischen der europäischen Theatralisierung hoher Kultur und der amerikanischen Ästhetisierung der Massenkultur? Im ersten Fall handelt es sich immer noch um Kunst, die nur Auserlesene begeistert. Diese gehören Gemeinschaften von traditionell geprägtem Geschmack und Lebensstilen an, die mit der dynamischen Bewegung moderner Tendenzen – z.B. von Expressionismus bis Surrealismus – in Einklang stehen. Durch die Kunst der europäischen Avantgarde inspirierte Filme, wie etwa Bunuel/Dalis Ein andalusischer Hund eröffnete den neuen Medien experimentelle Wege. Im zweiten Fall hat die amerikanische Massenkultur durch den Film einen neuen Mythos als diesseitige Ruhmes- und Erfolgsbühne konstruiert und die Kunst dadurch in allgemein angepasstes Entertainment verwandelt. Die Verehrung und Vergötterung der Stars seitens des Publikums wird erst dann möglich, wenn sich das szenisch Dargestellte formal Warren Susman, Kultur als Geschichte: Die Verwandlung der amerikanischen Gesellschaft im XX Jahrhundert, Rad, Belgrad, 1987. Aus dem Englischen von Maja Danon. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1970. 98 und inhaltlich mit den Anforderungen des Massenpublikums deckt. Der Unterschied zwischen Ein andalusischer Hund und Königin Christina mit Greta Garbo in der Hauptrolle ist der Unterschied zwischen der Theatralisierung des Schocks im Film und der Ästhetisierung der als Spektakel aufgefassten Geschichte. Für die europäische Kunst war Film nur eine Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln. Für die amerikanische Populärkultur ist Film ein neues Medium, der sich des Theaters nur bis zur Grenze seiner kathartischen Funktion bedient. Unterhaltung, Stars, bzw. berühmte Persönlichkeiten und das anonyme Publikum, das als Teilnehmer am Ereignis an der Inszenierung des Spektakels beteiligt ist, sind die drei Teile der formalen Struktur des gesellschaftlichen Verhältnisses der Performativität des symbolischen / kulturellen Kapitals in der modernen Welt. Unterhaltung ist das inszenierte Ereignis der Verwandlung von Freizeit in Kulturindustrie. Stars oder berühmte Persönlichkeiten sind die Subjekte / Akteure des Spektakels. In diesem erhält der Mensch, statt seiner gesellschaftlichen Rollen (Beruf, Status, Funktion) den Charakter einer Figur / Ikone konstruierter Wirklichkeit. Auf diese Weise wird er zum Träger eines wünschenswerten Lebensstils.19 Das Publikum ist das Objekt der Projektion der gesamten Vorstellung, das aus passiven Zuschauern in interaktive Teilnehmer an der Führung von Lebensstilen nach bereits bestehenden Modellen übergeht. Dies ereignet sich, wenn es zur technisch-technologischen Verwandlung des Medi19 20 21 22 23 24 RELA Dossier: @arko Pai} ums zum lebendigen Bild (imago) des Lebens selbst kommt. Seit der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts entsteht die Celebrity-Kultur durch das zusammenfließen von Film und Fernsehen. Die Massenmedien übertragen ihren Nutzern nur eine einzige Botschaft: es gibt keine Realität außerhalb der Medien.20 Das Leben befindet sich nicht außerhalb dieses Labyrinths der Zeichen der Medienkultur, die sich wiederum auf andere Zeichen beziehen. Das Leben ist mediale Realität und nichts anderes. Durch die Digitalisierung der Medien in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde ermöglicht, dass sich das passive Objekt (das anonyme Publikum) von der Verehrung und Vergötterung des Anderen als interaktives Subjekt in den Ereignisraum der Massenkultur verschiebt.21 Das Endresultat dieses Prozesses der Demokratisierung der „Götter“ und der Entsakralisierung des durch die Erscheinung des Films in Hollywood entstandenen modernen Mythos ist die Massenverbreitung der sog. Reality-Show. Das Leben als reale Fiktion hat ermöglicht, dass sich die Illusion des medialen Ruhmes in einer Fiktion von Realität verwirklicht, die von anonymen „Stars“ konstruiert wird. Diese sind aber nur Ersatzhelden, Halbgötter und „Ikonen“ medial erschaffener Mythen.22 Die Performativität des symbolischen / kulturellen Kapitals ist keine Abschrift des neoavantgardistischen Eintretens der Kunst in die Sphären der gesellschaftlichen Teilnahme. Es ist nämlich bekannt, dass sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der letzte große Übergang der Kultur TIONS in die gesellschaftliche Konstruktion des Lebens selbst ereignet hat. Das ist war Zeitalter der medialen Implosion der Informationsgesellschaft. Das Fernsehen brachte in das Leben der westlichen Gesellschaften eine neue Form visueller Kommunikation. Die Kunst wurde zum Bild und zur Inszenierung des Ereignens des Lebens als Kunst und nicht mehr der Kunstwerke. Die Performativität wurde zum wesentlichen Merkmal der zeitgenössischen Kunst. Das Theater befreiter Körper ohne Identität tritt in den Mittelpunkt des Geschehens.23 Von Jackson Pollocks abstraktem Expressionismus bis hin zur FluxusGruppe und den experimentellen Filmen des Theoretikers der situationistischen Bewegung in Frankreich und Autors des berühmten Buchs Die Gesellschaft des Spektakels 24 Guy Debord, zeigt sich, wie dieselbe Logik der Ereignisse völlig unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Phänomene bestimmt. Die Unterschiede sind, natürlich, evident. Aber ohne die Verwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Kommunikationsnetze und des Kapitals in das bloße Bild des spektakulären Verhältnisses des Tauschs symbolischer Objekte / Waren ist es nicht möglich, zu verstehen, warum gerade die Massenkultur ein medial erzeugtes Bild der Ereignisse ist. Die Kritik der Gesellschaft des Spektakels setzt die totale Transparenz aller gesellschaftlicher Verhältnisse in Form von Information – Kommunikation voraus. Die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eröffneten die Möglichkeit einer paradoxen gegenseitigen Abhängigkeit von Me- Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag, Frankfurt a. M. – New York, 2005, 2. Auflage. Ellis Cashmore, Celebrity/Culture, Routledge, London – New York, 2006. Douglas Kellner, Media Culture, Routledge, London – New York, 2003. Siehe dazu: Steven Best (Douglas Kellner, The Postmodern Adventure: Science, Technology, and Cultural Studies at the Third Millennium, The Guilford Press, New York – London, 2001. Dieter Mersch, Ereignis und Aura: Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2002. Guy Debord, Complete Cinematic Works, Scripts, Stills, Documents, AK Press, Oakland-Edinburg, 2003, Društvo spektakla, ARKZIN, Zagreb, 1999. Aus dem Französischen von Goran Vujasinović. RELA TIONS dien, Spektakel und Unterhaltung, in der auch die Kritik von Medien, Spektakel und Unterhaltung als der „subversive“ Andere desselben Ereignisses funktioniert. Wenn der neoavantgardistische Künstler Joseph Beuys in seiner Performance vor dem Fernsehgerät sitzt und auf dem Bildschirm zwischen Programmen schaltet, in denen sein Bild zum Vorschein kommt, dann ist diese Art der Selbstrepräsentation eine ironisch-kritische Abrechnung mit den Möglichkeiten der Überwindung der Kunst und des Lebens selbst. Der Soziologe Ellis Cashmore zeigt, dass die eigentliche Celebrity-Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade zu jenem Zeitpunkt geboren wurde, als in Hollywood 1962 das historische Spektakel Kleopatra mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen produziert wurde.25 Das Bedürfnis nach neuen Ikonen der Verehrung und Vergötterung wurde zugleich durch folgende Forderungen vermittelt: 1) nach ständigem Inszenieren von Skandalen hinter der Szene (Fremdgehen, Ehebrüche, üble Nachrede, fremde Eifersucht, Transgression genehmigter moralischer Normen), die den medialen Pomp bis zur Erhitzung in die Höhe treiben; 2) nach der Bildung von artifiziellen Figuren, die mit der konservativen Ordnung der traditionellen Kultur in Einklang stehen und durch ihre privaten Laster diese Ordnung stören, nur damit sie sich in ihrer konfliktlosen Form aufs neue etablieren kann; 3) nach dem Verwischen der Grenzen zwischen Privatsphäre und öffentlichem Handeln, unter dem 25 26 Dossier: @arko Pai} Vorwand, das Publikum wünsche, Einsicht in das „geheime Leben“ der Subjekte / Akteure der gesellschaftlichen Szene zu bekommen. Letztere Bestimmung zeigt sich maßgebend für den aktuellen Zerfall der Gesellschaft in kulturelle Fragmente als medial gebildete Kommunikationsnetze. Was anfangs eine exklusive Erscheinung zu sein schien, nämlich das Verlangen der Öffentlichkeit nach Einsicht in das geheime Leben der Stars aus der Welt des Films, der Mode und der populären Musik, wird zum wichtigsten Beweggrund der Verwandlung aller Gesellschaft und Kultur in ein Syndrom narzisstisch-voyeuristischen Genießens. Politiker, Manager, Sportstars, Professoren, Priester, Ärzte – alle sind sie Gegenstand des medialen Hungers nach Skandalen. Dieser ist nicht mehr ausschließlich für die Klatschpresse kennzeichnend. Wenn Kultur inszeniert wird, tritt sie in eine neue Form ihrer massenhaften Sinnentleerung über. Seit kurzem wird in zahlreichen Internet-Ausgaben sogar führender internationaler Zeitungen der Begriff des kulturellen Ereignisses durch jene des Lebensstils und der Szene ersetzt oder diesen beigefügt. Die „neue freiwillige Versklavung“ durch den Ruhm wurde zugleich zum Sieg der abstrakt-konkreten Macht der als Spektakel begriffenen Medien über ihre Subjekte und Objekte. Es sind nicht die Stars und das Publikum, die das Spektakel als Bild beherrschen, vielmehr ist es das Bild selbst, das als im Spektakel verdinglichtes Kapital die Welt beherrscht. Die Gesellschaft zerfällt daher notwendigerweise in eine Figuration von 99 Lebensstilen. Die Individualisierung mach eine bedrückende Ausnüchterung durch, indem sie sich jedes Mal aufs neue aus der Quellen der medialen Nachfrage nach Skandalen „berauscht“. Person sein und Identität besitzen bedeutet, als Figur die Szene betreten, die sich nicht mehr durch ihr Wissen, ihre Fertigkeiten oder moralischen Werte verwirklicht. Identität besitzen bedeutet jemand anders sein, als Erscheinung, Bild oder reine Abstraktion der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es ist nicht wichtig, wer du bist, sondern was du durch dein Bild / Aussehen repräsentierst. In einem Interview drückte das internationale Top-Modell Naomi Campbell mit diesen Worten das „Wesen“ der postmodernen Theatralisierung / Karnevalisierung der Identität aus. Die Logik der Mode als gesellschaftlicher form des globalen Kapitalismus beherrscht alle Sphären der Kultur. Nichts bleibt ausgenommen. Niemand ist in diesem medialen „Totalitarismus“ der Szene eine Insel. Daher konnte Baudrillard zum Teil mit Recht behaupten, die Botschaft der modernen Massenmedien sei eine totalitäre geworden.26 Dabei muss aber betont werden, dass die Massenmedien, die die banale und vulgäre Unterhaltungskultur in den Rang einer Enzyklopädie oder eines Faust erheben, nichts Anderes tun, als das, was das Wesen der modernen Gesellschaft der Fragmentierung von Identitäten ausmacht. Massenmedien sind nicht zur Übermittlung erhabener Botschaften und öffentliche Wissens geschaffen, sondern damit visuelle Kommunikationen die Welt umkreisen können. Die Zeichen der medialen Kultur sind Ellis Cashmore, a. a. O., S. 17-38. „Die Wahrheit der Massenmedien ist also folgende: ihre Funktion ist, den erlebten, einheitlichen Ereignischarakter der Welt zu neutralisieren und an dessen Stelle ein komplexes Universum der Medien zu setzen, die einander gegenüber als solche homogen sind, die einander bedeuten und aufeinander hinweisen. Schließlich werden sie einander zum reziproken Inhalt – darin liegt die totalitäre Botschaft der Konsumgesellschaft.“ – Jean Baudrillard, „Über wahr und unwahr“, Europski glasnik, 10/2005, S. 191. Aus dem Französischen von Maja Zorica. 100 ohne Botschaft. Ihr einziger Sinn liegt in der „Sinnlosigkeit“ der Informationsimplosion. Wenn das Bild als transzendentale Form des Mediums über Sinn und Inhalt des Ereignisses der Realität entscheidet, dann ist es offensichtlich, dass die formale Struktur der modernen Spektakelgesellschaft eine Ideologie der Unterhaltung ist, eine 24stündige Produktion von Müßiggang, die sich vom Arbeitsbetrieb nicht mehr trennen lässt. Der als mediale Unterhaltungskultur begriffene Kultursektor ist das ästhetisierte Leben der modernen globalen Ökonomie. Der Dualismus von Arbeit und Muße, ernsthafter Produktion und konsumorientierter Ekstase, existiert nicht mehr. Alles ist eine einheitliche und uniforme Welt von Arbeit-Freiheit, Produktion-Konsum, Natur-Kultur, KunstUnterhaltung, der sich in derartigen Phänomenen des imperativen Hedonismus unserer Zeit zeigt, wie es das „Karaoke des Kapitalismus“ oder die „Happy Hour“ des Ereignens einer kontrollierten Genussherrschaft sind.27 3. Kontrollgesellschaft und Genuss ohne Glück Die Suche nach Glück als Seeligkeit im Müßiggang ist durch die Grade ökonomischen Wohlstands begrenzt. Wir haben bereits gesehen, wie sich die moderne Soziologie mit dem fluiden Begriff des Glücks auseinandersetzt. Ein gewisser posthistorischer Stoizismus zeigt dabei seine beiden Gesichter: ein materialistisches und ein postmaterialistisches. Das erste Gesicht entspricht den Modellen der gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne, das zweite der Postmoderne. Das erste Gesicht ist vom rasenden Trieb ergriffen, Kapital über 27 28 RELA Dossier: @arko Pai} alle Grenzen von Natur und Kultur hinaus zu erringen, ebenso von Hyperkonsum, der die Grenzen der Bedürfnisse überschreitet und zu dem wird, was Veblen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem für die Theorie der Mode, der Lebensstile und des Geists des Kapitalismus paradigmatischen Werk Theorie der feinen Leute als „verschwenderischen Konsum“28 bezeichnet hat. Das zweite Gesicht ist scheinbar bescheiden, gefügig in seiner Rückkehr zu den „neuen“ Werten des alternativen Konsums, wie Lipovetsky ihn nennt, der sich vor allem auf einen asketischen Hedonismus ohne Substanz bezieht. Konsum ist unausweichlich. Der Genuss aber liegt nicht mehr im rücksichtslosen Anhäufen materieller Werte, sondern in der gleichmäßigen Entwicklung von symbolischem / kulturellem Kapital (Bildung, Kultivierung des Geistes, Bereisen exotischer Landschaften, Energiesparen, Spaziergänge in der Natur, Verzicht auf die Laster der modernen Zivilisation – Rauchen, Alkohol, Überschuss an Kalorien – zu Gunsten der Disziplinierung des Körpers / Geistes). Was anfangs als Wende in der Lebensweise der westlichen Gesellschaften erscheint, ist nichts anderes als eine kollektive Form der „neuen Werte“. Als Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts die als New Age bekannte holistische Doktrin der neuen Geistigkeit versuchte, das untereinander Unverbindbare miteinander zu verbinden – nämlich, den östlichen Mystizismus mit der westlichen Rationalität – war dies eine kontrakulturelle Bewegung, angepasst an die amerikanische hybride Kultur liberaler Permissivität. Der Zutritt zum „Göttlichen“ ist seit damals nicht mehr durch den Glauben an den institutionell verkündeten Gott mo- TIONS notheistischer Religionen bestimmt, sondern durch die individuelle Suche nach geistiger Ruhe. Die Wende oder die Möglichkeit einer radikalen Änderung der Lebensweise (Kultur) war seit damals in erster Linie eine individuelle Tat der Bejahung einer neuen Form der Gemeinsamkeit. Die Pluralität der Wahl des Glaubens entsprach der Möglichkeit der Wahl eines eigenen Lebensstils. Dieser Begriff hat seine ursprüngliche Macht der Bennennung von Freiheit bei der Wahl der Kultur als Wert verloren. Mit Lebensstil wird heute beinahe alles gedeckt, vor allem bezieht er sich aber auf die Trivialität bei der Wahl von Mode, Subkultur oder populärem musikalischem Stil. Die Profanisierung des Lebensstils zeigt in ihrer paradoxen Sicht sogar, dass das Wesen der modernen Religion als Ideologie in der Gesellschaft des Spektakels ein Lebensstil ist. In ihrer anthropologischen Bedeutung reduziert sich Kultur auf die Möglichkeit der Wahl des Lebensstils. Als sei sie ein heiliges Recht und als Freiheit des Individualismus unbegrenzt und absolut. Dich gerade dies ist eine ideologische Illusion. Die Wahl ist im Vorhinein gewählt worden. In modernen Gesellschaften, in Zeiten der Globalisierung von Ökonomie, Politik und Kultur, ist Lebensstil nur die Universalisierung desselben unter der Maske unausgleichbarer Unterschiede. Worin liegt heutzutage überhaupt der Unterschied zwischen dem Leben der höheren Mittelklasse in New York, Moskau, Paris oder Mumbai? Er ist beinahe zu vernachlässigen, sollte er sich überhaupt feststellen lassen. All das weist darauf hin, dass die Globalisierung, unabhängig davon, in welcher Sicht der einheitlichen historischen Entwicklung des glo- Gilles Lipovetsky, Das paradoxe Glück: Versuch über die Hyperkonsumgesellschaft, Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2008. Aus dem Französischen von Jagoda Milinković. Zu Veblens klassischer Soziologie der Mode siehe: Žarko Paić, „Thorsten Veblen: die feinen Leute und der konsumorientierte Kapitalismus“, in: Schwindel in der Mode: Für eine visuelle Semiotik der Körper, Altagama, Zagreb, 2007, S. 34-46. RELA TIONS balen Kapitalismus, die Herrschaft des Konsumgenusses darstellt, beziehungsweise den Imperativ von etwas, was über die Subjekte / Akteure der Gesellschaft allein und deren Illusion der Eigentlichkeit, die durch immer neue Konstruktionen der Identität gewonnen wird, hinausgeht.29 Ist das „erhabene Objekt“ der als Unterhaltung verstandenen Kultur gerade der Genuss selbst, kann man nicht anders, als diesen zugleich so nahen und so weit entfernten Punkt des soziokulturellen Raumes des modernen Menschen erobern zu wollen. Genuss ist demnach kein Ideal. Genuss ist auch nicht jenes transzendente Gebiet, das in der traditionalen Metaphysik von der Idee Gottes eingenommen wurde. Genuss ist das immanente (oder diesseitige) Gebiet materialistisch / postmaterialistischer Werte, die im System des globalen Kapitalismus aus seinem gesellschaftlichen Wandel aus dem Zeitalter der Askese und der Sparsamkeit in das Zeitalter des Hedonismus und der Verschwendung hervorgehen. Sind die Gesichter nicht mehr klar auseinander zu halten, oder wenn es zum Übergang aus dem einen ins andere und umgekehrt kommt, befinden wir uns im Zaubertheater gesellschaftlicher Masken. Die Theatralisierung der modernen Kultur wurde durch die Ästhetisierung postmoderner Lebensstile ersetzt. Die Schönheit war zu jenem Zeitpunkt aus der Kunst verschwunden, als das Leben selbst als gesellschaftliche Konstruktion zur neuen Kultur der Gestaltung von Objekten des Massenkonsums geworden ist. Dasselbe geschieht auch mit dem Prozess der Individualisierung des Menschen. Der Genuss benötigt in seiner hyperverbraucherischen Form die Dynamik des Lebens bis zum Grad der Hyper29 30 31 Dossier: @arko Pai} produktion kultureller Ereignisse als Kulissen oder Ornamente der Unterhaltung.30 Festivals, Modeereignisse, Pop-Konzerte, Kfz-, Kosmetik- und Buchmessen verwandeln das ganze Jahr hindurch die Welt in eine totale Mobilisierung des Genusses am Konsum. Als Unterhaltung begriffene Kultur ist die mobile Bühne des „Glücks“. Sie funktioniert nach den Grundsätzen des Kults des Neuen. Daher ist die Mode nicht Ausnahme, sondern das „Wesen“ der Gesellschaft des Spektakels als Gesellschaft des Erlebens. Das Glück, das jedoch in den metaphysischen Grundlagen des liberaldemokratischen Westens als Bestrebung und Ziel des Staates steht, der seinen Sinn in der Ermöglichung eines glücklichen Lebens für alle Mitglieder der Gemeinschaft und nicht nur für die Gesellschaft sieht – und dies war z.B. die nicht hinterfragte Voraussetzung der amerikanischen Verfassung aus der Zeit der föderalistischen Schriften der Gründungsväter der liberalen Idee der Freiheit – will sich niemals hedonistisch definiert wissen, sondern durch geistiges Gleichgewicht von Freiheit, Gerechtigkeit und materiellem Wohlstand. Einige der charakteristischen soziologischen Umfragen unserer Zeit versuchen, die geographisch-kulturelle Verteilung von „Glück“ zu ergründen und auf die anfängliche Voraussetzung derartiger im Vorhinein verfehlter Untersuchungen hinzuweisen. Aus dem Paradigma des kulturellen Determinismus hinaus, befinden sich nämlich, wenn vom Entwicklungsstand des symbolischen / kulturellen Kapitals die Rede ist, die sog. glücklichen Völker stets im Norden und die unglücklichen im Süden. Kehrt man das Konzept um und setzt das Glück mit dem Genuss 101 von Müßiggang, Liebe oder harmonischem Leben nach traditionellen Sitten gleich, verschieben sich die geographischen Pole. Dasselbe gilt für die sexuellen Gewohnheiten der Völker und Regionen. Aber derartige Stereotype sind in jeglicher ernsthaften Betrachtung zu vermeiden. Sie funktionieren vielleicht noch in der Literatur, als Abschrift der Theorie von der Mentalität der Völker, aber nur als literarische Figur der Ironie und des Zynismus, wie es in Michael Houellebecques Romanen der Fall ist. Gilles Deleuze / Felix Guattari haben in ihren Anti-Ödipus den begrifflichen Rahmen für die zeitgenössische Schizophrenie des Genusses in der Kontrollgesellschaft des Endes der Geschichte vorgegeben.31 Der Wunsch nach Eigentlichkeit ist in kulturell begrenzten Welten in den Räumen der Intimität ohne sozialisierte unbewusste Artikulation des Anderen nicht möglich. Die Maschinen des Verlangens erfordern das Überwinden jeglicher räumlicher und zeitlicher Grenzen. Die Landschaften sind entterritorialisiert. Der moderne Mensch ist daher ein Nomade in der Herrschaft des Genusses, ein Reisender durch seine sich überschneidenden Landschaften, in denen jedes Objekt des Konsums zum ästhetisierten Wirkungsfeld des narzisstischen Subjekts wird. Unterhaltung ist daher nichts Monströses und der Kultur gegenüber Fremdes. Von den dionysischen Festen in alten Griechenland bis hin zu allen neuzeitlichen Festivals, die dem Einzelnen Genuss, Spiel und Zeitvertreib als Ersatz für das längst verlorene „geistige Glück“ bieten, ersetzen Zeichen imaginärer Realitätskonstruktionen die verschwundenen symbolischen Funktionen der Kultur. Siehe dazu: Žarko Paić, Politik der Identität: Kultur als neue Ideologie, Izdanja Antibarbarus, Zagreb 2005. Gerhard Schulze, Die Sünde: Das schöne Leben und seine Feinde, C. Hanser, München, 2006. Gilles Deleuze / Felix Guattari, L’Anti-Œdipe, Les Éditions de Minuit, Paris, 1972. 102 Der Kult des Neuen wurde nicht von den Massenmedien erfunden. Diese haben lediglich etwas realisiert, was in den vorangegangenen historischen Epochen – und das ist wahrhaft das Wesen der Neuzeit – latent gewesen ist: dass die Leere der menschlichen Existenz in Kontrollgesellschaften durch Geschwindigkeit und Neuheit der Ereignisse aufgefüllt wird. Das Inszenieren von Kultur als Unterhaltung erlebt seinen apokalyptischen Höhepunkt in der Erwartung eines unausweichlichen Unglücks planetarer Ausmaße. Wie bei den Millenaristen, die im Mittelalter das Kommen der Apokalypse erwartet hatten, erschöpft sich auch das Phänomen der Ästhetisierung des Lebens als gesellschaftlichem Ereignis in seinem negativen Projekt: der Erwartung eines „glücklichen Todes“ in den Mühlen eines streng kontrollierten Genusses. Die grenzen des globalen Kapitalismus sind die Grenzen der postmodernen Kultur der Unterhaltung und des Spektakels. Das ist die Metasprache der Medien, der alles, was existiert, als Erlebnisgegenstand für die Reflexion eines anonymen Zuschauers konstruiert, der interaktiv an einer globalen Reality-Show teilnimmt, mit der pervertierten Wahrheit unserer Zeit, es gäbe nichts anderes, außer der Illusion der Realität. Die letzte Szene aus dem Film Der Sinn des Lebens der britischen Komikertruppe Monty Python ist wahrscheinlich die letzte radikale Botschaft eines Mediums ohne Botschaft. Das Paradies ist als erotisches Kabarett inszeniert, in dem das Glück mit dem narzisstisch-voyeuristischen Genuss des Blicks des Anderen und des Blicks zum Anderen gleichgesetzt wird. Es steckt nichts „dahinter“ und nichts „höheres“ darüber. Hölle und Vorhölle aus Dantes Allegorie sind 32 RELA Dossier: @arko Pai} nur geschichtlich gespielte Episoden aus einer Zeit, als die Kunst durch Religion die Welt transzendierte. Das ästhetisierte Leben der globalen Ordnung einer Ökonomie des Verlangens beruht auf anderen Grundlagen. Diese sind brüchig, da die Struktur des globalen Kapitalismus selbst chaotisch ist. Die Dekadenz der Welt, die mit der Erlebnisgesellschaft ihre Tür vor den Möglichkeiten des inneren Zerfalls verschließt, beginnt stets mit der Privatisierung des Genusses im Luxus für die Bedürfnisse der Eigentlichkeit. In Joris-Karl Huysmans Roman Gegen den Strich ist es gerade der Schluss, der eine hyperverbraucherische Zivilisation des Wunsches nach „Glück“ in der Inszenierung der Welt als Spektakel als Einziger radikal zur Strecke bringen kann: die Verallgemeinerung der individuellen Revolte, ein bewusster Entschluss, nicht mehr nach den alten und neuen Regeln zu spielen, ein nihilistischer Akt der Revolte des Selbst gegen die Tyrannei der Kultur in ihrem letzten Wertstadium. Es war die große Galeere Amerikas, die nach Europa verschlagen war. Es war die ungeheure und unerhörte Anmaßung des Geldmenschen und Emporkömmlings, die wie eine gemeine Sonne über die götzendienerische Stadt strahlte, die im Staube vor dem ruchlosen Tabernakel der Bankhäuser zotige Gesänge ausstößt. „Stürze doch zusammen, Gesellschaft! Stirb doch, alte Welt!“ rief der Herzog empört über das gemeine Schauspiel, das er heraufbeschwor; dieser Schrei brach den Alp, der ihn bedrückte. „Ach!“ seufzte er, „und sich sagen zu müssen, dass dies alles kein Traum ist! Dass ich wieder in das schändlich gemeine Gewühl des Jahrhunderts hineingeworfen werde“! 32 TIONS Aber das Jahrhundert dessen, was „gegen den Strich“ geht ist noch nicht beendet, sondern wird vielmehr fortgesetzt. Unter der Herrschaft des Genusses wird der Genuss selbst bis zu jenem Maße demokratisiert, in dem niemand mehr dem Götzendienst des Kults des Neuen und den glänzenden Kulissen des Glücks widerstehen kann. Wenn das Erlebnis zum gesellschaftlichen Phänomen wird, der Imperativ des Genusses und des Glücks aber eine neue Art universellen Verbots, verwirklicht sich die Kultur endlich in der Leere des Lebens als ewigem Frühling ein und desselben Kommunikationsmodells zwischen verschiedenen Welten. Das Problem liegt darin, dass die Gesellschaft des Spektakels in all ihren Versionen der Spiegel des universellen Bildes des globalen Kapitalismus ist, und nicht nur seines Spiegelbilds, in dem sich die Persönlichkeit als jemand anders erkennen lässt – als reicher Mensch, Berühmtheit, Star. Die Herrschaft des Genusses ist eine Kontrollordnung die ihre Untertanen für das Nichtausführen ihrer Befehle durch Bedrückung, Einsamkeit und Verlassenheit bestraft. Die Wahrheit des Narzissmus liegt einzig darin, dass für Leiden wie für Intimität andere benötigt werden. Aber jeder hat selbst zu entscheiden, ob er seine Eigentlichkeit im Namen des Ruhmes und des Erfolgs opfern will. Ob er die Wahrheit durch eine Illusion ersetzen will, nämlich jene der Verehrung auf der inszenierten Bühne einer im Verschwinden begriffenen Welt. Das ist die letzte übriggebliebene Wahl der Freiheit. Aus dem Kroatischen von Boris Perić Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Roman, Litteris, Zagreb, 2005. Aus dem Französischen von Ana Buljan. RELA TIONS 103 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 104 Literarische Produktion RELA TIONS DRAGO ŠTAMBUK wurde am 20. September 1950 in Selca auf der Insel Brač (Kroatien) geboren. Nach dem Abitur in Split studierte er in Zagreb Medizin (Fachgebiete: Gastroenterologie und Hepatologie). Von 1983 bis 1994 lebte und arbeitete er in London, wo er sich mit der Forschung von Lebererkrankungen und experimenteller Therapie von AIDS und der Fürsorge um die Erkrankten befasste. Von 1991 bis 1995 war er Lobbyist der Republik Kroatien in Großbritannien, von 1995 bis 1998 Botschafter Kroatiens in Indien und Sri Lanka, von 1998 bis 2000 Botschafter in Ägypten und der Mehrzahl der arabischen Länder. An der Harvard Universität war er von 2001 bis 2002 tätig. Seit 2005 ist er Botschafter in Japan und Korea. Drago Štambuk veröffentlichte mehr als 20 Gedichtsammlungen und erhielt angesehene Literatur-Preise. Seine Poesie wurde ins Englische, Französische, Spanische und Japanische übersetzt. RELA TIONS 105 Orpheus mit dem Skalpell eines Steinmetzen Vesna Parun S ollte es einmal geschehen, dass dich eine Gedichtsammlung in solchem Maße verzaubert, dass du schließlich ganz in ihrer solar-infernalischen Umlaufbahn gefangen bist, gleichst du einem Fischer, der – mit noch nassen Hosenbeinen vom Einholen der eigenen Netze – von ganzem Herzen dem Fischkutter in seiner Nähe hilft, dessen funkelnden Fang aufs Deck auszuschütten. Als mir im September dieses Jahres Drago Štambuk sein neuestes Buch CROATIAM AETERNAM schenkte, blätterte ich einige Nächte lang darin, durchwanderte es und irrte in ihm umher, begegnete mir wohlbekannten Dämonen des Meeres und der Nacht, der Klippen, Stürme und wütend rauchender Wachskerzen ... Vom Meer umtosten Landzungen und zu ihnen führenden steilen Pfaden, wo dir immer ein nackter Felsbrocken den Weg versperrt, ein Ginsterbusch, der sich hier ein unruhiges Fleckchen zum Blühen aussuchte, ein vorgeschichtliches Meerestürchen, das nirgendwohin führt. Ich vergrub das Buch in den sandigen Teppichen meines Zimmers, auf den Augenblick hoffend, an dem ich es wiederfinden und mit Leichtigkeit öffnen werde, während mir seine bis dahin melancholisch gereifte Perle – sobald ich sie zwischen meinen Fingern reibe – ihr ungewöhnliches Märchen enthüllt. Die Zeit des Rei- fens ist verflossen – genauso wie es mit dem Most, mit den Oliven, dem Honig geschieht – und Štambuks Gedichtband fand sich in diesen Tagen auf geheimnisvolle Weise in meiner Hand. Und wieder war es das gleiche Erlebnis wie beim ersten Mal, nur tönte der Jammerschrei der Abenddämmerung in seinen „schaumgekrönten Wellen“ noch grabesdunkler, sein Split mit dem „gespenstischen ockerfarbenen Hafenamt“ war noch tiefer in die Jahrhunderte versunken, war noch unwirklicher und unbeugsamer. SPALATUM. Jene faszinierende Ansicht der Stadt, in der wir einst jung und voller Schwung, narzisstisch, mit dem Rücken dem finsteren Palast des Diokletian zugekehrt standen, gerät ins Wanken bei des Dichters kaum ausgesprochener Frage: „Und dort vorne, o weh, war das das Meer?“. Jener orpheussche Ruf an ein lieb gewonnenes Trugbild zerriss mir wieder das Herz, denn ich erkannte, was alles in der Magie der Zeit verschwand, während es in der räumlichen Vielschichtigkeit noch andauert und glitzert und uns in seinen Wirbel lockt. Wer jemals durch die sattgrünen Vorhänge des Hafens unter dem Mosor und durch die Fäulnis der aufschäumenden Jugo-Wellen im kleinen Dampfer durch die schroffe Meeresstraße zwischen Šolta und Brač hin und her schwankte – vorbei an der al- tertümlichen Klippeninsel Mrduje – dem wurde das Dasein von dem gleichen scharfen Bewusstseins-Dolch in zwei bittere Wahrheiten geteilt: in alles, was sich hinter uns und alles, was sich vor uns befindet. In dieser unentwirrbaren Zweiheit, dem Hexenspiegel der Bipolarität alles Seienden, besteht die Besonderheit von Štambuks, wie am Rande der Welt hervorgekeimten Buches. Diesen Gedichtband kann man nicht in einem Atemzug lesen, auch nicht im wachen Zustand des rationalen Alltags. Man muss ihn von irgendwoher überfallen, überraschen. Manche sagen, diese Art der Poesie wirke verwirrend. Andere wiederum – sie wäre unverständlich. Manche übergehen sie einfach schweigend. Gerade deshalb reizt es mich, ohne Kritiker sein zu wollen, mich mit dem Phänomen der in das EWIGE KROATIEN verwebten Art des Schreibens öffentlich zu befassen. Worin besteht deren Paradox? Darin, dass sie, obwohl sich im Titel der Name des Staates brüstet, eigentlich ein völlig unpolitisches Lesen verlangt. Im Filigrangewebe ihres Inhalts gibt es keinen Deut Staatsverherrlichung. Die Sammlung konzentriert sich ganz auf ein Meer und eine einzige Insel darin, mit all ihren Toten unter der Erde und ihren Seelen in den steinernen Brunnen, mit den Schritten und Stimmen und Gedan- 106 Literarische Produktion ken, die aus jenem Boden seit Urzeiten hervorquellen und mit mathematischer Genauigkeit den Umriss des Insulaners formen mit seiner charakteristischen Sprache, seiner höchst eigenen Natur, mit nur seinem Karneval und seinem Aschermittwoch, der Verrücktheit seiner Gene und der Einsamkeit seiner Feuerstellen. So wie für Tadijanović sein Rastušje das ganze slawonische Flachland bedeutet, ja das ganze Kroatien, so sind für Štambuk Brač und Selca darauf der Mittelpunkt nicht nur Kroatiens sondern auch das Herz der Welt. Voller geografisch-geschichtlicher Reminiszenzen, abgelöschter Glut, Ausgrabungen, Fossilien und Narben ist dieser Gedichtband ein Geflecht nicht zu enträtselnder Karstflüsse der Zeit – Kaleidoskop und Museum, geschütztes Treibhaus der Worte, Zuchtstätte der Geister unter altertümlicher Draperie der Sterne. Ihre Senkrechte ist nicht das ICH des Autors – die erste Person scheint es nirgendwo zu geben – sondern es ist ein anthropologisch existierendes und aus der Realität der Vielfalt des Lebens herausgepresstes ICHSEIN, das eher Selbstverleugnung als persönliches Bekenntnis ist, eher im Enden ALLER als in der Dauer EINES besteht. Indem er in Štambuks Poesie vergeblich nach dem ICH sucht – ohne welches all unsere und der Welt Poesie tot wäre – kann der Leser dennoch nicht leugnen, dass gerade in dem immer aufmerksameren Suchen es mehr Verlockung und Erregung gibt, als uns die Poesie an sich bieten kann. Die Poesie weckt Emotionen, aber sie bedeutet auch eine Herausforderung für den Verstand. Štambuk zwingt uns jedoch, nur stumme Beobachter wie er selbst zu sein und Ohr und Auge auf die mit Liebe aus schwarzen Truhen sorgfältig gewählten Worte zu richten, bis in ihnen allmählich die Skelette von Dingen und Menschen, Nervenknäuel und Atemströme deutlich sichtbar werden. Štambuk ist so andersartig, dass er vielleicht überhaupt kein Dichter sondern ein Mühlstein ist, der knirschend und tosend gemahlene Ideen, Symbole und Abstraktionen aus sich hinauswirft, und – wie eine Art irrsinnig gewordener Magier – sie gnadenlos zurück in die Materie, in den Schmutz schickt. Er zwang verschimmelte Grundbücher und Karteien, alle zugeschütteten Grundstücke und Grenzsteine auszuspucken, sodass er auf der Jagd nach dem Raubtier Historie zu dessen luziden Höhlen unter den Wurzeln des Johannisbrotbaums und der Pinie, unter dem phosphorigen Schädel des Vorfahren gelangte. Mit dem Meißel behaut er die Vergangenheit wie einen Stein, und den Stein öffnet er mit dem Skalpell wie eine Leiche. Er arbeitet begeistert aber auch verantwortungsvoll, denn das Schicksal des Menschen steht auf dem Spiel: Brač, als kleines Muster dieses Schicksals, weist mit seinem Wechsel von Licht und Dunkel auf Dauer und Vergehen der Heimat hin. Als Gegenantwort auf nationalromantische Mythenverehrung – ist die Heimatliebe in diesem Buch, dem AMEN im Gebetbuch gleich, ein fromm geflüsterter Refrain wie ein Hauch des Eros’ aus dem Jenseits, wodurch der düstere Kontext des Titels gerechtfertigt wird, in dem nicht schwer das Echo des Requiems PAX AETERNA zu erkennen ist. Die Leere. Es erinnert ein wenig an Ovids Klagelied vom Schwarzen Meer: ULTIMA NOX IN ROMA ... Ein Zyniker könnte sagen, der Autor dieses Buches ist ein sehr gewissenhafter Leichenbeschauer, der danach lechzt, zum hundertsten Mal den Leichnam umzudrehen, da er ahnt, was die pragmatischen Totengräber nicht wissen: dass nicht alles den Würmern gehört auf dieser vom Meer mit Salz überschütteten Insel. Das Wort bedeutet diesem „Zauberpriester“ alles; aber seine Geisterbeschwörung reicht bis hinter und un- RELA TIONS ter das Wort, bis zur Schale, aus der es herausgepellt wurde, bis zur uranfänglichen Energie der Bewegung, die die Ganglien des Gehirns, aus denen der Schmerz aufblitzte, schuf. Es scheint, als schriebe er kein Gedicht, sondern teile sich auf in brennende Sprachfasern, in den Blutkreislauf eines Baumstamms, in eine Orgel, um die herum Ziegen der Insel Brač knabbern, und die Esel – ihre Hufe an Dornen schärfend – eine Verschwörung aushecken. Was ist eine Insel anderes als eine wilde Verschwörung des Meeres gegen die Selbstgefälligkeit des Festlands, gegen dessen ewig gegenwärtige tektonische Möglichkeiten eines Verrats. Die Schläge des eigenen Pulses bedeuten für Štambuk Geräusch einer geheimen Uhr, vermischt mit Glockengeläut und dem Klingen der Hämmer aus den mehlweißen Steinbrüchen. Aus dem Kranz der untergegangenen dalmatinischen Bergmassive, von denen es bis zum Big Ben nur eine Spanne Zivilisations-Urwald ist, den wir verspätet Europa nennen. CROATIA: eine prächtige Galeere aus dem Osten, ein Antiquitätenladen aus den Gettos des Westens, das kajkawische Čakovec im Norden und das Vakuum des tschakawischen Bračs im Süden. Štambuk hat die Heimat in ein Messbuch verwandelt, illuminierte es lebendig, hauchte ihm das Alter Gottes ein. Kirchliche mittelalterliche Mysterienspiele, Glut und Pech der Scheiterhaufen, Humanisten und Latinisten, Judita und Fischfang und Plaudereien der Fischer („Ribanje i ribarsko prigovaranje“) und weiter noch bis zum Heidnischen, bis zum Irrationalen – all das erahnt man auf dem tiefsten Grund dieser Gedichtsammlung. Blicken wir hier nicht durch den Spalt eines angelehnten Fensterchens in eine antropologisch exaktere Ästhetik, durch Verwandlung einer politischen Tatsache in einen Traum der Seele, einen Schrei des Meeres und der Insel, eine Träne? RELA TIONS In diesen mit Düften und Farben des Meeres gesättigten Buchseiten blendet dich manchmal die Glut sonnenbestrahlter Dächer des Malers Ignjat Job, dann wird das Licht verhaltener, erlischt allmählich, und alles wird dunkel. Ja, da irrt mit der schwermütigen Laterne unterhalb des Marjan-Hügels Emanuel Vidović, uralt, umher, das WINTERLICHE DALMATIEN suchend. Und darin den frierenden Winzer, T. P. Marović, den Dichter jenseits des finsteren Palastes, einen aus der Reihe der Schatten im marmornen Säulengang der Heimat Štambuks. Du findest auch den achtsilbigen Rhythmus Garcia Lorcas in jenem sprudelnden mediterranen Kesselchen – ohne sinnliches Glitzern, ohne Kolorit, voller asketischer Insel-Leidenschaft: In meinen Armen hielt ich dich, wir waren tot seit eh und je, Tränen habe ich vergossen, benetzten kalt sie deine Stirn. Das ist die PIETA. Brač, immer noch ein wenig matriarchal, flüstert dem Dichter hier und da die Gestalt der Mutter als Vorbild ein, die Gestalt der Großmutter Jerolima, der Muttergottes der sieben Schmerzen, mit der er sich, dem geliebten Freund nachtrauernd, identifiziert. Bei Ujević finden wir als einzige Frauengestalt die Madonna, bei Štambuk CROATIA, Frau und Geliebte, Ideal und Sehnsucht. Allerdings, da ist auch das Meer – aber es ist nur bei den Galliern weiblichen Geschlechts. Dieser Dichter gleicht einer jungen Nonne: er besingt nicht die Heimat, sondern schmückt ihre Altäre. In seinem früheren Leben war er gewiss ein Seefahrer – Marco Polo vielleicht; denn in dem Gedicht DAS VERBRENNEN DER ERINNERUNGEN ruft er in Panik geraten aus: Ich decke mich mit der Welt zu, mit der Landkarte der Welt. Im EXODUS, geschrieben einige Jahre vor dem wirklichen kroatischen Exo- Drago [tambuk dus, fährt das Volk übers Meer „wie das Volk des Weißen Sonntags“. Hier hören wir auch von den alten und neuen Argonauten. Die Adria gleicht dem Marathon ... „Und die kroatische Seele hisst die Segel ...“. LUX AETERNA. „Der kroatische lichte Tod“. Das letzte Gedicht, geschrieben 1987 in London, ist der Muttergottes und Kroatien gewidmet und enthält – in Form einer Weissagung – auch die Botschaft der ganzen Gedichtsammlung: Auserwählt am Zeitenende, wenn Völker und Sterne erlöschen, die Gnade ist größer als erstgeboren zu sein. Völker und Sterne erlöschen, der Planet Erde stirbt langsam – sagen die Wissenschaftler. Der Dichter jedoch, bebend vor Glück, hält hier sein Kroatien fest in den Armen und überlässt sich dem Rausch der Liebe, und die Muttergottes – STELLA MARIS – ist nur anwesend, um mit milchigen Mandelblüten seine Fantasie zu entzünden. Das ist die Katharsis dieses Sammelbandes, der Höhepunkt der Ergriffenheit, ein geistiger Orgasmus. Poesie und Medizin – wie passt das zusammen? Ich kenne einen Meister, der genauso virtuos ein Gedicht über die Operation einer Luftröhre schrieb, wie auch das berühmte Poem über den Herbst: das ist der zeitgenössische bulgarische Dichter Valerij Petrov. Was die Patienten betrifft, als einen solchen bezeichnete sich im Jahre 1938 in der Weihnachtsausgabe der Zagreber Zeitung NOVOSTI Tin Ujević mit einer längeren chaotisch komponierten Romanze Die Neurastheniker betrachten das Meer. So manche Stelle aus Štambuks Kroatien erinnert mich daran. Einsamkeit und Illusion, Hoffnungslosigkeit. Der Schrei der Seele, die frenetisch einen Ausgang aus sich selbst sucht. Dieser Sammelband ist ein Mosaik, einige der Gedichte sind nur 107 Bruchstücke, rätselhafte Andeutungen, Chiffren, einem ärztlichen Rezept ähnelnd, unleserlich und schwer verständlich. Moderne Forscher der menschlichen Hand und ihrer Finger behaupten, dass allzu glatte, abgerundete und am Ende schmaler werdende Finger nicht fähig sind, das Durchfließen der kosmischen Strahlen aufzuhalten – des Pranas auf dem Weg zum Gehirn und zurück – damit das logische Denken Raum für sich gewinnt. Solche Finger sind charakteristisch für spontane Schöpfer, Künstler und Träumer, während der analytische Verstand wenigstens ein knotiges Gelenk an jedem Finger braucht. Ich weiß nicht, ob unser Autor in solche Hypothesen eingeweiht ist, aber als ich ihn im Spaß frage, ob er absichtlich hin und wieder unverständliche Verse schreibt, ähnelt seine Antwort sehr dem erwähnten Axiom der Chiromantie. Es wäre zu einfach – so etwa drückt er sich aus – wenn die Verse allzu glatt und schnell aus der Feder flössen. Um tiefer einzudringen, ist hier und da ein Hindernis, eine Unebenheit, eine Unterweisung nötig. Es handelt sich hier um eine der seltenen Gedichtsammlungen, in der sich nicht der Schicksalspendel des Autors offenbart. Das Individuelle ist auf besondere Weise – und dabei seine ganze Freiheit auslebend – im Voraus versiegelt und von dem Kollektiven, beziehungsweise Nationalen verletzt worden. Vielleicht ist das ein Zeichen für die kommende Zeit, in der der Einzelne immer unwichtiger wird für Gott, der sich – wie am Weltenanfang – von neuem um die Völker im Exil kümmern muss, um die neuen Nomaden und umherirrenden Herden ohne Hirten. Bei Štambuk quillt Kroatien von überall her, aus Vertiefungen im Meer, aus Ameisenhaufen und Bienenkörben, aus dem Geblöke der Schafe auf dem Vidovica-Berg und aus dem Todesröcheln derer, deren Mütter sich 108 Literarische Produktion morgen für immer in Schwarz kleiden werden. [...] Štambuks Poesie scheint auf einer festen Verbindung zwischen Realität und Illusion aufgebaut zu sein, mit einem anderen lexikalischen und gedanklichen Potenzial als dem herkömmlichen. Ohne l’art pour l’art ist sie eine spezifische Windrose, eine Wegkreuzung. Unser Insel-„Brevier“, stolze Schatzkammer der Kreuze. Falls je ein Gedichtband Neugier weckte auf den nächsten, dann kann man das von diesem sagen. Wie soll man weiter dichten? Wie kann man aus dem EWIGEN zurück ins VERNÜNFTIGE? Dieser verlorene Sohn wird gewiss auch dafür eine Lösung finden. Ihn Orpheus zu nennen, obwohl es banal ist, dient zu einer passenden Allegorie. Der mythische Sänger Orpheus stieg, wie wir wissen, mit seinem Musikinstrument in die Unterwelt, seine Liebste zu holen. Auch der Dichter, von dem wir sprechen, steigt in die Unterwelt wegen seiner einzigen Liebe, um sie – dem Willen Gottes entsprechend – aus dem Hades zu führen. Orpheus machte einen Fehler, und sein Unterfangen trug keine Früchte. Er kehrte allein und trostlos zurück in die obere Welt. Der heutige jedoch, unser Dichter, hat mehr Glück: seine Eurydike, KROATIEN, schreckte auf und schritt ans Licht. Die historisch ins Leben zurückgerufene Eurydike wird von ihrem kroatischen Orpheus mit weit aufgerissenen Augen angeblickt. Das Musikinstrument fällt ihm aus den Händen, und in Trance folgt er ihr. Aber der uralte Mythos verwirrt ihn, und er steigt noch tiefer hinab in den Hades. Sie schreitet historisch voran, seine Beine werden zu Stein. Wurde des Orpheus’ Gesang zu teuer im Er- wachen der jungen Marktwirtschaft? Die platonische Liebe in jenem Augenblick, als der Gewehrlauf umarmt wird und vergewaltigte Frauenschenkel nach Rache schreien? INSULARITÄT. O, ja. Ist nicht auch die Poesie nur ein Inselchen, einsam und verlassen, inmitten der Wellen? PALAZZO STAMBUCCO. Fledermäuse. Das Gedicht DER TEUFEL enthält als einziges ein moralisches SchuldDilemma: Alles teilen wir mit allen, auch dann, wenn die Wahl eindeutig zu sein scheint. Hier finden wir keine Spur von Hedonismus, von Rubens’ rundlichen Knien und Gesäßen. Fra Angelico, der heilige Alojzije, das Brač des Eselsgeschreis und der wilden Erdbeerbäume. Nein, das ist nicht Granada mit seinen Arabesken, der rote Umhang der Toreadoren und die pechschwarze Stierhaut, ausgebreitet bei Volksfeiertagen. Hier herrschen Verschämtheit, Selbstkontrolle, Ordnung. Dort bringt die Heimat ihren Dichter um, der nicht weniger in sie verliebt ist – in ihren ewigen Himmel, in ihr VERDE. Štambuks Werkstatt ist ein Fegefeuer für verirrte Kinder der irdischen Liebe. Ein Labyrinth, in dem Schlangen und Spinnen des wollüstigen Puritanismus’ ausgebrütet werden. Die Anatomie einer Landschaft, Meeresbuchten, ein gespaltener Glockenturm, das erste kindliche Erlebnis des Überragens der Insel. Verse wie eine bizarre Aufstellung realistischer Bilder. Lyrischer Naturalismus – könnte man sagen – hier und da nahe an einer kulturgeschichtlichen Notiz. Derjenige, der durch die Gänge menschlicher Organe spazierte, erlebt den Flug eines Flugzeugs und die Fahrt durch RELA TIONS einen dunklen Tunnel anders als die übrige Menschheit. Er umgibt die Realität mit einer Aureole des Mystischen und verwandelt danach das Mystische in Historisches. Die Historie berührt daraufhin einen Stein, eine Welle, einen Feigenbaum, einen trockenen Baumstumpf. So wird der Dichter zum Philosophen, zu einem Teilchen der verwandelnden Energie des Seins. Štambuk ist ein Kosmopolit von Brač. Jene Insel siedelte schon seit langem glücklich nach Chile über; Chile ist also die Heimat Bračs, genauso viel wie Kroatien. Wegen ihrer geteilten Liebe ist deshalb für Brač ein solcher Dichter als Verbindungsglied unentbehrlich. Damit er einen Balg zusammennäht, Öl aus dem steinernen Gefäß in die Lampe der Urgroßmutter gießt. Und so wie Brač eigenständig und anders als alle anderen Inseln ist, so ist auch dieser Dichter einsam wie ein Musiker, der auf einer ganz anderen Tonleiter komponiert, und es wäre vergeblich, ihn in irgendeine verwandtschaftlich-astrale Dichtergemeinschaft einzuordnen. Keineswegs aggressiv sondern philanthropisch, ganz durchdrungen von der positiven Energie seiner Heimat, wird er ewig tödlich in sie verliebt sein, wird er sich – ich ahne es – in einen sich in den Wellen ausweinenden Fels verwandeln, an dem König Tomislavs Seeleute einmal in ferner Zukunft ihr Weltraumschiff vertäuen. Zagreb, Dezember 1992 [veröffentlicht in „Večernji list“ vom 3. 1. 1993] Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Vidulić RELA TIONS 109 Ein Dichter des Metaphysischen Sead Begović D er Titel eines der Gedichte Štambuks im Buch „Staklena šuma“ („Der gläserne Wald“) lautet „Struja morska“ („Meeresströmung“), in dem uns der Dichter mit allen Sinnen das Rauschen der Wellen spüren lässt und uns damit an das Uranfängliche, das Menschliche erinnert. Aber in einer Zeit, in der wir über das Ende der Historie sprechen, über ein egoistisches Gen, über Unmenschlichkeit, über Politik als Berufung, über das Leugnen des Holocaust, über Virtualität und Queer-Theorie, über Postfeminismus, über den Krieg und seine Transformation, über Fundamentalismus und Postmoderne, über den Verstand Gottes – gibt es noch so manchen Zweifler, der diese Dichtkunst, die sich für die alte natürliche Welt liberaler Demokratie und des Humanismus einsetzt, mit „unverständlich ausgedrückte Engelsphären“, bezeichnet, und den Dichter selbst einen altmodischen lyrischen Protagonisten nennt. Mit solchen Schlüssen sind wir, die wir begeisterte Leser der Poesie sind, keineswegs einverstanden. Denn Štambuk, Facharzt und kroatischer Dip- lomat, betont in jedem seiner gelungenen Gedichte, die sich immer mehr ausbreitende Unmenschlichkeit, die sich auch in unseren Alltag eingeschlichen hat. Seine Gedichte bedeuten Befreiung von ideologischer Sklaverei, nicht aber „unverständlich und polemisch ausgedrückten Patriotismus“. Štambuk ist nie theatralisch, seine Fantasie ist Stimulator des Herzens, und sie sagt ihm, wie es einer Mutter ähneln würde, dass es unmöglich ist, nur mit der Unmenschlichkeit zu leben. Mit seinem originellen und immer interessanten Stil überzeugt er uns ständig von der Macht malerischen Ausdrucks und der Harmonie dichterischer Schönheit. Seine figurative Ausdrucksweise enthält immer Tragik, Liebe und Schönheit des Lebens: Meine Augen sind die letzten, die dich vor dem Tode sahen. Du gingst in die Nacht, wo es keine Augen gibt und keinen Weg, geliebtes Wesen. Ich sehe das Sprudeln der Quelle deiner Liebe, du unermüdlicher Wanderer. Drago Štambuk ist ein Dichter des Metaphysischen, das die persönliche Illusion des Alltags leugnet, weshalb er manchmal ein aus der Mode gekommener Dichter zu sein scheint, aber der Wert und das unantastbare Mysterium der ontischen Wirklichkeit des Lebens (hier und da auch mit religiösen Andeutungen), macht diesen Dichter zum größten Fürsprecher des schwachen Wesens Mensch in der kroatischen Literatur. Štambuk bleibt seiner Freundin, der Poesie, treu, und mit ihren nachdrücklichen innerlichen Botschaften erinnert er uns an die ethischen und humanistischen Inspirationen, die wir leider verloren haben. Und was wichtig zu erwähnen ist: Štambuk bekräftigt das mit seinem eigenen Opfer. Nach all dem hier Gesagten ist es nicht verwunderlich, dass Drago Štambuk der diesjährige erste Preisträger des Literaturpreises „Dragutin Tadijanović“ ist. [„Vjesnik“ , 2. 9. 2008] Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Vidulić 110 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA TIONS RELA TIONS Poesie Drago Štambuk Dalmatien, lichtes Dalmatien Wer kennt besser als wir, aufgewachsen in deinem Park, entsprungen kühler Karstquelle, als wir, deren Füße und Flügel auf felsigen Ziegenpfaden und im Inselinneren umherschwirrten – Wesen und Bedeutung der Nacht, das betäubende Strudeln des Meeres, den Duftrausch trockener Pflanzen? Wer weiß besser als wir, die wir vergebliche Netze auswarfen, Fischleiber schuppten und den Ziegen an den Haaren zupften, den Eicheln die Käppchen abzogen, Ginsterblüten ausrupften – was es bedeutet, besorgt zu sein und sich um das Erbe zu kümmern? Wer ist empfindsamer dem Schmerz des Steinbruchs und der Wehmut der Kalkgrube gegenüber als wir, in namenlose Bereiche uns erhebend, niederlegten in der Kalksteinhütte mit zerbrochenen Fenstern und wärmenden Worten? Wer weiß besser Bescheid über Feuer und Brände als wir, die wir zur Zeit der Seuche Nester der Seidenraupe anzündeten und am Heiligen Abend Steineichenklötze und Brombeergestrüpp im Winter? Wer empfindet die Kälte stärker als wir Frierlinge, bei Bora – inmitten blank gefegter Plätze? Wer kennt besser als die Sammler von Fenchel und Kapern, von Bärenklau und den Früchten des Erdbeerbaums, von wildem Spargel und Johannisbrot, wer kennt genauer als der Schöpfer des Brombeerrosenkranzes – mit trockener hilfreicher Träne der Muttergottes an der Spitze der abgeklaubten Rispe – Rosen und Engel, Kräuter ewigen Geschmacks und der Anwesenheit Gottes voll? Wer die Schönheit stärker wahrnimmt als die Menschen unserer Herkunft, der steinige Radonja und Juraj, deren auch kleinste Werke Kathedralen gleichen. Er werfe alle unsere namenlosen Vorfahren in den Abgrund, wenn er sich mehr plagte als unsere Väter, die die Erde wie Schmuckkästchen bestellten. Und aus dem mageren Boden Steine klaubend spärliche Felder anlegten und mit steinernen Anhäufungen auch die Ränder ebenso eifrig befestigten. 112 RELA Literarische Produktion TIONS Wer weiß mehr vom Leben als wir, die wir die Linie und die Sprache des Meeres tagtäglich wie ein Messer in unseren bläulichen Herzmuskel stießen – über dem, wie die Flügel eines kleinen Falken, zwei im Gebet zu Stein erstarrte Hände wachen? Wer nicht mit Pinien- und Kiefernzapfen Seeschlachten führte, wer keine flachen Kiesel flitschen ließ und ihre Sprünge auf der ruhigen Oberfläche unserer kindlichen Seelen zählte und nach dem Meerohr tauchte, ach, der hat kein Gespür für Unterseehöhlen, in denen Feen und Ungeheuer ihren Wohnsitz haben, vielarmige Tintenfische und bewachsene Krebse. Wer nicht zurück und im Kreis ruderte und sein gebrochenes Herz auf flacher Hand in die Bucht erster Verliebtheit und unerklärlicher Schiffbrüche trug, zitternd auf Charons Kahn, der weiß nicht genug über das Meer und das Sterben, über den Tod in den Tiefen und den sich kräuselnden kreisförmigen Umhang des Neptun-Sohnes. Wer nie in Öl gereiften Käse, hart wie Marmor und durstig wie heißeste Sommerglut aß, der kennt nicht der Sonne Sehnsucht, nicht das silbrige Rauschen des Olivenhains. Der Drache des Vidovica-Berges ist Hüter der von Jahrhunderten schweren, von Wind und Wellen gepeitschten Bundeslade, in der es funkelt und niederdrückt: das Zeichen des Königreichs: die kroatische Smaragdkrone mit ins Oval eingravierten geheimen Worten göttlichen Trostes. Und einem Holzsplitter vom Kreuz in ihrem Stirnauge. Des Christus treueste Krone, in der Flügel des Raumes rauschen und Jahrhunderte versinken. Hier bewegt sich der kosmische Wille der Heimat, hier wird die Achse des Ursprungs und der Qualen angehalten, wird der Leib zum Astralen geformt – das Tosen von Äonen und der Gesang der Wellen. O, Dalmatien, Flugdatenschreiben unseres Schicksals. Mit deinem sanften Licht forme uns Bett und Grab, an des Sternen-Meeres Ufer lege die müden Delphinkadaver und übergib sie dem ewigen Frieden. In die Furchen der Handfläche Gottes sende Samen des heimatlichen Meeres und der Berge, auf dass der Schmerz der Ruderer gestillt werde und das gebrochene Herz sich ergebe. London, Lenz 1994 Nacht-Stein Wie ein Felsen unbeweglich – in Sturm und Hagel, unter Schneedecke und Regengüssen. In sich versunken. Von der Sonne durchglüht, und vom Eis erstarrt. Ein hinabgestürzter Stein in einem Berg von Laub. Wie dieser Stein. Genau wie er, von seinem Schicksal gezeichnet, losgelöst und unansehnlich, schwer, teuflisch schwer, grau zerkratzt meines Lebens Stein. In ihm bebt, in seinen Adern fließt und in seinem Mark pulsiert – mein Atem. Kompakt, jedoch aufrecht. RELA TIONS Drago [tambuk Seiden und doch fest. Seine Zier: Flechte und Moos; Brombeere und Wegerich seine Wegzehrung, Eidechsen und Asseln, Tausendfüßler und Würmer seine Nachbarn und Gäste. Unter ihm ein Knäuel Dunkelheit, blasse Geschöpfe, Käfer und Keime, Halme und nicht zu unterscheidendes Wurzelwerk. Immer die gleiche, jedoch sich ändernde Szene, ein Wirrwarr im Schatten. Eine Familie und ein Gedanke von der Erde Schwere und der Leichtigkeit des Alls. Die Nacht ist da um der Glühwürmchen willen. Auftrieb Was hält den Schoner auf dem Wasser, den Adler in der Luft, lehrt die Rose das Wachsen? Meinen zerbrechlichen Arm, derweil zu Dir er eilt, was hält ihn? Macchia auf Brač Wie niedrig’ Strauchwerk brenne ich, die Asche wärmet mir das Herz, schwache Arme, eis’ge Knochen. Fliege, leichter Vogel, fliege, kleines Meerohr lasse schweben auf des Mondscheins leisen Schwingen. Meerohr wird lieb’ Schwester finden in des Marmorhofes Mitte, weiß, dass immer ich sie liebe. Öffne weit die Fensterläden, Neva, wie vor langen Zeiten; lass herein den wirren Seewind aus Otrantos blauen Träumen, soll die Blumenkrone wiegen zarter Arm des Mondenscheines. London, 13. Februar 1988 113 114 RELA Literarische Produktion TIONS Greeneyes Du stellst dir die Wellen der Nordsee vor, die dich ins Land des Vergessens tragen, unsichtbare Arme kreuzt du auf der Brust, einen Eiswürfel schiebst du im Mund hin und her. Du hütest dich vor Zärtlichkeit am Ufer mit glitzerndem Sand und Büscheln weißen Strandhafers. Welchem nordischen Gott gelobst du dein angeschwärztes Herz, während die schmutzige Stadt dich mit Staub bedeckt? Versuche nicht, hoffe nicht, in ihr Spuren deiner Städte zu finden. Vergiss das Meer, den Ginster und den Friedhof auf Okladine. Newcastle upon Tyne, 30. August 1984 Skarabäus Wenn die Anzahl deiner Jahre die Größe deiner Sandalen überschreitet – steht das Alter vor der Tür. Honigfarbener Schnee fällt auf Kairo – und wer anklopft, dem wird aufgetan, und wer nicht öffnet, dem wird er die Tür zuschütten, alle Öffnungen verstopfen – der süße Honig aus den Schluchten des Sinai und den Bienenstöcken der Eremiten. Wespen reißen, wie die mageren Jahre, Stückchen vom Hammelfleisch und drängeln sich mit den Fliegen, während die Bienen Gottes den Samenstaub von Taten und von der Liebe austragen. O Mensch, halte an vor der Sphinx und beantworte demütig die Frage nach dem Ziel. Von den Bienenbeinchen handelt die Antwort, nicht von den Kiefern der Wespen, auch nicht von den Rüsseln kleiner Fliegen. Gott hat uns alle erschaffen, aber nur wenige machte er sehend und bestimmte ihren Weg. O Mensch, halte nicht an vor der Sphinx, zum sternenbesäten Himmel über der Wüste blicke auf und überlasse dich dem himmlischen Schwarm, taumle, fliege, vereine dich ganz mit den Sternen. Giseh, 2. September 2000 RELA TIONS Drago [tambuk Der baufällige Palast Du ruhst in meinem Herzen, darin, Vater, ist dein Grab gefügt. Jetzt, da du nicht mehr bist, was soll ich tun mit deinem Hammer, der Wasserwaage, der Kreissäge, der hellen? Wie sollen wir ohne deine goldenen Hände unser baufälliges Heim erneuern? Im düsteren Raum, ohne deiner Schritte Echo und dem Licht deiner Worte, das Vaterunser sprechen ohne an dich zu denken und ohne zu sehen, wie der Mandelbaum wächst, unter dem du einst saßest – wie ein König der Inseln, wie ein Weiser, gekommen aus des Meeres Wald, wie jemand, der die Schlüssel aller Welten kennt und die dunklen Geheimnisse der Ruderschläge von Charons Kahn. Mein Herz ist dein ewiges Heim, und die Zypressen, die dort wachsen, preisen dich auch dann, wenn ich dich vergesse. Während die Sonne, dein goldenes Sägeblatt, jeden Morgen aus meinem marmornen Herzen aufgeht und bis zum Gebirge steigt, danach hinabtaucht ins Meer, deiner letzten Wohnstätte, leuchtend im Glanz ewigen Gedenkens, und das Gold der Liebe verstreuend – regnet deine Güte auf die trockene Vegetation der Insel, kräftigt das Laub des Olivenbaums, sättigt sein Grün. Der Kranz, den dein Schüler dem Sieger in Selca flocht, nahm dieses Jahr Farbe und Gestalt deiner Liebe an, den Tau deiner Fürsorglichkeit. Ihn auf den Kopf der auserwählten Dichterin setzend, dachte ich an dich und deine Großmut, an alles, was dieser kleine geliebte Ort auf deine Weise feiert. König der Inseln, Feigenbaum, gesprossen aus dem Mauerwerk des niedergebrannten Palastes; Friedensstifter, Segnender. 115 116 RELA Literarische Produktion TIONS Auf der Brandstätte errichtest du neue Mauern aus weißem Stein und baust ein ewiges Haus des Gebens. Ein Haus, das über dich hinauswächst, von der Nacht dich trennt, vom Tag und seinem ewigen Feuer erlöst. Mein Körper ist dein Sarkophag. Rette ich dich nun vor dem Rost der Zeit oder vor dir selbst? Gnade Es ist an der Zeit, den Anker zu lichten aus blauen Tiefen, die Barke zur letzten Reise zu lenken ins Blau des Himmels, Gott zu suchen, Sohn und Vater, dem ewigen Ruf zu folgen. Es ist an der Zeit, wie sehr ich dich liebe zu sagen, mehr als das Meer sich in Räume der Angst zurückziehen könnte, wenn der glückliche Westwind mit Fingern in den Haaren dir scherzhaft zaust. Es ist an der Zeit, den Anker zu lichten, das Seil zu lösen und die Liebe mit himmlischen Glocken zu rüsten. Zum weißen Heimatwinter zu reisen, das Ohr im Auge, das Auge im Traum. Und wenn schnell wie ein Rappe der Sommer kommt, mit Zweigen dich süß umhalset, wird Gottes Liebe den Schnee verwehen und lauer Regen Geschenk deines Himmels dir senden. Selca auf Brač, 16. Juli 1994 RELA TIONS Drago [tambuk Meine Radogna-Bucht Du küssest mich, bringst heimlich mich zu Bett, zurück in meine Kindertage, raunst mir ins Ohr von goldnen Gipfeln, von silbern klingendem Wehlaut leidender Inseln. Amors Pfeile beschwörend, verwandelst du in eines Drachen Maul die Grotte. Gezacktes Riff, Vaterunser im Rosenkranz, die Trauer kroatischen Omens. Auf lodern die Flammen in den Böen des Jugo, der die Zypressen sich neigen lässt. Immer näher das Heim, und wie soll man mit dem Atem des Meeres klagen: Nie werden wir vergessen dich. Mein kauernd Herz an deinem Grab blickt durch geheime Fuge in der Toten gleißende Welt. Sollen die Lebenden die Lebendigen begraben. Schweigsam, in blaues Licht gehüllt, schwebst Vater du über den weißen Klippeninseln. In knarrendem Boot, mitten auf hoher, mit Wellen besäter, von Inseln umrahmter See, bist du der Kapitän, der sicher weiß, wo seine Heimat sich befindet. Wie könnte ich vergessen dich, geliebter Vater, da ohne Unterlass ich an der Schwester Brust dich wiege. Nives und ich, wir halten an den Händen uns, als ständen wir vor einem Heiligtum, die Lippen bewegend, prägen deinen Namen wir ein in diese laue Luft des frühen Sommerabends. Wir möchten deine Seele streicheln und lösen uns von starrer Mole. Wir werden tanzen dann zu dritt, geschmeidig wie Delfine über Wellenkämmen. Osiris Die Bienen aus dem Leib der Pyramiden schwärmen des Nachts und nisten im Sonnenschiff – neben dem Steuer, auf dem Bug und bei den Dollen. Die Schatten der Ruderer und der goldene Pharao in der Mitte begleiten mit synchronen Seufzern die Ruderschläge und fahren über den himmlischen Nil dem Orion entgegen, dem Orion entgegen. Der Sand hat sich in Gold verwandelt, das Wasser in Blut und der Honig aus den Waben der Pyramidenspitze – worin hat er sich verwandelt? In Nahrung für unsere Seelen, unsere seufzenden, stillen Seelen; worin hat sich der Honig verwandelt, den wir mit kleinen Löffeln essen? Worin hat er sich verwandelt, worin? 117 118 RELA Literarische Produktion Dem Sohn Gottes Ich gebe Dir Netz und Welle, Dir, den ich liebe. Mein Kuss, flüchtiger als Luft, leichter als Licht. Du wirst mich fragen: War da überhaupt ein Kuss? Meine Antwort, müde vom Anbruch des Tages, wird sein: TIONS ohne einen einzigen Menschen an Deck. Im Gedächtnis haftet der Duft von Eis und Meer, der Glanz eines gefrorenen Delphins im Unterdeck. New Delhi, 18. Juni 1998 Heute Morgen kam ein mit Schnee überladenes Schiff *** Die Menschen fürchten sich vor Dornen, mich aber verletzten Blüten. Ivan, der im Sommer Geborene „das kriegen wir schon hin“ pflegte der Vater zu sagen dann aber prasselte wie zum Trotz ein bitterer Regen auf sein graues Haupt und sein Mund wurde bitter der Bart härter grau sein Gesicht, wie die Worte eines verletzten Vogels und es war nicht leicht weder für die Mutter noch für mich noch für die Schwester auch nicht für die mit einem Regenbogen am Blitzableiter befestigten Wolken der Vater überspielte den Gram der an ihm nagte wir verstummten, spürten die Glut der heißen Kalkgrube und winselnd wehrten wir uns ich und die Schwester wie zwei Hündchen wenn er uns auf dem Schoße hielt und seinen scharfen Bart an unseren blassen Gesichtchen rieb bis das Blut seines Blutes zu prickeln begann RELA TIONS Drago [tambuk Der Thron Dem Geborenen vor der Ewigkeit Sicherheit des Herzens, Großzügigkeit des Geistes. Sein Gewand ein sanfter Zephir, Aus seinen Händen trinkt der Fremde Wasser. Wärme der Liebkosung. Nichts besitzt ihn. Mit den Fingern kämmt er das Haar. Unermüdlicher Kläger, sanfter Bettler, Nicht nötig hat er Glas und Kamm. Gott schuf ihn mit seinen Händen. Nichts hat er nötig für diese Welt. Harvard, 1. September 2001 Gewicht Ein Esel. Übergewicht des Tragsattels auf einer Seite. Soll man das Gleichgewicht wiederherstellen, indem man von der sich neigenden Seite etwas fortnimmt oder zu der Last auf der anderen Seite etwas hinzufügt? Gleichgewicht, Schwere der Wahl. Verteilung des Gewichts und Schwere der Entscheidung. Ein Tier, das sich eine Last aufbürdet und Steine der Illusion trägt und zum Umfallen müde ist, sinkt von einer auf die andere Seite und kann sich nicht entschließen zu brüllen: Hier bin ich, meiner Last entledigt und frei wie ein irdisches Geschöpf aus dem bitteren Paradies der Küste. Lastesel, Traurigkeit des unbeständigen Gleichgewichts. Geweiht und geliebt sind diejenigen, denen Gott – einen Gewichtsstein hinzufügend – zum Gleichgewicht verhilft. Das Kreuz, Gewichtsstein des Schicksals. Gewicht der Zeit. Zagreb, 10. Juni 2004 119 120 RELA Literarische Produktion TIONS Hand der Freude Du gabst mir alles, was ich brauchte. Wärme, Sicherheit, Kraft und Liebe. Ich gab dir alles, was du brauchtest, du Hand der Freude. Meine Schwäche, Unsicherheit, Eis und Kälte. Meine beiden traurigen Hände. Kalki Als das grüne Delta des Nils ich im Schnellzug durchquerte, erblickte ich einen Bauern auf weißem Esel, der über Reisfelder stapfte. Der Mann in langem weißen Gewand, Verkünder einstiger oder zukünftiger Verkörperungen auf der Erde. Es hätte Joseph sein können oder sein erwachsener Pflegesohn, vielleicht aber auch Kalki, die letzte Inkarnation des indischen Gottes aus dem dreieinigen Bild. Was bedeutet mir der Ägypter in weißer Galabiya, auf weißem Eselchen, seitlich aufsitzend? All das, was ich sagte vom Advent, zwischen vorher und nachher, hauptsächlich jedoch das, was es ist: ein Bauer auf einem Eselchen, viel Weiß auf Grün. Ein weißer Fleck auf Grün. Alexandria-Kairo, 20. November 1999 Lapis So wie an der Nordseite der Felsschlucht Moos wächst, blühen an den südlichen Hängen Asphodille, recken Schlingpflanzen sich empor. Der übers Meer kommende salzige Wind bringt Samen von Pinien und Kiefern mit sich, das Blau der Gräber und ein Lied der Matrosen. Majoran, dich will ich pflücken, sollst meiner Liebsten Busen schmücken. RELA TIONS Drago [tambuk Der Ackersmann Pflug Gottes, der du die karge Erde der Seele lockerst Lasse die Früchte klein und schrumplig sein, bittersüßen Geschmacks. und Steinbrocken ausklaubst mit scharfer Pflugschar, Die Geister des Tisches und der Berge sollen ungesäuertes Brot auf den Lichtungen brechen. hauche ein den steinernen Anhäufungen und den Feldern Bračs das Salz der Fortdauer. Säe Drachensamen, pflanze kleine Engelsflügel. Was sprießt, soll langsam heranwachsen ins durstige Auge der Träume, in den Kristall des Schnees. Wie vom Ölbaum umarmter Gneis – ein Kuss zwischen zwei Mündern. So wie das Meer die Insel küsst, allmählich, beständig, so werden auch wir, Kinder der Vorsehung Gottes, uns von neuem lieb gewinnen. Spalatum Ein gebrochener Lichtstrahl versinkt im Grün, und jene Stadt, die am fernen Ufer verharrt, unbeugsam und unwirklich, lässt die Erinnerung schmelzen und sinkt immer tiefer in finstere Keller. Ausgewischt sind die Zahlen glücklicher Jahre, derweil Schmerz und Zärtlichkeit – in einer einzigen Hand Platz finden, mit einigen Namen, dem einen oder anderen Platz und dem Gestank des Hafens. Das gespenstische ockerfarbene Hafenamt schwebt müde in den Raum der Jahrhunderte. Als wäre ich nie dort gewesen, winzig, verloren unter alten Palmen, alle möglichen Katastrophen und heiklen Tode ahnend, mit dem Rücken dem dunklen Palast zugewandt. Und dort vorne, o weh, war das das Meer? Hampstead Heath, 2. Juni 1984 121 122 RELA Literarische Produktion Der Sklave, der ein König war Die Dinge, die dir gehören, nie werden sie von dir gehen; auch wenn du sie fortwürfest, wie die Wellen ein Riff überrollen, sie verlassen dich nicht; ständig kehren sie zurück, wie das Meer zum Riff zurückkehrt. Was dir jedoch nicht gehört, wird von dir gehen wie ewige Ebbe; es wird dir weder Muscheln noch Algen zurücklassen, sondern nur wertlosen Sand und die Leere einer Klippe. Sklave, vergiss, dass du ein König warst, wenn das Schicksal dir Ketten auferlegt. Der verwaiste Elefant Zimtgärten ausgebreitet über das wilde Gebirge. der Krieger über die Barmherzigkeit, der Dichter über die Götter und den Tod, Wir nahmen Abschied vom Meer, und die sich spiegelnde See ward geboren in unseren Herzen. und von dem stillen Bettler und von dir, verwaistem Elefäntchen, was lernte ich außer dem, was ich schon wusste? Mit einem einzigen Blick nahmen wir alles wahr und flochten in einen Zauberteppich unsere und fremde Herzen. Wir ließen uns auf den Wolken zu den Bergvölkern ins Gebirge tragen und in einen überwucherten Tempel niederlegen. Der Fischer belehrte uns über die Schönheit des Meeres, der Arzt über das Mitleid, Mich vor dem Bettler verneigend, vor dem kleinen Elefanten auf die Knie fallend – beendete ich meinen Dienst in Indien. Von meinen Schultern ließ ich die Tunika gleiten und wandte mich nicht um nach ihr. Ich überließ sie dem Staub, der Sonne, der Straße und Gottes unbekannten Gästen. TIONS RELA TIONS 123 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 124 RELA Literarische Produktion TIONS Nadir Auf schwinge ich mich zu dem lichten Nachen, der festgebunden an Sternen liegt. Und ich segle hinab mit den leichten Wellen, die auf des Windes Flügeln sich brechen. Das Seil zerschneid ich mit zaghaftem Messer aus zu Kohle geronnenem uraltem Wald. In Gold eingespannt das wilde Blau, sink in die Tiefe des Meeres ich. Brandstifter himmlischer Feuer altkroatisches Lied Erkennst du mich, derweil mit nassem Finger ich über deine Stirn dir streiche, stechenden Schmerz zu lindern? Scharf wie der Rand zerbrochenen Glases, flammend wie Kroatiens Feuer. Ein Geschöpf bin ich, das hinter dem Steinbruch des heiligen Mikula kauert, im Felsgeröll, zwischen Schösslingen von Steineiche und Fichte, das sich versteckt in der feuchten, uralten Kirche Apsis. Ich schwebe in des Lavendels Duft, und zur Ruhe begebe ich mich mit den Fledermäusen im Dämmerlicht. Kinder und Jünglinge nur nehmen mich wahr in Nebelschwaden. Engel des Zwielichts, Geist der Finsternis und des Unterscheidens, Sohn des Uneindeutigen und allumfassender Barmherzigkeit nennen die Insulaner mich. An meinen Flügeln haftet Blütenstaub des Träumens und Schwaden früher Sterne. Flüchtiger Gedanke, Knospe weißer Nachthyazinthe im betäubenden Duft des Štambuk-Palastes. Leichte Brise von Westen mit einer Herde flockiger Wolken an der Leine, blühendes Mandelbaumzweiglein neben der Bordsteinkante. Ruf der Eule im Palazzo und der baufällige, nackte Schornstein. Rufst du mich an in der Nacht, breite sogleich meine Flügel ich aus über steinerner Wunde, fliege hinab wie ein verliebter Soldat. Mit den Augen verjage die wilden Tiere ich, vertreibe die Raubvögel mit geräuschlosen Flügeln. Nenne mich, wie du magst, ein Gedanke bin ich aus einem bedeutend größeren Käfig, Gesang aus dem allernächsten Herzen. Ich bin der Schatten deines Schattens, Wurzelwerk ins Haar verkehrt, Schwere des Leichnams, geschaffen ganz zum leichten Flug. Mit Adjektiven wie mit Federn schmuckvoll besetzt, verdopple ich mit meiner Vielfalt die Kraft zum Anlauf, Sprung, Beisammensein am abendlichen Feuer. Ich habe dich seit eh und je geliebt und muss, ich Schweigsame, im Wasserhaus der Eumeniden sitzen. RELA TIONS Drago [tambuk 125 Varanasi Auf den Lippen der Finsternis ist mein Wohnsitz, auf den Wellen der Unendlichkeit wiege ich mich, ich klopfe an die Tür meines Chaos’, warum sollte ich sie öffnen? Harmonie Im Einklang mit dem Stein, wie ein echter Bewohner Bračs, lebt die Blaumerle – vertraut mit der kalten Wärme der Felswand. Atman ist mein Name, unter dem Schnee Indiens wurde ich begraben und zum Schweigen gebracht. In meinem Körper kreisen die Atome des heiligen Bharatt, und nie werde ich mich in den gleichen Körper inkarnieren. Beobachter bin ich, beobachtet werde ich, mein eigener Traum bin ich – Jäger und Reh. Pietas Mögen sie uns nicht vergessen, uns zerbrechliche Seelen inmitten der Asphodillen. [Seferis, Mythistorema] In meinen Armen hielt ich dich und weinte stumm vor deinem Grab, wusste doch, dass jeder Kuss ein Stück von unseren Herzen nahm. In meinen Armen hielt ich dich, Falten von der Stirn dir streichend, doch umsonst – sie mehrten sich wie wildes Unkraut nach dem Sommer. In meinen Armen hielt ich dich, Todesworte im Krampf schreibend, ach, dein Körper leblos war er, und ich küsste einen Toten. In meinen Armen hielt ich dich, wie einst sie den toten Christus. Ende nur und Stille sah ich hinter kahlen, blauen Bergen. In meinen Armen hielt ich dich, glaubte, Regen müsse stürzen bald herab aus schwarzem Himmel, letzte Rosen mit sich reißend. In meinen Armen hielt ich dich, wir waren tot seit eh und je, Tränen habe ich vergossen, netzten kalt sie deine Stirne. Hampstead, 28. Dezember 1985 126 RELA Literarische Produktion TIONS *** Schnee auf dem Vidovica-Berg. Eine Flocke im Auge des Zyklopen. Über der Adria Gottes Träne. Split Die Weite der Zeit lässt entstehen dich und vergehen. Eine Spur Honig und ein Tropfen Wermut. Dämmerlicht und Meeresleuchten. Delfin und Schwalbe. Sterne in der Höhe und Gräber in der Tiefe. Dazwischen – Nuancen der Trauer. Wohin entschwand die Freude? In welches verborgene Nest der Zypresse legt die Blaumerle ihres Todes Ei? Zagreb, Ostermontag, 28. März 2005 Die Insel Das umgekehrte Meer ist dieser Berg von Luft umgeben statt vom Festland Das reinste Blau ist dieser Berg ist es ein Berg oder das Meer Im Meer betrachtet sich der Berg es spiegelt sich im Berg das Meer Ich stehe auf des Berges Gipfel und glaube fast es ist das Meer und fühl mich wie ein Uferfischchen Unmöglich dass dies kleine Haus kein Schiffchen ist die Wolken keine Küstenfelsen Unmöglich dass das Meer dort unten kein Berg der auf dem Kopf steht ist Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Vidulić RELA TIONS 127 Brač, Auge des Zyklopen Drago Štambuk enn wir glauben, dass durch die Scheidung der Erde vom Himmel die Welt erschaffen wurde, dann entstand durch die Trennung der Inseln vom Festland ein Raum, den wir als insular bezeichnen. Der Inselraum liegt in einem horizontalen Parallelogramm. Wenn aber ein vertikales Parallelogramm hinzugefügt, eingefügt wird, bestehend aus ungenügend vom Himmel geschiedener Erde, mit eingezeichneten Verwachsungen oder Verbindungen, dann bekommen wir ein Spatium, das sowohl spirituell als auch real ist, senkrecht wie waagerecht, durch das Meer eben, aufrecht durch die Gebirge. W Brač ist ein punctum, ein materieller Punkt in dem gerade auf diese Weise überkreuz schraffierten vielschichtigen Raum. Gott liebte es so sehr, dass er ihm in seiner Schöpfungsbegeisterung kaum erlaubte, sich durch Trennung von Ihm zu entfernen. Daher die besondere Aura, eine andere Bezeichnung für genius loci und die vergeistigte Energie des Raums, die jeder nur einigermaßen empfindsame Besucher spürt, ganz besonders aber die Bewohner Bračs. Die Insel, eine ellipsoide Form, gekrönt vom Berg Vidova gora, auf gleicher Ebene mit dem Meer und verbunden mit seinem nahen Festlandbruder, dem Gebirgsmassiv Biokovo. Mit karstiger dinarischer Erde, die den tiefblauen Himmel trägt und einem Himmel, der die Erde widerspiegelt, ist Brač auch ein himmlisches Volumen, gestützt auf den Karst, mit vom Meer getränktem Saum. Hoch über Brač, über dem Vidovica-Berg (Vidovica ist eine andere Bezeichnung für Vidova gora; Anm. d. Übers.) steht ein Schweifstern, der mit Feenhaaren des Lichts die Insel hinaufzieht, mit einem Bernsteinund Sonnengespann allmählich aus dem Meer hebt und sie vielleicht eines Tages für immer wie einen Edelstein emporhebt, in das Metall des sich verdichtenden Himmels einfügt und durch eine solche Einfassung bewahrt, sie hinüberträgt in die Unendlichkeit – als ein Gebäude von ewiger Dauer. Während ich als Junge in meinem Heimatort Selca auf Brač lebte, geschah es manchmal, dass ich, erregt von der Schönheit der Insel, beim Schein der Petroleumlampe des Nachts Landkarten einer imaginären Welt zeichnete. Alles war erfunden außer Brač. Meine Insel war der einzige feste geografische und geistige Punkt, real wie die Blüte des Mandelbaums im Frühling, Mittelpunkt alles Bekannten und Unbekannten. An ihre südlichen und nördlichen Ufer zeichnete ich Festländer und Kontinente, setzte sie an ihrer westlichen Einbuchtung fort, fügte neue Inseln und Inselchen, Eilande und Klippen hinzu. Staaten und Königreiche. Selca war omphalos, umbilicus, die Nabel-Stadt. Brač die nächste Größe, von der aus ich die Welt beherrschte. Kämpfe führte mit Flotten und Armeen. Und nie geschah es, trotz aller Schwierigkeiten, dass ein fremdes Heer die Insel eroberte. Brač einzunehmen war einfach unmöglich, unmöglich wie den eigenen Mund zu küssen. Brač eroberte immer die anderen. In meiner kindlichen Fantasie war es der goldene Hebel, der mich die Länder durchschreiten und mir zu eigen machen ließ. Axis mundi, die zuverlässigste Stütze und das Postament meines Lebens und meiner Fantasie. Die Grundlage meines Daseins ist im Wappen der Gemeinde Selca zu sehen, der östlichsten Gemeinde Bračs. Hacke und Keilhammer. Das erste Werkzeug bearbeitet die Erde, das zweite den Stein. Das erste lockert die Erde auf und wirft die Steine hinaus, um danach steinerne Anhäufungen zu schaffen, eine Geometrie des Herzens. Das zweite gibt den Steinblöcken und den behauenen Steinen für den Hausbau ihre Gestalt, und verschiedene feinere Werkzeuge formen Gesichter, Arme, Kanten. Es lässt Schotter entstehen und weißes Steinmehl, die Speise hungriger Engel. Jenes Handwerkszeug prägte mich und machte mich wie jeden Bewohner Bračs – zum Feldarbeiter und Steinmetzen, gewöhnt an ein ewiges Ringen mit dem weicheren und lo- 128 Literarische Produktion ckeren Element Erde, und mit dem harten Element, dem Stein. Es lehrte uns den Wettstreit untereinander und des einen im anderen. Danach auch, die meist karge Erde zu vermehren und zu bewässern, den Stein zu bearbeiten und aufzuschichten zu Trockenmauer, Schutzhütte, steinerner Anhäufung und schließlich zu Palästen von erstaunlicher Einfachheit, wie jene der Familien Štambuk und Didolić in Selca. Bei der 1869 beendeten Errichtung des Palastes meiner Steinmetz- und Baumeisterfamilie wurde jeder einzelne Stein meisterhaft und liebevoll an Ort und Stelle bearbeitet, und die Kunstfertigkeit und Präzision durch den „Kuss“ – einer Vielfalt metaphorischer Küsse der Ausführungsarbeiten – veredelt. Bei einer solchen geistigen Bearbeitung küssen sich die Steine eng aneinander geschmiegt, wodurch die so genannte mörtellose blinde Fuge entsteht. Am Palast Štambuk küsst jeder Stein den anderen, und das Bindemittel, dauerhafter als jede andere Legierung, ist die Liebe. Meine Baumeister-Vorfahren waren Geliebte des Steins. Von der Zärtlichkeit und Schönheit jenes vollkommenen Kusses und seiner Ewigkeit zeugt die Berührung der sich liebkosenden Steine des Palastes meiner Jugend, erbaut im Herzen Selcas, neben der schneeweißen Kirche des Allerheiligsten Herzens Jesu, die ebenfalls ein Werk der gleichen Meister und der höchste Orientierungspunkt im Ort ist. Zu unserem großen Unglück zündete am 9. August 1943 die italienische Besatzungsmacht zur Vergeltung mein Heimatdorf an, und alles verbrannte in einem dreitägigen Feuer, von dem Selca sich nie mehr erholte. Deshalb ragen auch heute noch mehr als fünfzig Ruinen, unter ihnen auch die des Palastes Štambuk, in den Himmel, und ihre schwer begreifliche Schönheit verwundete und kennzeichnete mich wie der glühen- de Stempel, der den Flanken des Viehs aufgedrückt wird. Ich erinnere mich, wie mein großmütiger Vater, der damalige Gemeindevorsteher, schmerzerfüllt davon erzählte, wie schrecklich jenes Ereignis war und wie es ihm trotz übermenschlicher Anstrengung, das Dorf zu retten, nur gelang, die Menschen zu retten, die aus der Ferne, von einer Anhöhe aus, ihre Heimstätten in apokalyptischen Flammen brennen sahen. Das mühselige Umgraben der mit Steinen vermischten Erde und ihr mühsames Vermehren lehrten mich Beharrlichkeit im Ergründen von Wachstum und Verwandlung – auf dem Weg vom Schössling und Samen bis zur Frucht und ihren edlen Nachkommen: dem Wein, dem Öl, dem Sauerkirsch-Sirup ... Der Stein und seine Bearbeitung lehrten mich Fantasiereichtum bei der Wahl und der Kraft des Schlages, beim Abwägen eines gezielten Entzweibrechens des Steins, bei der Berechnung genau des Punktes, der sich beim Auftreffen des Schlages perfekt vervielfacht. Sie lehrten mich das Abgrenzen und Umranden eines Raumes, lehrten mich Stein an Stein zu lehnen, das Gleichgewicht der Mauer zu wahren, das Dach zu stützen; Festigkeit und Härte, Massivität und Eleganz, Ethik und Prinzipientreue. Eine Eigenschaft des Menschen von Brač ist Gerechtigkeitssinn, und sie geht Hand in Hand mit seinen Überlegungen. Mit jenen Überlegungen, mit denen er Lebensräume mauert. Die See als drittes kontextuelles Element lehrte mich mit ihrem wogenden, silbrigen Meeresspiegel das Wasser zu befahren, mich nach Fernen zu sehnen, Tiefen und Höhen zu erahnen, mich nach unbekannten Ländern und dem Sternenhimmel zu sehnen. Nach dem Reich der Fische RELA TIONS und dem Meeresgrund. Sie lehrte uns, in die Realität Nuancen des Irrealen einzuflechten. Alle drei Elemente – die spärliche Erde, der üppige Stein und das funkelnde Meer prägten tief in mir die Liebe für mein Dasein, das so innerlich und nah, und wiederum fern und unzugänglich ist, kaum brauchbar in den Strudeln des Lebens. Aber allein die Erkenntnis, dass ich mich auf den Duft eines Veilchens verlassen kann, den Geschmack eines vor langer Zeit gegessenen Steinpilzes, auf das Beben der Blätter an Vaters Ölbaum, dass ich das Gold des Öls und die violette Farbe der Smutica (ein Getränk der Insel Brač, zusammengesetzt aus drei Teilen frischer Ziegenmilch und einem Teil puren Rotweins) wahrnehmen kann, macht mich andersartig und so viel stärker als jemanden, dem die geheimen Schönheiten Bračs und die tödlich berauschende Aussicht vom Berg Vidovica unbekannt sind. Aus der Liebe zu seinem Dasein ging auch die Liebe des Menschen von Brač zur Welt und zum Kosmos hervor. Zu ihnen führte mich vor allem das Meer. Jedes Mal, wenn sich eine Welle über die Klippen ergoss, wurde sie von einem Seufzer begleitet, und eine Seele aus ferner Welt erreichte meine Insel; und obwohl dünn besiedelt und fast leer, durch häufiges Aussiedeln allmählich verkleinert, war sie in meiner Fantasie der dichtest besiedelte jungfräuliche Abschnitt der Welt. Weil es eine Insel ist, ist Brač eine Welt für sich. Alles gibt es auf ihr, alles geht aus ihr hervor und kehrt zu ihr zurück. Ein parthenogenetisches Geschöpf, und mit Neugier ausgerüstet wie eine Haselmaus nach Mitternacht. Wenn ich mich auch keinen einzigen Schritt von ihren Ufern entfernt hätte, so würde mir der Aufenthalt auf der Insel doch vollkommen genügen für alle Entdeckungen und RELA TIONS Drago [tambuk Reisen, die ich im Leben zu unternehmen beabsichtigte. le sich mir öffnenden Ausblicke und Landschaften verdanke. Mystisch auf felsiger Höhe die Einsiedelei Blaca mit ihrer Gebets- und Arbeitsteilung (ora et labora), ihren sternkundlich-observatorischen Quellen. Die Insel kämpferisch im Norden, sinnlich und poetisch an ihren südlichen Stränden und Hängen. So auch griechisch und römisch, der Sprache nach slawisch und lateinisch, den Genen nach illyrisch, meine geliebte kroatische Insel, Wiege und Schwelle, Altar und Grab, der ich al- Denn ich bin Brač und seine Verankerung. Vor meinem geistigen Auge ruft es die Erinnerung hervor an das blaue und mächtige Biokovo-Gebirge, das blau-graue Meer, kristallklare Morgen, die scharfen Umrisse von Hvar, Korčula, Vis, den Bergkamm von Pelješac, den Berg Vidova gora – von dem aus der Insulaner die Schönheit mit seinen Blicken genießt, die Welt wie auf der flachen Hand vor sich haltend kontrolliert. Eine Insel 129 ist alles, was der Mensch des Mittelmeers und des Weltalls braucht. Eine glühende Senkrechte und das Auge des Zyklopen. Ohne Brač gäbe es die Welt nicht, denn die Welt könnte sich ohne Brač nicht sehen. Tokyo, 12. November 2005 Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Vidulić Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 130 Branislav Glumac RELA TIONS BRANISLAV GLUMAC, geboren am 10. 6. 1938 in Smederevo. Gymnasium in Virovitica, Studium der jugoslawischen Literaturen an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Lebt seit 1958 als professioneller Schriftsteller in Zagreb. Erste Lyrikveröffentlichungen 1953 in der Zeitung „Virovitički list“. Schreibt Erzählungen, Novellen, Romane, Dramen, sowie Literaturund Kunstkritiken in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (Krugovi, Prisutnost, Književnik, Polet, Vidik, Delo, Književne novine, Forum, Kolo, Republika, Suvremenik, Telegram, 15 dana, Polja, Revija, Književna republika usw.) über drei Jahrzehnte lang befasst er sich mit der zeitgenössischen kroatischen bildenden Kunst. 1980 schenkte er der Stadt Virovitica hundert Bilder und fünfundzwanzig Skulpturen verschiedener Autoren (von Gecan und den Brüdern Hegedušić bis zur jüngsten Generation), die als „Donation von Branislav Glumac“ seither im Schloss Pejačević ausgestellt sind. Seine Gedichte und Erzählungen wurden ins Bulgarische, Französische, Mazedonische, Polnische, Slowakische, Slowenische und Italienische übersetzt. Das Buch Zagrepčanka wurde 1997 ins Deutsche übersetzt, das Buch Ljubavna režanja ins Englische und Französische. Veröffentlichungen: Pjesme (mit Zvonimir Majdak und Alojz Majetić), Lykos, Zagreb 1960; Otok, Ćirpanov, Novi Sad 1960; Posljednji živi mrtvac, Zora, Zagreb 1965; Pohvatajte male lisice, Naprijed, Zagreb 1966; Unutrašnji pejsaži, Mladost, Zagreb 1966; Sjećanje, Fernsehdrama, Zagreb, 1966; Negdje na kraju, Fernsehdrama, Zagreb, 1967; Prepušteni, Fernsehdrama, 1971 – verboten; Zagreb, 1995 – uraufgeführt; Zagrepčanka, Roman, Zagreb, 1974 – bis 1994 12 Auflagen; Theateradaptation: Klub HNK, Zagreb 1976; Albanische Übersetzung Zagrebasja von Naim Siqani, Shtepia Grafike V.I. Print Mitrovice, 2010; Moja prva ljubavna pjesma, Anthologie, Mladost, Zagreb, (drei Auflagen), 1973; Ljubavna režanja, August Cesarec, Zagreb 1976; Žut pra konj, Zagreb 1976; Antologija suvremene makedonske poezije, (mit P. Kepeski), August Cesarec, Zagreb, 1979; Bjegunac, Fernsehdrama, Zagreb, 1978; Naopako, Monodrama, Teatar &TD, Zagreb 1979; Pasji praznik, Roman, Mladost, Zagreb 1980; 10 priča o ljubavi, za ljubav, i protiv ljubavi, Iros, Zagreb 1981; Kritika hrvatske „književne kritike“, polemische Texte, August Cesarec, Zagreb, 1982; Deset priča o ljubavi, za ljubav i protiv ljubavi, Zagreb 1986; Svi moji ljudi (Erinnerungen und Gespräche mit Zeitgenossen), Mladost, Zagreb 1987; Pokusni čovjek, Roman, Mladost, 1991; Za dom spremni, Jazavac, Zagreb 1994; Brijeg hijena, Roman, VBZ, Zagreb 1998; Tko je tko u Hrvatskoj, Drama, Theater Vidra, Zagreb 1998; Jezičina, Drama, Tvornica, Zagreb 2002; 62 pjesme i jedna radosna, VBZ, Zagreb 2002; Završna dionica, VBZ, Zagreb 2003; Razgovori sa slikarima (Oko, ruka, kist), VBZ, Zagreb 2005; Ljekarna od vremena, Gedichte, VBZ, Zagreb 2006; 145 sjećanja na ljude. (o)smijeh.hranu.alkohole. duhan..., Nachwort Tonko Maroević; VBZ, Zagreb 2008; Kazaljke oko očiju, Gedichte, VBZ, Zagreb 2010 RELA TIONS 131 Die Prosa des Branislav Glumac Marijan Matković D ie Prosa des Branislav Glumac, jene bis jetzt veröffentlichte und die in dem Buch vor uns, ist auf privaten Lebensmotiven aufgebaut. Das heißt: Glumac bearbeitet jeden seiner Helden, jede Situation, in der sich jener Held befindet, gemäß den Umständen, die er selbst sowohl als Mensch wie auch als Künstler erlebt. Wenn die Biographie irgendeines kroatischen Schriftstellers irgendetwas aussagt über sein Werk, dann sagt die von Glumac am meisten aus. Die Tatsache, dass er in der Ebene aufgewachsen ist, in einer freien Landschaft, zwischen Menschen, die an die Erde gebunden sind, aus der sie wuchern, vergisst dieser talentierte Erzähler niemals noch kann er es vergessen, weil gerade das der Fundus ist, aus dem er die Kraft schöpft, dem Ansturm des scheinbar entfremdeten Lebens in der Stadt – dem Ameisenhaufen zu widerstehen, sich zu behaupten. Besessen von seiner Kindheit, und wir erwähnten, wo diese Kindheit verlief, urteilt Glumac niemals leichtfertig über die Menschen, die er heute trifft, über seine Reisegefährten und Schicksalsgenossen in einer Mitte diametrisch entgegengesetzt jener, aus der er entsprang, niemals schildert er sie in ihrem Scheinbilde, in nackter Erscheinung, sondern forsch nach, sucht im Menschen den Grund, seinen wahren menschlichen Ausgangspunkt, den versteckten Funken der Menschlichkeit. Es ist also klar, dass die Prosa dieses Schriftstellers notwendig zwei entgegengesetzte Lebenstatsachen enthält: jene lyrische, mitgebracht aus der Kindheit und diese grobe alltägliche. Der Zwiespalt dieser Eigenarten ist in jedem seiner Helden anwesend und daher alle jene Überraschungen, mit denen uns der Autor in seinen Untersuchungen geradezu überschüttet: der Mensch ist niemals so entmenscht, dass wir nicht in ihm einen Funken fänden, aus dem immer wieder seine verdeckte Menschlichkeit auflodern kann. Diese Novellen, klar geschrieben, in Standardsprache, psychologisch motiviert und kommunikativ erzählend, bestätigen einen modernen und exzellenten Prosa-Schriftsteller. Aus dem Kroatischen von Boris Perić 132 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA TIONS RELA TIONS 133 13 Kurzgeschichten, die vierzehnte kommt per EU-Post Branislav Glumac Der Sturm D as Haus, in dem meine Frau und ich diesen Sommer gewohnt hatten, war einem Wald zugekehrt, der Nachts zu singen begann; in der Tat, der Wind, der vom Meer kam, wehte durch die Baumkronen und spielte mit ihnen, sodass die klänge dieses Spiels, des Waldes und des Windes, in voller Reinheit in unser Zimmer drangen, um dort abzuklingen. Es war ein schauriges Spiel und wunderschön zugleich. An diesem Abend kehrten wir früh vom Baden zurück, das Meer rief verführerisch nach meinem Körper, meinen Armen und meinem Haar, meine Frau und ich hatten an diesem Tag aber gestritten und wie es sich in solchen Situationen eben ergibt, ließen wir das Meer Meer sein und gingen in unser Zimmer, um unseren Streit fortzusetzen. Der Charakter dieses Streits war ein derartiger, dass es sich nicht lohnt, ihn näher zu beschreiben. Wir stritten, wie die meisten Leute, um Kleinigkeiten. Wie ich bereits gesagt habe, kehrten wir schweigend aus unserer Bucht zurück. Ich blickte zu Boden und vergnügte mich damit, mit dem Fuß gegen Steinchen zu treten: was mir besonderes Vergnügen bereitete, war jenes weiche und sanfte Geräusch, als die Steinchen ins fielen Meer – plumps, plumps, plumps. Meine Frau ist milde und sanft, wenn wir aber Streit haben, bekommt sie das Gesicht eines kleinen Tierchens. Und ich muss zugeben, dass ihr dieses Gesicht eines kleinen Tierchens in solchen Augenblicken sehr gut steht, obwohl mir das ganz und gar nicht gefällt, denn ich mag das sanfte, kindliche Gesicht meiner Frau. Das Meer wurde matter, gerade als wir vor unserem Haus angelangt waren: dunkel schwoll es an, die Kronen der Wellen waren weiß. Während wir das Haus betraten, drehte ich mich um, um Pjotr zu grüßen, einen kleinen, hinkenden Jungen, meinen Freund. – Ciao, Pjotr. – Ciao, Kater. Er nannte mich Kater, ich weiß nicht genau, warum er das tat. Ich bin zwar von solider Statur, zumindest nimmt mein Einbildungsvermögen so etwas an – ich bin weder mickerig, noch dick, noch bin ich einer von jenen, die mit ihren Muskeln protzen würden, eher eine Art Mischung aus diesen Typen, ziemlich behaart, mit leicht nach vorne gestreckter Brust, weil mir das zusagt. Ob Kater oder nicht, mir gefiel dieser Pjotr, mit dem ich Abends Feigen stehlen ging, mit dem ich mich ängstigte, während der Wind über die Hügel rauschte und wir dalagen und zitternd vor Angst Feigen aßen. Wir ängstigten uns tatsächlich. In diesem Moment hätte ich gerne mit Pjotr getauscht, wäre gerne ein kleiner Junge gewesen, während er mit meiner Frau gestritten hätte. Das wäre ein herrliches Erlebnis, denn Pjotr, das muss ich ihnen sagen, gab gerne deftige Schimpfwörter von sich und hätte sie bestimmt an einen herrlichen Ort gewünscht. Wir waren schon an der letzten Stufe angelangt, vor dem Eingang zu unserem Zimmer, das Rauschen des Meeres schlich jedoch unaufhaltsam meinen Fersen hinterher und die Wellen dröhnten nach wie vor in meinen Ohren – uuuum, uuuuuuum. Meine Frau trat als erste ein und warf ihre Sachen mit einer derartigen Heftigkeit auf den Boden, dass ich dachte, sie würden, wären sie Lebewesen, nun bestimmt Eingeweide und Seele ausspeien. Aber auch Dinge haben ihre Seele und mir tat es leid, dass sie sie mit solcher Wucht hingeschmissen hatte: die Karten flogen in die Ecke, die Luftmatratze streckte traurig alle Viere von sich, das Badetuch blieb irgendwo hängen und so weiter. Ich blickte durchs Fenster, auf die bläulichen Hügel und danach auf die schäbigen Dächer der Nachbarhäu- 134 RELA Branislav Glumac ser. Ich wartete auf den Kampf und bereitete mich auf eine lange und zähe Verteidigung vor. Seltsamerweise schwieg meine Frau aber. Bevor sie sich aufs Bett legte, spuckte sie kräftig und widerlich wie ein Mann. Nie zuvor hatte ich meine Frau spucken sehen. In diesem Augenblick schämte ich mich meiner Frau, weil mich mit dem Anblick ihres Speichels das gesamte weibliche Geschlecht plötzlich anekelte. Ihres Speichels, der das Fenster getroffen hatte und dort noch eine Weile kleben blieb: was weiter mit ihm passierte, interessierte mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass von diesem Augenblick an dieser Speichel an meinem Gehirn und meiner Gedächtnis kleben blieb. Langsam ging ich aufs Bett zu und legte mich hin. Ich war wütend, und so spuckte ich ebenfalls, nur aus liegender Stellung; der Speichel flog wie ein Pfeil aus meinem Mund und machte erst am Nachbarsdach halt, denn die Häuser steht am Meer so dicht aneinander, zusammengedrängt wie Schwestern, als wären sie alle von ein und derselben Fantasie und ein und derselben Hand gebaut worden. Meine Frau sah mich an und sagte mit fürchterlicher Stimme: Pfui! Ich war außer mir. Pfui! dachte ich. Und dein Speichel? wollte ich sagen. Meinst du, du wärst besser dran, nur weil sein Umfang geringer war? führte ich den Gedanken fort, den ich schließlich doch nicht in die Tat umsetzte: in einen sehr ärgerlichen Satz. Ich blickte weiterhin durchs Fenster und spürte, wie sich der wohltuende Abend in meinen Augen breit macht. Für mich ist das ein besonderes Vergnügen: die Augen dem Schwall der Dunkelheit entgegenzuhalten, sie dann langsam zu schließen und wieder zu öffnen, an schöne Dinge zu denken, die es auf dieser Welt gibt, an Kontinente, die ich gerne besuchen würde, um von dort nicht mehr zurückzukehren. Min- destens hundert Jahre lang. (Das ist ein schöner Gedanke: Verreisen und nicht mehr zurückkehren.) Ein schöner, entzückender Abend steigt von den Hügeln hinab und reizt meine Fantasie. Meine Frau schläft nicht. Ich spüre ihre schönen, aschefarbenen offenen Augen und verspüre den unstillbaren Wunsch, ihr von meinen nicht begangenen Reisen zu erzählen, davon, wie schön es wären, zu Fuß bis ans Ende der Welt zu gehen. Würde ich ihr das aber sagen, würde sie schweigen und meine Romantik würde eine Niederlage erleiden. Deshalb trotze ich ihr und schweige, und werde alleine verreisen, irgendwann, und nicht mehr zurückkehren, mindestens hundert Jahre lang. Aus Trotz. Jetzt sind wir Feinde, zwei Fremde und an diesem Abend ist uns nichts mehr gemeinsam. Wahrscheinlich hassen wir uns auch schon ein wenig (denn zwei Wesen hassen einander gerade, wenn sie schweigen) und ich würde sie in diesem Augenblick um keinen Preis der Welt küssen wollen. Sie kehrt mir jetzt demonstrativ den Rücken zu, ihren Hintern, und ich würde ihr diesem am liebsten versohlen. Wäre ich ein richtiger Mann, würde ich das auch tun, aber ich achte diesen Teil des weiblichen Körpers und meine Hände sind ruhig. Die Zeit vergeht, die Wanduhr zählt die Sekunden, wie ein kleines Nagetier. Die Nacht ist nicht mehr mild: ich spüre, dass das Meer irgendwie sonderbar zu brausen beginnt und dass mir eine besondere Nacht bevorsteht. Vielleicht eine Nacht mit Sturm und Wind. Es ist das erste Mal, dass ich längere Zeit am Meer verbringe. Bisher habe ich noch keinen richtigen Sturm erlebt, deshalb wünsche ich ihn mir so heftig und abenteuerlustig herbei. Tatsächlich, als gehorche es meinem Wunsch, rauscht das Meer immer TIONS heftiger, der Wind fegt blitzartig von allen Seiten her, die kleinen, zugeflickten Fenster beben, die Lampen schaukeln und spielen sich gegenseitig in eine unheimliche Stimmung hinein: die gesamte Natur ist in Aufruhr, unruhig und voller Zorn. Das Meer und der Wind übertreffen einander an Kraft und Wildheit. Der Wald, der unserem Zimmer gegenüber ausgelassen tobt, sieht aus wie ein schreckliches, schwarzes, erregtes Ungeheuer: das Haar dieses Ungeheuers ist wirr, zerzaust, dann beruhigt und entspannt es sich, um sich darauf wieder mit dem Wind und dem Meer solidarisch zu zeigen. Und dieser Wald ist nun unser gemeinsamer Feind, obwohl er uns so viele Male seinen kühlen Schatten, seine Tannennadeln und was weiß ich was noch alles als Bett angeboten hatte. Mein Körper zittert, meine Nerven beben, schreien: Millionen von Ameisen und kleinen Käfern laufen meine Haut auf und ab und ich möchte, dass alles um mich herum still ist, dass meine Frau dicht bei mir liegt, das wir uns aneinander schmiegen, eins werden und uns so der aufgereizten Natur widersetzen. Meine Frau hat sich etwas bewegt, was mir Freude bereitet, da ich in dieser Geste ihre Angst erahne. Ich versuche, so ruhig wie möglich zu bleiben, um den tatsächlichen Zustand meiner Seele nicht preiszugeben: soll sie denken, ich genieße das Wetter, diesen entsetzlichen Sturm. Aber eine unterschwellige Angst staut sich in mir an und ich spüre, dass ich an diesem Abend um mich herum so viele Feinde habe: meine Frau, das Meer, den Wind, den Wald, die Natur, die Wolken und so viele andere winzige, boshafte, gut getarnte Feinde. Es ist ein richtiges Spiel: ich bin der Feind meiner Frau, sie der meinige, zusammen sind wir die Feinde des Meeres, des Windes, des Wal- RELA TIONS Branislav Glumac des, während sie unsere Feinde sind, und alle spielen wir stumm; einmal sehen wir aus wie Sieger, einmal wie Deserteure, ein andermal wieder wie Feinde. Jetzt kämpfen meine Frau und ich stumm gegen die Natur; der Sturm treibt uns ins gleiche Lager. Noch immer schweigen wir, aber unsere Körper bewegen sich aufeinander zu und beginnen, sich zu berühren: unsere gegenseitige Abneigung geht in Wärme über, ihre glatten Beine befinden sich zwischen meinen, nur unser Bewusstsein, unsere Köpfe und Arme, leisten noch Widerstand. In diesem Augenblick stößt der Wind mit Gewalt gegen ein Dach, von dem etwas abbricht und hinunterfällt: ich hatte Angst, aufzustehen und nachzusehen, was es war, ich hatte aber auch Angst, das Fenster zu schließen. Der Sturm war nun in unser Zimmer eingetreten: zuerst der Wind, dann das Rauschen des Meeres und schließlich der Wald, der sich ganz in Bewegung gesetzt und seinen Ort gewechselt hat. Nun lebten wir zwischen Bäumen, um uns herum tobte das Meer. Wir lebten schweigend und verängstigt. Unsere Hände, die ihrigen und die meinigen, fanden im Dunkel zueinander: fest schlossen wir sie zu einem Blumenstrauß zusammen. Wir waren nicht zugedeckt, waren nackt (denn am Meer Alles ist so unsicher I ch glaube, es war das Haustor, ich glaube, an diesem Nachmittag sprühte ein feiner, fettiger Regen, ich glaube, die Straßen waren leer und traurig. Ja, die Straßen waren leer und traurig, es sprühte ein feiner, fettiger Regen und ich stand im Haustor. Wie in einer Vertiefung in der Zeit, unter einem Deckel aus Beton, über dem die Menschen ihre Zellen gebaut haben. Vielleicht dachte ich damals gerade daran, wie sich an solchen Nachmittagen die linke Halbkugel der Erde in einen riesengroßen Schlaf- und Schnarchraum verwandelt, während die rechte Halbkugel gerade erwacht, mit dem schwarzen Schleim der Bitternis im Mund. Vielleicht, sage ich, denn an verregneten Nachmittagen sind die Gedanken unsicher, brüchig und zerrissen. Gut, soll es eben sein. Rechts vom Haustor befand sich eine Buchhandlung. Ihre Auslage: eine Kartothek und eine Geschichte des menschlichen Denkens, von der Hand des Buchhändlers in dichten Reihen aufgestellt. Der Mensch wird unwillkürlich kleinmütig, wenn er an all die menschliche Mühsal denkt, die da aufgeschrieben und in den bunten Abteilungen der Regale zusammengepfercht ist. Da läuft es einem kalt den Rücken runter. Gibt es denn überhaupt noch etwas neues zu sagen, bei all den Bergen von Büchern? Das ist sowohl der Sockel, als auch die Spitze der Menschheit! Die Weisen! Alles haben sie bereits gesagt, alles erkannt, alles, allein bei diesem Gedanken bekommt man schon eine Gänsehaut. Durch die Luft aber, durch die grauen, fettigen Regenfasern stieg mir von irgendwoher so verlockend der Duft von Rindfleisch in die Nase und beruhigte damit meinen Hunger, der erwacht war, wie ein verschlafenes Tier. Es war gut, dass die Verkäuferin in der Buchhandlung gerade in diesem Augenblick Probeplatten aufgelegt hatte, zuerst 135 schlafen die Menschen Nachts immer nackt) und uns war kalt. Aber wir durften uns nicht bewegen: der Sturm und die Angst hatten uns in ihren Bann gezogen. Wir atmeten nur, wie zwei erschrockene Tiere, pressten uns aneinander und wurden eins: jetzt liebte ich meine Frau sehr und wollte ihr etwas liebevolles sagen. Der Sturm tobte nach wie vor und dauerte bis zum Morgengrauen an. Als alles ruhig, still und zahm geworden war, nahmen unsere Körper langsam voneinander Abstand und wurden kalt. Wieder waren wir Feinde. Zwei stumme Wesen im Spiel der Natur. Mendelssohn, dann Gershwin, weil einem Käufer Gershwin offenbar viel besser gefiel als Mendelssohn. Die Schallplatte von Gershwin ist auch doppelt so billig wie jene von Mendelssohn! Die Klänge bohrten mit ihren diamantenen Kraken Löcher ins Fensterglas, ich schloss die Augen und dachte bei mir: es ist immer noch besser, im Haustor zu stehen, als dort zu sein, im Schwarzengetto; diese Erinnerung an Hunger kann dich immer noch einmal mit Energie erfüllen; einmal, in jener traurigen Lebensetappe, in der du alles hast und alt bist, wird die Erinnerung an Hunger zur heiligen Erinnerung. Zur erhabenen. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass ich einmal alt sein muss und vielleicht den Augenblick erlebe, wo es keinen Hunger mehr gibt und in der Luft kein Verlangen nach gutem altem Rindfleisch. Da hörte ich neben mir Schritte: scheppernd zogen sie in meinen Gedanken ein, zerschlugen ihn zu winzigen Scherben irgendwelcher sonderbarer rahmenloser Bilder, und als ich die Augen 136 RELA Branislav Glumac aufschlug, stand wenig weiter eine junge Frau, ein Mädchen, mit bereits regennassem Haar und langen Wimpern, auf denen fette Regentröpfchen saßen, wie Spatzen auf den Drähten. Ich bin nicht sicher, dies sei der beste Vergleich, aber was soll ich tun, wenn sich an solchen schmutzigen, fettigen Nachmittagen das Gehirn zu einer schweren Semmel abgestumpfter, fantasieloser Nerven zusammenklumpt! Sie sah mich nicht an. Sie lief ins Haustor hinein, als sei es ihr eigener Graben, etwas was seit jeher nur ihr gehörte und wo sie sich demzufolge benehmen konnte, wie es ihr beliebte. Sie strich sich sogleich mit den Fingern durchs Haar, schüttelte den Kopf und die Tröpfchen prasselten auf den schmutzigen, narbigen Betonboden. Dann zog sie aus ihrer kleinen orangefarbenen Tasche – mit der Aufschrift „Made in Trieste“ – ihr Toilettenzubehör, bestehend aus Spiegel, Schminke und Taschentuch, hervor. Zuerst strich sie mit dem Papiertaschentuch über ihr Gesicht, machte mit dem Mund eine leichte Grimasse und ich erblickte im Silber des Spiegels einen Holraum und weiße, weiße Zähne. (Sie wirkten, als seien sie noch nie mit Nahrung in Berührung gekommen, als handle es sich um Zähne, die sie abends in einer Porzellanvitrine abstellte, um sie morgens an ihren alten Platz zurückzugeben, so weiß, weiß waren sie und bereits der Gedanke, diese Zähne könnten etwas zermalmen schien so gut wie abwegig!) Auf ihre vollen, straffen Lippen trug sie Schminke auf und alles war bald wieder an seinem Platz: der Mund vollkommen ruhig, eingeschnitten in ihr längliches Gesicht von feinster italienischer Puderfarbe. Die Augen des Mädchens waren groß und leichtfertig, beziehungsweise, nur das rechte, denn ich blickte sie von der Seite an und konnte das linke nicht sehen, nahm aber an, es sei genauso wie das rechte und hatte daher das recht, Augen zu sagen. Ihr feuchtes Haar war schlaff geworden und ich muss sagen, so schlaff wie es war, passte es ausgezeichnet zu ihrem blauen Maxi-Mantel. (Ob sie wohl gute Beinchen hat?). Noch einmal griff sie darauf in ihre Tasche und entnahm ihr Zigaretten und einen Kaugummi. Nicht einmal da hatte sie mich bemerkt, oder sie hatte es doch getan, dachte aber, das Haustor gehöre ihr und ich sei nur ein gewöhnlicher, aufdringlicher Fremdling in ihrem Revier. Das Haustor gehört mir! Ich war als erster da! Irgendwo in weiter Ferne, zwischen dem Sockel und der Spitze des menschlichen Gedankens, dort, neben jenen Regalen, zwischen denen die Silhouette der Verkäuferin in blauer Kutte geschickt hin- und herbalancierte, dort erzählte der alte Joe noch immer vom Schwarzengetto: ob der Klang der Trompete dabei nicht stärker hervortrat als er eigentlich sollte? Wie alt mochte sie wohl sein? Zwanzig, einundzwanzig, neunzehn, sechzehn? Da die Gedanken an fettigen, verregneten Nachmittagen aber unsicher sind, nahm ich mit einer dieser Möglichkeiten Vorlieb. Eins war sicher: Sie war Zagreberin, denn sie kaute an ihrem Kaugummi und rauchte gleichzeitig „King size Amor“, während an ihrem rechten Ärmel ein Wappen der Stadt Zagreb angenäht war. Aber was tat sie zu dieser Stunde an diesem Ort? War sie von zu Hause ausgerissen oder wartete sie auf jemanden? Vielleicht hatte sie Streit mit ihren Eltern, falls sie Eltern hatte? Vielleicht mochte sie Regen, vielleicht mochte sie Haustore, vielleicht trieb sie sich nur herum, vielleicht war sie ein Junkie aus jener Clique, die sich jeden Tag gegen Mittag im Café „Corso“ versammelt und dort auf ein geheimes Mitglied wartet, vielleicht war sie auch...? Ach, dieses wurmstichige und scharfe „Vielleicht“, das eigentlich die einzi- TIONS ge Antwort auf alle Fragen ist, weil jenes sichere „Ja“, das die Menschen mit so viel Sicherheit aussprechen, eigentlich gar nicht existiert. „Vielleicht“ beinhaltet die Möglichkeit der Wahl, die Möglichkeit einer unsicheren Sicherheit in unser sicher unsicheren Welt. Wir müssten sie, also, fragen, was sie hier zu suchen hat, zu dieser verregneten Stunde, in diesem, meinem Haustor. Auf diese Weise würde ich zumindest ihr Gesicht sehen können. Und jenes schöne, große Auge, das genauso aussehen muss, wie das rechte. Das gierige Auge einer Auerhenne. Ich räusperte mich, obwohl ich das sonst nie tue. Nichts. Abermals räusperte ich mich. Sie zuckte unbemerkbar, blieb mir aber nach wie vor aus dem Profil zugewandt, als würde sie lauschen: vielleicht meinte sie, im Haustor hätte eine Ratte gehustet, oder es handle sich um das Schaben eines Insekts an der rauen Wand, an der noch immer mit Kreide geschrieben steht: Koka ist ein toller Käfer. Das Mädchen mit dem rechten Auge und der rechten Gesichtshälfte hatte wirklich etwas wichtigem gelauscht. Inzwischen waren zwei „Fiat 750“ vorbeigerast, einer war, glaube ich, gelb wie ein Osterei, der andere blau, wie ein Ei zu einem anderen Ostern, und das der Gelbe ein „Abarth“ war, weil er einen unerhörten Lärm verursacht hatte. Dessen bin ich mir auch nicht sicher, da die Tatsachen, ja sogar der Blick in den fettigen, verregneten Nachmittag unsicher sind. Vielleicht stand das Mädchen ja gar nicht neben mir im Haustor. Es konnte sich ja um einen Schatten handeln, wie er sich dem müden Auge manchmal zeigt. Und mein Auge war mit der Zeit wirklich müde geworden. Wie viel Zeit mochte nur verflossen sein, ohne dass sich in der Situation zwischen dem Mädchen und mir auch nur das Geringste geändert hatte? Alles zwischen uns war genauso RELA TIONS wie vorher. Nichts war da, und doch war etwas da: das Atmen, das Menschen zur Gemeinschaft verbindet, jene mystische Strahlung, die als unsichtbarer Dampf zwischen Feinden entsteht, die einander nicht sehen können. So etwas gibt es auch in der Erde, tief unten, zwischen den verschiedenen Mineralien, deren gegenseitige Anzugskraft einmal den Gesetzen der Trägheit, das andere Mal aber den Gesetzen des genauen Gegenteils gehorcht. Das ist die Kraft der Ausstrahlung, die Kraft jenes Urfluids, das der Motor alles Lebendigen ist. So etwas gibt es auch zwischen den Pflanzen und Insekten, die Luft ist einfach übervoll von solchen Strahlungsneutronen und das ist nur ein weiterer Beweis, dass wir alle – ob Tiere, Pflanzen oder Menschen – zu einem teuflischen Molekül zusammengepfercht sind, zu einer teuflischen Spannung, die Leben heißt, und dass wir im Gewebe dieses Moleküls, im Verhältnis zueinander, manchmal wirklich existieren, manchmal aber auch nicht. Wirklichkeit und Fiktion. Linse – Vergrößerung – Blick, aus dem, wie aus einem Projektor, auf einmal die ersten Bilder der Welt herausflitzen. Bitte, wer kann mir mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit tatsächlich zwischen mir und dem Mädchen vergangen ist? Und ist das überhaupt dasselbe Mädchen, das vor rund einer halben Stunde ins Haustor eingetreten war? Vor einer halben Stunde? Vielleicht ist eine ganze Ewigkeit an uns vorbeigeflogen? Eine gekrümmte Ewigkeit. Gershwin war nicht mehr zu hören. War er das überhaupt gewesen? Sicher war wieder einmal nur dieses: dass die Verkäuferin jetzt, dort drüben, stumpf auf die Straße blickte, dass sie saß und dass sie sehr nervös an ihrem nachmittäglichen Sandwich herumkaute. Das Glas des Schaufensters (schlecht, wahrscheinlich nach dem Krieg geschliffen) verzerrte ihr das Gesicht, zerschnitt es in Branislav Glumac Massen von unregelmäßigem Volumen: sagen wir, dass ihre Nase einmal an eine gefüllte Paprikaschote erinnerte, dann aber an eine zähe Kugel aus Teig, sagen wir, dass ihre Wangen einmal wie samtene Bälle aussahen, dann aber waren sie tatsächlich das, was sie waren, je nachdem, wie nervös sie gerade an ihrem Sandwicht kaute, der Membrane des schlecht geschliffenen Fensterglases immer näher kam oder sich von ihr entfernte. Das Mädchen im Haustor rauchte ihre ich-weiß-nicht-mehr-wievielte Zigarette. Sie stand verdammt am gleichen Ort verankert da, ich kann mich nicht einmal erinnern, dass sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert oder eine größere, bedeutendere Bewegung gemacht hätte. Und dann, auf einmal, gerade als sie (mit einem Gasfeuerzeug) diese ichweiß-nicht-mehr-wievielte Zigarette anzündete, sah sie sich schlagartig nach mir um. Sie blickte mich an, als sei ich etwas totes, entferntes und unwirkliches und schob mir schnell wieder ihr Profil unter. Es handelte sich um eine Sekunde, aber als geschickter Jäger schaffte ich es, in dieser Sekunde ihr ganzes Gesicht einzufangen und abzuschießen. Dann versenkte ich es in der Säure meines Gehirns, dieses Negativ, ließ es einen Augenblick lang nass werden, nahm es dann mit der scharfen Pinzette meiner Erinnerung wieder heraus und ließ es trocknen. Das Negativ wurde zum Bild. Ich hatte schon die ersten Konturen und das genügte mir, um mich meiner eigentlichen Arbeit, dem Suchen zu widmen. Nein, das genügte mir nicht zur Gänze, sodass ich das Negativ abermals in die Lösung des Gehirns eintauchte und wieder herauszog, weil ich Angst hatte, die Säure würde es allzu sehr zerfressen und zu einem anderen Gesicht verzerren, zu einer anderen Fotografie. Aus diesem Spiel des Formens und Schaffens musste ich als Sieger, keinesfalls als Verlierer hervorgehen. 137 Das Foto trocknete langsam, und als ich es schließlich noch unter die Walze des Laufs der Dinge legte, bekam ich, was ich wollte: ein Gesicht. Natürlich, auch einen Hintergrund mit vergangener Zeit und einem Raum, durch den der graue, beklemmende Strich einer Straße mit Obsthandlungen hindurchging. In einem dieser Geschäfte mit südlichem Obst, irgendwo zwischen den Orangenbergen und den Bananenflechten, befand sich jenes Gesicht. Alles war noch immer tot auf diesem Foto und so hauchte ich ihm etwas Leben und Bewegung ein. Durch die Stoppelfelder meiner überspannten Nerven brachen Lichter verschiedener Farben herein: gelbe, grüne, lilafarbene. In den Zentralen meiner Gehirnrinde brummten Stromleitungen und trugen diese Emulsion des Lichts, das durch seine zerstörerische Kraft Funken zu Kugeln, Details und Kristalle zu einheitlichen Mosaiken presste, von Zelle zu Zelle. Das Foto wurde zu einem beweglichen Bild: dieses Mädchen, verloren zwischen den Orangenbergen und den Bananenflechten, zwischen kleinen, pyramidal an den Wänden aufeinandergestapelten Holzkästen, an denen zusammen mit den Kästen aus dem rötlichen Afrika angekommene Plakate angeklebt waren, verloren zwischen den wurmstichigen und ekelig schleimigen Schalen, die Kinder sogleich vor Ort wegzuwerfen pflegten, zwischen den sommerlichen Fliegen (schwarzen, dicken) und den Mäusen, die es in den Wänden sicherlich gab – wovon auch die Löcher in den Ecken zeugen, die man mit Glas und Papier zustopfte – wirkte dieses Mädchen mit den aschegrauen Locken, den mandelförmigen, großen Augen darunter und dem so lieben und weißen Gesicht einfach engelhaft. Ich weiß nicht, wie ich es entdeckt hatte: es scheint, diese Entdeckung war die Frucht meines Herumtreibertriebs. Und da ich zu dieser Zeit 138 RELA Branislav Glumac in einem modrigen, kalten Dachgeschoss wohnte, blieb mir auch nichts anderes übrig, als die Zagreber Straßen mit dem Sand meines Herumtreibens zu bestreuen, Nase und Augen in Schaufenster, Menschen und Gänge zu stecken und jenes verfluchte Etwas zu suchen, das stets in der Luft zu hängen schien, tatsächlich aber gar nicht existierte. Dieses Etwas war mehr als Vitamine, mehr als die Freiheit selbst, es sammelte sich in meinen Nasenlöchern als jener verführerische Duft, dem Jagdhunde folgen. Es grenzte an Inspiration, an die Komprimierung sogenannter Lebensfakten zum – Extrakt. Diese Etwas hatte ich, dank meinem Trieb, zwischen den goldenen Orangenbergen entdeckt. Durch das schmierige Glas der Auslage erblickte ich zuerst ihre Augen. In gleichen Augenblick dachte ich: kann denn jemand mit derart großen, engelhaften Augen hinter verschmiertem Fensterglas glücklich sein? Diese Frage plagte mich die ganze Zeit, als das Mädchen dort war. In dieser Frage hatte ich plötzlich ein Bedürfnis gefunden, ein richtiges Bedürfnis, das genügte, um mich von all jener Lava des Kummers und der Leere zu erlösen, die sich die Jahre hindurch an den Kreuzwegen meiner Eingeweide verhärtete. Niemals hatte ich ihre Stimme vernommen. Es handelte sich um meine stumme, tierische Zuneigung. Umso mehr gab ich mich ihr hin. Alles, was mit ihr zu tun hatte, geschah auf Distanz, in einem Zwischenraum, dem ich die Grenzen, sie aber denn Sinn verliehen hatte. Ich war immer auf dieser Seite, auf der Straße, habe die Schwelle des Geschäfts nie überschritten, in der Absicht, die Vollkommenheit des Spiels zu bewahren. Wenn sich mehrere Käufer im Geschäft aufhielten, ging ich mutiger an das Schaufenster heran und betrachtete sie: was für eine Harmonie steckte doch in ihren Bewegungen! Musik! War das Geschäft jedoch leer, versteckte ich mich hinter dem nächstbesten Baum – als hätte die Natur gnädig vorgesorgt, und ihn gerade an dieser Stelle wachsen lassen – mit einer Zeitung oder einem Buch in der Hand, nur so, um etwas zu tun, das nur mit mir, der Zeitung und dem Baum zu tun hat. Manchmal regnete es und ich wurde nass bis auf die Knochen, aber das war ein süßes Opfer, eines der süßesten unter jenen illegalen Opfern, die sich nur selten wiederholen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich jemals wieder die Herbheit dieser Süße erlebt hätte! Es gab Tage, an denen sie nicht im Geschäft auftauchte und an diesen Tagen dachte ich an das Schlimmste: irgendein betrunkener Fahrer habe sie überfahren, sie sei unter die Straßenbahn geraten und jene schweren, abgenutzten Räder hätten ihr die Beine unter sich zermalmt. Es handelte sich vermutlich um einfache Erkältungen, die in Übergangszeiten heimtückisch zerbrechliche Körper befallen, aber ich hatte nicht die Kraft, an etwas derart harmloses zu denken und so dachte ich an den Tod. Erst, als sie ein Paar Tage später wieder erschien und ihr Gesicht bleicher war als sonst, wusste ich, es handelte sich um eine Verkühlung und litt rückwärts: meine ganze Seele war dann verkühlt und fiebrig. Erst nachdem ihre Augen jenen alten Glanz zurückerlangt hatten, genas auch meine Seele. Mein Körper war in ihrem Körper, mein Gedanke in ihrem Gedanken. Genauso war es auch während jener schaurig kalten Winter: ich sah sie zittern, zusammengekauert neben ihrem schmutzigen elektrischen Heizkörper Marke „Elra“, in billigen Astra-Stiefelchen auf der Stelle tappen und in diesem Augenblick begannen eisige Froststrahlen durch meine Adern zu schnellen, Knochenschmerzen und Schüttelfrost verursachend. Die Passanten warfen mir mitleidsvolle Bli- TIONS cke zu, sodass ich wusste, worum es ging: ich klapperte mit den Zähnen. Es war dies aber jene falsche Art Mitleid: eingehüllt in den Pelz ihres eigenen Wohlbefindens, in diese warme, haarige, gleichgültige Haut sattgegessener Bürger, ließen sie mich in ihren Blicken keinerlei Wärme erkennen, außer diesem bitteren, saueren Mitleid. Und gerade dies erniedrigte mich am meisten, am schamlosesten, denn diese Blicke schienen nur eins sagen zu wollen: mir, dem Bürger, ist es warm! Es waren nicht diese Blicke, die mich erregten: ich hatte meine innere Glut, tief in mir drinnen, in meinen Gedanken wärmte ich sogar meine erfrorenen Finger daran. Und diese Glut stand dort, neben dem elektrischen Heizkörper Marke „Elra“, ja, einmal, nur einmal hatte ich gesehen, wie eine Maus zwischen ihren Beinen hindurchlief und sich hinter jenen Kästen versteckte. Sie sprang verängstigt auf und hätte gerade in diesem Augenblick nicht ein Käufer das Geschäft betreten, ich hätte es wahrscheinlich getan. Und so hätte ich meinen größten Fehler begangen. Gut, dass jener Mensch Lust auf goldene Orangen verspürt hatte! O ja, wir haben – habe ich überhaupt das Recht, wir zu sagen? – allerlei Szenen erlebt. Zum Beispiel: eines Tages betrat ein frisch rasierter alter Mann das Geschäft. Mit einer neuen, sehr modernen Krawatte unterm Kinn, die er dort in der Langen Gasse gekauft hatte (ich habe später solche Krawatten auf Reklameprospekten gesehen). Der Alte trat leise ein. Als sei sein ganzes Leben so verlaufen: ohne Sturm, ohne Erschütterungen, an allem hatte er genug, stets hielt er in der linken Hand die Gabel und in der rechten den Löffel, nie begann er als erster zu essen, er schlürfte nicht, als er Suppe aß und warf die abgenagten Knochen stets auf einen anderen, sauberen Teller. Er lebte in einer vollkommenen, engen RELA TIONS Ordnung, die funktionierte wie eine Schweizerische Omega-Uhr, solange jene winzigen Zahnräder und Federn funktionierten, die seine Drüsen, seine Därme und seine Libido bedeuteten. An dann, als das Alter daran zu nagen begann, als seien Energie auf ein Minimum geschrumpft war, bekam der Alte auf einmal Lust auf Bananen. Und noch dazu im Wonnemonat April. Er kaufte eine ganze Flechte, es wird wohl ein ganzes Kilogramm gewesen sein, stellte sich mitten im Geschäft auf – wie ein Heerführer mitten im Schlachtfeld – und begann, die Bananen derart gierig und gefräßig zu schälen, dass einem sogleich die Lust am eigenen Leben verging, an der eigenen Geburt und allem, was auf dem Weg zwischen Geburt und Tod wertvoll sein konnte. Er fraß und spuckte auf den Boden. Die ungekauten Stücke schleuderte er mit Genuss aus sich heraus: es sah aus, als würde er Gebisse und einzelne Teile des rötlichen Afrika ausspucken. Alle Bananen hatte er aufgefressen (vielleicht waren es ja seine letzten), die Schalen um sich auf den Boden geworfen und sie noch dazu mit den Füßen zertreten, dann rülpste er laut und verließ ruhig und würdevoll das Geschäft. Auf der Straße war er wieder jener alte Mann, der ein stilles Leben führt. Und das Mädchen? Das Mädchen sah ihm die ganze Zeit ruhig und freudig zu: es schien, als würde sie den Anblick des Alten genießen, als würde sie instinktiv verstehen, was Leben bedeutet und was diese fürchterliche Alter! Als hätte sie intuitiv erkannt, dass solche Augenblicke im menschlichen Leben jene letzten Unterwasserriffe bedeuten, auf denen wir alle einmal auflaufen werden. Ich sah den Glanz der Vergebung in ihren Augen und wollte dabei dem Alten nur gehörig eine runterhauen! Ich, ein erwachsener Mann, der soviel Bosheit kennen gelernt hatte und eigentlich die Menschen verstehen müsste, die vor Branislav Glumac den Toren des Todes stehen! Ruhig griff sie nach einem großen Lappen, wischte den Boden sauber und warf die Schalen in den Müll. Während sie das tat, bemerkte ich zum ersten Mal ein Lächeln auf ihrem Gesicht: ein Lächeln das von Verständnis zeugte, von Solidarität mit etwas, was sie nicht verstand, es aber mit den Fühlern ihres Instinkts berührt hatte. An den Tagen, an denen sie Nachmittagsschicht hatte und spät abends nach Hause ging, ging ich ihr nach. Während ich ihr folgte, hielt ich Abstand von ihr. Warum folgte ich ihr? Aus Angst, es würde ihr etwas zustoßen? Vielleicht auch deshalb. Der wahre Grund lag aber in jenem, das wir das Nichtmaterielle, das Geistige nennen: sie war ein ideal geschaffenes Kind der Natur, in ihr begann und endete die Welt der Freude, der Reinheit. Ich folgte ihr – und genoss dabei ihren leichten Schritt – bis zur Straßenbahnhaltestelle, weiter traute ich mich nicht. Auch wollte ich nicht sehen, das sie ebenfalls in einem bestimmten Haus mit Hausnummer wohnt. Ich beobachtete, wie sie geschickt die Straßenbahn betrat, den Fahrschein löst und dann irgendwo im Inneren des Wagens verschwindet. Die Straßenbahn fuhr los, ich aber sah ihr noch lange nach, bis die Dunkelheit sie nicht verschlungen hatte. Zwei-drei Jahre ging das so weiter. Dann aber – langer Rede kurzer Sinn – war das Mädchen einfach verschwunden. Keine Spur blieb von ihr übrig. So etwas kommt im Leben eben vor. Natürlich war ich untröstlich, natürlich suchte ich alle Obstläden in Zagreb nach ihr ab. Ich habe sie nicht gefunden. Auch das kommt vor. Und schließlich, an einem Abend, sagt man zu sich selbst: alles geht vorbei! Alles ist jetzt hier, im Haustor. Sie ist wieder in meiner Nähe, noch nie war sie mir so nahe, und ich war so verdammt leer und es reizte mich nur der Duft von gutem altem Rindfleisch. Wie viele Jahre mögen seither 139 wohl verflossen sein? And die zehn werden es wohl gewesen sein. Was bedeutendes hatte sich in der Zwischenzeit in ihrem Leben geändert und was in meinem? In meinem gar nichts: ich treibe mich noch immer von Haustor zu Haustor herum, reise von Straße zu Straße, wittere in der Luft altes Rindfleisch und trage ein und dieselbe Krawatte. Das hört sich einfach niederschlagend an: dass ich zehn Jahre lang ein und dieselbe Krawatte trage! Ich könnte mich damit ja nicht einmal mehr erhängen! Was hatte sich in ihrem Leben verändert? Wer kann das schon wissen? Sie war einfach erwachsen geworden, ein gutes Weibchen, das geübt an ihrem Kaugummi herumkaute. Sie wuchs aus jenem ersten Wesen, das ich gekannt hatte, einfach in ein anderes über, das mir vollkommen fremd und abstoßend war. (Sie hatte mich ja nicht einmal eines freundlichen Blickes gewürdigt.) In ihrem Leben stieg sie scheinbar empor (wohin?), ich sank in meinem hingegen immer tiefer und tiefer, immer aussichtsloser hinab. Und dennoch, der Unterschied zwischen uns ist jetzt geringer als damals. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht mehr, und wenn dem so sein sollte, kann ich ihr ja ruhig anbieten, sie ins Bett zu führen. Oder nein: ich könnte ihr erzählen, wie sie war, denn sie weiß mit Sicherheit nicht, wie sie war, auch ich weiß nicht, wie ich war, und niemand kann mit Sicherheit von sich behaupten, zu wissen, wie er einst gewesen ist. Es wäre aber vollkommen sinnlos, ihr zu erzählen, wie sie einst gewesen ist. Mir sind – das ist nichts neues – die Zigaretten ausgegangen und ich würde sie so gerne um eine bitten. Das will ich aber nicht. Ich bückte mich nach einem (das mache ich immer in Haustoren) größeren Zigarettenstummel, den sie weggeworfen hatte. Während ich mit der Hand danach griff, spürte ich, dass ich zittere. Ich spürte ihren Blick 140 RELA Branislav Glumac auf meiner Hand. Etwas knackte in meiner Wirbelsäule. Ein Kurzschluss irgendwo in den Trafostationen, dachte ich, um mich irgendwie vor mir selbst zu rechtfertigen. Meine Finger waren jetzt ganz nahe an der Kippe. Du musst, musst einfach die Kraft aufbringen, sagte ich zu mir selbst: heb sie auf! Du musst einfach! Die Nähe des narbigen, fettigen Betonbodens ließ Übelkeit in mir aufkommen. Ich hob die Kippe auf und faltete sie mit Mühe gerade. Sie sah mich verachtungsvoll an und kaute immer schneller. Was soll ich tun? wollte ich sagen. In meinem Leben hat sich eben gar nichts verändert. Was soll ich tun? Ich gehe von Haustor zu Haustor, es gibt aber auch bessere Tage: Tage, an denen es nicht regnet und an denen ich genügend Zigaretten bei mir habe. Ich wollte ihr das sagen, aber gerade in diesem Augenblick hupte ein Alfa-Romeo mit italienischem Kennzeichen. Irgendein männliches Gesicht schrie aus diesem blechernen Tier: – Mirjam... vieni... – oder etwas in dieser Art. Das Mädchen lief in den offenen Wagen hinein. Bevor sie losrannte, warf sie ihre zur Hälfte angezündete Zigarette weg. Ihre Glut berührte mein Gesicht. Was soll ich tun, wo ich doch so ungeschickt bin und nicht zur Seite getreten war? Wieder waren wir allein, der fettige Regen, ich und der Duft von altem Rindfleisch in der Luft. Und das Haustor voller Wasser. Noch etwas Wie Šonja gestorben ist M ein Vater kannte viele Geschichten, unter anderem auch diese über Šonja, den Schreiber von Todesanzeigen. Er war ein alter Mann, hager und hochgewachsen, mit einer Adlernase und Augen so lebendig und glänzend, wie die eines Jungen. Dieser Šonja! Man sagte, diesen Glanz hätte ihn der Tod selbst verliehen, jene schwarzen, dichten Buchstaben, die er so abgestorben niederschrieb. Man kann mit Recht behaupten, dieser Mann sei dem Tod gegenüber völlig abgestumpft gewesen, ja wenn in der Woche nicht mindestens zwei Menschen starben wurde er unglücklich und erkrankte. So war Šonja! Vielleicht nicht so sehr, weil er es gern hatte, wenn Menschen starben, sondern wahrscheinlich aus purer Gewohnheit. In solchen „Dürrewochen“ spazierte er über den Friedhof, allzu traurig, allzu finster, und rück- te jene Buchstaben auf den Kreuzen zurecht, die vom der Witterung niedergefegt wurden. Es war schwer, an solchen Tagen ein Wort aus ihm herauszubekommen. Und dennoch, obwohl er in einer kleinen Stadt wohnte, gab es für Šonja Arbeit in Hülle und Fülle. Vor allem im Winter, wenn alte Menschen von Erkältungen dahingerafft werden. Dann rieb er seine Hände vor Freude. Wirklich vor Freude? Ich würde das nicht so sagen, aber soll es doch so bleiben, wie es mir mein Vater erzählt hat, der es von anderen Leuten gehört hatte. Man nannte ihn Šonja, niemals bei seinem richtigen Namen. Warum gerade Šonja? fragte ich meinen Vater später, als ich bereits erwachsen war, aber er konnte mir darauf nie eine Antwort geben. Šonja trug immer eine kleine Schnapsflasche bei sich und dazu eine nicht ausgefüllte Todesanzeige. Obwohl TIONS war geblieben: die Möglichkeit, dass eigentlich niemand neben mir stand, dass es mein allzu müdes und gereiztes Auge gewesen war, dass sich den ganzen Spuk eingebildet hatte. Wer kann mir denn mit Sicherheit garantieren, dass jemand überhaupt neben mir gestanden war? Wer? Vor allem an einem derart fettigen, verregneten Nachmittag, wo sogar die Kanten der Häuser zweifache Konturen bekommen. Darum geht es eigentlich, sodass ich das Bild wieder zum Foto werden lasse und dann zum Negativ. Eigentlich ist alles zweifach. Es geht so, aber auch so. Nehmen sie es auf, wie es ihnen gefällt. Mir gefällt von allem am meisten der Duft von altem Rindfleisch in der Luft. man ihn deshalb nicht selten zum Besten zu halten pflegte, flößte Šonja Respekt ein, weil er wusste, morgen, wenn nicht sogar heute könnten du oder ich bei ihm schon an die Reihe kommen. Der Tod ging Šonja nichts an und er überlebte viele Generationen. Da er spürte, dass die Menschen Angst vor ihm hatten und sich der Tatsache bewusst war, dass er von der Zeit umgangen wird, machte Šonja ihnen von Zeit zu Zeit auch selbst Angst, indem er dem einen oder anderen sagte, „seine Leber sei schon ein wenig angezehrt“, einem anderen wiederum „seine Lungen seien verfault“ und er werde sich, „dem heiligen Anton sei Dank“, in ein Paar Tagen endlich in seinen Händen befinden. Natürlich, es ist leicht, den Menschen mit den letzten Dingen Angst zu machen, sowohl den klugen, als auch den naiven. Trotzdem scheint es, Šonja habe eine gewisse Weisheit in sich getragen, die aus einem leichten Sarkasmus und seiner Sicherheit RELA TIONS im Umgang mit anderen Menschen bestand. Er pflegte nämlich vor niemandem und niemals über etwas zu klagen. Seine wichtigste Krankheit schleppte er, in sich verankert, mit sich herum. Ich glaube, dieser Krankheit kann ich heute ruhig einen Namen geben: es war dies die Angst vor dem Tode. Jenen, die ihn gekannt hatten, wäre so etwas nicht einmal im Traum eingefallen. Für sie war Šonja schon beinahe ein Teufel, denn – wie mein Vater einmal sagte – wer mit dem Tode spricht, muss etwas teuflisches in sich haben. Das mit diesem Teufel war, natürlich, nicht von Belang, denn Šonja verdiente mit dem Schreiben von Todesanzeigen einfach sein täglich Brot, über vierzig Jahre war das schon so gewesen. Ich glaube nicht, es sei ihm selbst leicht gefallen, fremde Namen in die Todesanzeigen einzutragen und dabei nicht ein einziges Mal an seinen eigenen zu denken und an die Hände seines Nachfolgers, der mit seinem Namen dasselbe machen wird. Šonja war des öfteren Gast in unserem Haus, weil mein Vater guten Schnaps zu brennen pflegte, mit dem stets auch Šonjas Name und seine kleine Flasche in Verbindung standen. Ich war damals noch ein kleiner Junge und fürchtete mich vor ihm; ich hatte Angst, er würde mich zum Friedhof tragen und mich zwischen den Trauerweiden zurücklassen, die dort so sonderbar murmeln und rauschen. Šonja besuchte uns meist gegen Abend, setzte sich sogleich an den Tisch und zog seine Flasche aus der Tasche: nur aus ihr wollte er trinken, nur zu ihr hatte er Vertrauen, und bevor er den Heimweg antrat, machte er sie jedes mal bei uns wieder voll. Es war geradezu undenkbar, dass Šonja mit leerer Flasche nach Hause geht. Šonja war ein groß gewachsener Mann von stattlicher Statur und ich kann mich noch gut erinnern, dass ihm unser Tisch bis an den Bauch reichte. Wenn er trank, Branislav Glumac trank er schweigend und genoss jeden einzelnen Schluck. Darin war er ein regelrechter Künstler. Er hob die Flasche, wobei er ihre Öffnung nur ganz sanft mit dem Rand seiner Unterlippe berührte, und kitzelte dann mit dem kleinen Finger leicht ihren Boden, sodass der Schluck von selbst in seinen Hals rollte. Wie geschickt er das nur tat! Leicht ließ er dabei auch seinen Adamsapfel erzittern, was er mit Absicht tat, weil man ihn dafür bewunderte. Šonjas „Geschäft“ befand sich gleich hinter dem Friedhof. Dort hinzugehen bedeutete für jedermann, ein Stück des eigenen Lebens dort zu lassen. Aber die Toten müssen eine angemessene Todesanzeige bekommen und darin war Šonja wahrhaftig ein Meister. Seine Kalligraphie gab, genau wie die Blockbuchstaben, klar und deutlich zu wissen, dass es sich um ein selbstentwickeltes Talent handelte, das sich in diesem mühevollen Schreiben zur Gänze verbraucht und aufgelöst hatte. Schade, dass sich Šonja niemals an der Malerei versucht hatte! Seine Fantasie, die er zweifellos besaß, wäre dabei bestimmt zu voller Geltung gekommen. Šonja empfing seine „Kunden“ an seinem stets fettigen „Pult“, als sei er ein Fleischhauer oder etwas ähnliches. „Aha“, rief er dann, „auch ihn hat er geholt... hm, hm... ich habe es ja gespürt...“ Niemand erhob ernsthaft Einspruch dagegen, da Šonja seinem Gegenüber sogleich mit dem Tod anzudrohen pflegte. Und das waren schwerwiegende, unheilschwangere Drohungen, umso mehr, da Šonja sogleich hinzuzufügen pflegte, er werde „höchstpersönlich, mit, sieh mal, dieser seiner Hand, die Buchstaben in die Todesanzeige hineinschreiben.“ So begann Šonja allmählich unser Städtchen zu beherrschen. Anfangs war es ein stiller und unaufdringlicher Terror. Šonja war sich seiner Übermacht wohl bewusst und so begann er, Fleischhauer aufzusuchen, 141 die ihm Pferdefleisch gaben (jedes andere Fleisch war Šonja zuwider), Molkereien, wo man speziell für ihn wohlscheckende harte Käsesorten anfertigte, Schneider und Hutmacher, die ihm Anfang jedes Monats eine schwarze Schleife und einen Seidenhut schicken mussten. Natürlich waren auch alle anderen Berufe darunter. Der Höhepunkt von allem waren jedoch Šonjas Besuche bei den Todkranken, oder jenen, denen der Tod bereits aus den Augen hervorlugte. Šonja wusste genau, wer wann sterben werde. Bei diesen Besuchen ereignete sich jedoch etwas hoch interessantes, was Šonjas Gestalt einen völlig neuen Charakterzug verlieh: Šonja tröstete die Sterbenden. Er sagte ihnen, es handle sich nur „um eine vorübergehende Erkältung, eine leichte Verkühlung, die vorübergehen werde, sobald im Frühling wieder die Sonne zu strahlen begänne“ usw. Šonja wusste, dass es sich dabei um Lügen handelte, aber die Barmherzigkeit musste ja früher oder später einmal aus seiner derben Seele herausbrechen. Die Sterbenden hielten seine Hand, sahen selig in seine Augen hinein und erwarteten von ihm die Güte der Erlösung: schöne, gerade Buchstaben auf ihren Kreuzen. Es war dies ein gegenseitiges Einverständnis, das die Lebenden nicht begreifen konnten. Die Lebenden hassten ihn, die Sterbenden hielten ihn für einen Heiligen. Und wie es bei lebenden Menschen nun mal so ist, wenn sie die Übermacht des Stärkeren spüren, begann man an Šonja Rache zu üben, wollte ihn von seinem Thron stürzen, um den eigenen ruhigen Schlaf wiederzuerlangen. Es wurden Gruppen und Grüppchen gegründet, die heimlich zusammentrafen, um Vorschläge zu diskutieren, wie denn Šonja zu beseitigen, oder zumindest zu verschrecken sei. Verschiedene Ideen kamen ihnen bei diesen Treffen in den Sinn, aber keine von ihnen war tödlich ge- 142 RELA Branislav Glumac nug. Šonja, so schien es, würde etwas davon ahnen, deshalb hielt er sich so oft in der Nähe dieser Menschen auf und wurde dabei auf einmal redselig, fröhlich und mild. Vielleicht hatte ihm ja auch jemand zugeflüstert, was ihm blühte. Dann unternahm Šonja einen großen taktischen Schritt. Acht Tage lang war er nirgendwo zu sehen. Man sorgte sich um ihn und schickte Boten aus, um sich zu erkundigen, wie es um seine Gesundheit stünde. Die Boten wollten natürlich hören, Šonja gehe es nicht gut, kehrten aber jedes Mal voller Enttäuschung zurück: Šonja ging es sehr gut. Die Tage zogen dahin und nach wie vor war keine Lösung in Sicht. Würde man ihn töten – würde man im Zuchthaus landen. Schriebe man ihm Drohbriefe – das wäre sinnlos. Unter den Menschen findet sich aber immer wieder jemand, der die besten Ideen hat. So ereignete es sich, dass zu einem dieser Treffen ein Buckliger erschien, der Stadtkrüppel, den alle auslachten und verhöhnten, nicht so sehr wegen seines Buckels, sondern weil er so „verrückt“ war. Ein Gezeichneter soll dem Teufel eins auswischen? Was für eine Ironie! Humor! Aber genau das folgte. Es herrschte Stille, während der Bucklige sprach, denn die Menschen hören, wenn sie etwas brauchen, auch jenen zu, die sie sonst verachten. Nach der Ansprache des Buckligen wurde Šonja noch in derselben Nacht angeklagt und starb am nächsten Morgen. Der Mensch, den es nicht mehr gibt I mmer saß er am Fenster, dieser Mensch, den es nicht mehr gibt. Unaufhörlich las er Zeitung. Nur ab und zu riss er sich zusammen und blickte in die Ferne, zum Fluss hin, der sich träge an unserem Viertel entlang zieht. Ich hatte damals das Gefühl, dieser Mensch würde sich auf etwas großes vorbereiten, er würde, zum Beispiel, eines Tages sein Haus verlassen und für immer verreisen. Wann immer ich so etwas dachte, griff er, als würde er ahnen, dass ich ihn beobachte und seine Gedanken enthülle, schleunigst wieder zur Zeitung. Zuerst legte er eine dunkle Brille auf, strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er etwas schweres, schmerzhaftes abwischen, und tauchte dann voller Leidenschaft wieder in seine Buchstaben ein. Jahrelang machte er es so und jahrelang wollte ich herausfinden, wer dieser Mensch sei, warum er jeden Tag am Fenster sitzt und Zeitung liest, warum er sich nicht ein einziges Mal in die Welt hinausbegibt, in die Natur, aber meine Absicht verzögerte sich nur von Tag zu Tag; am Morgen vergaß ich sie und am Abend fiel sie mir wieder ein. Erst als ich ihn eines Morgens nicht mehr im Fensterrahmen, genauer gesagt, hinter diesem, sitzen sah, entschloss ich mich, ins Haus gegenüber zu gehen und zu fragen warum er nicht dort sei; er fehlte mir, ich war aber auch neugierig. Dieser Mann, den es nicht mehr gibt, und an den ich immer öfter denke, als sei er mein Freund gewesen – ein großer, guter Freund, obwohl wir niemals ein Wort miteinander gewechselt haben – hatte ein einfaches, ganz alltägliches Gesicht. Schütteres Haar, hohe Stirn, Schnabelnase und kurzer, schwarzer Bart. Nur die schwarze Brille, die er nie ablegte – zumindest habe ich ihn das niemals TIONS Worum es sich wohl handelte? Der Bucklige kam auf die Idee, an der Tür von Šonjas „Geschäft“ eine Todesanzeige anbringen zu lassen, auf der in großen, dicht geschriebenen Buchstaben zu lesen steht: Gestorben ist unser lieber Šonja. Friede seiner Seele. Möge er in Frieden ruhen. Seine trauernden Mitbürger. Die Todesanzeige wurde angebracht und am Morgen fand man Šonja tot, vor der eigenen Tür, mit dem Rücken zur Erde, mit einem verschlossenen Auge und einem, dass noch immer leicht schielte; als habe ihm das „möge“ in „möge er in Frieden ruhen“ nicht besonders gefallen. tun sehen – verlieh seinem Gesicht einen ausgeprägteren, geheimnisvolleren Ausdruck. Was sein Äußerliche betrifft, muss er sich schon im reifen Alter befunden haben. Dennoch kenne ich auch heute noch jede seiner Bewegungen, jede Grimasse habe ich im Gedächtnis behalten, die er schnitt, bevor er zur Zeitung griff und mit der Hand über das kleine, trübe Fenster strich, und heute ist mir viel klarer, warum er das gerade auf diese Weise tat. Da ich von Beruf Psychologe bin, hatte ich ausreichend Zeit, seine Erscheinung zu erforschen. Umso mehr, da ich alleine lebte und da mir meine Einsamkeit unzählige Vergnügen bereitete. Ich hatte den Eindruck, auch er lebe alleine, da ich niemanden sah, der ihn besuchen würde. So gesellte sich die eine Einsamkeit zur anderen. Dieser Mensch, den es nicht mehr gibt, war am gleichen Tag hierher gezogen wie ich; nämlich, als wir unsere Wohnungen bekamen. Ich weiß nur noch, dass ich ihn am ersten RELA TIONS Morgen nach meiner Ankunft zum ersten Mal gesehen habe. Er saß am Fenster und las Zeitung. Ich dachte damals: soll er doch Lesen, wenn er Zeit dazu hat! Ich erinnere mich, es war Frühling, als wir beide hierher gezogen waren. Das Gras spross bereits auf den Feldern, die über unser Blickfeld verstreut lagen. Hier und da blitzten kleine Wasserlachen und unser Fluss rauschte freudig. Er murmelte wie ein kleines Kind. Immer, wenn ich mich an diesen Frühling erinnere, besehen aus dem Zimmer, in dem ich mich jetzt gerade befinde, überkommt mich eine angenehme Sinnlichkeit. Es war so ein anschmiegsamer Frühling, besprenkelt mit blühenden Bäumen, Sternen am blauen Himmel und meinen Illusionen, mein Leben werde noch einmal von vorne beginnen. Ich hatte mich geirrt, wie jedes Mal, als ich beschloss, etwas Starkes zu beginnen oder zu ändern, und bald darauf traf auch ein schwerer, schwüler Sommer ein, auf den ein verregneter Herbst folgte, der meinen Illusionen einfach den letzten Hieb versetzte. Und hätte es diesen Menschen, den es nicht mehr gibt, nicht gegeben, vielleicht hätte ich Selbstmord begangen. So sehr belastete nämlich die Erkenntnis, man könne nicht aus seiner Haut und die Welt sei nicht im geringsten zu ändern, meine Nerven. Dieser Mensch, den es nicht mehr gibt, saß, also, bereits am ersten Morgen unserer stummen Bekanntschaft am Fenster und las Zeitung. An einem späteren Morgen, gerade als die Frühlingssonne am stärksten schien, bemerkte ich folgendes Detail: dieser Mensch, der meinen Träumen gegenüber wohnte, hatte sich auf einmal aus dem Fenster gelehnt und Arme und Kopf der Sonne entgegengestreckt. Es war dies eine instinktive, dumpfe Bewegung und ich hatte schon Angst, er würde aus dem Fenster fallen, denn wir wohnten im sechsten Stock. Ich wollte schreien, Branislav Glumac konnte es aber nicht. Als er wieder seine ursprüngliche Stellung eingenommen hatte, spürte ich eine Erleichterung, jene Art von Erleichterung, die man verspürt, wenn man jemandem zusieht, der über ein hochgespanntes Seil geht und dieser jemand endlich vom Seil steigt und mit dem Fuß auf den Boden aufschlägt. Seit diesem Ereignis begann ich ihn jeden Morgen zu beobachten, denn ich fürchtete, er würde irgendeine Dummheit begehen. Eine Ahnung wurde in mir wach. Auch ich hätte in diesem Fall Verantwortung zu tragen, nämlich vor mir selbst. Aber derartige Szenen haben sich meines Wissens nicht mehr wiederholt. Aber jenes Bild seiner sehnsuchtsvoll der Sonne entgegengestreckten Arme band diesen Menschen unerwartet an mich. War es die Angst um ihn oder etwas größeres? Habe ich mir unbewusst gewünscht, dass er vom Fenster fällt? Nein, letzteres auf keinen Fall, stets wehrte ich mich gegen diesen bösen Gedanken, der mich zu vergiften begann. Ich unterdrückte diesen Gedanken, kaute an seinen Fingernägeln, er aber wuchs und wuchs. Ich sah diesen Menschen fallen, sah, wie das Hirn aus seinem Schädel herausrinnt, wie es spritzt und sich über das grüne Gras ergießt... immer öfter sah ich das im Film meines Unterbewusstseins und ekelte mich vor mir selbst. Dafür überkam mich jeden Morgen der Wunsch zu schreien: „Mensch, tu das nie wieder! Ich habe Angst um dich!“ Aber alles war vergebens: das Bild entstand und verschwand wieder, das Blut wechselte die Farbe, das Gras verdorrte an der Stelle, an der er aufschlug... oh, in meinem Kopf wurde es immer schwärzer und schwärzer. Ich werde noch verrückt, sagte ich zu mir selbst, wenn ich diesen hinterhältigen Gedanken nicht von mir weise. Ich höre auf, an ihn zu denken, was geht dieser Mensch mich an, soll er sich hinabstürzen, 143 wenn er es so will, viele haben es bereits getan und die Kugel dreht sich nach wie vor und niemanden stört es, dass sie gestürzt sind, dass sich das Blut in saftige Säfte der Muttererde verwandelt hat, im Gegenteil, denn es blieb viel mehr Raum für jemand anderen übrig... oh, ich konnte diesen Andrang von Gespenstern wirklich nicht mehr ertragen. Zwei Morgen habe ich ihn nicht gesehen. Ich steckte meinen Kopf ins Kopfkissen und verband mir mit einem Strick die Beine. Es war widerlich, schmerzhaft, denn der Strick schnitt sich unbarmherzig in meine Haut ein, während mein Kopf voller Geräusche war, voller Stimmen und Schrie, die die Farbe der unbekannten Stimme jenes Menschen hatten. Bevor ich meine Beine verbunden und den Kopf ins Kissen gesteckt hatte, zog ich die schwarzen Vorhänge an meinem Fenster zu. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, niemals. Ich werde in die Küche gehen und die andere Seite der Welt betrachten, dachte ich, brachte aber nicht die Kraft auf, dies auch tatsächlich zu tun. Die Angst trat in mich ein, erfüllte mich wie ein Eindringling. Ich lag im Dunkel und draußen war Frühling, ein gelber Frühling, ein blauer Frühling, durchdrungen vom gesunden Geschrei der Kinder, die ihre Kindheit wachrüttelten. Es roch auf einmal nach Veilchen. Safranduft drang in mein Zimmer. An diesem ersten Tag, so fest verschlossen meine Ohren auch waren, hörte ich, wie ein Krankenwagen mit heulender Sirene durch unser Viertel raste. Ein schneidender Schrei, ein deutlicher Schrei, scharf wie ein Bohrer. Es ist vorbei, vorbei, wiederholte ich. Er ist gefallen. Er wurde zerschmettert. Ich hatte aber nicht den Mut, aufzustehen und nachzusehen. Meine Beine wurden steif wie Holz und vor meinen Augen tat sich ein Abgrund auf, in dem der Kopf jenes Menschen blühte. Eiskalte Schweiß- 144 RELA Branislav Glumac perlen drangen aus meiner Stirn. Abermals heulte die Sirene auf und verschwand gleich darauf. Es blieb nur ihre Spur, eingeschnitten in das Gewebe meiner Hirnmembrane. Die Stille schloss sich. Ich lauschte angestrengt, aber von draußen war nichts zu vernehmen. Später zwitscherten die Vögel. Am nächsten Tag lag ich im Fieber. Ich erkrankte und es war mir, als gäbe es für mich keine Rettung mehr. Die Stille wurde immer unheilvoller. Durch den oberen Teil des Fensters zog sich ein Sonnenstrahl hindurch und erstreckte sich über die Wand an der ich lag. Ein schlimmes Zeichen, sagte ich zu mir selbst. Wieso war er gestern nicht da, der Sonnenstrahl? Gab es gestern denn keine Sonne? War es denn finster? Mit ohnmächtigen, brennenden Augen betrachtete ich den Strahl. Licht! Werde ich jemals dazu kommen, es zu sehen? Mein Körper schmerzte, nichts war mit ihn anzufangen. Er war zugestopft wie eine geölte Maschine. Der Strick war tief ins Fleisch eingedrungen. Es brannte. Wenn mir doch nur jemand ein Glas Wasser bringen würde! Diese verdammte Einsamkeit! Mit großer Mühe schaffte ich es, mich auf die Seite zu drehen, und glitt dann auf den Boden hinab. Ich spürte den leichten Schmerz des Schlages. Ich kroch. Unten, in der Wohnung unterhalb von meiner, hatte jemand den Wasserhahn aufgedreht. Das Wasser floss und rauschte, dann war auch dieses Rauschen verschwunden. Ich brauchte nur einige Schritte bis zur Küche, konnte sie aber nicht tun. Das Wasser plätscherte in meinem Kopf, unser Fluss floss in meinen Adern. Sein Rauschen wurde zu Musik. Auf einmal entdeckte ich ein Feld voller Gänseblümchen. Hügel aus meiner Kindheit. Es war Nachmittag. Ich ging durch einen Wald, die Äste knackten und stachen mich, aber ich ging weiter. Blut tropfte aus meinen Armen. Grüne Kreise, gelbe Kreise... brennende Flughäfen... Birkenalleen im Vorüberziehen, Vorüberziehen... Vor Sonnenaufgang wachte ich auf. Mein Kopf war schwer; eine weitere Birke zog rasch vorbei. Trotzdem spürte ich, dass in meinem Körper ein noch ein winziger Funken Kraft übriggeblieben war. Das machte mir Mut. Ich spürte auch etwas Freude am Leben; alle Dinge traten durch eine Nebelwand wieder in meine Augen ein. Der Strick fiel mir ein. Langsam begann ich, ihn zu lösen. Heute muss ich den Menschen sehen, den es nicht mehr gibt! Ich muss es, sonst werde ich noch verrückt. Langsam stand ich auf, wie ein Kranker; im selben Augenblick fiel ich wieder zu Boden, weil das Blei in meinen Beinen immer härter und schwerer wurde. Ich versuchte es erneut. Beim zweiten Mal gelang es mir, auf den Beinen zu bleiben. Bang näherte ich mich dem Fenster, spürte mein Herz wie einen kleinen Spatz in meiner Kehle. Werde ich ihn sehen? Hat ihn jener Krankenwagen denn nicht aus dem Gras und vom Beton aufgelesen? Ich zog die Vorhänge auseinander: eine dünne Rinde aus Dunkelheit schwebte über der Erde. Ich wartete. Ich sah ihn nicht am Fenster. Es ist noch früh, tröstete ich mich. Ich hinkte zur Küche und trank ein Glas Wasser. Das tat meinem trockenen Körper gut. Wieder stand ich über das Fenster gebeugt da. Der Morgen graute. Autos rasten die Straße entlang, dann liefen ein Paar Menschen vorbei, dann kam ein Säger mit seinem Sägefahrzeug und in einem Zimmer wurde das Licht ausgeschaltet. Eine Hand zog langsam Vorhänge auseinander. Mensch, danke, dass du erschienen bist! Mensch, es ist so schön, dich zu sehen, wie du wieder Zeitung liest und meiner Seele ihren Frieden zurückgibst. Du bist nicht gestürzt, dich hat man nicht aus den Gras und vom Beton aufgelesen TIONS und das ist das Wichtigste, obwohl jener böse Gedanke von mir gerade das gewollt hat. An diesem Tag ging ich ruhig in die Stadt. Ich kam spät zurück und als ich das Zimmer betreten hatte, schaute ich sofort hinüber: er war da und las! Es folgte ein Sommer voller drückender Schwüle. Die Berge in der Ferne färbten sich Purpurrot. Die Sonne kochte die Erde; der Lauf unseres Flusses wurde immer enger. Aber den Menschen, den es nicht mehr gibt, störten weder die Sonne, noch die Schwüle, noch die langen Tage, die kein Ende nehmen wollten. Er las unermüdlich. Mein Tag wäre geradezu undenkbar gewesen ohne ihn. Nein, dieser Mensch bereitete mir kein Vergnügen, dieser Mensch wurde ein Teil von mir, ein wertvoller Gast, der leise in mein Leben eintrat. Immer wieder fürchte ich um ihn, wenn ich in die Stadt gehe. Schnell erledige ich meine Angelegenheiten und eile zurück. Das ist keine Angst mehr – es ist ein Albtraum. Und daran bin ich alleine schuld. Auch für die Leere, die eintrat, nachdem er verschwunden war. Denn dieser Mensch gab mir durch seine Anwesenheit Energie, um überhaupt etwas zu tun, um nachzudenken, um mir einzubilden, die alten Straßen würden mein Leben ändern. Mein faules Leben, mein wankendes Leben. Die Energie, mit der dieser Mensch an ein und demselben Ort ausharrte machte mir Mut; seine Konzentration gab mir die Kraft der Vernunft. Ich habe gesagt, ich wollte verschieden Dinge von neuem beginnen. Mit ihm wäre mir das auch gelungen, wäre er noch ein Paar Jahre am Fenster sitzen geblieben. Ich verfehlte viele Ziele, wechselte so manchen Beruf und blieb am Ende jedes mal besiegt: in jeder neuen Arbeit stieß ich auf allzu viel Trivialität und Sinnlosigkeit, um sie danach noch mögen zu können. Dieser Mensch, den es nicht mehr RELA TIONS gab, war meine einzige Chance: ich wollte eine Studie über ihn schreiben, in der ich meine Erfahrungen mit der gesamten Menschheit zusammenfassen würde. Ich wollte ihn zu meinem Werk machen. Und in diesem Sommer erschien er eines Morgens nicht mehr am Fenster. Ich spürte, das etwas passiert war, vielleicht war sogar etwas Fürchterliches passiert, denn dieser Mensch war immerhin mein Gewissen. Stumm starrte ich auf sein Fenster und wartete auf sein Erscheinen. Branislav Glumac Von meiner Hoffnung genarrt, stand ich den ganzen Nachmittag so da, aber er erschien nicht mehr. Auch am darauffolgenden Tag nicht. Auch nicht einen Tag später. War es ihm zuwider geworden, sich ans Fenster zu setzen? Hatte er das Elend von allem was lebt gesehen, als er mein Leben gegenüber des seinigen betrachtete? Hatte er die Sinnlosigkeit entdeckt? – Solche Fragen plagten mich, während ich die Stufen in seinem Stiegenhaus emporstieg. Ich klingelte. Ich schreibe eine Geschichte von einem Tag voller Kleinigkeiten D as Laub fällt von den Bäumen, der Sommer geht dem Ende zu (ganz ehrlich) – das war das erste, was ich festzustellen vermochte, nachdem ich meinen Oberkörper über das Fensterbrett gelehnt und meine Arme in die frische Luftmasse getaucht hatte. Es begann ein weiterer später Oktobermorgen. Man erwartete den Herbst. Ich wohne gegenüber des Armeehauptgebäudes, in einem heruntergekommenen vierstöckigen Wohnhaus, dessen Vorderseite verträumt auf einen winzigen japanischen Park blickt, hinter dem sich die gewölbte Linie des Ostens erstreckt, wo die Sonne ihre Weltreise beginnt. So ist mein Zimmer schon in der Frühe voller duftender orientalischer Gewächse und Sonnenschein habe ich schon in den frühen Morgenstunden in Hülle und Fülle. Die Nachtwache wird abgelöst. Im festen Schritt der herankommenden Soldaten spürt man die morgendliche Freude: im hämmernden Schritt jener, die gehen, spürt man eine ganze lange Sternennacht, Müdigkeit und Schlafentzug, die sich in den vom Stehen angeschwollenen Gelenken angesammelt haben. Müllmänner tauchen auf. Träge und unwillig ziehen sie sich dahin. Alte Weiber tragen kleine Körbe zum nahe gelegenen Markt: ihre Schritte sind winzig und voller Eile, vielleicht denken sie an Kartoffeln, vielleicht an Wassermelonen. Man kann deutlich hören, wie unbarmherzig die Straßenbahnen durch die verschlafenen Straßen dröhnen. Fabriksirenen bohren sich in den Morgen hinein. In den Zimmern des Armeegebäudes beginnt der Arbeitstag: die Offiziere setzen sich an ihre Schreibtische, die Sekretärinnen sind bereits am Tippen. Ich sage: Das Laub fällt von den Bäumen, der Sommer geht dem Ende zu, Maschinen, dazu irgendein Ticken, irgendwelche Hüte, Köpfe und verschiedenes mehr, was an meinen Augen vorbeischnellt. All das ist nicht genüg für meine zukünftige Geschichte. Nicht einmal für ihren Anfang. Das ist alles sehr, sehr banal. 145 An seiner Tür war kein Namensschild angebracht. Ich klingelte erneut. Aus der Nachbarswohnung trat eine Frau und rief mich mit einer Handbewegung zu sich. Sie wollte mir von ihm Erzählen, von seinem Ende. Ich trat ein. Vielleicht war dieser Mensch, den es nicht mehr gibt, auch im Recht: hatte es sich denn gelohnt, zu leben und dabei das Leben nicht zu sehen? Mit stets ein und derselben Zeitung in der Hand. Doch (hören sie) es geht gerade eine junge Frau die Stiege unseres Hauses hinunter. (Vielleicht sollte hier meine Geschichte ansetzen? Das ist nicht schlecht, so wahr mir Gott helfe. Werde ich es schaffen, den ersten, kräftigen, starken Satz niederzuschreiben?) Ich kenne das Echo ihrer Schritte nur allzu gut, denn diese junge Frau sehe ich jeden Morgen (wenn ich mich so wie jetzt über das Fensterbrett lehne), würdevoll, mit der Flasche in der Hand, Milch holen gehen. So habe ich ihre Schritte auswendig gelernt. Niemand aus unserem Haus weiß genau, woher diese Frau kommt. Man sagt, sie kam in einem kalten Winter, an einem Januartag, als herrliche Winterwolken über den Himmel hüpften. Angeblich kam sie aus einem Provinzstädtchen im Nordosten des Landes. Außerdem meinen unsere Mieter, sie sei eine kleine Schlampe, sie lasse sich mit Fremden ein, verschlafe die Tage und „arbeite“ nachts. Dabei verzerren sich die Münder jener, die das behaupten, zu einem boshaften Lächeln. Aber mich geht das nichts an, ich pfeife darauf, was jene sagen, deren Augen blutig und animalisch werden, wenn sie im Stiegenhaus diese schöne, junge Frau 146 RELA Branislav Glumac erblicken. Sie hat den Gang einer Gazelle. Immer, wenn ich sie erblicke, und das passiert nicht oft, nur an solchen Morgen, wird in mir die zärtliche Erinnerung an meine erste Liebe wach, die dieselben Augen hatte, wie diese Frau. Da ist sie, sie ist schon auf der Straße, gleich wird sie an meinem Fenster vorübergehen. In ihrem purpurfarbenen Haar nisten Sonnenstrahlen. Sie wird wie gewohnt ein wenig halt machen (natürlich, ich errate so etwas immer!) und die Tauben vor unserem Haus mit Brotkrümeln füttern (Gott, ist sie gut!). Ich gebe diesen Tauben nichts und es scheint mir, dass mich diese junge Frau dafür verachtet. Und eins sollte man wissen: Diese Frau hat mich bisher kein einziges Mal angesehen. Kein einziges! Obwohl ich mir das jedes Mal herbeisehne. Verachtet sie mich denn wirklich wegen der Tauben? Bin ich denn so hässlich? Sie hat mit dem Füttern der Tauben aufgehört, mit ihrer freien Hand eine Locke weggewischt, die ihr über das Gesicht gerutscht war und geht nun an meinem Fenster vorbei. Sie schaut nach vorne, ihr Blick verschwindet in der Ferne. Sie muss eine kleine Schlampe sein, beginne ich boshaft nachzudenken, wenn sie immer nur vor sich hin sieht. Die Mieter in unserem Haus werden doch wissen, dass es so ist, das muss doch einen Grund haben! Aber ihre Erscheinung, die sich noch immer durch mein Blickfeld bewegt, belebt auch an diesem Morgen meine Erinnerung. Und nicht nur das: diese Frau machte den Morgen und damit auch den Beginn meiner Geschichte irgendwie nervös und beinahe lüstern. Ihr Körper zerriss meine Stille und brachte mich zum Träumen. Ich stelle mir vor, anstelle des Armeegebäudes befinde sich eine Wiese und wir beide liegen zwischen den Gänseblümchen. Wie der Regen rede ich zu ihr und sie hört mir zu, wie ein Gänseblümchen.. ich... AUFSTELLEN IN REIH UND GLIED, dringt eine raue Stimme (des Wachdienstoffiziers) in unsere Wiese ein und unsere Gänseblümchen fallen tot neben uns nieder. Deshalb belasse ich es vorerst bei dieser Wiese, den Gänseblümchen, und das Rauschen eines imaginären Flusses sollte ebenfalls zu hören sein. An dieser Stelle, in der Geschichte, die ich später zu erzählen versuchen werde, kommt ein Schornsteinfeger vor: – morgen, guten morgen, wiedersehen, auf wiedersehen. Seine Stimme ist weich, ein reiner Bariton, und gehört mit Sicherheit zu einem Chor: vielleicht ist der Schornsteinfeger die Stütze eines Kirchenchors während der großen Sonntagsmesse? Dann fallen die Mieter aus unseren Haus heraus: die Arbeitselemente der Gemeinschaft. Ihre Augen sind noch verschlafen, von ihren Lidern hängen Trauben unbeendeten Schlafs herab. Jožek schimpft aus Gewohnheit über das Leben, er schimpft auf diese verdammten Morgenstunden, die von den Menschen erfunden wurden, er schimpft auf jene, die den Kohlepreis in die Höhe getrieben haben (denn der Sommer geht dem Ende zu und der Herbst wird jeden Moment in der Stadt Einzug halten) und schließlich, wie jeden Morgen, hustet er sich aus und spuckt ein paar Mal auf den Boden, nachdem sein Speichel bereits vom nahe gelegenen Baum hängt). „Ha, Nachbar“, murmelt er und verschwindet, ohne den Satz zu beenden, als hätte er mit diesem „ha, Nachbar“ sagen wollen: „Du langweiligst dich wohl, was? Du kannst nicht pennen, hm? Und ich muss arbeiten gehen, du verschlafener feiner Herr...“ Und Jožek geht, auf seinen schiefen, dünnen Beinchen schaukelnd, mit seiner kleinen, schmutzigen Tasche unter dem Arm, in der sein geheiligtes Tischlerwerkzeug, seine Brotzeit und ein paar warme, menschliche Träume ruhen. Einen Augenblick lang tut mir unser TIONS armer Jožek Leid und ich beschließe fest, an dieser Stelle in meine ungeschriebenen Geschichte, in der auch seine Person leben wird, einen schönen Satz über ihn zu schreiben, in dem ich seinen Lohn erhöhen, den Kohlepreis senken und nicht zulassen werde, dass ihn die alte Lujza jeden Sonntag mit dem Nudelholz schlägt. Das lasse ich nicht zu, so wahr mir Gott helfe! Und die Nacht will ich ihm verlängern, um diese Paar wertvollen Morgenstunden, in denen es sich am glücklichsten und sorglosesten träumen lässt und in denen sich das Leben und alle anderen Dinge rosa färben. Und seinen verdammten Wecken will ich anhalten, der sein Todfeind ist und hundsgemein alle Traumballons platzen lässt, die in Jožeks Kopf herumfliegen. O, wie schwer muss das sein, auf Befehl einer einfachen Uhr aufstehen zu müssen! Und es schien mir, ich würde Jožek deutlich vor mir sehen, wie er schimpft und dabei seine gelben Katzenaugen reibt, wie er wütend zu Lujza hinüberblickt, die seelenruhig in ihrem Nachthemd weiterschläft; ich spüre Jožeks Gedanken, die sich schneller drehen als der Sekundenzeiger und sie drehen sich alle darum das schreckliche und beschissene Leben in einem derart stickigen Zimmer voller abscheulichen Gestanks und Schnarchens, im ersten Halbdunkel des Morgens, und wie auf dieser Welt doch Ungerechtigkeit herrscht, sogar was die Träume betrifft: während der eine von etwas schönem träumt (sagen wir, von einer Wiese voller Gänseblümchen, einem blauen See und einem Schloss auf dem Berg, meint der Autor dieser Geschichte), spürt er, Jožek, der Tischlergehilfe, wie eine bittere Flüssigkeit aus dem Mundwinkeln heraus sein Kinn hinabgleitet, dass seine Knochen nicht alle am rechten Platz sind, und sucht im Dunkel nach dem Täschchen, in das seine Alter (die – pfui! – immer noch schnarcht) noch gestern Abend seine RELA TIONS bestimmt schon vergammelte Brotzeit eingepackt hat. Dabei denkt er, es sei tatsächlich nicht gerecht, dass er nicht noch etwas Zeit zum Schlafen hat, dass er seine Beine nicht gespreizt in die Luft heben und dabei in aller Ruhe seine erste Zigarette rauchen kann. Ach, Jožek, armer Jožek, es gibt zu viel verdammtes Unrecht auf dieser Welt, aber wenigstens diesen morgendlichen Schlaf sollte die Menschheit besser und gerechter untereinander verteilen, nicht wahr? Bist du meiner Meinung, Jožek? Ich setze mich dafür ein! Ich werde auf jeden Fall zusehen, dass ich auch Jožek in meine Geschichte mit einbeziehe, ich spüre aber, dass das nicht so leicht sein wird, es sei denn, ich widme ihm eine ziemlich trübselige Passage. Denn Jožeks Leben ist eine traurige Prozession eintöniger Tage, die mit dem widerlichen Speichel aus seinen Mundwinkeln beginnen und mit fürchterlichen Flüchen enden: eine lange Kolonne solcher Morgen, die er hinter sich herzieht, wie schwere, graue Ketten; eine Unmenge von Flüchen und tuberkulöser Spucke, zurückgelassen auf dem Gehsteig unserer Straße. Der Leser wiederum mag ohne Zweifel solche trübseligen Passagen nicht, deshalb wird es besser sein, statt auf Jožek auf die Person jener schönen, jungen Frau zurückzugreifen, die so gut ist (weil sie die Tauben füttert) und zu so angenehmen Gedanken verleitet. Und sieh da, es ist wahrhaftig ein Wunder, da erscheint sie wieder! (Die Morgensonne spiegelt sich in ihrer Milchflasche.) Wieder sieht sie gerade vor sich hin und geht achtlos an meinem Fenster vorüber. Ich hüstle, säusle und mache winzige, versteckte Bewegungen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich hier am Fenster stehe und sie ansehe. Der jungen Frau ist es egal, was ich mache: einen Augenblick macht sie halt, bückt sich (ihr Körper macht Branislav Glumac einen verführerischen Bogen) und hebt ein Kastanienblatt vom Gehsteig auf. Dann stehst sie ein wenig still, sieht es an und lächelt. Ob sie an jemanden denkt? Ob sie sich an die vergangene Nacht erinnert, die sie in einem Ausflugsort mitten in einem Wald voller solcher Blätter verbracht hat? Ob sie an ihrem Hals die Berührungen von jemandes Lippen spürt? Was sie wohl sieht, in dieser kleinen, gewöhnlichen Blättchen, das der Baum mürrische abgeschüttelt hat? Lüsterne Liebe? Vielleicht ist es ja ein ganzes Leben, dass sich da in den Äderchen dieser grünen Materie verzweigt hat? Und während ich mich mit derartigen Fragen abplage, zieht ein Lächeln in ihr Gesicht ein, das plötzlich ernst und melancholisch wird: die Lippen werden zu einem Strich, die Augen wässrig vor Traurigkeit. Sie zerknüllt das Blatt und wirft es ärgerlich auf den Gehsteig. Bald höre ich, wie sie die Stufen emporsteigt und im Schloss verschwindet. Einen Augenblick lang ist die Straße leer: sie ist der Raum, den meine Gedanken, Assoziationen und Erinnerungen durchlaufen. An langen Gedankenfäden schwebe ich wieder zur Straße hinab und bin schon weit, weit weg. Jetzt befinde ich mich schon in meiner Heimat, im Hof unseres alten Hauses, in dem mein Vater Pflaumenschnaps brennt. Ich stehe neben ihm, er bemerkt mich nicht einmal. Ich bin gekommen, Alter, um dich nach den Pflaumen zu fragen und nach dem Weinberg, sage ich, nur um die tiefe Stimme meines Vaters zu hören. Er aber hört mich und beschäftigt sich im gleichen Rhythmus weiter mit den Pflaumen, sodass mir nichts anderes übrigbleibt, als in meine Straße zurückzukehren, durchs Fenster in mein Zimmer zu steigen und mich wieder hinauszulehnen. So. In diesem Augenblick verlässt wieder ein Nachbar das Haus. 147 Das ist ein neuer Satz meiner Geschichte und ich spüre, es ist nicht mehr das, was sich so lange als die Erfahrung dieses Morgens angesammelt hatte: eigentlich ist dieser Satz nur ein Trost für den Geist, der in die Höhe fliegen und dort wunderschöne Worte für meine künftige Geschichte finden wollte. Dieser Satz klingt irgendwie trocken und leer, obwohl er das Substantiv Nachbar enthält, das sich auf einen Begriff bezieht: Mensch, was wiederum ein Leben beinhaltet, das hinter dem langen Tisch der Tischlerei „Henč“ stattfindet, von 7 bis 14 Uhr, mit 25.000 Gehalt, und für die Menschen außerordentlich gemütliche Couchs herstellt und Bänke, für alle, die fernsehen. Ferner befindet sich im Satz das Verb verlässt, das eine Bewegung bezeichnet, das Streben eines Menschen nach einem Ziel, und noch vieles mehr: so geht aus dem Inhalt dieser beiden Wörter hervor, dass dieser Mensch mein Nachbar ist, der gerade zur Arbeit geht und dessen Augenlieder ebenfalls von Unausgeschlafenheit zeugen. Hinter sich lässt er eine schwer verdaute Nacht, in der ihm dieser verdammte Katarrh zu schaffen machte und dieses hartgekochte Rindfleisch, das drei Tage lang im Kühlschrank stand. Dann stellt sich heraus, dass die Sonne und dieser Morgen diesen Menschen froh machen, denn er steht bereits seit drei oder vier Minuten vor unserem Haus, die geschlossenen Augen in jene Richtung gewandt, aus der die Sonne kommt. Und so weiter, denn die Dialektik der Dinge könnte sich ins Unermessliche entfalten und wir würden am Ende zum Schluss kommen, dass dieser Mensch, der sich der Sonne freut, einmal sterben wird, genau wie ich, dass man ihn in einen Sarg der Tischlerei „Henč“ legen und nach Mirogoj fahren wird, falls er eine Familiengruft besitzt; ansonsten wird sein Grab auf einem Friedhof am Stadtrand von Zagreb geschau- 148 RELA Branislav Glumac felt, wo das hohe grüne Gras so selbstzufrieden gedeiht und wo die Leiche in Rekordzeit zerfällt und sich in duftende Säfte verwandelt, die durch die Gänge von Muttererde wandern und eines Tages an einem anderen Ort als Ölstrahl hervorschießen, oder zu Tau werden, der verdampft und sich in Wolken verwandelt, die Wolken in Regen und so weiter und so weiter in dieser endlosen Dialektik der DINGE. Lassen wir deshalb unseren Nachbarn in Frieden, der die Ursache all dieser Vermutungen war, und überlassen wir ihn der Umarmung seines Katarrhs, der früher oder später als endgültiger Sieger hervorgehen wird. Was will diese Frau? Sie bietet mir frischen Käse, frischen Rahm, frische Eier und einen kleinen Hahn an. – Danke – sage ich – ich bin unverheiratet (dabei lüge ich, das können sie mir glauben). Und die Alte geht wieder: sie verschwindet um die Ecke, während im Korb plötzlich der Hahn zu schreien beginnt. Dieser Hahn, der sich so lauter Kehle aus dem Korb gemeldet hat, weckt in mir ein kräftiges Gefühl, etwas Ursprüngliches, den gesamten Mechanismus der Schöpfung, so etwas wie das Erwachen der Erde nach dem Regen, wie das Wachsen des Grases und des Klees: plötzlich ist mir klar geworden, dass außerhalb dieser urbanisierten Gesetze ein leidenschaftliches Gesetz der Natur besteht, das sich an diesem Morgen im Schreien des kleinen Hahnes zu Wort gemeldet hat, sodass in meiner Fantasie das Bild einer gewaltigen Landschaft entsteht, die sich aufbläht und in der der Mais nach den Wolken greift. Mehr noch: dieser arme Hahn, um dessen Beine heute Mittag irgendwelche Kinder zanken werden, brachte mir an diesem Morgen wundersame Bilder aus meiner Kindheit, grüne Ebenen, die ich abends mit ausgebreiteten Armen entlang lief, Berghänge, an denen verstreut die Weinberge lagen und sanfte, weiße Kirchen, wo mich meine Mutter einst zu Ehren der Muttergottes zur Kirchweih führte. Ein ganzes Panorama aus Bildern und Erinnerungen wurde wach und rüttelte sich auf, und das allein im Schrei eines einfachen, erregten Hahnes. Das mag vielleicht komisch, banal oder sentimental klingen, aber zeigen sie mir einen Menschen, der noch nie gespürt hat, wie eine banale Kleinigkeit an seinem gesamten Wesen rüttelt. Zeigen sie mir den Menschen, in dem eine alltägliche Kleinigkeit nicht eine ganze Welt aus schlafenden Kindheitserinnerungen wachgerüttelt hat. Oder zumindest die sanfte Melodie eines frühen Abends, als er neben einem Bach voller silberner Forellen stand. Das Leben ist tatsächlich eine Collage aus Banalitäten und Kleinigkeiten, deren Summe jedoch auf einmal zu etwas erhabenem wird, zu einer kleinen, vergangenen Welt, deretwegen es sich lohnt, traurig zu sein, einer kleinen Welt, der man trotzdem nachtrauert, ja sogar nachweint. Das ist das Phänomen der Blume, zum Beispiel der Rose, die auf einem Misthaufen Knospen schlägt und blüht. Ja, gerade auf Misthäufen wachsen diese göttlichen Blumen am besten, die wir manchmal in den Taschen unserer Mäntel tragen oder sie als Zeichen unserer besonderen Achtung Frauen schenken. Aber gehen weiter, lassen wir die Misthäufen und die Rosen hinter uns, denn die Sonne ist auf der Leinwand des Himmels schon etwas höher gestiegen und ich habe noch immer nicht genügend Material für meine Geschichte. Auf meiner Uhr ist es halb neun: ich lege sie ans Ohr horche gespannt diesem feinen Vorübergehen und Vergehen der Zeit, dieser präzisen Mechanik eines in Tausende von Zeitpartikeln eingeteilten Tages, von denen eine jede für den Menschen eine Bewegung im Raum bedeutet, einen verlorenen Augen- TIONS blick eines imaginären Glücks, das wir vielleicht hätten besitzen können, hätten wir nicht nur so dagestanden, hier am Fenster, und auf die Straße hinausgeschaut. Die Straße aber ist jetzt voller Stimmen und Lärm: die Menschen hasten in ausgewogenen Parallelen und Diagonalen umher. Sie zu beobachten ist anstrengend, denn ihre Gesichter wechseln ständig in meinem Blickfeld und keines davon kann man zur Gänze festhalten, sondern nur in deformierten Ausschnitten, sodass man sie unbewusst zu unterscheiden beginnt: es gibt schöne Gesichter, aber auch hässliche, sympathische, melancholische oder nervöse. Man wird zum unbewussten Richter über jedes von ihnen und verfügte man in diesem Augenblick tatsächlich über eine derartige Macht – viele Leute, fürchte ich, hätten darunter zu leiden. Meine Frau ist wach geworden. Auch mein Sohn wird langsam wach. Ich sage ihnen, sie sollen weiterschlafen, denn ich müsse ungestört am Fenster stehen und Material für meine ungeschriebene Geschichte sammeln. Ich weiß, die beiden wollen mein Morgenglück stehlen, sich des Blickfelds bemächtigen, das sich vor meinem Fenster erstreckt, aber ich vollbringe Wunder und sage einen Vers auf, den ich in einem kleinen Lyrikband gelesen habe: „Schlaft, die Nacht ist noch mild.“ Ich blicke in diese beiden Augenpaare, die von meinen Worten eigenartig zu glänzen begannen: das ist der Glanz des Schlafens, der Glanz zweier lieber Tierchen, die durch die Magie meiner Wunderworte in Schlaf versetzt werden. Und die schlafen werden, solange ich es will, bis ich diese verhaltene Kraft der Worte, die sich in mir empor strecken und auf dem Papier, das auf meine Geschichte wartet, ihren Platz, ihr Leben und ihre Ordnung finden wollen, nicht ausgepresst habe. Aber wie soll ich diesen Buchstaben und Szenen, die in RELA TIONS meinem Kopf herumspringen, eine Form geben, während ich dem sanften Atem meines Sohnes lausche? Wie soll ich all diese trüben Bilder und Landschaften beleben, die verzerrt in meiner Gehirnrinde entstehen? Wie soll ich diesem gewaltigen Echo eines in diesem Morgen angehaltenen Lebens einen Sinn verleihen? Und dennoch, ich traue mich, mich an meinen Schreibtisch zu setzen und versuche, den Morgen aufs Papier zu schmuggeln. Ich setze mich also hin und resümiere: Zuerst fiel das Laub von den Bäumen, dann kam die Nachtschicht, die Sekretärinnen hatten sich gerade an ihre Schreibtische gesetzt, eine schöne, junge Frau trat aus unserem Haus heraus und brachte mir Traurigkeit, ein imaginäres Feld voller Gänseblümchen; und dann kam Jožek, nach ihm eine alter Frau mit einem Hahn, darauf ein Mieter und dann, und dann... was dann? Ach ja, die Wörter rüttelten sich auf und du dachtest an Blumen, die auf Misthäufen wachsen, wolltest um jeden Preis etwas Gescheites erfinden, jene beiden wurde aber wach, dich hatte der Schrecken gepackt, Angst, sie würden dich des Glücks der Einsamkeit und des Beobachtens berauben und du sagtest zu ihnen: „Schlaft, die Nacht ist noch mild“... und? Du kannst nicht weiter, du großer, mächtiger Vollbringer von Wundern! Du kannst keinen einzigen guten Satz aussaugen! Du bist ein Elend, ohne Blut und Fantasie! Aber sieh doch, das Leben brodelt neben dir – wie man das in Romanen so schön zu sagen pflegt. Wichtig ist eine gute Idee, du aber hast sie nicht – flüstert jemand, der sich in dir versteckt hält. Wichtig ist eine gute Fabel, pass auf – meldet sich jemand anders. Nicht doch, Stil, Rhythmus, das ist wichtig – meint wiederum ein dritter und in Branislav Glumac dir, du bleiche Gestalt, dröhnt dieses Gewirr aus Wörtern und Stimmen, die allesamt nur der Architektur eines Ganzen bedürfen, nur der Komposition, jenes Steins, von dem der große Michelangelo gesprochen hatte. Geh, geh unter die Läute, tauche in die Menge ein und suche – meldet sich wieder jene verhaltene Stimme – was starrst du wie ein Rindvieh in diese weiße Blatt Papier? Geh raus aus diesem Zimmer, das ja doch nichts anderes ist, als eine offene Wunde, neben der sich noch eine solche befindet, und noch viele von ihrer Art, in denen die Menschen wie Insekten aneinander nagen! Du wirfst die Feder weg, hast genug, zerknüllst das Papier und sieh da: aus dem zerknüllten Papier fiel ein purpurfarbenes Haar jener jungen Frau heraus! Du denkst: es ist nur meine krankhafte Fantasie, und wirfst das Papier in den Aschenbecher. Du bist wütend, weil dich nichts gelingen will und weil um dich herum nur Trugbilder sind. Du greifst nach deinem Mantel, ziehst dir hastig die Hose an, läufst auf die Straße... Aber nein, du bist ein achtsamer Ehemann und ein sorgsamer Vater: du kehrst zurück wie ein Dieb, gibst jedem von ihnen einen andersartigen Kuss auf die Stirn, bekommst eine Gänsehaut und läufst wieder auf die Straße hinaus. Du spuckst. ICH HABE eine Zeitung GEKAUFT. Ich lese die letzte Seite: alles nur Morden im heißen Afrika. Tschombe legte einen Blumenkranz auf Lumumbas Grab nieder – (was für eine widerwärtige, abscheuliche Ironie des Schicksals). IN HARLEM KOCHT ES WEITER: SUCHE NACH VIER ERMORDETEN JUNGEN MÄNNERN IN DEN SÜMPFEN DES AMAZONAS OHNE ERFOLG BEENDET; VIERZEHN FRANZÖSISCHE ALPINISTEN KAMEN UMS LEBEN – FRANKREICH IN TRAUER; FÜNF TOTE IM BERGWERKSTOLLEN – ENDTÄUSCHUNG UNTER 149 DEN EINWOHNERN DES KLEINEN BERGBAUSTÄDTCHENS... Ich war starr vor Schreck: wie ruhig war das geschrieben und gesagt worden: „Die übrigen fünf sterben in den Stollen“. Ich spüre mein Blut durch meine Adern schnellen und plötzlich herrscht um mich herum tiefste Dunkelheit. Du bist einer von den fünf, denke ich bei mir, und du hast nur noch wenig Sauerstoff übrig. Du atmest schwer, hustest, ringst nach Luft, deine Zunge hängt heraus, deine Lunge ist ein Ballon, der gleich explodieren wird. Du wühlst in der rohen, feuchten Erde und versuchst zu schreien: aber dein Schrei verwandelt sich in Zähneknirschen. Es wird immer wärmer. Du erinnerst dich, wie dich derartige Situationen, ALS DU NOCH AM LEBEN WARST, an Dampfbäder erinnert hatten. Heißer Schweiß rinnt an dir hinunter, während du darüber nachdenkst, wie es war, ALS DU NOCH AM LEBEN WARST, und du wühlst wieder in der Erde. Deine Kameraden weinen, schreien, und du bemerkst den letzten Glanz in ihren Augen, wie bei einer Petroleumlampe, in der der letzte Tropfen Flüssigkeit gerade am Verbrennen ist. Du versuchst dich so weit wie möglich an dein Leben zu erinnern. Du beginnst mit deiner Kindheit und saugst mit den unverbrauchten Atomen deiner Kraft jeden Tropfen der Milch deiner Jugend ein. Der Rest des Lebens trinkst du in hastigen, großen Schlücken, denn die Finsternis wird immer dichter und der Sauerstoff immer weniger. Du denkst an deine Familie. An deinen Sohn. An deine Tochter, der das Abitur bevorsteht. An die Frau, die oben wartet, über dem Eingang in den Stollen, heiße Tränen fallen auf deine Hände, aber du spürst sie nicht, denn du bist im Kessel. Wieder wühlst du in der Erde und schreist. Auch deine Kameraden schreien. Einer sucht die Hand des anderen. Fremde Fingernägel dringen dir ins 150 RELA Branislav Glumac Fleisch ein und du versuchst, sie herauszuzeihen: vergeblich, die Fingernägel, die Krallen deines Kameraden, werden für immer in deinem siedend heißen Fleisch bleiben. Es kommt dir vor, du seist betrunken und alles sei nur ein böser Albtraum. Du säuselst eine wahnsinnige Melodie vor dich hin. Unklare Stimmen dringen aus dir heraus, im Dunkel werden sie zu gelben, brennenden Kerzen. In deinem Kopf erscheint eine glühende Sonne. Dann verschwindet sie in Kreisen. Du schreist: die Stimmen bedecken dich. Du leckst an der Erde. Schnaufst wie ein Hund. Jemandes Bein hast du ertastet, denkst aber, es sei der Balken einer Tür, die dich hinausführen wird und greifst krampfhaft danach: jener neben dir schreit auf. Wieder erscheint jene Sonne. Und ein gelber Sandstrand, alles auf den Kopf gestellt. Auf deinen Lippen spürst du ein Lächeln... Finsternis. Sonne im Kopf. Gelbe Kerzen. Nägel im Fleisch. Feuchte Erde. Sonne. Wasser. Sonne-Wasser. Kerzen-Sand. Und dann: deine Lungen explodieren. Du stehst nach wie vor mit den Armen zur Sonne, während die Tränen eine nach der anderen über dein Gesicht laufen. Dann senkst du die Arme, senkst den Blick, hebst sie wieder, blickst auf die Menschen und meinst, es gäbe ein fürchterliches Missverständnis zwischen dir und ihnen, einen ganzen Abgrund, der euch unüberbrückbar voneinander trennt. Du möchtest ihnen etwas darüber sagen, was du soeben erlebt hast, aber das viel zu große Herz des Lebens lässt deine Worte nicht heraus und am Ende bleibt dir nichts anderes übrig, als ebenfalls über dich zu lachen. Es ist ein bitteres Lachen, gemischt mit der Finsternis jenes Stollens, in dem ihr fünf gestorben seid. Du zwängst dich durch die blutrünstige Menge, die keine Ahnung hat, dass du an diesem Morgen gestorben warst und soeben zu den Lebenden zurückgekehrt bist. Wieder schlage ich die Zeitung auf. Die Sportseite. Ich verstecke meinen Kopf zwischen den Blättern und nur mein Rumpf geht die Straße entlang. ALPENVEILCHEN, ALPENVEILCHEN ... reißt dich die Stimme eines klei- ICH GEHE an einem Café VORBEI. nen Jungen aus dieser furchtbaren Geschichte und du spürst das Blut zu laut durch deine Adern klappern und stehst da, unter fremden und unbekannten Gesichtern. Dein Herz schlägt heftig. Du möchtest weinen und lachen, dass dich die gesamte Menschheit hört. Du möchtest laut herausschreien, dass du dich nicht mehr in jenem Stollen befindest, aber jener Tod nimmt dir das Recht auf jegliche Freude, obwohl du hastig und mit voller Lunge ganze Trauben frischer Luft einatmest. Du hebst die Arme zur Sonne und spürst eine Träne, die, ohne dass du es wolltest, deine Wange hinabgleitet. Die Menschen stehen um dich herum und lachen dich aus. EIN VERRÜCKTER, hörst du sie reden... EIN IRRER... EIN SCHIZOPHRENIKER... Kleine Oasen für vormittägliche Geliebte, Schmuggler, Hooligans und durchgefallene Mediziner. Auf kleine, runden roten Tischen mit ColaFlaschen und Espresso-Tassen fällt grün-gelbes Laub. Im Vorübergehen bemerkte ich jemandes schöne grüne Augen. Voller Glanz und Sehnsucht blickten sie in die Ferne. Diese Augen gehören nicht in dieses schmutzige Café, dachte ich, diese Augen gehören jenen grünen Räumen, deren Sehnsucht in ihnen brennt. Vielleicht irre ich mich, vielleicht werde ich sentimental, vielleicht sind das die Augen irgendeines Mädchens aus der Provinz, das bald ihr Studium beginnen wird und jetzt in den letzten Zuckungen seiner Nostalgie an seine Heimat zurückdenkt. Es erinnert sich, wie es an einem solchen Vor- TIONS mittag barfuß über das nasse Graß trottete oder über den Schotter an den Geleisen entlang lief. Es schien genau dieselbe Sonne. Es wehte eine milde Brise. An einer Seite der Strecke wuchsen Akazien und murmelten vor sich hin. In der Ferne lagen Kleewiesen und Maisfelder; Stoppelfelder, aus denen blauer Rauch aufstieg. An einer Stelle stellte sich ihr plötzlich ein Bach in die Quere und sie machte halt. Sie beugte sich über den ruhigen Spiegel des Wassers und erblickte ihre gestalt, ihr rotes Gesicht... Aber nein, nein! All das habe ich gerade erfunden: denn all diese Akazien, dieser Klee, die Stoppelfelder und der blaue Rauch, dieser murmelnde Bach – all das gehört zu meiner Heimat. Und warum sollte ich jemandem meine Heimat borgen? Sagen sie mir das! ICH BETRETE die Hauptarterie der Stadt. Die Luft ist durchdrungen von menschlichem Gemurmel, Anliegen, Wünschen, Sehnsüchten, aber mir ist an diesem Morgen, als habe das alles keinen Sinn. Dieses nervöse Aufeinanderprallen und fachmännische Ausweichen von Körpern, die mit unbeschreiblicher Routine, von ihren eigenen Wegleiterinnen geleitet, umhereilen; diese frühmorgendliche Jagd auf „unser täglich Brot“, in der Menschen zu Jägern und untereinander scheinbar zu stillen Feinden werden; dieses blitzschnelle Händeschütteln mit dem obligatorischem Blitzen ihrer Gebisse, die nach unverdautem Fleisch riechen, nur damit das Gesicht am Ende einen strengen und mürrischen Ausdruck bekommt und irgendwo im Raum verloren geht, wie jener kleine Fleck, der kurz auf der Leinwand des morgendlichen, jetzt wie Fischsuppe klaren Himmels aufgetaucht war; dieses Meer bedeckter und unbedeckter Häupter, die auf ihren kräftigen, dünnen, buckligen, alten und jungen Rümpfen herumhüpfen, all RELA TIONS das kommt mir vor wie ein Brei, der von unbekannter Hand zusammengerührt und in diesen Engpass geworfen wurde, damit die Winde des Schicksals ein wenig mit ihm herumspielen können. Und trotzdem, zum Teufel, jede dieser Individuen ist die Bewegung einer Möglichkeit im Raum, ein vorgezeichneter Weg im Abgrund der Zeit, der Sinn eines noch unentdeckten Ziels, nach dem man sein Leben lang so hartnäckig sucht und der sich letztendlich doch nicht eröffnet. Denn sie ist ja so orgastisch, diese ewige Reise des Lebens, die Fahrt durch Stürme und Windstillen, die sich in eine stille, alternde Hoffnung verwandelt, eine Täuschung und einen Trost, es sei niemals zu spät, man müsse mit allem aufs neue beginnen und es gäbe noch immer eine imaginäre Insel des Glücks. Ich bemerkte ein kleines, verschmiertes Mädchen, das vor dem Schaufenster eines Geschäfts stand. Sein Gesicht war übersäht mit herrlichen goldenen Sommersprossen, die aussahen, als habe man sie von der Sonne selbst gestohlen. Sein rotes Haar fiel in Zöpfen auf ihren halbwegs sauberen Hals, das fahle Kleidchen umrahmte seinen zierlichen kleinen Körper. Warum steht dieses kleine Wesen in dieser Arena, umgeben von versteinerten Gesichtern, routinemäßigen, rauen Jägern des menschlichen Glücks? Was sucht es vor dem Schaufenster dieses Geschäfts? Wo irren seine Gedanken umher? Das ist auf jeden Fall eine interessante Frage, deshalb sollten wir uns das Schaufenster einmal ansehen: Dort befindet sich ein buntes Reich stummer und eingesperrter Tiere. Bärchen mit traurigen, gläsernen Augen sitzen in den Ecken, Hasen mit langen Ohren scheinen laufen zu wollen, ein grünes Hündchen, eine Wildente, ein Elefant, ein zottiger Hund, ein Reiher, ein langbeiniger Storch und noch viele, viele sol- Branislav Glumac che und ähnliche Nachahmungen echter Wald- und Wasserbewohner. Das Mädchen steht da, bohrt sein Näschen in die milchige, schmierige Glasscheibe und seine Augen funkeln mit traurigem Glanz. Vielleicht träumt es, jener große Bär gehöre ihr? Vielleicht reist es auf dem Rücken des schlankbeinigen Storches irgendwohin? Vielleicht meint es, es sei doch eine Ungerechtigkeit, dass es keines von diesen Tierchen hat, während seine kleinen Nachbarinnen ganze Familien davon besitzen. Gerade während ich diesen Fragen nachgehe, kommt eine geschminkte Frau aus dem Laden. Sie besieht ihre neue Tasche, die sie soeben gekauft hat und in der sich die Sonne spiegelt. Nach langem besehen kommt es ihr in den Sinn, dass das kleine Mädchen ihr gehört. Sie kommt auf es zu und haut ihm eine runter („weil man die Nase nicht an das Glas des Schaufensters halten darf“). Dann fragt sie kühl: „Gefällt dir meine neue Tasche?“ „Gefällt mir“, antwortet das weinende Kind, dessen stumme Sommersprossen unter den feuchten Tränen jetzt noch schöner wirken, beinahe, als seien sie aus Gold. Ja, sie sind es auch! UM ELF UHR sitze ich im Redakti- onskollegium („man muss ja auch ein wenig arbeiten“). Wir sitzen an einem langen Tisch, wir neun verärgerte und reizbare Menschen, und machen Sendungen für das abendliche Radioprogramm. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zum Fenster, in dem ein ausgeschnittenes Viereck des klaren Himmels schwimmt: nirgendwo auch nur der kleinste Fleck, nur ein zitternder Vorhang aus Luft vor meinen Augen. Ich möchte diesem verlockenden himmlischen Viereck entgegenfliegen und wie ein Fakir oben in der Höhe ausruhen, wo alles so sauber ist, doch da kneifen mich aus klebriger Nähe kreischende und streitsüchtige Stimmen an. Im Nu ist die Illusion 151 verschwunden und ich falle wie aus heiterem Himmel unter die fremden Gesichter, die die gestrigen Sendungen bewerten. Das ist unerhört langweilig und für einen Kulturmenschen auch ein wenig beleidigend. Doch die Richter sind unerbittlich: sie zwingen einen zum Reden. Als sei sein Wort von Wichtigkeit, als würde sich davon die Umlaufbahn der Erde ändern und als sei es mehr, als leeres Echo! Ich merke wie ein Kleingeld aus Wörtern aus meinem Mund fließt und bekomme davon ein süßliches Gefühl zwischen den Zähnen: ich rede aus purer Langeweile, aber alle sind glücklich! Die Qual ist vorbei. Wir stehen auf. Manche schieben sich ihre Bleistifte hinters Ohr, wie Kaufleute. Es ist nach Mittag. ICH GEHE den Weg, den ich am Morgen gegangen war, ZURÜCK. Ich habe die Hauptarterie der Stadt schon hinter mir, ebenso das Café, und befinde mich bereits an der Ecke meiner Straße. Teller und Löffel machen klingende Geräusche. GUTEN APPETIT, jemand sagt auch ZUM WOHL. Jemand rülpst. DER SALAT IST AUSGEZEICHNET. IN DER SUPPE IST EINE FLIEGE. PFUI! DIE KARTOFFELN SIND ZU SALZIG. EINE OHRFEIGE SETZT EIN. KLATSCH! DU HAST MEIN NEUES KLEID RUINIERT, DU GEMEINER MENSCH. UND DIESE FLIEGE IN DER SUPPE UND DIESE GRÄTE IM HALS UND – ZUM WOHL – EBENFALLS – DANKE. MEINE FRAU, mein Sohn und ein gedeckter Tisch warten schon auf mich. Ein Kuss für die Frau, ein Kuss für den Sohn. So. Danach rinnt die Suppe blitzschnell die Kehle hinab. Und dein Enzynorm? – fragt die Frau. Und deine Gastritis? Ich schluckte eine bittere gelbe Pille, von der mir die Galle dermaßen hochging, dass ich meine gesamte Straße darin versenken konnte! Fertig. 152 RELA Branislav Glumac AM NACHMITTAG lese ich ein wenig und schlafe. Meine Frau und mein Sohn schlafen ebenfalls. ICH ERWACHE in der Dämmerung, mit einem faden Geschmack im Mund. Die erste Dunkelheit zieht ein. Ich denke an den soeben vergangenen Tag und daran, wie ich aus diesem Teil meines Lebens eine Geschichte zu machen versuche. Eigentlich habe ich es schon versucht und es ist mir nicht gelungen, weil alles irgendwie blitzartig an mir vorbeigeflogen ist. In meinem Kopf ist ein Album mit Bildern und Szenen. Aber aus alldem wird nichts, sagt mir eine Stimme: DAS WICHTIGSTE IST DIR ENTGANGEN. Vielleicht auch nicht: wird das Leben denn nicht mit kleinen Gewichten gemessen? Auch dieser Tag, der bald in eine frische Spätsommernacht übergehen wird, ist eigentlich unermesslich, und zwar gerade wegen seiner Kleinigkeiten und Einzelheiten, die gerade DAS JENIGE sind, in das man seine Fantasie und seine Feder eintauchen sollte. Aber dieser Tag ist jetzt schon etwas Ehemaliges, langsam wird er zur Vergangenheit und ich muss mich zurückerinnern, was ich alles gesehen und erlebt habe. Ich weiß, dass alles mit dem Fallen von Laub begonnen hatte, mit einer jungen Frau aus unserem Haus, mit unseren Mitbewohnern, einem Café, der Hauptstraße, einem ans Schaufenster gelehnten Kindernäschen, meinem Kollegium, dem Mittagessen, Ohrfeigen, und jetzt endet alles im Bett. O, was für eine Ironie! Sieh mal einer an, es ist schon ganz finster und die Straßenlampen gehen langsam an. Aus irgendeiner Wohnung in unserem Haus kommt Musik, ich höre die Schritte der Nachtwache, stehe auf und stehe schon wieder am Fenster, vor dem der Tag ja auch begonnen hatte, genauso wie meine zukünftige Geschichte, für die mir nur noch ein erster, starker, aussagekräftiger Satz fehlt. Sieh mal, die späte Sommernacht. Sieh mal, die Sterne! Sieh mal, Feldermäuse! Sieh mal, die Luft riecht schon nach Herbst. Und was ist mit deiner Geschichte, wie soll diese anfangen und enden, fragt ein innerer Flüsterer. Ich habe keine Ahnung, wo ich beginnen soll. Schau, schau, jetzt will er sich rausreden, sagt die Stimme. Nein, nein, auf keinen Fall, ich habe das alles eigentlich nur geträumt, während ich an meinem Fester stand. Auch den Klee? Ja. Und die Wiese mit den Gänseblümchen? Ja. Auch jene junge Frau, die nun jungfräulich rein in die Nacht eintritt? Tatsächlich, sie steigt hinunter! Ich höre ihre Schritte, das flatterige Rauschen ihres Kleides. Mein Herz schlägt kräftig wie die Glocke einer Dorfkirche. Die junge Frau hat das Haus verlassen und ist mit würdevollem Schritt an meinem Fenster vorbeigegangen. In meinen Nasenlöchern blieb der Duft ihrer Lust. Die kleine Schlampe, denke ich boshaft. Sei still, du böser Mensch, meldet sich jemand in mir zu Wort. Du bist doch nur eifersüchtig! Sieh doch, wie sanft sie der Nacht entgegenfliegt, sieh doch, wie sie vom Mondlicht geküsst wird, wie silbern und rund ihre Schultern sind! Die junge Frau war im Dunkel der Nacht verschwunden. Es befiel mich eine eifersüchtige Wut wegen ihrem Verschwinden, wegen ihrer geheimen Liebe, die nachts erwacht TIONS und die irgendwelchen barbarischen Händen gehört. Dann spürte ich, wie sich eine gewaltige Leere in mir geschlossen hatte und wie furchtbar es ist, so allein am Fenster zu stehen, in die Nacht zu schauen und sich eine ungeschriebene Geschichte auszudenken. Rasch lief ich zum Bücherregal, nahm einen dicken Band heraus, schlug Seite 517 auf und begann, übers Fensterbrett gelehnt, laut zu lesen: Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein. Seht mich nicht an, dass ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt. Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir. Sie haben mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen eigenen Weinberg habe ich nicht behütet. Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht. ICH SUCHTE; ABER ICH FAND IHN NICHT, wiederholte ich lauter und von irgendwoher, aus der Tinte der Dunkelheit, brachte mir der Hauch des herumirrenden Nachtwinds stille, stille Stimmen ans Ohr, die an das Weinen einer Frau erinnerten. Habe ich nicht vielleicht auch das nur geträumt, während ich so am Fenster stand und in die seltsame, poetische Nacht meiner Stadt hinausblickte? Aus dem Kroatischen von Boris Perić RELA TIONS 153 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 154 Poesie Zvonko Maković ZVONKO MAKOVIĆ, geboren 1947. Er studierte Kunstgeschichte und Komparatistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb, wo er heute Professor für moderne Kunst und visuelle Kommunikationen ist. Er hat zahlreiche Gedichtbände, kunsthistorische Monographien und Essaybände veröffentlicht. 2001 wurde ihm der größte kroatische Preis für das gesamte dichterische Werk „Goranov vijenac“ verliehen. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Preis der Kroatischen Sektion von AICA für Kunstkritik ausgezeichnet. Er war Kurator zahlreicher Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und im Jahr 2001 Kurator für Kroatien bei der 49. Bienale in Venedig. Er ist zuständig für die Auswahl der kroatischen Lyrik bei lyrikline.org in Berlin. Auf Deutsch ist er in der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis zu lesen. Schöne Aussichten allem anschein nach verstand er nicht richtig als man ihm sagte: steh auf. er be wegte seine hand und knirschte mit den zähnen und sand beschädigte den zahnschmelz, so dass man ihm wieder befahl aufzustehen, aber keine bewegung. es war nicht notwendig zu wiederholen, sagt der eine, aber, um sicher zu gehen, lösten sie den strick, der das bündel roggen zusammenhielt und warfen ihn hinter sich ohne zu schauen wohin er fällt: besser so, denn er flog der lerche nach, und sie traten wieder heran, danach bum-bum und nichts. er bewegte sich nicht: er lag. und sie: sie nahmen werkzeug und steine in ihren kleidersaum nahmen diesen weg, wo die pfade schmaler sind, ein seil, ein seil, was sonst, trillerte die lerche; RELA TIONS Poesie der Nachbarn dann das foltern: sand in den mund, zähne und zunge sind schon ganz verrenkt, wie ein gelenk, während sie mit ihren armen wedelten um ihn herum, der auf dem ufer liegt und mit den füßen kratzt über die kieselsteine; sie setzten ihre befehle fort: nein und nein, dann bum-bum und wieder grinste die lerche: o, marul1, wer nahm dich, ich bin nicht dein, ich bin ganz mein, wie gewonnen, so zerronnen! bum-bum, bum-bum: nur der kieselstein wurde schwarz vom schießpulver, und das seil, das fliegende, kreiste darüber her und es schien als wäre das der ausschnitt des „jüngsten gerichts“ aus padua, diese aureole über dem heiligen kieselstein – dem wesen, das der gravitation trotzt. das reicht um die fingernägel zu schneiden und sie in polynesien liegen zu lassen. (Aus: Kometen, Kometen) Beispiele Einer, den man erkannt hatte, trug einen hut. sein leicht abgenutzter wintermantel hatte angenähte taschen und er fiel leicht unter den anderen auf. über die anderen gab es keine daten. Einer, rief immer wieder „ich werde mich nicht ergeben“: er war abgesondert von der menge und man hat ihm applaudiert. etwas weiter diskutierte eine andere gruppe über das fußballspiel und 1 Marul ist ein Kosename für Marko Marulić, einen Renaissancedichter. 155 156 Poesie der Nachbarn Einer, der an ihnen vorbeiging, drehte den kopf zur seite. man sagt, heute morgen ist es kalt geworden, der schnee taut nicht und ist nicht mehr weiß. als ich zum ersten mal den schnee erblickte, habe ich mich nicht getraut ihn zu berühren, einst sprach er in der mußestunde Einer, dessen koteletten lockig waren, nur hier und da angegraut. dann betrat Einer, nachdem, er die zeitung gekauft hatte, das kaffeehaus; er setzte sich hin, streichelte seinen bart, legte die beine übereinander, rief den kellner, der gerade vorbeiging. die zeitung war der corriere della sera. er hatte eine ordentlich gebundene krawatte, seinen hut hatte er auf den stuhl gelegt, und die manschetten seines wintermantels waren direkt an den rändern ein wenig abgenutzt. (Aus: Die Tatsachen) Dreistigkeit manchmal spürte er, wie sie ihn beleidigen: – „durch höfliche ansprache“ – „durch vermeidung der begrüßung“ – „durch verschweigen“ – „durch lautes herbeirufen“ – „durch aussprache des namens in falscher betonung“. manchmal schlug er mit geballter faust auf seinen schenkelknochen, um sich selbst zu bestrafen – für das falsche gefühl, das ihn grundlos bedrückte. manchmal, er ging spazieren, ohne gruß, mit tief, tief, RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn unter die haut eingeprägten worten; mit worten, die er keinesfalls aussprechen konnte, ohne scham zu verspüren, dass ihn ausgerechnet sie beschäftigen, die worte, mit welchen er andere beleidigen könnte, mit denen er ihnen vielleicht schmerz wut niedergeschlagenheit zufügen würde – – „durch die mögliche höfliche ansprache“ – „durch die mögliche vermeidung der begrüßung“ – „durch das mögliche verschweigen“ – „durch das mögliche laute herbeirufen“ – „durch die mögliche aussprache des namens in falscher betonung“. (Aus: Die Tatsachen) Drei Abschnitte über eine Tatsache 1. er fuhr die rolltreppe hinab in die unterführung an der oper; er blieb vor dem schaufenster eines blumengeschäfts stehen, dann zog er seinen mantel aus, setzte sich hin, bestellte einen kaffee und schlug das buch auf. an der theke machte ein kreole einem mädchen, das die gläser spülte, den hof. es war elf uhr nachts. das buch, das er gerade las, war hesses peter camenzid. der creole erklärte dem mädchen etwas, grinste und stützte sich dabei mit den ellenbogen auf die polierte theke. „you are a poet“, said the girl after a moment. er wiederholte den satz, der er schon vorher gesagt hatte und betonte einige worte darin besonders. 2. jeder passant konnte von der einen auf die andere seite des opernrings gehen. es ist üblich, mit der rolltreppe hinab zu fahren und zwischen einem café in der mitte der unterführung und einem geschäft an der seite vorbei zu gehen. nicht jeder passant kehrte in dem café ein, das übrigens zu dieser späten stunde ziemlich leer war. selten pflegte jemand, der eintrat, sich an einen tisch zu setzen und ein buch aufzuschlagen. schwer zu sagen, ob jemand in diese bar hereinkam und hesses roman peter camenzid in der bantam book ausgabe las. nur wenige bemerkten den creolen, der dem mädchen an der theke erklärte, dass er neben dem naschmarkt wohne und dass er es langweilig finde, so allein zu sein. auf seite 105 des erwähnten buches steht der satz: „you are a poet“, said the girl after a moment. jemand sagte einen satz und betonte dabei vor allem den schluss. es schien, als wäre eine derartige betonung gerechtfertigt. 157 158 RELA Poesie der Nachbarn TIONS 3. der creole wiederholte ununterbrochen den satz „es ist nicht einmal 500 meter weit weg, glaub mir“, dabei bleckte er die zähne und legte eine besondere bedeutung auf den letzten teil des satzes. das mädchen, das sehr interessiert zuhörte, antwortete nichts. eine andere weibliche stimme redete auf einen gesprächspartner ein und glaubte ihm damit zu schmeicheln, sie versuchte, ihn von etwas zu überzeugen, über das er eine sehr klare meinung hatte. (Aus: Die Tatsachen) Übungen und das offene fenster? – und das offene fenster. und die dinge, die du durch das offene fenster siehst? – und die dinge, die ich durch das offene fenster sehe. und die dinge, die vor dem offenen fenster bleiben? – und die dinge, die vor dem offenen fenster bleiben. und die dinge, die nicht in den rahmen des offenen fensters treten? – und die dinge, die nicht in den rahmen des offenen fensters treten. und die dinge, die du berühren kannst, weil sie vor dem offenen fenster stehen? – und die dinge, die ich berühren kann, weil sie vor dem offenen fenster stehen. und die dinge, die ungreifbar sind, weil sie hinter dem offenen fenster stehen? – und die dinge, die ungreifbar sind, weil sie hinter dem offenen fenster stehen. und die dinge, die nah sind, und die dinge, die fern sind? – und die dinge, die nah sind, und die dinge, die fern sind. und das offene fenster? – und das offene fenster. und das fenster, das nicht offen ist, aber offen sein könnte? – und das fenster, das nicht offen ist, aber offen sein könnte. und das offene fenster? – weder ist das fenster offen, noch könnte es offen sein. und das fenster, das vor dir ist? – weder ist das fenster vor mir, noch bin ich hinter dem fenster. weder ist das fenster offen, noch habe ich ein offenes fenster gesehen. noch habe ich irgendwelche dinge hinter dem offenen fenster gesehen noch habe ich irgendwelche dinge berühren können vor dem offenen fenster, denn das fenster war weder offen, noch ein fenster. ich hatte eigentlich das offene fenster gar nicht erwähnen wollen. und das offene fenster? – und das offene fenster. (Aus: Die Tatsachen) RELA TIONS Poesie der Nachbarn Ich erinnere mich auf dem tisch vor mir sehe ich einen aschenbecher und eine tasse tee. ich sehe das feuerzeug und die soeben geöffnete schachtel zigaretten. etwas näher sehe ich das papier in der schreibmaschine. ich sehe worte, geordnet zu regelmäßigen waagerechten linien. ich sehe, wie diese worte aus der schreibmaschine herauskommen nachdem ich mit meinen fingern die tasten berührt habe. ich sehe ganz deutlich, wie sich diese worte von mir entfernen, wie sie dem aschenbecher und den zigaretten vertraut werden, wie sie gemeinsam mit dem papier einen teil der tasse verdecken, wie sie zu irgendwelchen geschriebenen worten werden, die ich, wenn ich den wunsch verspüre, lesen werde, ich werde sie durchstreichen, zerknüllen, aus meiner nähe entfernen. ich spüre, dass ausgerechnet das die worte sein können, welcher ich mich bedienen kann die ich aussprechen und aufsagen kann. die worte, geschrieben, die ich laut vorlesen kann, und wenigstens für einen augenblick kann ich glauben, dass das meine worte sind. ich spreche sie aus und notiere, trenne dabei absichtlich das eine wort vom anderen, diese worte, die ich jetzt vor mir sehe. ich erinnere mich, einst habe ich geglaubt, dass ich kein einziges wort richtig verstehe und es wurde mir bange von diesem gedanken. während ich das ausspreche, glimmt die zigarette auf meinem tisch aus. langsam bemächtige ich mich der stimmen, die ich höre und der bedeutungen, die ich errate, so wie ich mich des tisches bemächtigt habe, so wie ich mir den rauch der zigarette angeeignet habe, die im aschenbecher liegen gelassen wurde. ich erinnere mich, wie ich heute früh der frau meinen rücken zugedreht habe, die mich vor der haustür gefragt hat, ob das mein auto sei, das direkt neben dem eingang stehengelassen wurde. „nicht dass ich die lukrativen geschäfte auf den messen abschließen würde“, das war ein satz, den ich einst gelesen hatte, aufgeschrieben mit grüner tinte in einem heft. ich konnte eindeutig sagen, dass das nicht mein satz ist. 159 160 Poesie der Nachbarn ich erinnere mich, dass ich bereits notiert, bereits ausgesprochen und bereits gehört habe, wie ich gerade vor dem tisch sitze, wie ich vor mir den aschenbecher und die tasse tee sehe. ich sehe das feuerzeug und die soeben geöffnete schachtel zigaretten. ich erinnere mich, dass ich bereits notiert, ausgesprochen, gehört habe, wie meine zigarette im aschenbecher ausglomm. wie ich gewusst habe, dass ich sie angezündet hatte, dass also der rauch mir gehört und dass ich ihn spüren kann. als ich das zum ersten mal notiert hatte, habe ich alles auch gespürt. jetzt jedoch, wenn ich wieder dieselben worte notiere, wiederhole ich sie, aber ich empfinde sie nicht als eigene worte. ich empfinde den rauch nicht „als-etwas-eigenes“. ich spüre die berührung der schreibmaschine mit meinen fingern nicht als eigene berührung. ich empfinde nicht – ich erinnere mich. (Aus: Die Angst) Das Schreiben der Poesie Er begann, ohne dass ihn jemand danach gefragt hätte, über seine Unschuld zu sprechen, über die falsche Strategie der Verteidigung. Die Worte flossen kristallklar und durchschnitten den Raum wie Laserstrahlen. Das Publikum hörte interessiert zu, jemand machte Notizen, eine Frau hatte fest geschlossene Augen und ihre Augenlider zitterten ein wenig. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Dann blieb er plötzlich stehen, hob die Hand hoch und mit ausgestrecktem Zeigefinger schlug er den Rhythmus des früheren verbalen Beschusses. Seine großen Augen waren weit aufgerissen, und seine Pupillen folgten den kurzen Zuckungen des Zeigefingers. „Herrschaften, es ist an der Zeit zum Ende zu kommen“; rief der Mann, dem man gesagt hatte, er sei der Richter, und stand auf. Danach standen auch andere auf, da sie glaubten, dass das ein Teil des gewohnten Rituals sei. Der, der zuvor gerufen hatte (war das der Angeklagte?) sagte ganz ruhig, ohne sich nun an jemanden zu wenden, es sei ihm übel, er wolle sich übergeben, er würde vor Erschöpfung zusammenbrechen. Spät am Abend, als er seine Mappe mit den Notizen öffnete, sah er den durchgestrichenen Satz: „Es handelt sich um ganz gewöhnliche Dinge“. Und unter den Satz, oder an seiner statt, schrieb er mit etwas größeren Buchstaben: „Er begann, ohne dass ihn jemand danach gefragt hätte“ und dann über das durchgestrichene „zu rufen“ schrieb er „zu sprechen“, und in derselben Zeile „über seine Unschuld“. (Aus: Die Angst) 161 162 Poesie der Nachbarn Ein Beitrag zur Geschichte der kroatischen Literatur alles ist wie 1912 als ernst ludwig kirchner die kubikräume zerschlug mit der emotionalen bombe, als er mit den schwarzen spitzen figuren das baldige zerfallen ankündigte und als die dichter mit stockenden sätzen etwas sicheres erzählten. manch ein kroate sang damals oh, daphne manch anderer reihte ungeschickt lauwarme hexameter aneinander, andere wiederum lobpreisten blökend die kraft des volkes. es gab vielleicht zwei, vielleicht einen, und vielleicht war auch er nur derjenige, der wirklich kommen wird. ich meine, vielleicht gab es auch niemanden, der das alles begreifen und etwas in einfachen, aber eigenen, sätzen sagen konnte. von irgendwo roch es nach saurem wein, die fontänen am zrinjevac rumorten still, und die menschen liefen wie schafe herum und begrüßten sich somnambul. auf kirchners bild laufen frauen in schwarz. auf dem mirogoj laufen frauen in schwarz und die schwarzen hüte riechen nach „coty“. das ist jenes gefühl, das niemand hier im richtigen augenblick erfasste und mit einigen so einfachen sätzen ausgesprochen hat. wenn du schluchzst, dann kümmerst du dich nicht um die interpunktion. und die worte bröseln und gleiten leicht ab. und das ist dann gut. (Aus: Die Angst) RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Aufzeichnungen a) Einige Mal habe ich ein zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier aus der Schreibmaschine gezogen. Das was ich darauf gelesen hatte, widerte mich an. Ich wurde wütend. Ich wollte etwas so Einfaches sagen, etwas, was ich nur für einige Minuten im Auto gespürt hatte, während ich von der Autobahn in einen kleineren Ort abbog und im Radio ein Teil eines Konzertes von Ingrid Caven gesendet wurde. Sie sang das Chanson Acne vulgaris von Fassbinder und Raben. Draußen schneite es, und es roch nach Feuchtigkeit. Nachdem ich ein Auto überholt hatte, begann ich zu schreien. Ich erinnerte mich an die Straße, die aus Osijek zur ungarischen Grenze führt. Ich erinnerte mich an den Herbst 1956. Es schien mir, als würde ich den Geruch der frisch gefällten Tanne empfinden, die ein Mann zu Weihnachten in unser Heim gebracht hatte. Er sagte anstelle eines Grußes: „Es wird Krieg geben“. Meine Mutter gab ihm Geld und sagte: „Sie haben sich sicher erkältet. Trinken Sie einen.“ Die Tanne wurde dann zum Weihnachtsbaum, und im Radio wurde „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“ gesungen – mit gelegentlichen Störungen in der Leitung. Ich schrie jetzt „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“ und Ingrid Caven schrie „Im kleinen Leben liegt der große Schmerz“. Das Auto fuhr schnell, und es schneite: Es war so angenehm, so angenehm. Ich dachte, dass ich in einigen Minuten im Hotel sein und in die Badewanne steigen und lange eindampfen würde. Danach würde ich ins Restaurant hinab gehen und Wein trinken. Das alte Fräulein Meier wird sagen: „Sie haben sich sicher erkältet“. Ich werde jetzt, jetzt, jetzt schreien... Ich werde nicht schreien. Ich werde grob sein. Ich werde sagen: „Auch den Seitenspiegel, bitte“, wie schon heute früh den beiden Jugoslawinnen, die mein Auto gewaschen haben. Und ich werde anhalten. Und Angst spüren. Und all das in nur einigen Minuten, während ich von der Autobahn zu einem kleineren Ort abbiege. b) Dann habe ich wieder ein Blatt Papier in die Schreibmaschine eingezogen und es angestarrt. Ich habe mich daran erinnert, dass ich irgendwo den Vers gelesen habe: Der Schnee rieselt, rieselt, rieselt leicht. Einst habe ich folgende Verse gelesen: In der Winternacht, wenn der Wind nach Feuchtigkeit riecht, (...) 163 164 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Ich zog das Papier aus der Schreibmaschine, zerknitterte es und warf es unter den Tisch. Dann nahm ich meine Jacke, zog mir die Stiefel an und ging nach draußen. Ich setzte mich ins Auto und fuhr zum Westbahnhof. Dort holte ich den Koffer ab, der schon seit einigen Tagen bei der Gepäckaufbewahrung lagerte. Es war zehn Uhr vormittags. Ich fuhr aus der Stadt heraus, an einer Tankstelle tankte ich und setzte meine Fahrt auf der Autobahn fort. Es war kalt. Es schneite. An der ersten Raststätte aß ich Toast mit Käse und trank heiße Melange. Ich merkte, dass ich meine Hände mit Indigopapier beschmiert hatte, und ging in die Toilette, die im Keller lag. Dort roch es nach flüssiger Seife und Deo. Ich kaufte zwei Schachteln Zigaretten im Automaten und setzte mich ins Auto. Die Straße war beinahe leer. Ich bemerkte im Rückspiegel ein französisches Auto und schaltete das Radio an. Als ich die ersten Takte der melancholischen Serenade von Peter Tschaikowsky hörte, erinnerte ich mich an ein Konzert im Cabaret Le Pigalle. Nach der melancholischen Serenade sprach jemand über Grillparzer. Gerade überholte mich das französische Auto, in dem ein junges Paar saß. Sie waren schön und lachten beide. Sie fuchtelte mit ihren Händen herum. Wenn ich beschleunige, kann ich sie bis zur Kurve einholen, dort ist der Abzweig zu einem kleinen Ort, an dem ich neulich das Wochenende verbracht habe. Im Hotel „Beim goldenen Engel“ kann ich immer ein Zimmer bekommen, dachte ich und raste an dem Straßenschild vorbei, das anzeigte, dass ich mich dem Abzweig näherte. Im Radio sang jetzt eine bekannte Stimme das Chanson Acne vulgaris. Ich überholte die Franzosen, die ihre Fahrt auf der Autobahn fortsetzten, und ich fuhr in die Kurve. (Aus: Die Angst) Cardo & Decumanus Als mir der Gedanke kam, dass sie mich beobachten, drehten sie jählings ihre Köpfe, so dass sich ihre Profile abzeichneten, und dann, wie vereinbart, gingen sie los im selben Augenblick. Ich sah, aber jetzt bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wie sie bei dem ersten Schritt vorwärts plötzlich innehielten, und das hat mich an einen Film erinnert: da sind nämlich Menschen plötzlich stehen geblieben, dann sind sie wieder losgegangen, haben sich von der Stelle bewegt, dann sind sie wieder alle stehen geblieben. Und so einige Male. Eine Zeit habe ich nach psychischen Ursachen gesucht für die ständigen Vergleiche, die mich bedrängen. Nichts nämlich geschah von alleine. RELA TIONS Poesie der Nachbarn Alles hatte, wenn schon nicht ein Äquivalent, dann doch zumindest eine Wurzel in einem früheren Ereignis. Die wirkliche Welt war immer nur der Film, das Buch, das Bild oder der einst berühmte Satz, all das, was sich abgelagert hat und was darauf wartete wieder aufzutauchen. Gestern Abend habe ich in dem Restaurant auf der Piazza Sforza Cesarini osso buco bestellt. Lange danach hat mich das Wort osso buco selbst beschäftigt, da ich wusste, dass ich es schon einmal außerhalb einer Speisekarte geschrieben gesehen habe. Auf dem Teller wurde es so sehr zum WORT, dass sich der Geschmack immer mehr in den Geruch des Papiers verwandelte, sogar des Klebstoffs bei der Buchbindung, als ich mich erinnerte, dass ich bei Šalamun auf eben dieses osso buco geraten war, ich habe mich auch an das bei ihm anders geschriebene Wort (ossa buca) erinnert. Als ich einmal einen Bus auf einer breiten und leeren Straße sah, erinnerte ich mich sofort an einen Film von Hitchcock und dieser Bus war der Bus aus jenem Film. Dann sah ich wieder, dass sie mich beobachten und dieses Mal haben sie die Köpfe nicht weggedreht, sondern sie haben beinahe unanständig in meine Richtung gestarrt. Und das dauerte eine Weile, von der ich nicht weiß, wie lang sie war. Es war schon wieder nur ein Bild der angehaltenen Bewegung. In einem Buch habe ich eine Zeichnung der Mona Lisa mit zwei Paar Händen gesehen, die übereinander gelegt waren. An der Ecke Via del Babuino und Via dei Greci sah ich gleich gekleidete Zwillingsschwestern, die ungefähr sechs Jahre alt waren. Einmal hatte ich gelesen, dass zwei Zwillingsschwestern aus England, 165 166 Poesie der Nachbarn RELA verheiratet mit zwei Zwillingsbrüdern, am selben Tag je einen Jungen geboren hatten und dass sie die Kinder Harry und Richard tauften. Harry hatte so denselben Namen wie Harry Richmond, Richard wie Richard Harris. Sie werden sicher dieselbe Schule besuchen, obwohl Harry Richmond auf keinen Fall Richard Harris kennen konnte. (Aus: Die Angst) Nachmittag (Freitag im Hotel) Wie in einer Melodie, dachte sie, griff nach der Zigarettenschachtel und zog mit zwei Fingern eine heraus. Sie näherte sie ihren Lippen und, bevor sie sie anzündete, sah sie auf die Uhr. Dann nahm sie den ersten Zug, hielt den Rauch lange im Mund und suchte nach der Rechtfertigung für die zehn Minuten, die sie über die vereinbarte Zeit wartete. Ich habe Angst, sagte sie zu sich selbst und trank einen Schluck von dem mit geschmolzenem Eis verdünnten Drink. Ein etwas fader Geschmack im Mund übersetzte sie in ihr momentanes Gefühl. Dann verging noch die eine oder andere Minute, die sie nicht von der Uhr ablesen wollte. Die Rechtfertigung lautete: Verkehr, ein Auftrag, etwas Unbestimmtes. Die Rechtfertigung war eine Ausrede für etwas viel Deutlicheres, für etwas, was man Übersättigung nennt. Jetzt ging eine Frau am Tisch vorbei und ließ den scharfen Duft des neuen Saint-Laurent Parfüms hinter sich zurück. Sie setzte sich und musterte mit ihrem Blick die Gäste im Café. Freitag im Hotel dachte sie und erinnerte sich an die Melodie. Es waren schon fünfzehn Minuten vergangen, jemand ließ die Zeitung auf den Boden fallen, jemand lachte laut. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Die Tasche einsammeln, das Geld für den Drink auf dem Tablett liegen lassen, hinter sich die Tür schließen, hinter sich die Tür schließen. Dann sah sie durchs Fenster und erblickte ihn, wie er mit großen Schritten die Straße überquert, wie er auf die Uhr schaut und sich offensichtlich schnell eine Rechtfertigung ausdenkt. Wenn er hinein kommt, wird er sich hinsetzen und etwas sagen. Dann werden sie sich beide anschauen, danach schnell das Café verlassen, dann beinahe rennend zur nächsten Ecke kommen, dann den Mann an der Rezeption anlächeln, dann den Schlüssel nehmen, dann mit dem Aufzug nach oben fahren, dann die Tür aufschließen, dann die Tür verschließen und den Schlüssel im Schlüsselloch lassen, dann sich wieder anschauen. Man reagiert erst mit dem Körper und braucht nichts zu sagen. Es ist besser, das, was man sagen möchte, zu verheimlichen („das kann man auch verschieben!“). Sie haben nicht einmal eine volle Stunde vor sich und alles muss schnell gemacht werden. Alles muss, alles muss. Und die Körper reagieren wirklich schnell, und die Haut zittert nervös, der Mund wird trocken, und die Schamleisten werden erregt und das verkrampfte Anschmiegen empfindet man wie Durst und das Reizen mit der Hand wird kurz zart-angenehm, manchmal erinnert es an etwas, was man von früher kennt. Und die Augen soll man nicht öffnen („und die Augen soll man nicht öffnen!“), und die Augenlider soll man fest, fest zusammendrücken, damit sich alles, aber wirklich alles zusammenzieht, um es, um es... Freitag im Hotel, denkt sie und rollt sich zusammen, dann entscheidet sie sich, die Augen zu öffnen, und dann sieht sie vor sich selbst zwei andere Augen mit starrem Blick, und Nasenlöcher, die sich zusammenziehen, und fest zusammengepresste Lippen, die sich in den Ecken verkrampfen. Freitag im Hotel. Und dann schreit sie, aber sie schreit wirklich, dann stummer Widerstand voller plötzlicher Wut und offenen Hasses, der sich in jeden angespannten Muskel hineingeschlichen hat, in jeden Tropfen Schweiß, in den Widerwillen, der gehässig zurückweist. 167 168 Poesie der Nachbarn Im Badezimmer sind die Handtücher unberührt und die kleinen Seifen in Papierschachteln. Sie sah sich im Spiegel an und das Erste, was sie merkte, waren netzartig verteilte Falten um ihre Augen, dann die dünn gewordene Haut am Hals, unter der die Adern geschwollen waren und verräterisch auf vollendete achtunddreißig Jahre verwiesen. Im Nachbarzimmer schlug jemand mit der Tür. Jemand rannte den Flur entlang. Einmal hatte jemand im Schlaf geschrien und sie sprach zu ihm leise und voller Mitgefühl. Sie sprach über die Spannung, von der man sich befreien sollte. Genau so, genau so... Dann ließ sie das Wasser in die Badewanne laufen und sah verwundert und mit einer Art Ekelgefühl dem Wasserwirbel zu, der über dem Abfluss entstand. Die zusammengeschnürte Kehle tat ihr bis zur Unerträglichkeit weh. Die Schultern zuckten, und der Krampf brannte im Magen. Sie sprach einmal zu jemandem über die Spannung, von der man sich befreien solle. Wie ein Schrei im Schlaf, dachte sie. Der Schrei im Badezimmer wird zum stummen Schluchzer, der nicht widerhallt. Und den man schlucken soll, und der verschwinden soll. („wie das Wasser abfließt...“) Und wenn alles vorbei ist, wird jeder seine Zigarette rauchen. Dann Gespräch über etwas, der Blick auf die Uhr, und in einer Woche, und getrenntes Verlassen des Hotels und Stürzen ins Taxi, und dann gehen acht Monate vorbei, die rhythmisch sehr präzise angepasst sind. Tik-tak, Tik-tak. Freitag um 4. Um fünf vor fünf wird der Aufzug hoch gerufen. Und dann gehen acht Monate vorbei. Als sie in das Zimmer zurückkam, lag er auf der Seite, spielte mit der Hand mit seinem Glied und sah vor sich hin, ganz abwesend. Als sie zu ihm trat, zog er sie zu sich und drückte sie sehr gekonnt an sich. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Und ihre Haut zitterte, und ihr Mund war voller Speichel, und sie spürte jede seiner Bewegungen stark, und kleine, winzige Krämpfe, die unter den Poren pulsierten, und die Zunge, die mit kreisenden Bewegungen dem Rhythmus folgte, den sie unten in sich spürte. Die Augenlider hielt sie fest aneinandergepresst um alles, aber wirklich alles in sich zu behalten. (Aus: Die Angst) Voreilige Entscheidungen In dem Augenblick, als ich wieder angefangen hatte die Sachen zu durchstöbern, schien es mir, als würde ich zuverlässig die Zeit kennen, den Namen, den Ursprung des Gegenstands, den ich berührte. In demselben Augenblick schien es mir, als wären die Gegenstände unabhängig von mir geworden. Doch im selben Augenblick spürte ich, wie ich auch selbst von der Vorstellung über mich selbst unabhängig werde. Im plötzlich abgebrochenen Traum bist du in den Aufzug getreten, der sich dann abgekoppelt und zu gleiten begonnen hat. Das sagte ein Bekannter und sprach dabei, ohne zu wissen warum, in der zweiten Person, wobei er an den Traum dachte, den er selbst gehabt hatte. Jetzt habe ich diesen Traum nicht mehr, dachte ich und vereinnahmte dabei den Traum. Oder besser. Ich bin außerhalb des Aufzugs und es geht mich nichts an, was mit jenem vergangenen geschieht. Plötzlich erkenne ich die merkwürdige Art, mit der ich die Worte von anderen Worten trenne, und ich sehe ein, dass ich mich dank der Intonation zu unterscheiden beginne. Dann, wenn ich den Satz erneut ausspreche, taucht das Bedürfnis nach Unerreichbarem auf, 169 170 Poesie der Nachbarn nach eigentlich entfremdeten Dingen, und die Art, die ich soeben als Unterschied bemerkt habe, verschwindet, sie wird glitschig, nicht greifbar. Einen Satz soll man von anderen trennen: so bekommt er ein künstliches Gewicht, den Anschein einer selbständigen Bedeutung. Etwas weiter entfernt von mir bemerke ich eine Szene, die man leicht so beschreiben kann: eine Frau zündet sich eine Zigarette an, während sie an der Ampel auf Grün wartet. Aber aus der beschriebenen Szene ist Folgendes ausgeschlossen: das Auto, in dem sich die Frau befindet, die Art, mit der sich das Feuerzeug der Zigarette nähert, das grau-rote „Missoni“ T-Shirt im grünen Auto. Dann: dieselben Farben, einst gesehen auf dem Bild von Ernst Ludwig Kirchner. Dann: das Gesicht, das unwiderstehlich an das Gesicht von Barbara Sukowa erinnert. Dann: der Fluss der Assoziationen, der in Maltes Aufzeichnungen immer Bewunderung hervorruft. Dann: der Rhythmus, mit dem die veränderten Lichter auf der Ampel Bewegungen auslösen – der Autos, der Fußgänger. Dann: die Dinge, die man einst als zuverlässig bezeichnete und jetzt sind die Dinge für immer verlassen – ohne das Gefühl von Verlust, ohne Mitleid. Die stumpfe, ausdruckslose Bewegung, die die Zeit nicht verrückt. Die Worte, die du von den Lippen zu lesen beginnst, so wie es die Taubstummen tun. Heute früh ist mir der Absatz vom rechten Schuh abgefallen, sagte die Frau und das Geräusch, das ich beim Laufen produziere, bringt mich zum Wahnsinn. Die Schaufenster in der Maximilianstraße hören auf wie Schaufenster auszusehen, dachte ich, als ich den Gesichtsausdruck eines Passanten aufschnappte und ihn jener in Weiß gekleideten Puppe im Schaufenster verlieh. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Die Zukunft hat keine Dauer, sie ähnelt nicht der äußeren Welt, die ich in nur einem Bruchteil der Sekunde wahrnehme, in dem ich den Blick nach unten richte, um die Pfütze voll beinahe klaren Wassers zu umgehen. Der Gedanke an die Zukunft, sowie der Schritt, mit dem man die Bewegungsrichtung zu ändern bemüht ist, nehmen die Eigenschaften der soeben Erworbenen an. Soeben erworben, aber sicher. Dem entgegengesetzt: das Gespräch, dem ich gestern Abend am benachbarten Tisch im Restaurant gelauscht habe, von wo die kürzlich gelernten Phrasen in der Fremdsprache hervorsprühten. „Ich möchte sagen...“ Ein Teil des Satzes, mit dem die Unsicherheit verdeckt werden soll. Das unbekannte Spielzeug, das man nur betrachtet, das man nicht mit beiden Händen fasst, das man noch nicht als Gegenstand kennt, als eine physische Tatsache. Es handelt sich nur um das Angebliche, es handelt sich um das noch nicht Erprobte. Der Gedanke daran ruft eine Art Mitleid hervor. Dinge, von denen ich mich so leicht befreit habe, wie die Vorstellungen, die ich über mich selbst hatte, rufen kein Mitgefühl hervor. Aber dieser Verlust erweckt nicht einmal Neugierde. Es wäre nützlich, folgende Inschrift aufzustellen: „Achtung! Eilige Verständigung! Unbedingt zu meiden!“ Im Schaufenster der Reiseagentur ein Plakat: „DOLOMITEN. Sonnenuntergang bei den Drei Zinnen. Lavaredo. 3003 m“, das an die Postkarte erinnert, die letzten Sommer aus Santa Croce del Lago geschickt wurde, auf der dasselbe Motiv abgebildet ist, begleitet vom Text auf der Rückseite. Ich beginne mich plötzlich als die Person zu begreifen, an die die Postkarte geschickt wurde, 171 172 Poesie der Nachbarn aber ebenso als die Person, die soeben das Plakat gesehen hat und in ihm etwas erkannt hat, was seit langer Zeit bekannt war. Die kleine Spaltung, die diese beiden Gesichter trennt, nimmt die Eigenschaft des gerade Ausgewählten an, des gerade Erworbenen. Zwischen zwei Schritten schimpfte jemand auf das Kind ein, das sich zum Eingang des Kaufhauses begeben hatte. Jemand, ein Anderer, holte seinen Kamm heraus aus der oberen Sakkotasche und, nachdem er sich dem Schaufenster genähert hatte, begann er, seine längeren Koteletten zu pflegen. Zwei banale Fragmente, die die Welt verändern. : zwei Gegensätze, die sich nicht widersprechen: : zwei Handlungen, welchen du die Eigenschaften der Verdorbenheit zufügst: : zwei Teilchen einer tiefen Typisierung: und zwei selbständige Kräfte, die dich mit ihrer hohlen Bedeutungslosigkeit gebunden haben. Dann nähert sich eine Hand dem Hals und die Finger berühren leicht die Haut. Eine Geste voller weichlicher Zärtlichkeit, voller stummer erotischer Spannung, die geteilt werden möchte. Die leicht geöffneten Lippen berühren jene Stelle, die die Finger kürzlich gestreichelt haben und die Spitze der feuchten Zunge ruft das Gefühl einer unerwarteten Begierde hervor, die durch den ganzen Körper rauscht. „COITO, ERGO SUM“ war ein Graffito, zitiert in einem Buch. Die Leidenschaft, die gewaltigen Erinnerungen, die flüchtigen Zuckungen, bisweilen das Geben ohne Hoffnung und Widerspruch, bisweilen die Erinnerung voller Risse, das glitschige Bewusstsein über die Anwesenheit, nie die vorgespielte Freude, nie das angebliche Verlangen. Der Zustand der Steifheit, mit kristall-klaren Bildern in welchen ständig jemand anderes die Zeit misst, wo zwischen dem einen und dem anderen Bild wie im Kaleidoskop eine klar wahrnehmbare Distanz herrscht. RELA TIONS RELA TIONS 173 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 174 Poesie der Nachbarn Und die Dinge werden wirklich ehemalig. Der ruhige Körper voller abwesender Befürchtung, eine nicht erprobte Strategie, etwas was an das zerrissene Foto erinnert, das wir verstohlen zusammensetzen – ohne einer Vorstellung über den Ausgang. Endlich, sage ich endlich... Ohne einen anderen, tieferen Hintergedanken, und dann das langsame, sehr langsame Senken der Augenlider unter welchen die ungewöhnlich verdichteten, flüchtigen Erinnerungen sich vermehren. Danach wechseln sich rhythmisch regelmäßig die Zustände der Beklommenheit, des Glaubens in irrsinnige Freude, die man nur in der Literatur findet, eingeklemmte Bewegungen, Befürchtungen, die Angst vor dem Unmittelbaren, der tiefe Misserfolg, der an die Tür klopft, die verkommene Fügsamkeit, die gewaltige Trennung, die im Nu vorbeirauscht, die krankhafte Abhängigkeit, die panische Angst vor dem „jetzt und nie mehr“, die angespannten Zustände, die zur Erfüllung von Verpflichtungen zwingen, das unerwünschte Bewusstsein über die Zeit, die mit der Herztätigkeit identifiziert wird, die Andeutung, dass es irgendwo jemanden gibt, der dich ersetzen wird, wenn die Stunde dafür geschlagen hat, wenn die wahrscheinliche Möglichkeit zur ganz untrüglichen Unmöglichkeit wird, wenn die Summe der Irrtümer zum Allgemeinplatz wird, wenn man das Negative und Positive willkürlich nimmt, die Besonderheit zur verspielten Chance wird, wenn man den aufgezwungenen Zustand erträgt ohne den geringsten Wunsch nach Veränderung, wenn die Gelüste mit der Not gleich gestellt werden, Begehren mit Bräuchen, wenn man im Gesprächspartner die eigenen Mängel zu hassen beginnt, wenn die Grausamkeit zum erprobten Wert wird, RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn wenn das Bewusstsein über sich selbst mit dem Fingernagel herausgestochert werde kann wenn man den zufälligen Misserfolg als Strafe empfindet wenn die persönliche Anschauung zur allgemeinen Norm wird die Wirklichkeit zum Zustand der ewigen Bereitschaft, und die Leidenschaft etwas, was man in den Malzeiten verschenkt. Friedlich strömen die Sätze, etwa: „Ruhig, meine Seele, ruhig...“ Oder: „Ich bin es.“ Oder: „Lass uns noch bleiben.“ Oder: „Man sollte.“ Das ruft Rührung hervor, eine Art Rührung und erweckt eine entmutigende Art zu denken, die häufig an stumpfe Vorträge grenzt, an Erschöpfung, an aussichtsloser Bewegung, in der nur die Wahrscheinlichkeit möglich und wirklich ist. Dann wird die Ziellosigkeit aller früheren Beweggründe entlarvt, der Versuch, den Stand der Dinge in eine scheinbare Ordnung zu bringen, sich dem Chaos zu entwinden, heimlich das Gefühl der eigenen Dummheit zu verdecken. Wenn man die Augen öffnet, dann bekommen die Szenen ein neu entdecktes Gewicht, und sie dröhnen, von der Erinnerung angezogen beginnen sie zu strahlen ohne Reste wirken sie ungewöhnlich dauerhaft. Die kleinen Lampen mit Funken bringen Ordnung, klare Gelassenheit in undurchschaubare Öde. Alles wird mit Verwunderung akzeptiert. Das eigene Fortdauern ist aus der allgemeinen Bewegung ausgeschlossen. Es gibt kein „immer“, es gibt kein „nie“. Mit einer Bewegung werden die Unterschiede beruhigt und werfen dann in aller Ruhe den Anker sie werden sich zwischen Subjekt und Objekt in einem Satz zusammenkauern sie werden einem Bindewort ähnlich, einem nicht unbedingt unentbehrlichen Geflecht aus Irrtümern. Derzeit kann mich keine andere Form befriedigen wie diese, die ich unerwartet entdeckt habe. Der Gedanke an die Verfehlung ist mir genauso fremd wie der Wunsch nach Erfolg. Diese akzeptierten Scherben geben meinem Fortdauern einen ganz neuen Sinn: 175 176 Poesie der Nachbarn die Lebensfunktionen raffen zusammen mit einer Greifbewegung alles was sie auch nur im Vorbeigehen streifen. Die Sprache beginnt man zu spüren, zu haben in den Augenblicken des steten Hervorquellens, des Erwachens. Die Sprache, die ungestört fließt, die auf der Oberfläche gleitet. Die den Raum ganz langsam erfasst, die ohne jeden Widerstand die Zeit, die vorbeigeht, raubt. Die alles ohne sichtbare Gewalt nimmt. Die die Situation beherrscht. (Aus: Der Name) Der Titel: Ausgelassen Dein schönes Schreiben geht mir langsam auf die Nerven, sagte er. Der Satz schließt sich an den anderen Satz an und die Worte beginnen der Heilsarmee zu ähneln. Setze die Schönheit auf deine Knie. Siehst du nicht ein, dass sie bitter ist? Einst, ach einst!... was für eine Trägheit inmitten dieser Fülle, eine gewisse selbstsüchtige, beinahe niederträchtige Leichtigkeit mit der man alles sagt, was man zu sagen beabsichtigt. Plötzlicher Betrug, der Wunsch nach dem Rückzug, wenn es in den Gedanken zufällig an Bildern zu wimmeln beginnt, die noch in Aufruhr sind, wenn wir anfangen sie fiebrig auszusprechen und sie erscheinen uns umständlich und verursachen Juckreiz. Ich blicke durch das Fenster und fasse mich an die Schulter – (eine Geste voller Autoerotik) – und diese Szene kann man nur schwer benennen. Einen Zustand erfassen, einen Schnitt zwischen den Scheiben, die vorbei gleiten, und dieser Zustand, das, was eigentlich bedeutet, das Ungreifbare zugänglich zu machen. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Zugänglich für mich? Für dich, der du die Frage stellst? Ich weiß nicht, das geht mich nichts an, sagst du, und ich bemühe mich wenigstens dieses brüske Verneinen für mich zu behalten, ihm nicht zu entwischen erlauben. Der Raum zwischen uns ist doch von Worten bewohnt, auf die ich einen Rechtsanspruch erhebe. Von Worten, die ich glänzen sehe. Man braucht sie nur vom Horizont herab zu nehmen. Worte, diese Worte... Alles, was gleitet ist vom Wunsch nach Widerstand befreit, von dem zumindest scheinbaren Wunsch, alles, was um sich hilflos ist zur Seite zu stellen, sich einfach der Anziehungskraft der Erde zu überlassen. Auf der grünen Hochebene nur Hirten umgeben von der Herde. Ein Bild wechselt das andere Bild ab, ohne ein Geräusch, in der Stille, die dem plötzlichen Erwachen zum frühen Morgen ähnelt. Dieser Zustand des Bewusstseins, der unbekannt lang andauert, dieser Zustand, der dazwischen ist. Die Hand wird danach das Blatt umdrehen, jemand wird sich zu erinnern beginnen. Wie aus Angst gehe ich in die andere Zeit über: das unzuverlässige Futur, das mich Worte entbehren lässt, wie zum Beispiel das Wort „einst“. Der unerprobte Zustand des Bewusstseins, die Dinge im tauben Sturm, der eine dümmliche Hoffnung bietet, der ohne anzuhalten kommt. Du drehst dich um und merkst die Entfernung zwischen zwei Gegenständen. Dann benennst du diese Entfernung mit der Zeit, die vergeht. Du möchtest dich hier einprägen, verankern, eine kleine Zuflucht finden, als wäre dieser verzerrte Trödel irgendein Pfand, als würde dir irgendjemand einen heimlich ersehnten Schrecken garantieren. 177 178 Poesie der Nachbarn Jemand blieb vor der Tür stehen, schwer atmend fasste er sich ans Herz. Unter den Sohlen großer Schuhe knirschte der Sand und du kannst dieses Geräusch, falls er sich verstärkt, als die perfekte Grausamkeit erleben. Jemand wirft flüssige Phrasen aus, mit welchen er versucht andere zu täuschen, sich selbst das Gefühl der Sicherheit zu verschaffen; „heute, also, heute kommt es durch!... Ich erfülle die Verpflichtungen, die mir aufgezwungen wurden!“. Das Bild ersetzt wieder ein anderes Bild: auf der grünen Hochebene sind zwei Jungen. Einer liegt gestützt auf seinen Ellenbogen, der andere sitzt hinter ihm und starrt in die Ferne; im Hintergrund strahlend weiße Gipfel der klippenreichen Felsen – „Ferien in Tirol!“ von Heinrich von Kralik-Meyerswalden. Aber es war äußerst einfach dieses Bild mit dem Gesehenen gleichzusetzen: zeitlos und vollständig, man hört keinen Mucks. Das ist eben der Zustand, den der tote Gegenstand vor dem Auge einnimmt, und das Bild wird zur flüssigen, schnellen, flüchtigen Erinnerung. Und was dann? Und was danach? Ich öffne den Mund, als wolle ich schreien. Jemand flüstert: im Stummfilm gibt es keine Stimme. Genauso wie im jählings unterbrochenen Traum. Bloß Verwunderung, Grimassen, die die Worte ersetzen. Und das dauert dann nur unwesentlich lang, nur so lang, dass du nach dem einst gesehenen Bild greifen kannst, das angeblich erschienen ist. Das aber die Erinnerung spannt, die Verdorbenheit in Tugend verwandelt, die Langeweile in Neugierde. (Aus: Der Name) RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn „...die Erde“. Im Körper halten die Geräusche immer wieder inne: das Lachen, die knarrenden Worte, der Hochmut, der das Herz nicht berührt. Noch unentdeckte Freude, noch unbekanntes Bangen. Die Vertraulichkeit voller Zärtlichkeit, die Wirklichkeit, die man einmal erobern muss. Von Tag zu Tag von Jahrhundert zu Jahrhundert erstarrt das stille Blau. Und erstarkt dann zu einem kaum möglichen Gleichgewicht. Dann zu einem Körper – getrennt und abgesondert, zu einem Meer, das bald nur noch eine Andeutung ist, nur eine kleine Bewegung des Nichts. Die vollständige Unsicherheit, der unbeständige Gang durch die Stille. Ich sagte der Körper und dachte dabei an die Erde als durchfurchte Ebene in der Farbe des Schiefers, zerschnitten durch geschmeidige Sturzbäche, bedeckt mit noch trockenen Weinblättern und Moos. Das ist Die Erde – Die Heimat, das Herz angenagt von der Zeit, ein beinahe luftiges Schamgefühl, das die Kehle reizt. Der Oberschenkel erfüllt von warmen Gedanken, umhüllt von anmutigen Schichten der Befürchtungen und des langsamen Schlafs. Die Erde eingewoben in feine Netze, mit denen merkwürdige Gedanken zusammengeschnürt werden. Die Erde, die Abschnitte nicht genannter Anwesenheit. Nur noch die Landschaft, die Andeutung erfüllt von rührender Trägheit, der Baum, der für einen Augenblick aus der Einsamkeit auftaucht und sofort danach verschwindet, wie ein Vogel, der den Horizont überfliegt. Ich höre euch zu und lausche meinem Herzen. 179 180 Poesie der Nachbarn Es sind Dinge vergangener Tage. Es sind Gefühle, die fehlen: ein leichtes Lächeln, ein kurz ausgesprochner Satz, der nicht verpflichtet, vorgespielte Zurückhaltung, der Körper erfüllt von Begehren, von menschlichen Schatten, von schmerzhaften Gedanken der vergessenen Harmonie. Ich bin meine Traurigkeit, mein Mittagsschatten. Ich verstecke mich in den Landschaften der noch unentdeckten Beklommenheit, der vielleicht tiefen Langeweile, und trage in mir die eigene Schwäche als das einzig mögliche Pfand. (Aus: Der Fluchtpunkt) Wir haben uns Der Geschmack des Brandes kommt durch unsichtbare Risse. Trockene Nadeln knistern wie Schnee auf den man ganz früh morgens tritt. Habe ich dich erkannt? Unsere Berührungen schlossen keine Entbehrungen ein und unser Schweigen keine Folgerichtigkeit. Ich habe mir alles gemerkt. Die Blutspuren auf der Lederhaut waren Zeichen für etwas anders: die nicht gezeigte Wollust erkennt man viel später auf dem Oberarm, auf der Schulter, die man in ein Laken wickelt und dabei die Gründe erforscht für die unverhoffte Begeisterung. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Bin ich gewesen? Habe ich irgendetwas gesagt? Das Verhältnis zwischen Zeit und Schweigen wird nicht an dem unpersönlichen Aneinanderreihen von Worten gemessen. Mit dem Atmen ziehe ich dich in den Raum hinein den ich mit nur einer Geste umgekreist habe. Feierlichkeit liegt deshalb immer in der Nähe des Todes. (Aus: Der Fluchtpunkt) Die Anwesenheit des Körpers Ich bleibe im Fenster stehen. Der fremde Blick erreicht mich langsam. Immer noch rechne ich: Anwesend-abwesend, hier-dort. Ich löse mich nur in der Erinnerung auf, wie ein Buch, wie ein auswendig gelernter Zählreim. Ich berühre deine Schulter, die glatte Rundung, unter der sich die Erinnerungen erstrecken. Als seiest du nicht deine Haut, als wärest du die vergessene Puppe, in einer Krippe liegen gelassen und anfällig für verschiedene Anwendungen. Ich lausche dir, indem ich meinem Traum lausche. Auf dem verdunkelten Fensterglas tauchen wie auf einem Bildschirm unendliche Möglichkeiten auf. Die Flucht ins eigene Herz Bleibt immer der letzte Ausweg. Deshalb versprichst du, dass du nicht einschlafen wirst. Ich jedoch werde zwischen die Uhrzeiger schlüpfen und dort wahrscheinlich meine ideale Landschaft finden: von Sternen übersät und endlich wie Arsenik. (Aus: Der Staub) 181 182 Poesie der Nachbarn Das Leben ist ein Traum Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen, Insekten... all die anderen Verzierungen gezeichnet auf der Unterlage einer schläfrigen Zeit. Dann vertraute Gegenstände, jemandes Stimme, jemandes warme Umarmung. Dann die Verneinung, die schmerzt bis zu den Knochen, dann ein zärtlicher Biss in die Schulter. Dann, dann... Wie viele Worte noch, wie viele sehnsüchtige Blicke verschwinden ohne eine einzige Spur? Wir ziehen uns durch die Erinnerungen wie ungeschickte Maulwürfe. Mit einer Münze auf dem Augenlid, mit den Händen am Herz. Die Vertriebenen werden zu Seefahrern: erfahren im Geben, widerstandsfähig gegenüber der Liebe des Nächsten. Sie haben sich unbemerkt in das Bild unserer Wirklichkeit eingeschlichen: wie Vögel ins Nest, wie Schmetterlinge in den Zweig des Flieders, wie ein erstarrtes Eichhörnchen vor den Zaun. Wir wärmen uns an ihrem Atem und verdrängen sie von der Zunge auf den Gaumen, vom Gaumen in die Nasehöhle. Von dort in die Stimme. In das leise, leise Verleugnen. (Aus: Der Staub) Zwischen Ich bleibe eingeschrieben in einem ausgehöhlten Herzen ein ganzes menschliches Leben lang. Würdevoll abgesondert wie das Wort in einem Formular. Zerbrechlich sind meine Hoffnungen. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Ich drehe mich nach dem eigenen Schatten um und ich werde doch fortfahren zu leben keineswegs verwundert, wahrscheinlich nicht einmal enttäuscht. Leere Geschichten, ein Versteckspiel mit völlig Unbekannten, das alles möge man sich merken und in ein Handregister eintragen – was würde all das nützen... Der traurige, gelbliche Schlamm ist die einzige Ruhestätte. Oder nur eine Einbildung. Nach unendlichen Gesprächen stumpfte der Wunsch nach Vollkommenheit ab. Oder gestern, oder morgen – es wird völlig egal. Wie zwischen zwei Seufzern. (Aus: Der Staub) Abschied In einer fremden Biographie liegt immer die Hoffnung, ein Teil meiner selbst darin zu verwahren. Dann wache ich auf und existiere irgendwo anders: weit fort, beinahe unhörbar, beinahe unsichtbar. Einige Sekunden sind vergangen und mein Herz hat nicht zu zittern begonnen. Es schwebt nur, sucht, aber es fällt nicht. Es bebt nicht vor kränklicher Einsamkeit. Im fremden Herz nimmt mein Herz teil an winzigen Teilungen. Ich habe es angelächelt. Ich habe mich erkannt und versuche noch einmal alles zu prüfen. (Aus: Der Staub) 183 184 RELA Poesie der Nachbarn Auf der anderen Seite Er sagt, dass er keine Zeit mehr hat. Die Blätter sind abgefallen, die Tage fallen auseinander wie Hohnlächeln. Bald wird jemand anreisen – unerwartet, unerwünscht. Ich kann mich erinnern: Krawatte, Musik aus der Nachbarschaft, ein gemähter Rasen, Katzen unter dem Fenster. Dann wieder nichts. Ständig, ununterbrochen. Ich habe keine Zeit mehr, sage ich und wische mit dem Handrücken über die trockene Stirn. In den Häusern hallt die Abwesenheit. Unter den Augenlidern wächst etwas Unfassbares. Das sind Worte, die ich wie Früchte auf dem Tisch ordne. Ich werde zu Komma, Punkt, zum ausgelassenen Buchstaben. Weder Satz, noch Erinnerung. Also dann, auf Wiedersehen, sage ich und zerschmelze wie Durst in der Spucke. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer TIONS RELA TIONS Branko Čegec BRANKO ČEGEC, geboren 1957 in Kraljev Vrh/Kroatien. Er schloss an der Philosophischen Fakultät in Zagreb sein Studium der Jugoslawischen Sprachen und Literaturen und der Komparatistik ab. Dichter, Verleger und Literaturkritiker. 1985 bis Ende 1989 war er Chefredakteur der Zeitschrift Quorum. Diese Zeitschrift und die Autoren, die sich um sie versammelt haben (genannt „Quorumaši“) haben eine ästhetische Wende vollzogen, die die gesamte jugoslawische Literatur- und Kulturszene beeinflusst hat. Im Jahre 1999 wurde er zum Vorsitzenden von „Goranovo proljeće“ gewählt, der größten kroatischen Poesie-Veranstaltung, die er bis Herbst 2007 leitete. 2002 gründete er Das Zentrum für Buch, das er leitet, und die Zeitschrift für das Buch „Thema“, deren Herausgeber er ist. Auf Deutsch ist er u.a. in der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis vertreten. Der Fahrer von Thomas Bernhard 1. Abends, wenn ich mich wieder an die Schreibmaschine setze und wenn zweifelsohne Oktober ist, wie jedes Mal, wenn jemand „aus dem Leben“ scheidet, wie der verzierte Diamantenhund auf dem Podest des ersten Programms von Radio Zagreb, also, wenn alles wie immer und monoton ist wie Pornographie, begehrten die seidenen Finger der Disharmonie die warme Berührung des Computers meines Freundes; seine frigide Erinnerung in Fortsetzungen und in den Wasserfällen der Großaufnahmen Bergmans, die ich übrigens nie ertragen konnte 2. Ich diktiere... Ich diktiere, und die Finger kriechen in die Sätze, die lang, zu lang sind, wie das bestellte Lachen im Fernsehen in den Lücken der englischen Sendungen und den regulären Sitzungen des Zentralkomitees Foto: © Jasenko Rasol Poesie 186 RELA Poesie der Nachbarn 3. Ich würde gerne einen Satz auf den Bildschirm schreiben, wenn der Mechanismus Gehorsamkeit bedeuten würde und wenn der Bildschirm einen derart filigranen Slalom ertragen wollte, entlang der Notenlinien, falls die Lektion aus dem Musikunterricht so heißt, schon 1972 vergessen, bei der Rundfahrt durch die milchigen Landschaften des Nordwestens. Als hätten die Dächer zu zittern begonnen in der Kollision mit den forschen Atemzügen und der Mathematik, die weder auf gestellte Fragen antwortet noch auf die Treffen mit Freunden im Bistro am Platz des Hl. Vlaho von Dubrovnik oder so ähnlich, falls Plätze überhaupt einen Namen haben können, wenn man sie sich schon nicht merken kann genauso wie Mathematik, die die Hundeschnauze des namenlosen Professors auf eine Reise nach Katmandu verschleppt hat, in die seligen Gipfel des Himalajas, so wie die Sonnenuntergänge tief in den Himmel. Als würde ich in dem zerbrochenen inneren Spiegel zu mir selbst sagen: „Warum bin ich so statisch? Diese Kathedrale ist schon längst gefallen!“ In Schwung gekommenen Reisenden lächeln grüne Landschaftsszenen zu und das automatische Gleis mit den verschwommenen breiten Schienen, wie auf der kitschigen Postkarte, die vor zwei Tagen in der Buchhandlung „Mladost“, Ilica 7, gekauft wurde. 4. Wer kann noch die heiligen Sätze des Vergessens aufschreiben? meine Herkunft aus Glas, meine „Scherben“ verhindern die Rückkehr des Reiches der Teekekse aus der Kindheit und das malerische Moto-Cross von Marc Chagall. Grün, rot, schwarz beherrscht den Raum in der Spannbreite zwischen Paragraph und Gesetz, deren Ränder noch gestern Abend junge Männer aus den leidenschaftlichen Karawanken verspiesen haben, und scheue asiatische Zöllner, vergessen im Kofferraum der russischen Diplomaten, die leger mit den Pfefferhänden der Revolution abwinken, und all das deshalb, weil ich schwere Worte mag, von denen sich die Eingeweide verkrampfen, und die Augen jaulen durch die Röte aus der Brauerei in der Frankopanska TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn wie in jener Nacht, als die Dicke Berta saure Gurken in das tiefe Dekoltee der alltäglichen Freude und Angst gelegt hat. 5. Oben, ganz hoch oben, gegenüber der blinden Schnur des Lachens wachsen orgasmische Wolken aus haarigem Staub, in die wie immer eine klassische Comic-Replik geschrieben wird: „Zurück in die Steinzeit!“, denn dort liegen die Sätze sehr nahe an der Realität; dort sind die Worte nackt und breit, aerodynamisch: ich würde gerne verrückt und freudig in ihre Dachgeschosse hineinschlüpfen und ins „Vorwärts!“ einfahren, mindestens-tausend-km/h-zu-schnell (1987/1992) Getarnte Portraits von A. Warhol 1. Erstens war Oktober und das Haar flog brutal gen Himmel; dann schlugen sich Hunde und Igel zwischen den Säulen der Brooklyn-Brücke; dann begannen die Schwarzen aus der Metro zu singen. Es gab Tote und Verwundete, die Zeitungen waren Gefüllt mit riesigen Titeln und meinen präparierten Fotos. Am späten Nachmittag erheiterte ein Feuerwerk die blassen Gesichter. zwischen Blechdosen und Wasserfällen, zwischen Stereo und Coca-Cola glitt nur das Rauschen des Bildschirms befreit vom Bild. Es gab keinen Regen, es gab keine Betäubungsmittel: das Phantom der Freiheit kreuzte durch das unerreichbare Blau. 187 188 Poesie der Nachbarn RELA 2. Kalifornien ist weit weg. Selten bin ich fort gegangen. Der Blick auf Silikonbusen ist das einzige, was stimuliert. Die Vignetten der künstlichen Welt sind melancholisch. Ich habe sie in eine Kiste geordnet, den Strom eingeschaltet und lange in die trockene Sommernacht gestarrt: die Wellenreiter haben sich zu Ende gedreht, die Jungs von der Küste, die zerstörten Singles, die ganze Epoche des filigranen Plastiks. Bisweilen schmerzen von all dem die Augen. Dann zerfließe ich in Tarnstoff und entfalte den Text, das Textil, die Telepathie... Das schöne und traurige Mädchen in mir wünscht mir nach all dem eine gute Nacht. (1992) Konzert für das Eis und den georgischen schwarzen Tee Ich bin müde vom Regen, der nicht aufhört und von dem „Terpentin“-Geruch im „Flash der Erinnerung“, beim Blättern der glatten Oberfläche des Wörterbuchs der Stille, das nun im Wilden Westen ist und das sich durch das Fenster öffnet mit dem Blick aus der Platinmorgenröte der Alpen und Handkes Meteorologie. Ich werde nie mehr in Regenlaune geraten, wenn mir der Regen Neutralität erlaubt. Kann man sie überhaupt erreichen? Einmal werde ich mir eine eisige Sandbank wünschen. Ich werde den freezer betreten und eine Vorstellung geben, die glänzender sein wird als der Broadway und der Moskauer Zirkus. Nur der Regen kann seine Macht neutralisieren. Mein Kitsch, so sage ich, funktioniert und mein Eis funktioniert jedes Mal, wenn ich ein Junge aus Sibirien bin auf dem Kissen aus Sägemehl und dem silbernen Haar des Polarbären, der seine geerbten georgischen Augen nicht verbirgt, obwohl es dort zu warm ist, obwohl dort das Eis schnell schmilzt und es nach Tee duftet, Tee den ich nie mögen lernen werde. (1988) TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Schwarz auf kirchners bild laufen frauen in schwarz ist ein vers aus dem gedicht von z. maković. ich bin darauf in der radić straße getreten, dreißig meter vor dem eingang in das steintor. dort haben frauen in schwarz ihren bußrosenkranz gebetet. an der wand der pizzeria stand mit schwarzem spray geschrieben: PUNK IS DEAD und SID VICOUS IST EIN ARSCHLOCH. die gang of four in schwarzen eng anliegenden windjacken verkauften eintrittskarten aus stein verpackt in schwarze plastiksäcke. in meinem revolver waren keine kugeln. aus meiner tasche fiel ein zettel heraus mit einem unsichtbaren text auf schwarzer grundlage. ich wusste es, dort stand: SCHWARZ (1986) Himalaja Hat Marko rote Augen? Ja, Marko hat rote Augen! So wurde es im Protokoll festgelegt, ich erinnere mich, wir besuchten noch einen kurzen Kurs. Jahre später, bei der Rückkehr unserer dritten heroischen Himalaja-Expedition tranken wir lauwarmen Tee auf den zahmen Berghängen irgendwo in Nepal. Es war halbdunkel und Marko funkelte. Ich sagte ihm berühmte Verse auf Du leuchtest im Dunkel, und sein Laserstrahl ergoss sich über die gedämpfte weiße Unterlage wie ein verräterischer Faden auf dem Kissen im verbotenen Schlafgemach oder eine Nadel im Heuschober, wenn wir sie nicht brauchen, 189 190 RELA Poesie der Nachbarn TIONS und schließlich wie der Leitstern, der Zeuge des Seins, der Bote der Apokalypse. Wir wiederholten unsere kleine mythologische Hommage, die präzise dekodierte Wirklichkeit von 45 bis heute, über den Bosporus und die Dardanellen bis nach Osten, über Gibraltar nach Westen, wohin die reichen Sklavenhändler reisten und Händler mit den schönsten Frauen der Welt. „Scheiße!“ regte sich Marko auf, „diese Dinge sind unvergleichbar! Ich bin ein Kosmopolit! Ich bin Genosse Absolut!“ und ähnliches. „Muss man mich in eine Granitbüste sperren, in Bračer Stein und einen Kranz aus Buchsbaum?“ „Das auf jeden Fall“, dickköpfig klopfte ich auf seine freundliche Schulter. Danach tranken wir schweigend georgischen schwarzen Instant-Tee. Wenn da kein Nebel ist, hat man eine wunderbare Aussicht vom Himalaja. (1986) Die kurze Geschichte der stummen Farben Im vergangenen Sommer, vor der großen Manifestation, kamen die städtischen Graffitis ums Leben. Danach wurden die Wände flächendeckend überwacht. Die Stadt lebte kurz unter dieser sterilen Regie, mit Wänden, auf welchen der erhabene „Schmirgel“ glänzte, von denen der sprachlose Kalk herabtropfte. Die Diversion ereignete sich in jenem Augenblick, in dem der diensthabende Polizist zufällig seine lange nicht gesehene Freundin traf und die erste fliegende Kneipe betrat, an der Ecke des blauen Gebäudes gegenüber der Zagreber Messe. Die Spraydosen der Grünschnäbel blitzten auf und die sterilisierte Unterführung in Siget sprach den unglaublichen Satz aus: BLUT IST KEIN KALK! RELA TIONS Poesie der Nachbarn Als sich der Polizist an seine Pflicht erinnerte, war es wirklich zu spät. Er kickte wütend seine Dienstmütze fort, konfrontiert mit dieser Untat, und versuchte mit seinem ungehorsamen Walkie-Talkie etwas Radikales zu tun. Aus seinem Schächtelchen brüllte ein erstaunliches HONKY TONK WOMAN, als wäre das Schicksal für immer besiegelt. Dunkelheit fiel auf die Stadt, angedeutet durch ein winziges Zeichen verhinderten Weiß. Einige Tage später erschienen in der Abenddämmerung Polizisten verkleidet als Anstreicher und gaben der Wand die verlorene Unschuld zurück. Wie Alchemisten einer überreichlichen balkanischen Tradition. Die Stadt blitzt schon seit Tagen vollkommen blind mit ihren weißen Wänden und der dekorativen Polizei. Einige Flächen wurden mit Schichten stummer Farben bedeckt, die, so glaube ich, den Gehorsam akzeptiert haben. (1987) Sieben Brände im Hof der Gundulićeva Straße 24 Das erste Fenster Ein grüne Rolle und Schuhe auf dem Brett. Die Flügel weit geöffnet. Zwischen ihnen vibriert abgestandene Luft und Schweiß. Genau am Mittag, während zwischen den Wänden noch der Kanonschuss von Grič hallt und der Sturm das Stückchen sichtbaren Himmels zerstreut, nähert sich das Lachen des Mädchens und der nackte Körper des Mannes in Pantoffeln dem Gestüt der Frauen mittleren Alters in der Apathie des benachbarten Treppenhauses. Das zweite Fenster Das Mädchen mit den langen übereinander gelegten Beinen auf dem altmodischen Kanapee wandert gleichgültig durch die Seiten eines wieder gefundenen Buches. Ihr müder Geruch verschmilzt vollständig mit der Feuchtigkeit des Raumes, aus dem ich die Ohnmacht und die Begierde aufschreibe. Das Weiß des Körpers zittert auf dem bebenden Faden der erneuerten Lektüre und die Grenze zwischen Erinnerung und Entdeckung wird unsichtbar: nur die Kolonne der Hausameisen und das bespritzte Glas erinnern an die abgenutzten Seiten der Chronik, von der ich gerade hin abgestiegen bin in den Dienstag, den 7. Juli 1992. Das dritte Fenster Die Küche eines Angestellten im Fensterquadrat: Pipetten und Gewürze und die heiße Platte des improvisierten kleinen Herdes, aus der ein klobiger Torso herauswächst, das Aufblitzen der Glatze und die Hände voller Hunger: die Nahrung bekommt so Form und Ton, fern vom Geschmack und von der Nostalgie des Geruchs, sedimentiert zwischen den Manuskripten auf dem Tisch, in den überfüllten Schubladen der liederlichen Vergangenheit, die heute genau 191 192 Poesie der Nachbarn RELA TIONS am Mittag ohnmächtig stirbt, wenn das Dunkel der Gardine am Hang der Öffnung herab fällt, mit dem weichen Lächeln der Hirtin, und sich in der Lithographie niederlässt. Die Herrschaft der Melancholie und des Hungers ist so endlich erneuert. Das vierte Fenster (Das Tier der Makrobiotik) Hier verlässt das Thema nicht die Quarantäne des Spiegels. Lippenstifte und Lippen, Frisuren und Lidschatten: die Haarspange glänzt mit dem Lachen der verwahrlosten Frau, die mit den anarchischen Fingern der Kosmetik von der eigenen traurigen Geschichte zeugt. Der süßliche Luzifer lenkt das Schiff auf dem Glas des Ozeans, er fegt New York mit einem Segelmast fort, die Nacht ist mild, der Morgen ist das Frühstück, das von den Karnevalsträumen und von den Modepisten in der Tiefe der Fünfziger verschämt übersprungen wird. Das fünfte Fenster Zuerst trug sie das Lachen auf dem Tablett aus Moos hinein, danach schrieb sie den Inhalt: die Frische der gewaschenen Wäsche tropfte an ihren unzähmbaren Händen entlang: ein Teil des feuchten Stoffes nach dem anderen wischte über die Schatten der Nostalgie und des jungen Körpers: der seidene Schrei des Kleides, die Handtücher aus Frottee, unerträgliche weiße Hemden und Schlüpfer, kleine, scheue, luftige Schlüpfer aus Spitze in den freudvollen Fingern, auf dem Bildschirm des Fensters, mit den nervösen Fäden der Haare im Luftzug – wie die Werbepathetik von Levi’s – ein warmes Lächeln, feuchte Lippen und unüberbrückbare Ferne zwischen zwei gegenüberliegenden Fenstern. Das sechste Fenster Gebrüll, Schrei, Schluchzer, Freude, Tod: wenn das Ereignis unausweichlich wird und wenn die Dynamik nicht erkennbar ist, schließe ich einfach die Augen und tauche in die Strudel der Geräusche ab, halb in der Kakophonie, halb in den Kanonaden der Jugend und der Angst, aus welchen ich nur Thanatos herauspresse, denn der jüngere Bruder ist sowieso gestorben, so wie alle, indem er die leeren Seiten der Pflichtlektüre in die Ewigkeit herabstieg, die sich wiederholt, nur für uns, wie die Szene im Film oder die Szene der Bitterkeit auf der Bühne im Keller der Stadt ohne Menschen, ohne Gartenbeete, ohne Kalligraphie. Das siebte Fenster Und als ich endlich schon unerträglich langweilig und ganz am Rand den Korso der Sprengstofferinnerungen betrat, wurden die Fensterläden geschlossen. Nur das morsche, abgenutzte Holz als Schutz vor dem Blick und die Geheimnisse in den Ritzen, die Umrisse der Oleander, der Gestank des Bahnhofs, aus dem unendliche Fäden von Reisen in die arktisch kalte Nacht herauskriechen. Gute Nacht. (1992) RELA TIONS Poesie der Nachbarn Shopping Therapy ich kam in den laden mit unterwäsche und kramte ein wunderschönes weinrotes dessous-set heraus: höschen und bh mit push up konstruktion. die verkäuferin zeigte mir die freie umkleidekabine und ich ging selbstbewusst hinein. als sich das türchen mit den flügeln klappernd schloss und als ich mich umdrehte um den riegel vorzuschieben, überkam mich ein klaustrophobischer schauder, denn entweder war die kabine verdammt klein oder mein schöner runder hintern, der immer zielscheibe aller blicke ist, hatte sich klammheimlich so verbreitert, dass man die dimensionen der umkleidekabinen infrage stellen musste: das ist nicht möglich! – sagte ich erstaunt zu mir selbst als der besten gesprächspartnerin und erinnerte mich an das allmorgendliche hin und her drehen vor dem spiegel: ist mein sommerkleid zu durchsichtig? ist mein string-tanga zu dunkel für die weiße leinenhose? werden die härchen auf meinen waden zu sehr stolzieren, die ich nicht mehr entfernen konnte, da ich meinen wecker nicht gehört habe? ist der bh hinreichend gepolstert für meine, so schien es mir, offenbar zu kleinen, aber ansonsten festen titten? und jetzt noch diese kabine! ich habe versucht mich auszuziehen, aber der geruch der füße, die aus den schuhen herausgerissen wurden hat mich zuverlässiger als ein abs gebremst, als hätte sich der ganze laden mit der nase in die beschissene zu enge kabine gebohrt und als hätte sich die horde der plumpen alten weiber verwundert in meinen arsch verguckt, der herausragt, schön und einmalig, und sich in ihre riesige eins gewordene nase bohrt, die den geruch der verschwitzten füße einsaugt, die soeben aus den pastellblauen kickers turnschuhen gerutscht sind. (23. 8. 2001) Die Farbe der Bora, der Schwung der Haare morris pflegte mit spray pyramiden zu zeichnen er zog sein t-shirt aus, legte eine schutzmaske an und legte los mit der farbe auf dem gezackten karton: um ihn herum versammelten sich menschen und skandierten. dann kamen üblicherweise die feuerschlucker und unruhige mädchen in der abenddämmerung, wenn sich die bora auf der anderen seite der bucht hinabstürzte und wenn die sonnenschirme in den himmel geflogen waren zusammen mit den.betonfüßen und gästen auf der terrasse: 193 194 Poesie der Nachbarn RELA yves und dabo saßen sich gegenüber wie am abend zuvor dann setzte sich tanja anderswo hin, weil sie ihre haare nicht bändigen konnte. so hat sie meine verhunzt, die frech in den mund hinein geflogen kamen, in den bierschaum, der den blick zu den raren bibbernden spaziergängerinnen auf dem korso abschnitt. morris zeichnete auch weiterhin pyramiden mit spray der wind trug das bunte nebelchen in die gesichter der betrachter von dem schiff, das gezwungen wurde zu ankern, ein gast bestellte auf der terrasse gegenüber ein ožujsko-bier und vier valium-tabletten eine glühbirne ging plötzlich aus. tanja sagte: ich habe das getan; ich schaffe es jedes mal, wenn ich es mir wirklich wünsche. (12. 8. 2001) Das Reisebuchschreiben professor tabucchi reiste nach indien er setzte auf die besten beispiele der portugiesischen literatur etwa pessoa, aber dann nahmen die nutten in goa die sache in die hand und so entstand ein neues kapitel, von dem viele theoretiker auch heute noch kopfschmerzen bekommen. professor tabucchi knabbert gerne an indischen plätzchen während er pessoa übersetzt und sich immer neue tricks ausdenkt für seine studenten an der universität in siena die nie den heiligen indischen boden berührt haben im hotel taj-mahal international in bombai zeigen sie stolz das polaroid foto, auf dem ein gepflegter italienischer schnauzbart lächelt neben einer schönen frau in traditioneller kleidung, denn die geschichte wiederholt sich dort selten oder wenigstens erscheinen ihre protagonisten nie zweimal in derselben rolle die großen geschichten, so sagt man, haben sich sowieso verdrückt in irgendwelche anderen gegenden, in andere indien, chinas, indonesien: es blieb nur der genuss der reisebücher und die gipfel des kilimandscharo, zu denen nichts menschliches vordringt, nur der blick, der jungfräulich unentschlossen ist (15. 8. 2001) TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Basketball Ich ertrage keine Linken. Ich ertrage keine Rechten. Sichel, Hammer, Swastika und immer lächelnde Gesichter in verflucht traurigen Bergwerken. Ich ertrage keine Arschlöcher, die darauf warten, dass ich mich von ihnen abwende, damit sie ungehindert das Gespräch fortsetzen können. Ich ertrage jene nicht, die sich betrunken an ihre elektrostimulierten Herzen fassen, und auch nicht jene, die mich aus dem kroatischen Fernsehen „mit stolz erhobenem Haupt“ bedrängen. Ich ertrage keine wohlgenährten Weisen mit Augenringen aus Lehmerde, und schon gar keine hysterischen, spindeldürren Kriechtiere, die immer eine blasse, schleimige Spur hinter sich lassen. Ich ertrage keine Akquisiteure der eigenen politischen Vergangenheit, ich ertrage keine verdienstvollen und loyalen Bürger „dieses, einzigen Landes“, die es nicht schaffen Festzustellen um WAS FÜR EIN EINZIGES LAND es sich eigentlich handelt. Ich ertrage keine Medienimperien der ehemaligen Parteibeamten, in welchen alt gewordene Partisanen und junge, wütende Faschisten ihre bis zu den Ellenbogen blutigen Arme waschen. Ich ertrage keine gescheiten Gewerkschafter, die nach Knoblauch und Slibowitz stinken und deren Gebisse verfault sind, und deren Geruch der „Geruch des verblühten Imperiums“ ist. Ich ertrage keine blasierten Anführer. Ich ertrage keine Roller und keine Tretroller. Ich ertrage keine Schleimer und keine Schlappschwänze, die programmiert leger sind, mit lockeren Krawatten unter ihrer entweder fetten oder ausgemergelten Gesichtern. Ich ertrage keine Menge dazwischen, in der Mitte und drum herum. Ich ertrage keine europäischen Beamten noch die einheimischen Großkopferten: glatzköpfig, behaart, 195 196 Poesie der Nachbarn RELA mit üppigem Bart und all die anderen. Ich ertrage nicht den Republikpräsidenten, den Verteidigungsminister, den Premierminister und die ganze Regierung mit dem dazugehörenden Gefolge. Auch mich selbst ertrage ich nicht, denn ich sehe keine Unschuldigen, nicht mal in meiner eigenen Haut. Und ich bin mir gegenüber böse und gemein: ich schieße jedes Mal ein krampfhaftes Eigentor, in Situationen, in denen jeder normale Mensch drei Punkte unter dem anderen Korb holen und siegreich in die Ewigkeit entflattern würde, mit den „Flügeln der Demokratie“, die aus Kunststoff sind. (4. 11. 2001) Nie in den Niederlanden dann blieb er stehen und sah mir in die augen, er wusste, dass er zum letzten mal in diese augen sieht. welch ein gefühl der leere! welch eine groteske! du schaust und weißt, dass du es nie mehr tun wirst. dann wurden die lippen an den ecken rissig. dann tauchte der glanz in den augen ins unbestimmte ein. dann hingen die arme ohnmächtig von den schultern herab... der letzte galopp auf dem seitenweg. die letzten widerscheine des mondes im glasigen auge. das dann erloschen ist, es hat aufgehört botschaften zu senden über satellitenverbindungen in richtung lebensende und gleichgültigkeit. oh, welch eine verspottung der schönheit und der banalität! der hoch- und der tiefebenen! der tiefebenen von paraguay. der tiefebenen von finnland. der tiefebenen von kirgistan. der tiefebenen von thailand. die tiefebenen von wisconsin. die tiefebenen der niederlande. oh, welche geographie der asymetrie und des zellophans! welch ein hartnäckiger wasserfall aus ritualen und mehltau! es fließen eiter und wohlstand der jakobiner, frühmorgendliches wetteifern vom pferd auf den esel: TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn in die mitte getroffen! ins nichts getroffen! nur das donnern des wasserfalls vor den müden augen: von wo hat sich der tod herangeschlichen? wer verfasst die liste der gewalt und der megalomanie? wie den fernseher ausschalten? (27. 11. 2002) / (20. 4. 2003) Regenschirm zuerst hat es dreimal geblitzt. dann riss der donner den himmel auf: der regen stürzte schmerzhaft hervor. alle touristen versteckten sich auf dem friedhof. männer in unterhosen und mit strohhüten. frauen in unterhosen, mit tüchern um den körper. kinder ohne unterhosen, mit sandigen hintern. der wind kämmte die olivenbäume polierte unreife granatapfelfrüchte drückte die gischt in die ufer. ich senkte meinen blick durch das fenster auf ein männerpaar, das die terrasse nie verlässt: weder in der sonne, noch im regen, noch in der hitze, noch wenn es wolkig ist. der grauhaarige, der ältere, in unterhose, liest ein amerikanisches buch auf italienisch. der jüngere, schwarzhaarig, in unterhose, zähmt ein großes kreurzworträtsel in das sich der wind verheddert hat und die angeschwemmten regentropfen, dick und saftig, die entlang der dachziegel und regenrinnen fließen. entlang der straßen und plätze, entlang der kerben und der einschnitte, neben den steinmauern und den herausgeputzten brunnen. in der stadt beli auf der insel cres, in der stadt beli auf der insel cres, in der stadt beli auf der insel cres. (9. 8. 2004) 197 198 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Die Landschaften der Sexualität und des Schlammes kein hund war mehr auf den straßen: die flugzeuge bombardierten die vororte, die gärten waren voll von queckengräsern und butterblumen, den letzten überbleibseln der pädagogik, aus der du hervortratst mit einem röckchen über den fußknöcheln, mit frisch depilierten waden, und viele sätze über orangen und wladiwostok sagtest, über den drachenkopf im wein und den staub vom balaton, über gewagte liegestütze und die hochebenen des pazifiks, oder eines anderen meeres, über blumenkohl, über barmherzige nonnen und über karlovačko bier. mein gott, was für ein salat! – wiederholte ich im stillen immer denselben satz, mit dem blick auf deine knie und die komischen zähne in ihrer barocken aufteilung. grob und zugleich gerührt, wie in der jungend des künstlers, des philantropen fuhr ich herab an dem riss am körper, an der erfahrung des überlebens. mensch, es gibt nichts auf den straßen. feuchtigkeit im mund, das rohe texas, eingepflanzt in die doppelflinte, freude, die schläfrige stimme des hirten auf der symbolischen weide. (14. 4. 2003) / (20.4. 2003) Don Quijote das eine million mal ausgesprochne wort rundete sich zur stummheit ab: der melancholische hip-hopper, verirrt in der zeit, zerstört windmühlen und dulcinea, den treuen sancho und die untreue rosinante: scheiß was auf den sex, den du wählst: er ist wie die nahrung, die du auf deinem teller hin und her wendest, ohne farbe, ohne geschmack, er ist wir der lebenssinn von monty python: der zug, der in einer rohrleitung stecken geblieben ist, das wort, das im hals vertrocknet ist, die raben auf den saiten der blasphemischen gitarre, von der sich der ton losgerissen hat, und nun sucht er waldlichtungen und wasserfälle heim, von wo es keine rückkehr gibt in die jungen morgen mit den lippen auf der brust und mit den füßen auf dem schoß der mutter, des mädchens, des beflügelten pferdes, das stöhnt und sich aufbäumt auf der titelseite eines magazins, magazins: was für eine stummheit! was für eine freude! was für ein hundertjähriger rebell, der von den alten salzheringen und den alt gewordenen jünglingen der partei, die jetzt dick und allmächtig geworden sind, gequält wird: der gestank der revolution dampft aus ihren mündern und bläst umher, unterwirft, terrorisiert das frühstück unter dem wasserfall, den schönen morgen und das picknick mit nackten mädchen, schülerinnen der dämmerung und der morgenröte, die im mund beben, während du sie aussprichst unter dem terror der staatsanwälte und ihrer mediensponsoren: was sind die mechanismen des widerstandes? welche waffen sind wirksam? warum ins leere? wer schießt mit blindgängern? wie viele kugeln? von wo kommt das echo? cho? ho? RELA TIONS Poesie der Nachbarn Kulturtreger der bahnhof in virovitica: du kommst herein und erkundigst dich: nach wem? über was? der sinn ist nicht symmetrie: vier nutten tauschen betäubungsmittel aus, der cocktail, der nicht weh tut, wenn alles enthüllt ist bis zum schmerz und wenn rohes fleisch gesäuert wird im bulimischen wind in der nase und im haar: die kisten mit gefrorenem fisch sind nahrung für die kultur und für die kleptomanie, aus der du wie ein held hervorgehst: es empfangen dich staatssekretäre und freundinnen des ministeriums, die chefanklägerin des haager tribunals und ein friedensvermittler: welchen weg nehmen? du sagst dir selbst: nur ruhig, nur ruhig, du einziger freund! die welt liest zeitungen und erfährt daraus vom montage-assortiment, dass die strategie der kampagne angepasst ist, kam.pa.gne,k.a.m.p.a.g.n.e: die mörder kriechen auf den bäumen herum, die raupen in den mund voller kautschuk, voller chiropraktik für multiple und osteo: du setzt dich dann ins auto, nimmst das rituelle gerät und verübst selbstmord an deinen eigenen träumen und alles ist paletti: wie schön du sprichst! sagte sie abwesend und verdrehte meinen arm bis ich einwilligte: sex ist ein mittel! sex ist gymnastik! dir wird das ding eingeschoben. was für ein ding? von allen seiten! osten und westen und norden und süden. in alle löcher und in santa barbara: dann schreist du, wie im traum: wie das glück, wie die gelassenheit, wie der tod auf dem highway: die sprache ist wieder im eigenen saft ertrunken: du fügst gewürze hinzu, salz und essig: du fügst alles hinzu, was du abgenommen hast: die brutalität ist der maßstab, die schönheit ist die gewalt! es regnet ans fenster, es soll hinab fließen, es ist kein eis: die worte werden nicht verkleben! Kompass es fehlte schon wieder an courage: sie gingen auf die straßen, mit schneeglöckchen und mit einem schwarzen furunkel auf der ohrmuschel, aus dem ein bandwurm aus spermiziden und einem symphonischen lied tröpfelte, schall und rauch und amors pfeil, der sich aus dem unkraut aufbäumte zu einem hecheln, zu einer hyperbole: kamikaze krieger sind unsere nostalgie, das verdrehte bild ohne wahre gelegenheit: wer wird sie mir geben? wie werde ich dich nehmen? in missionarsstellung sammle ich nur jünger und trommeln auf mohnplantagen, egal wo im osten oder in einer himmelsrichtung: ich weiche der mathematik und den hieroglyphen: ich verlasse den brief für immer, in das vollendete, in die vergangenheit: den namen werde ich vergessen: ich werde die welt umdrehen wie die matratze auf meinem fickpolygon: verreisen! verreisen! sansibar und fukoyama. yamamoto und siracusa. kilometer in die meilen, meilen in den horizont. karlovačko bier in amoniak. sisak in der rauchleitung. springbrunnen aus würmern und blutwürsten. kraut. knoblauch. black code. banija. 199 200 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Nadeschda und die Angst 1 am nachmittag habe ich einen brief geschrieben: hüter des staubs, schiefbeinige antistatiker irrten durch das weiß und beschenkten sich mit flüchen: eine saftige bibliographie als einleitung, dann michelangelo, die plastik, die betrügt wie der glaube mit einem lächeln auf dem markanten schnurrbart unter der zerschlagenen schnauze, aus der die fäulnis-die fäulnis hervorquillt. die blassen jungen männer streiften sich handschuhe und kondome über, die gesamte hierarchie der gummi- und der schuhindustrie, und vergewaltigten fünf personen: drei junge männer und zwei junge frauen, dann noch schafe und hühner, all das, was nicht zählt, da es nicht spricht: sie ließen unordnung zurück und eine baumschule in gummitüten: das ist doch der stolz! sagte die wahrsagerin vor der tür und legte eine patience auf dem bildschirm: die jahre vergehen einerlei! auch die zeit des schwanzes vergeht! die röte auf den wangen zeigt zurückbleiben an und krankheit! die schande kommt nie allein! sei jung! sei schonungslos! scheiss auf die gesundheitsinspektion und auf pilze mit eiern! nach dem ficken gibt es keine reue!2 Der Mann, der immer wieder verloren ging die reise um die welt ist die einfachste von allen reisen: du gehst los und das ende wartet auf dich am ausgangspunkt. er ging häufig los, aber er kehrte nie zurück: er sah keinen sinn. er hatte seine syntax, seine sprache, die für andere unergründlich war, seine meerbrasse und seinen rotwein. auf einem der wege verlor er farben, auf dem anderen sein handy. dann wollte er ficken: seine alte freundin ließ ihn nicht, also wandte er sich an die freundin eines freundes, mit dem er vier liter getrunken hatte, sechs packungen zigaretten und oliven mit paprika dazu: sie ließ ihn nicht, also wandte er sich an den freund: er pickte ihn mit seinem schief stehenden schwanz durch die kleidung, versuchte ihn zu überreden, dass sie zusammen auf die toilette gehen: aus dem ficken wird nichts! dann produzierte er einen vorfall, indem er eine passantin an den hintern fasste: ein großesglatzköpfigesetwas in einem rosaroten hemd entschuldigte sich bei ihm und wollte sich nicht schlagen: schon wieder ein blindgänger, dachte er, wickelte den schwanz in den saum der tischdecke und versuchte ihn mit schnellen bewegungen zu zähmen: das publikum skandierte, die einmachgläser zerbarsten, aber man konnte die sache nicht zu ende bringen. er war rot im gesicht und seine augen waren ganz verdunstet: das wasser sprudelte aus den höhlen hervor, ohne auf hindernisse zu stoßen: er begab sich auf eine neue reise ohne rückkehr: die armee und die luftwaffe erhoben sich, das hubschraubergeschwader und der bergrettungsdienst: er versank in den traum und träumteträumte: schon wieder wollte er ficken! neben ihm lagen ein brett, vier bojen und ein demolierter sonnenschirm. als er ein kind war, machte man ihm angst, dass auf seinen handinnenflächen haare wachsen würden, deshalb masturbierte er nicht. vielleicht sollte man doch das risiko eingehen? 1 2 Anspielung auf die Autobiographie von Nadeschda Mandelstam, die auf Kroatisch Angst und Hoffnung heißt (Anm.d.Ü.) Der letzte Satz reimt sich im Kroatischen. (Anm.d.Ü.) RELA TIONS Poesie der Nachbarn Fado als der käfig nachgegeben hatte, rannten die tierchen in alle richtungen hin und her und starben dann vor hunger. sie nahm eine sandschaufel und grub gräber für sie, stellte kleine tafeln aus domino auf und klebte bildchen aus der sammelserie tierreich darauf, dann ging sie als lektorin nach australien. dort hatte portugiesisch nie richtig wurzeln geschlagen. deshalb machte sie fotos von den tieren und zeigte sie den studenten. sie sprachen die australischen namen aus und klebten fotos auf die wandzeitung. unter die fotos schrieben sie verse und bissige kommentare. einer hat über ihren hintern geschrieben, der andere war ein tölpel und schwafelte etwas über ihre augen. eine studentin wollte den geruch ihrer haut ohne kleidung spüren. ein chinese schrieb ein gedicht voller anspielungen. der japaner schrieb ein haiku, das sie nicht verstanden. sie fotografierte alles, packte ihre sachen und reiste ab. sie besuchte den friedhof der tiere. der regen hatte das tierreich ausgewaschen, und die dominos waren umgefallen. sie setzte sich auf ihren koffer und weinte aus voller lunge. aus dem koffer hörte sie geräusche: sie öffnete ihn, und heraus kamen verschiedene tiere: das kleine känguru, das schnabeltier und so weiter. sie sprachen portugiesisch. ein tier schimpfte etwas! einem anderen hatte sich eine klette an den schwanz geheftet. sie setzte sich wieder auf ihren koffer und weinte aus voller lunge. sie war so glücklich! Maljčiki 1 er war allein in dem Raum ohne fenster und ohne hass: zwischen den füßen piepsten die mäuse, die katzen stolperten und schimpften, das horn hockte im sack, taubstumm und pathetisch wie ein händler mit fälschungen aus surinam: sie schlüpfte geräuschlos hinein, zwischen mäuse und taubheit, rammte das horn auf die kerze, denn der docht ließ sich nicht anzünden, wenn sie den feuerstein schlug, da es zu feucht und kalt war in wladiwostok: du bläst in das horn und du musst nie furzen? fragte er mit der stimme des postboten, dessen stunde geschlagen hat: sie lachte, lachte wie der chiropraktiker im parlament, blind und selbstgenügsam, ohne zunge im hals, ohne schmerz zwischen den beinen: er brach nur zusammen in das polierte leder und brummelte in seinen bart und in die asymmetrie: ja frauen, ja alte leute, ja arbeiter, ja kranke, ja homos, ja heteros, ja die priester, ja die prostitution, ja die leichten, ja die schweren, ja das militär und die polizei: er machte sich etwas sorgen, denn der chiropraktiker aß die gestalt in der fünften zeile von oben, aber trotzdem verachtete er die öffentlichkeit, die meinungsforschung und die umfragen über sexuelle gewohnheiten: mit der schon erwähnten stimme erinnerte er sie an das fehlen des lichts im raum und die notwendigkeit, neue energiequellen zu entdecken, während die barrel-preise spinnen: sie stöhnte langsam: du sollst jetzt nicht aufhören, da wir so nahe sind! und sie blies in das horn: die kerze wurde angezündet: die ganze szene verschwaaaaand im nuuuuu in flaaaaameeeen. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer * Maljčiki auf Russisch Die Jungs. 201 202 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA TIONS RELA TIONS Poesie Delimir Rešicki DELIMIR REŠICKI, geboren 1960 in Osijek. Dort schloss er sein Studium der Kroatistik ab. Poesie, Prosa, Literaturkritik und Medienpublizistik und -essayistik begann er Anfang der achtziger Jahre in allen wichtigeren kroatischen Zeitschriften und anderen Zeitungen zu veröffentlichen. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und beteiligte sich an einigen internationalen Multimedia- Projekten. Mit Gedicht-, Prosa- und Essaytexten ist er in rund 30 Anthologien, Übersichten und Panoramen zeitgenössischer kroatischer Poesie, Prosa und Essyistik vertreten. Für seine literarische Arbeit erhielt er bedeutende Literaturpreise. Er war Redakteur der Zeitungen und Zeitschriften Ten, Osječki tjednik, Heroina nova und Književna revija. Heute arbeitet er als Kulturredakteur bei der Tageszeitung Glas Slavonije. In deutscher Sprache liegt eine Auswahl seiner Gedichte in den Zeitschriften Akzente, Manuskripte und Die Horen vor (beide Frühjar 2008), sowie in der Anthologie Konzert für das Eis; sein Gedichtband Arrhythmie ist beim Verlag Edition Korrespondenzen 2008 erschienen. Im Juli 2008 wurde Rešicki der Hubert-Burda-Preis verliehen. In jenen Tagen, eine nicht anmaßende Aufzeichnung fünfzehn vormittage sah ich das schulprogramm bis mich die existenz zum schnellen, mehrfach untebrochenen erbrechen zwang. tiere fressen sich vorwiegend gegenseitig, gründlich und endlos in der berührten natur. ich bin ein humanist aber ich habe keine phantasie deshalb drehe ich immer durch wenn ich den hund des nachbars sehe wie er stundenlang regungslos die junge hüfte des mondes anstarrt, sich erinnert und weint. die millenien, so sagt man, existieren parallel. so esse ich manchmal vor der vorstellung unbedingt kürbiskerne 204 Poesie der Nachbarn singe leise kampfliedchen und aus meiner haut sprießen dann getreidefelder in weniger als einem jahr die die heimatdichter so zärtlich liebkosen. auf den lippen des meeres ist silvija eingeschlafen, der star des soft-cores und sie träumt von mir wenn das meer zu sprechen beginnt, wacht sie auf und erinnert sich an nichts mehr. ich habe keine meinung zu den vandalen, die gestern nacht hier vor mir dein archaisches und eitles küchentuch aufpumpten so beginnt das dritte, aufregendste kapitel von emanuelle ich werde sowieso alles allein beenden, was sie begonnen haben wenn du mir morgen in der küche den rücken zudrehst. nur deshalb bin ich zweimal in den flur zum rauchen gegangen und, und ich sah an diesem tag eine telefonzelle, wie sie leer da steht und vom regen nass wird vom heißen sommerregen der irgendwo in den dörfern auf die fahrbahn einschlug und in den ersten augenblicken des fallens staubwölkchen aufwirbelte und das war eine der schönsten dinge, die man sehen konnte in jenen zeiten, sage ich wieder sah ich die leere telefonzelle mein verlassenes heim in dem ich endgültig aphasisch wurde die straße war schon wieder das vierte atonale quartett von nichts die menschen brachten sich in den hauseingängen in sicherheit und lasen schnell von ihren handflächen, solange diese noch feucht waren, die astrologischen zeichen der erneuerung ab. in der unterhaut der telefonschnur strömten diese ganze zeit lang meine besten gedichte ich wusste wenn ich jetzt den hörer abhebe wird diese telefonzelle unten zerbersten, ich weiß RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn weil ich solche tricks sehr oft in billigen Videoclips gesehen habe o vienna this means nothing to me... bald werden sie kommen und die abendliche stadt mit wasserschläuchen reinigen noch einmal werden die blätter tropfen trinken mit vernachlässigter ruhe und die insekten werden die dürstenden stachel in zermatschte beeren stechen auf dem markt, der wie ein leeres telefonsignal stinkt. Christa alles was dir gehört, dich einsame habe ich aufs spiel gesetzt und jetzt warte ich ab, auf welche von den sechs schlafenden würfelflächen der schnee mit seinen lippen fallen wird. was und in welcher sprache wird der gott sprechen während in seiner hand der hörer aus brüchigem elfenbein schwitzen wird. erinnere dich, in osijek haben wir dem besoffenen taxifahrer die eingeweide geöffnet um unseren uralten hunger wenigstens ein bisschen zu vertreiben, aber anstelle des herzens haben wir auf dem marmorboden des observatoriums nur einen schneeball gefunden, der vom rand dieser fernen straße gepflückt wurde. das taxometer funkelte unter deiner zunge wie ein ferner planet, auf dem der staub schlafende engel blind macht, auf dem jungfrauen auf einen müllhaufen zeigen und sagen: von hier wurde diese rippe geklaut, hier soll die kamera sterben. die nacht ist ein zärtliches tonband von dem man, wenn es lange, lange vom schnee berührt wird, leise deine stimme vernimmt. in dem augenblick tritt das kind an dich heran und küsst dein haar als würde es zum letzten mal das meer küssen. 205 206 Poesie der Nachbarn Heilpflanzen wo sind deine nächsten, du salbei auf der schlafenden wiese? das ist korrekt verfasst wir tanzten alle dir zugewandt, schwester auf dem thron, müde wie pferde die für einen zuckerwürfel bis nach lepanto gerudert sind was soll ich meinem vater sagen wenn er mich fragen wird nach dieser ganzen kohle die bei deinen teeparties verschwunden war in einem einzigen tropfen tau? nein, nicht mehr auf dem makadam wird er sagen, wenn ich ihm die bilder der hautkrankheiten im medzinischen lexikon zeige. und was ist denn das für ein gesetz wenn jeder den schlüpfer der mandoline streicheln darf der im reumütigen wind lacht. was sind das für schlüssel wenn ich dich jeden tag sehe wie du aus meinen kranken augen die luft stiehlst? Die Weissagung der Vergangenheit ich habe mir einen kieferbaum in den mund gepflanzt. dafür habe ich mindestens dreißig jahre gebraucht. ich bin ebenso viele kilometer gelaufen um einen winzigen knoten auf deinem busen herum. dafür habe ich immer eine weiche sommernacht, saubere wäsche und das gehör gebraucht, dieses ruder aus staub, mit dem ich entlang deiner haut voranschreite zu den unbekannten logarithmen des morgens. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn eine ganze dichte schar von krähen ist heute nacht aus meinem zimmer hinaus gestürzt aufgeschrocken durch das flüstern von jemandem und so kam dein morgen, kasiel, aber du bist nicht da, ich kann nicht schwimmen es wird mir nie klar sein wie ich überhaupt gelernt habe fahrrad zu fahren die luft war wahrscheinlich dunkelblau vor schrecken. cicciolina badet im sonnendunst der herabsteigt zum polierten florett des tibers diesem alten blutigen staub dessen lippen wir gegessen haben. heute noch denke ich dass die straße eine malaria-hostie ist über die man laufen muss bevor du an den schnee denkst. wir haben uns genommen wir nehmen uns mit dem mund. die geometer an der grenze drücken mit ihren bäuchen bälge aus dem bauch indem das dunkelblaue feuer auflodert indem die brandmale unserer freiheit gekocht werden. ich stehe in der schlange krempele den linken ärmel hoch und warte darauf, dass das jod mich an der spitze der wolke küsst. abendstern, schläfst du wach auf und küsse auch du mich in der küche mit der uhr aus lebendem moos, das weint. wem fließt heißer asphalt über das gesicht auf wen warten wir, damit die gerüste von der straße entfernt werden und wir weiter ziehen können? haben wir, kasiel, wirklich gevögelt im warmen vogelmist 207 208 Poesie der Nachbarn RELA in den entgeisterten lorbeerblättern der ersten öffentlichen druckerei, auf den ersten seiten der verfassung hast du gesagt zeige niemandem deine hände der ganze bahnhof zerplatzt zu einer neujahrsenklave der zähflüssige wolllüstige punsch fließt von jeder hausnummer der straße die straße sagt ihr deshalb wenn die muscheln weinen trinkst du diese gekühlten tränen Mizar der mizar ist ein stern. ein besonderes, ein sehr besonderes kleid. man sagt, dass derjenige, der ihn nicht sieht und nicht mit seinem blick finden kann auf dem staubigen himmel, nie den wahren schlüssel für sein schicksal findet, nie den am wenigsten schmerzhaften, längsten weg gehen kann. es ist einige gescheiterte monate her, ... dass ich gehört habe, dass er vielleicht gestorben ist, dass lux interior gestorben ist. ich habe immer geglaubt, dass rock lieben nichts anders bedeutet, als mit den vom ozean nassen händen und mit lippen voller kleiner wunden vom lebendigen, warmen salz in das nackte kabel der elektrischen gitarre zu beißen, den mizar nie zu sehen, den aufgeschreckten piranhas der sonette den eigenen eingeschrumpften schwanz zu zeigen, die hüften, all das. der mizar ist, wenn es ihn gibt, der nicht erloschene zigarettenstummel gottes, der dank einem sinnlosen wunder auch weiterhin glimmt. lux interior, da bin ich mir sicher, schreitet jetzt entlang dieser leeren straße, liest ihn vom bürgersteig auf auf den schon vor langer zeit dieses motoröl gegossen wurde, in dem sich tag und nacht blinde jungfrauen lecken, und der himmel wird einsamer einer seiner uralten schmerzlosen blauen flecke weniger. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Ich werde nach Sichuan gehen um dort mit Pandabären zu sterben ich werde nach sichuan gehen. die sonne wird morgens immer mit einer unbekannten müdigkeit auf der haut wach und stürzt direkt danach in das gelbe in das gelbe, bernsteinfarbene meer. ich werde nach sichuan gehen mich in das feuchte schießpulver des frühlingswaldes legen und dort sein mich dort verstecken. ich werde alle 365 jahre aufwachen und zuschauen wie aus meinem bauch farnkraut wächst direkt nach oben zu dir, nach oben o mao, mao du sitzt jetzt auf einer hohen wolke und streust goldenen reis auf sichuan. du hattest mir gesagt, dass ich ein flugzeugträger sein werde, wenn ich groß bin! deine haut ist kaltes porzellan auf das ich mein gesicht zu legen pflegte. unter meiner stirn hatten sie mir eine kleine metallplatte eingebaut. ich wusste nicht, wozu sie dient, aber in der sommerhitze, die von nirgends kam, fiel ich und kroch dahin das glühende metall unter meiner stirn brachte mein gehirn zum schmelzen, meine knochen, alles. unter meinen füßen wurden die pedale feucht und ich konnte nicht mehr zu ihr auf die andere seite von shanghai obwohl ich dafür einen jeton hatte ich konnte sie nicht küssen und nicht sehen und deshalb bin ich jetzt blind und gehe allein nach sichuan um dort mit den pandabären zu sterben. Die Mandeln in deinem Schoß Jeden Tag fälle ich jeweils eine wichtige Entscheidung. In Bezug auf dich, denn ich bin der einzige von hundert der sich 209 210 Poesie der Nachbarn ganz bestimmt deiner nicht erinnert. Es glänzen Getreideären im Rückspiegel des Autos in dem ich auf dem Vordersitz tot sitze und tote Mandelsetzlinge in deinem Schoß zähle. Weil ich blind bin kann ich über irgendetwas wann immer ich es möchte zu reden aufhören. Zwischen der Erde und dem ersten Millimeter Luft gibt es eine unsichtbare unendlich verdünnte undurchsichtige Schicht der Einsamkeit in dem der Mondschein aus dem Glitzern der Fischschuppen im Nachtgras auf dem Ufer und aus den verstreuten Andenken und Erinnerungen die Engel empfängt. Es ist tatsächlich schrecklich was ich für den Brand der Strohdächer bezahle jedes mal wenn du dir wünschst auf der Straße einzuschlafen. Jeder, der gelaufen ist, hat das Meer belogen. Er hat mindestens einmal das Meer belogen wie auch meine Geduld und er soll deshalb seine Sandalen nicht in der Ecke ablegen Nägel in die Wand schlagen und meinem Bett nahe kommen. Denn jeder wird verlieren, der um zwei Uhr nachts ganz egal womit und ganz egal wie mit jemandem handelt den es nicht gibt. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Dieser Sommer Ich weiß immer noch nicht wann der Sommer beginnt. Aber, ich weiß wie dann dein Haar nicht heller wird und deine Hände nicht schmerzen vom Waschen der eigenen Lippen. Dein Name ist nicht der Name den alle fünf Sekunden das Meer ausspricht. Niemand heißt so. Schwinge ruhig das goldene Ruder in der Mittagshitze stehle etwas in der Boutique während die Schwäche und das Erschlaffen langsam die lange leere Straße entlang taumeln zu deiner Stirn und deinem Magen. Werfe den Zigarettenstummel in den Heuschober in den Tanker, der im Hafen ankert mögen deine Finger zufällig das Zündholz fallen lassen an der Tankstelle im Vorort. Wenn du die Sonne liebst, wenn du die Sonne liebst. Das Gold In meinem Körper glüht die Asche noch einmal aus zu einem düstren schweren und verseuchten Öl durch das ich verträumt und bis zu den Fußknöcheln eingetaucht von einer Wand zur anderen laufe. In dieses Feld fällt das Gold, das der Winter aus deinem Haar herauskämmt. 211 212 Poesie der Nachbarn Aus diesem Gold hat der Mann, der im Schlaf rückwärts spricht seine Abendglocken gegossen und es kam ihm nie mehr der Wunsch sie zu hören als er ruhig war und die Felder schliefen in ihrem kalt gewordenen Wachs aus dem du mir auch heute vergeblich Hände formst in dem du mit den Mandeln und mit dem Brot spielst mit welchen du einst die Schatten heiltest einer entweichenden Ordnung. Es ist Feiertag auf den Ackerfeldern füllt der Schnee die Wege zwischen den gebrochenen Stängeln der Sonnenblumen. Im weißen Licht hat die weiße Schwinge des Sterbens gewunken und der goldene Staub von den Augenlidern der Ungeborenen glitzert überall in der Ödnis. Es war damals so unmöglich deine Schritte nicht zu hören damals als alles nur noch sich selbst ähnelte. Ausgerechnet so nicht die Bücher im Regal ordnen das aufgehört hat Babylon und Neon zu spielen. Und es gab weder ein einziges Schiff in diesem eisigen Hafen noch Schatten mit ihren Menschen und die Gleise sind leer geblieben und Schienen bewachsen mit vereistem Gras und der Stille und wir wärmten uns die Hände neben dem Busch, der in einer Nebenstraße loderte. In sich erleuchtet und an sich reduziert und immer ferner von mir je näher er dir wurde. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Die Ungeborenen Weine, weine im Traum, Engel, erst so werden alle diese Lampen leuchten, das Öl, die Lampions und die Lampen, erst so wird der Fluss, in dem du die Hände gewaschen hast den Saum des Todes berühren aus dem der Kuss erschaffen ist, über den du wachst. Die Ungeborenen spielen mit ihrem Spielzeug aus goldenen Spinnweben. All das, was ich nicht mehr kann, liegt für sie in der Reichweite des Traums. All das, was für sie in der Reichweite des Traums liegt, fährt die Straße entlang und ist mir tot in den Augen. Ich habe ihre Hände geküsst, ich sah dir in jene fernen, mitleidigen Augen ohne zu wissen wohin in diesem stillen Überfluss. Das Buch über die Engel Die Sonne fährt durch den Himmel eingehüllt in ihre blutigen Segel. Es gibt viele Treppen von der oberen zur unteren Stadt wohin Dijana schreitet, die die Sonne im Traum begleitet und die in ihrem Rucksack die vertrockneten Silbermünzen des Abends und den kleinen Zweig einer wilden Kirsche trägt. Nachts, an den Kopfenden der Toten, neben welchen uralte, angstvolle Schatten glimmen, sagt jemand leise, nah an ihrem Gesicht: Gott wird bald sein verlorenes Buch über die Engel finden, die Engel werden im Kornfeld einschlafen. Korn wird sich über den Sommer in die saubere und duftende Schale aus weißem Kalk verstreuen, ein bodenloser, stiller, ausgetrockneter See, das Ende dieses stummen Gebets, all diese reifen Körner werden sich auf seine zugeschlagenen Seiten verstreuen. 213 214 Poesie der Nachbarn All das wird einmal so fern von deiner Stimme sein deine Stimme wird einmal so weit fort von allem sein. Der Sommer dem Sommer einen Kuss, der Winter dem Winter einen Kuss, das Blut dem Blut im Weinberg einen Kuss, in dem unter dem Schnee in der Weintraube, die noch reift, die eine oder andere trockene Beere liegt, und der Zucker in ihr fällt, fällt auf die Flügel des Engels in den dunklen, in den roten und weißen Wein. Werde ich je auch diesen Traum vergessen: Die klaren Wasser gefüllt von toten Fischen mit verunstalteter Haut und das Wasser, das sich schnell in den trüben und verpesteten Schrecken der Angst verwandelte, in den Magen der Ohnmacht, den Schlamm des Mundes und des unaussprechbaren Wunsches nach einer, nach deiner Berührung, nach der Stelle, an der die Hand mit dem Morgen das Gold ausspült aus der reinen Leere. Die Wissenschaft über dich Die Weinrebe blüht, blüht. Die Flut flüsterte mir im Traum etwas zu, der Sand ließ ein Korn nach dem anderen blühen wie der abendliche Tag. Ich küsste mein verstorbenes Kind. Ich liebte den Staub wie die warme Lippe von der deine Stimme das Blau geliehen hat. Gott rankt sich um dein Herz. Die leichte Brise berührt die Gewänder der Engel, die Straße wird sterben wenn du deinen Kopf zur Seite drehen wirst für immer, für immer. Die Nacht wird die Hände all jener essen, die am Tisch eingeschlafen sind. Und es wird ihren Namen nicht geben und es wird ihre Asche nicht geben nicht einmal für einen einzigen Morgen, RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn ausgerechnet diesen Morgen, den weder du noch ich sehen denn allein sein bedeutet eigentlich mit tausend anderen zu sein. Nichts kann so wie du diese blutigen Äderchen erwecken. Woran sollte ich mich erinnern wenn es dich wirklich gibt? All das worüber du sprichst all das woran man dich erkennt ist schon seit langer Zeit geschehen. Aber nicht im Traum Aber nicht im Traum. Pilze und Flechten Die Ärzte meine Liebste kamen in unser Tal viel früher als irgendeine Krankheit und blieben hier lange tatenlos sitzen und blieben hier lange lange träumend und ihre Nachfahren wuchsen wie die Flechten und modrigen Pilze an unseren Händen Deshalb glaube nicht dem Medizinmann der in der Frühlingsdämmerung nach dem Regen ruft und glaube nicht der Stimme die nach dir ruft im überheizten Wartesaal der Vorstadtambulanz 215 216 RELA Poesie der Nachbarn Es wird nichts gesät sein auf dem Feld um seine Füße außer Schmerz und Dorn und erst ein kleines Knäuel aus Spinnweben wird manchmal morgens hervorsprießen, eilig geflochten zwischen den Fingern der Neugeborenen Wenn der Himmel wirklich all ihre Gebete erhört werden eine Million Tropfen voll von farblosem und geschmacklosem Gift noch schneller auf die Erde fallen und niemand wird von dieser alten Parade verschont die aus der Höhe den eingebildeten Durst eines Menschen stillt Dreh dich lieber im Schlaf auf die andere Seite des Bettes zeichne dem toten Seehund einen Fisch auf den Bauch Sei wie die Liebe: vergiss nichts und verzeihe niemandem etwas! Sei wie der Luftzug durch die blutige Gaze lass dich um Gottes Willen nicht durch sie heilen Horche: die Nachtwachen sammeln verlorene Münzen von den Bürgersteigen der dunklen Straße direkt unter diesen Fenstern Mit diesen Münzen haben wir erneut versucht Judas und seine Söhne zu bestechen aber TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Judas und all seine Söhne sind schon vor langer Zeit in ihr Königreich aus Silikon umgezogen Lass alle sich eine Minute vor Mitternacht in den Tag verlieben Lass, dass nichts ihre Welt verändert lass, dass nichts ihre Welt verändert denn es wird verunglücken jeder, der dieses Krankenhaus nicht kennt wie sein eigenes Herz: Jai Guru Deva Om Neon spielte Lyra Neon spielte Lyra Von ihm mehr als von irgendjemandem anderen haben so viele spätere Spielmänner spielen gelernt die auch heute ihre besten Strophen verfassen während sie beobachten, wie fremde Dächer brennen und die so viele fremde Fenster in Blindheit vernageln Das sind jene die in den Märchen Streichhölzer von Waisenkindern kaufen Das sind jene, die kommen wenn die Ohnmacht den Hunger ersetzt und bieten dir dann das Brot von Gestern und das Lied von Morgen 217 218 RELA Poesie der Nachbarn TIONS Die Krähe Und ich gehe nicht über das Feld Denn im Feld ist die schwarze Krähe Denn im Feld sind die Nacht und der Tag... Josip Murn Auf einem uralten Bild kehrt ein einsamer Ackerbauer in der Abenddämmerung müde in sein Dorf zurück auf einem staubigen Weg durch die reifen Felder Häufig zwang mich etwas ihm im Traum zu begegnen und auf diesem gleichen Weg im Bild in der frühabendlichen Kühle dorthin zurück zu kehren von wo er jetzt gerade kommt Sowohl mich hier wie auch ihn dort in diesem abgenutzten Bild beobachteten gleichzeitig die weisen Augen der Krähe und diese glatten schwarzen Flügel streichelten unseren Verstand und heilten unseren Blick als hätten diese Vögel die Kleider der Heilsarmee übergestreift bis zu den Zähnen entwaffnet durch unsere Unfähigkeit uns von dem Ort zu rühren auf dem der Schimmel frisst unser Hab und Gut das schon hundertmal von den Horden des Krieges und den Horden des Friedens geplündert wurde und das wir von unseren Vätern und unseren Müttern geerbt haben RELA TIONS Poesie der Nachbarn 219 Im Herzen jedes dieser Vögel hat dein Vater für dich eine Brücke gebaut die von deinem letzten Schritt in das Schneeweiß zusammenbrechen wird Wenn du dich dann umdrehst wirst du dich noch einmal sehen wie du weit zurückläufst über diese Felder in den heißen Essig in den eisigen Frieden ich aber werde morgen über die Felder gehen Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 220 Poesie Tomica Bajsić TOMICA BAJSIĆ, geboren 1968 in Zagreb/Kroatien. Dichter, Prosaist und Übersetzer. In seiner Jugend reiste er durch Europa und Lateinamerika, insbesondere durch Brasilien, wo er sich fünf Mal aufhielt. Über seine Aufenthalte in Lateinamerika schrieb er Reiseberichte und Lyrik und übersetzte dortige Dichter ins Kroatische. Er besuchte die Schule für Angewandte Künste und studierte drei Jahre lang an der Akademie für bildende Kunst in Zagreb; bisweilen ist er auch als Zeichner und Restaurator tätig. Redakteur bei der Zeitschrift Poezija. Seine Gedichte wurden in der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis in deutscher Übersetzung veröffentlicht, ein Prosafragment in der Anthologie Kein Gott in Susedgrad. Apokryphe über Tito Tito nagt auf dem Dachboden an einem Schweinskopf mit einem Auge lugt er auf die Straße, damit seine Eltern ihn nicht erwischen es ist mir doch egal / denkt er / ich werde mit dem Fahrrad fliehen Tito illegal in einer Wiener Straßenbahn er hat seinen besten grauen Anzug angezogen er denkt: bin ich etwa weniger wert als diese Studenten? Tito ist Walter / John Smith / Fantomas / Caspar Hauser / Howard Hughes / Tito ist alias / alias ist Tito wie viele Namen ich bloß habe / bewundert Tito sich selbst Tito reitet über den Berg Romanija hinter ihm stolpert der alte Dichter Nazor durch den Schnee Vladimir Vladimir / denkt Tito gütig Tito winkt aus seinem Mercedes den versammelten Kindern zu die roten Tücher sind ihnen wie kleine Schlingen um den Hals gebunden / und die Sonne wird einmal erlöschen / denkt Tito philosophisch RELA TIONS Poesie der Nachbarn Tito ist elegant im Tod die Liste der Untröstlichen in alphabetischer Reihenfolge1: Akrobaten im Circus / Bären Nashörner Löwen /Beamte / Einserschüler / die englische Königin / Filmarbeiter / Fußballspieler / Grundschullehrer / Hippies historische Persönlichkeiten / Ilich Ramirez Sanchez a.k.a. Carlos / die kubanische Zigarrenindustrie / Menschen, die einen Schnurrbart tragen / Offiziere aus den Feuerwehrwachen / Opernsänger / Präsidenten Schneider / schöne Frauen / Werktätige des Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung / der Anglervereine / Maiskolbenverkäufer auf der Arbeitsstelle Nr. 7 / Punker / Reservepolizisten / Sai Baba / Schachspieler / die Chefs der Häuserverwaltungen / pensionierte ältere Korporale / die Grünen Tito ist im Heißluftballon über Ostafrika wieder erschienen er senkt das Fernrohr auf eine Zebraherde gestreifte Teufel / denkt Tito / sie sind alle gleich Tito sagt NEIN zu Stalin, und Stalin zu ihm, das ist mir schnurzegal / du kannst mich mal kannst du überhaupt rechnen? ich habe einundzwanzigtausendachthundertsechsundfünfzig von ihnen unter die Blätter des Waldes von Katyn zerbröselt / ich habe dreihunderttausend von ihnen die heimlich vergraben wurden ich habe zehn Millionen von ihnen, die liquidiert wurden ich habe all ihre Papiere / Fotos ihrer Kinder / Briefe voller unberechtigtem Optimismus / ihre Bleistifte / Kleingeld ich habe sie alle gut leserlich in die Bücher eingetragen Kardinal Kuharić am Telefon 9827 Es ist Heiliger Abend und eine Trinkerbande degustiert Šipon und Silvaner in einem illegalen Weinkeller auf dem Friedhof Plastik- und Glasflaschen aller Dimensionen werden gefüllt und Autos stürzen über die Ränder der Straßen 1 Im Original sind diese Personen bzw. Begriffe in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt; ich habe sie in dieser Reihenfolge übersetzt und nicht alphabetisch geordnet (Anm.d.Ü.) 221 222 Poesie der Nachbarn heute Abend, wenn die Glasknochen der Alten rauschen geht ein Luftzug durch die Kirche, weil jemand die Tür offen stehen lassen hat die alten Weiber ärgern sich zu Recht man zählt, wer mehr Lämpchen angezündet hat auch ich würde – wäre ich alt – mehr Lämpchen anzünden und mich blöd stellen man sagt, dass dieses Verbraucherfieber vor den Feiertagen aus dem materialistischen Westen eingeführt wurde und dass sich der Sinn verliert jenes heiligen Tages, an dem das Wort zum Laib wurde doch mir scheint, dass das Geflügel die schlechteste Karte gezogen hat das reihenweise keine Köpfe mehr hat vor sechs Jahren hat man uns mit gebratenen Ochsen genährt und jetzt veranstaltet man Massenspektakel mit kostenlosen Würstchen und Popstars auch Tito hat uns mit dem Schweinskopf genährt den er vom Dachboden gestohlen hat und davon hat uns lange der Bauch weh getan es fängt an zu schneien und auch ich bin betrunken wie alle anderen anständigen Kroaten unser Weg in die Zukunft ist Nationalhumanismus Stillleben mit einem Schweinskopf der Pharao atmet tief im Frieden seines Winterpalastes er sinnt vielleicht wieder über Rache nach und Kardinal Kuharić ist am Telefon 9827 nur eine aufgenommene Weihnachtsbotschaft – er antwortet nicht auf Fragen. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Eingelassen in den Asphalt von Rio de Janeiro 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) Melonenschalen die Atome der Sonnenenergie die vollgepisste Zeitung „O Globo“ levitierende Luft die schwarze Farbe im Pigment Herzschläge komprimierter Kautschuk und die Erinnerung an die Schoner der unrasierten Taugenichtse Der Einsiedler, den ich kannte Der Pole hat sein Gesicht verändert. Er hat die Abdrücke von den Fingern abgetragen, die ihn verraten könnten. Warschau? Nur einmal hat er eine Postkarte geschickt mit dem Bild des Kreuzes von Cabral. „Vögel fressen Würmer“ stand da. „Würmer fressen Menschen. Ich lausche dem fallenden Regen.“ Er hat ein Stück Wald und Küste von Bahia mit einem Drahtzaun abgetrennt und fünf glatte, blutrünstige Hunde losgelassen, die darin ihre Kreise ziehen, durch Tage und Nächte. Er baute sich ein Haus hoch über der Erde im Knoten des Baumes. Damit sein Schlaf sicher werde vor den Eindringlingen. Jeden Morgen lauert er mit dem Fernrohr den Anschwemmungen auf, die das Meer bringt. Er hat Hallen gebaut, durch die der Luftzug die Vorhänge aus Nylon treibt. In ihnen trocknet er das Holz und schafft hohe verflochtene Skulpturen. Die Gegenstände, die er zusammenschweißt, kann man nicht schmelzen. Seine Werkzeuge sind Feuer, Motorsäge und Axt. Der Pole isst Beeren, die in seinem Wald wachsen. Wenn er müde wird, schnitzt er sich einen Sitz in den Baumstamm, tief und komplex wie ein Indianerthron. Zwanzig Jahre. Wenn du ihm sagst: „Kühlschrank!“ blinzelt sein Kunststoffauge einen Moment lang. Und doch kann man den Polen nicht sehen, außer in der harten Struktur seiner Augenbrauen. 223 224 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Titan Mitternacht in Zagreb im Radio ein Mädchen aus der Folge eines gewissen Schi Tschi Man sie preist laut ihren Guru es scheint, dass dieser Schi Tschi Man ein Junge voller Überraschungen ist die Familienmitglieder haben ihn schon in der Kindheit Titan genannt alles, was er tat, nahm gigantische Ausmaße an seine letzte Aktion zur Erlangung des globalen Friedens lautet „Sieben Millionen Vögel“ er hat über sechs Jahre lang Vögel auf Papierstücke verschiedener Größen gezeichnet am Anfang war es am Schwierigsten – im ersten Jahr hat er nur dreihunderttausend gezeichnet und die letzte Million hat er in sechs Tagen beendet (wir konnten es nicht glauben, als er es uns gesagt hat, sagt das Mädchen, es war nur sechs Tage her, seitdem wir alle gemeinsam die sechste Million gefeiert hatten) im Schnitt hat er 1.350.000 Stück im Jahr gezeichnet in verschiedenen Formaten von großen Muralen bis hin zu winzigen Vögelchen auf einem Papier wurden sogar 8643 Stück gezählt UND WER ZÄHLT DIE VÖGEL? fragt die Moderatorin oh, wir haben ein besonderes Team, das für das Zählen der Vögel zuständig ist WARUM AUSGERECHNET SIEBEN MILLIONEN VÖGEL? am Anfang hätten es sechs sein sollen, aber eines Tages, während wir zu Mittag aßen, stand ein Mädchen auf und sagte: Lehrer, ich habe heute Nacht geträumt, dass Sie heute Nacht sieben Millionen Vögel gezeichnet haben BEREITET ER EINE NEUE AKTION VOR? wir wissen noch nichts – nur dass es sich nicht um Vögel handeln wird, das hat er uns gesagt außerdem beschäftigt er sich auch mit Sport er läuft und spielt Tennis und springt in die Höhe (oder in die Weite) er hebt Gewichte bis zu 3.2 Tonnen, sowohl mit der linken wie auch mit der rechten Hand einmal hat er 2000 Menschen hochgehoben unter ihnen war eine große Anzahl von Nobelpreisträgern und Präsidenten obwohl er ein Inder ist, schreibt er Englisch und wählt dabei Worte, die Engländer nicht kennen er hat 1200 Bücher geschrieben und über eine Million RELA TIONS Poesie der Nachbarn Gedichte gedichtet Er hat 150.000 Bilder in Acryl und mit Wasserfarben gemalt, er schläft nie, denn Erholung ist für ihn nur ein Wechsel der Aktivität Jeder Tag ein neuer Tag im wald der bitteren früchte plastisch – metallener kleiner tode die erste sonne ist ein würfel gerade – ungerade einer von uns wird nicht zurückkehren jedes ende ein neuer anfang ich wache innerhalb der beständigen mauern auf die erste sonne ist die fliege, die nach ecken sucht aufs neue lerne ich die ruhigen gesichter unserer kinder kennen – aber meine liebe ist giftig du läufst in den schatten des staubes auf dir trägst du partikel des versinkenden meeres ich fange dich wie der krake, der mit schwarzem schaum den tag verschließt Sechs Jahre des Wartens Wie viele Nächte hintereinander Legst du dich ins Bett unter dem Rand der Glocke Gedruckt von den Kubikmetern der Dinge Die uns vom Leben getrennt haben Und dein Kopf fällt auf die Matratze Mit einem Schlag des Ankers auf den friedlosen Boden. Dreitausend Nächte, fünfhundert, Tausend? Zweitausend und mehr. 225 226 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Das Ruder ist im Looping der schwarzen eisigen Nadeln durchs Wasser gefahren Ich bin in das Zimmer gekommen und habe dich schlafend angetroffen so unbeweglich, dass es mir erschien, als wärest du tot. Selbst wenn wir zweihundert Jahre lebten, immer würden Dinge bleiben die wir nicht geschafft haben, einander zu sagen. (Aus: Das Kreuz des Südens, 1998) Cape Kennedy Der Astronaut Buzz Aldrin hat beim vierten Lesen des „Phantoms der Oper“ das unangenehme Gefühl, dass die Ereignisse im Buch erfunden sind. Das gleiche unangenehme Gefühl, genau das gleiche, hatte er einige Monate zuvor, als er „Das Geheimnis des gelben Zimmers“ von Gaston Leroux las. Er bemerkte überrascht, dass beide Bücher denselben Autor haben. Es ist Spätsommer und die Tür, die zur Terrasse führt, steht weit offen. Auf dem Glas segeln Fernsehbilder – der Mond, der König der wilden Savannen, kommt herein und ruft ihn, er kennt seinen Namen. Buzz nimmt die Fernbedienung und stellt den Ton leiser. Während er auf die Terrasse tritt, hebt der Wind den Vorhang, der seine Hand fasst; unten, über die unbeleuchtete Straße geht ein Mädchen in einem Baumwollkleid vorbei und ruft ihm zu: „Hey, Buzz, du Weltall-Cowboy!“ Ihre Stimme hallt durch die Klarheit. Buzz atmet die Nachtluft, die durchwoben ist von Sternen. Im Fernsehen zeigt man Dokumentaraufnahmen von Lenin (oder Stalin, Buzz ist nicht sicher, um wen es sich handelt, er hat diese beiden immer verwechselt). Der Zug mit den plombierten Eisenwaggons donnert durch die Steppe in Richtung Sankt Petersburg (das kann man nicht mehr ändern). Das Foto der Töchter des Kaisers, aufgenommen in ihrem Heim, bevor sie erschossen wurden in Ekaterinburg. RELA TIONS Poesie der Nachbarn Das älteste Mädchen steht und die anderen sitzen versammelt um den Tisch, auf dem sich eine Vase mit Blumen befindet: man sieht, dass sie eng miteinander verbunden sind, so wie Schwestern auch sein sollen – sie sind in Kleider gehüllt, die Harmonie darstellen. Sie sind hübsch und bescheiden, Kinder mit neugierigen Augen, die das Buch lesen: was wissen sie? sie verschwinden in der Masse von einigen hunderttausend Menschen: Lenin (oder Stalin) in der Menge, er hält eine Rede auf den Treppen vor dem Winterpalast. Im Fernseher gibt es keinen Ton, so dass Buzz nicht hören kann, was gesprochen wird, diese Menschen wirken erschrocken auf ihn, als würden sie am Rande eines Abgrunds stehen. Merkwürdig, denkt Buzz, all diese Menschen, so voller Leben, sind nun seit langer Zeit tot. Dieser Gedanke macht ihn traurig und er gießt sich maßlos zu, was er sonst nie tut. Elftausend Meter über den Großen Tälern Miss Love sitzt im Flugzeug am Fenster um die Wolken Sehen zu können, weiße Wolken, dicht und weich wie Zuckerwatte Schaumartige Wolken, auf denen man vielleicht laufen kann Nur in einem ärmellosen T-Shirt. Am späten Nachmittag (In der Zeit, in der sich ihr Haar mit Gold färbt) Kann die Sonne sehr stark sein, hier oben In der Höhe. Neben ihr sitzt ein Mann. Er ist misstrauisch ihren Armen gegenüber Die übersät sind mit Schürfwunden und blauen Flecken. Miss Love sitzt im Flugzeug mit zusammengepressten Knien Auf ihrem Schoß das makrobiotische Abendessen, unter den Füßen Sachen, Sachen, die sie gekauft hat. Auf dem Rücken trägt sie einen Rucksack In der Form eines Bärchens, in dem sie ihr Hochzeitskleid aufbewahrt Und die Urne mit der Asche ihres Mannes, eines berühmten Pop-Sängers, dessen Namen sie vergessen hat. Er wohnt so schon seit langer Zeit im Rucksack, der die Form eines Bärchens hat Eine Handvoll seiner Asche hat Miss Love 227 228 RELA Poesie der Nachbarn Unter der Trauerweide im Garten vergraben, weitere zwei hat sie mit Tonerde vermischt Kleine Teller daraus geformt, ein Teil ist fort geblasen worden Leider: Endete er im Ventilationssystem. Den Rest trägt Miss Love auf Reisen immer bei sich Neben dem Herzen, wie einen Talisman Der siebenundzwanzigste Tag Für Mara, siebenundzwanzig Tage nach deiner Geburt Licht und Schatten: sie trennen sich... Und bis vor 27 Tagen waren sie eins! Deine schwarzen schiefen Augen suchen jetzt nach Rändern. Geboren in diese Welt ganz ohne Ausrüstung – du bist so klein, dass du nicht mal Deinen Namen kennst – du möchtest uns mit diesem Lächeln des neu erschaffenen Himmels erobern. Was für ein Lächeln das ist! Alle Bienen der Alpen Und alle Waldfeuer der Mongolei Und alle 350 Kirchtürme von Salvador Und alles Plankton des Atlantiks finden Zuflucht Im Himmel deines Lächelns, der an einem geheimen Ort geschmiedet wurde Der nur den einzelnen Levitierenden Heiligen bekannt ist. Du schaust herum und wunderst dich über alles, aber Ich muss dir sagen, dass ich in deinen schwarzen Augen, Die zehntausend Jahre alt sind, immer noch die Spiegelung jenes stillen Sees erkenne Dessen Tiefe man nicht messen kann. Für mich ist dieser stille See eine unbekannte Erinnerung Die Wissenschaftler nennen ihn das schwarze Loch des Raumes Einige nennen ihn einfach einen Sack Kohle Und die religiösen Menschen – sie nennen diesen See Geist. An diesem stillen See waren deine schwarzen Augen Bis vor kurzem zwei Indianerkanus Die sorglos rudern durch die Unendlichkeit des Alls. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Toledo Wir fuhren in tiefer Nacht durch die Straßen von Toledo. Toledo, die Stadt der Reliquien, der hohen Mauern, der Berg, umringt von dem Bett eines ausgetrockneten Flusses, schlief. Die japanische Philharmonie schlief. El Greco, lebendig wie das Quecksilber in den Flüsschen der engen Gassen, schlief. Keine Spur vom grau-weißschwarzen Sturm. Die Kirchtürme länglich wie El Greco in dieser dunklen Hitze, schliefen eingehüllt in die Kühle des Friedens. Die Schönheiten von Toledo, die Geigerinnen, die Studentinnen der japanischen Philharmonie schliefen. Das Karmeliterinnen-Kloster in seiner Geometrie der Gitterstäbe und der runden Öffnungen schlief. Es schliefen auch die Denkmäler der bedeutenden Seefahrer verankert in der Dunkelheit. Wir fuhren mit Fernlicht entlang der Umlaufbahn der Stadt. Durch enge abschüssige Straßen und über ebene Plätze, hindurch zwischen den Häusern mit unüberbrückbaren Hauseingängen, die in der Nacht still geworden waren, segelte unser Autor als Phantom aus der Zukunft. Die Portraits – Öl auf Leinwand – aller Bischöfe von Toledo schliefen unter Verschluss. Alcázar schlief ebenfalls, die altrömische Festung, der Berg verhängnisvoll in seinem Dunkel, der steinerne Elefant im Weiß: Irgendwo innen drehte sich die Grammophonschallplatte aus der Zeit der Belagerung im Bürgergkrieg... autos da fe – diese kleinen Plätze, die kreisen und kreisen einst waren sie morgens Märkte und nachmittags Gerichtssäle der Inquisition goldene Klammern, schwarze Umhänge, Kapuzen viele Menschen und rituelle Stiere ertrunken im Meer aus Stein man hört keine der Stimmen dieser Plätze 229 230 Poesie der Nachbarn keines der Konzerte in den Nächten voller wunderschöner Gärten aus welchen Farben und Töne hervorsprudelten in den letzten fünfhundert Jahren als wären sie mit Kerzenwachs bedeckt von den Straßen – In den schnellen Tupfern, den dunklen Lichtern Toledos auf deinem langen, hellen Haar, während du schläfst, kleine Nina – die kleine Mara und Martin sind immer noch wach – sehe ich die Linien / Navigationsmappen des Wegs, auf dem selten gereist wurde den wir als Familie gegangen sind wir bringen zwölf Unikat-Täfelchen der interessanten Toledo-Keramik, eine feste Schleuder für Martin und wir hissen die Segel mit dem Wind im Rücken Auf den Spuren von Alberto&Machada&Hernandez Drei Dichter der Liebe und der Verbannung Orihuela Granada Casares Ronda Tarifa Segovia Puerto de Santa Maria---------die Bucht von Cadiz und ich sehe außerhalb der Reichweite des Leuchtturms das Schiff Solomon Levi Co. die Halskette aus afrikanischem Holz, die Insel der Verheirateten und Gibraltar, den letzten Punkt Europas. Du kleines Pünktchen der Sonne aus dir werden Welten erschaffen. Für die kleine Nina, die Geige spielt, und dann fließt ihr blondes Haar auf eine eigentümliche Art, es schafft eine akustische Schutzblende für den Lichteinfall, das macht ihre Musik so einzigartig. Der Engel des Dunkels ohne Flügel Ein Schwein rennt vor dem Panzer her Entwischt fröhlich den Raupen. Beinahe! Kurz gestolpert Zieht es sich aus dem Schlamm heraus wie Phönix – Erwisch es! Schneller! Schreie ich In die Öffnung auf der Kuppel. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Denn das Schwein Obwohl scheinbar ein ungeschicktes Tier Ist kein unerfahrener Läufer Und es zieht uns herum, nach links und nach rechts Um sich selbst die Gelegenheit zu verschaffen und nach draußen zu finden Aus dem eingesunkenen Straßenbett In die Felder, in den Mais, Auf das eigene Terrain. Ich halte mich an dem Kanonenrohr fest Und beuge mich aus der Öffnung – Wir sind so nah! Die Raupe Berührt es beinahe... Das ist eine mächtige Maschine: Schon die Kettenraupe allein wiegt Tonnen. Aber das Schwein verliert nicht den Atem für Das Reale – Es spielt mit uns Und mit einem schlauen Looping Verschwindet es außerhalb der Reichweite. Verrückt vor Neid Ist das Schwein der einzige Engel der Dunkelheit Ohne Flügel. Seine Lunge atmet das Heimweh Nach dem Gewölbe der Hölle Das aus reinem Sauerstoff erschaffen ist. Das ist seine Zeit – die Zeit des Festmahls Die feierliche Zeit, die Zeit des Ruhmes Die Häuser der Wächter sind leer Die Gestirne sind erschüttert Die Gewässer sind vergiftet Die Körper der Toten sind von den Seelen verlassen. Wie schön du bist! Schwein. Erlaube mir dir das Zeichen meiner Tiefsten Liebe zu erbieten: Es ist schwer zu zielen im Stehen auf dem Panzer Aber ich habe es im Fadenkreuz des Granatwerfers. Sein leeres Auge dreht sich zu mir um Wie ein leerer Strahl vom Boden des toten Meeres Die kranke Sonne der Mitternacht 231 232 Poesie der Nachbarn Sendet Die Kälte Direkt in mein Herz. Das Schwein, das sich von den Menschen ernährt Ist der einzige wahre Herr des Krieges. Das Gras, in dem es herumschleicht, hat Die Macht der Sprache und alle Sprachen sprechen über den Hunger den man nicht stillen kann – über die Eitelkeit und den Stolz; über die Gier die Wollust den Neid die Gefräßigkeit die Wut die Faulheit die Geduld, die weder himmlisch noch irdisch ist – (Ohne die Körper zu berühren In welchen das Blut noch nicht Getrocknet ist, wartet das Schwein Und kehrt zurück Wenn die Venen der Toten zu den Korridoren Der Schwefelwolken werden) Ich senkte den Granatwerfer – Im letzten Augenblick bekam ich Angst – Ich dachte: es kann verhängnisvoll sein In diesen gefährlichen Zeiten Ein Wesen sprengen, Das übernatürliche Kräfte besitzt. Manchmal wache ich nachts auf Voller Reue wegen Meiner Feigheit. Die Zerstörung dieses Schweins Hätte mich zum Helden machen können, Wie Prometheus. (Aus: Gedichte des Lichts und des Schattens, 2004) RELA TIONS RELA TIONS 233 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 234 Poesie der Nachbarn Die Diktatoren Die Diktatoren defilieren wie die Figürchen in einem mechanischen Circus. Dieses Karussell wird nicht von elektrischer oder einer anderen künstlichen Energie betrieben es wird von unserem Willen betrieben, oder vom Mangel an Willen. Sie werden entthront wegen der Ermüdung des Materials oder sie werden von denen, die ihnen ähnlich sind aufgefressen, sie verüben Selbstmord oder leben ihr friedliches Alter. Aber, unsere Gier recycelt sie die verfehlten Hoffnungen unserer Jugend verkörpern sich in ihnen. Australien Hinter dem Korallenriff, dem leeren Meer und den berstenden Lichtern dort wo die Brise und der Vogel in der Luft das ersehnte Festland ankündigen wo scuba diving Harmonie herrscht wo die Bambusfloße aus Vietnam den Ozean überqueren auf der Suche nach Brot und wenn sie einen Schmetterling sehen merken sie sich für immer jede seiner Poren die in hervorquellenden Farben atmen denn das ist das Zeichen, dass das Festland nahe ist und dass sie nicht ertrinken oder vor Durst sterben werden. Dort hinter dem Meeresgrund aus versteinerter Lava liegt Australien. RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Knochensammler Die Knochensammler teilen jeden Abend auf der Wiese mit weißer Kreide den Kreis in vier Teile sie tragen die Knochen heraus, von denen sie glauben, dass sie ihnen gehören obwohl sie nicht die ihren sind, benutzen sie sie wie Spielmünzen beim Roulette denn in diesem Spiel ist es verboten zu zählen, während man sieht es wird im imaginären Feld der Wünsche versteigert. Die Knochensammler beweisen jeden Abend warum nur eine Sorte Knochen ein Denkmal verdient und dann ziehen sie sich in die Dunkelheit zurück damit niemand sieht, von wo sie gekommen sind. Wenn jedes Opfer des Krieges die gleichen Rechte hätte würde der Regen die Knochensammler forttragen und ihre weißen Kreiden würden vergessen bleiben in der Schublade der Zeit. Poesie übersetzen Für Damir Šodan Ein Dichter zu sein, der etwas über die Welt lernt indem er andere Dichter übersetzt, gilt für diese unsere Zeit als Verfehlung, und es lohnt sich nicht das sehe ich jetzt, aber ich habe es nicht besser gewusst und diese Verrücktheit begleitet mich sogar über die Schwelle hinaus jener der Verrücktheit zugänglichen Zeit der Jugend. Drei Schritte Es ist in diesem Tag und es ist hier irgendwo; wir fangen es beim Laufen, und wir können in einem Augenwinkel den Sprung erahnen, es ist in das klare Meer eingetaucht und das freie Gedicht ist soeben geschrieben worden. 235 236 RELA Poesie der Nachbarn TIONS * Warum sich daran halten, was war wenn wir dabei auch das Loch für das Licht nicht finden in der erloschenen Glut des vergangenen Himmels einen Funken, um ihn in den nächsten Tag mitzunehmen? * Mit Buchstaben zeichnen, mit Ton schreiben die Bewegung im Auge der Kamera anhalten sogar die Titel der Romankapitel die wir nie schreiben werden können Poesie sein. (Aus: Der Aufstand der Erhängten, 2008) Maybe Airlines Im Warteraum am Flughafen Charles de Gaulle in Paris, im Frühjahr 1994 trägt ein Mann die Unruhe der verbrannten Erde mit sich obwohl er ganz kaltblütig ist wie die isländischen Seen wenn die Asche der Vulkane ihre Geysire verstopft. Eine US Feldjacke ein wenig beschädigt das verwundete Objektiv des Kriegsreporters das Intifada-Tuch das heißt er ist nicht unentschieden der Bart steht für Erfahrung Reuters, CNN, ABC? Auf der Schirmmütze trägt er die Aufschrift SARAJEVO MAYBE AIRLINES und er spielt mit neugierigen Blicken anderer Passagiere wie mit Glasmurmeln er schüttelt sie ab wie Staub von seinen gut erhaltenen jungle-boots Stiefeln RELA TIONS Poesie der Nachbarn Srebrenica Wenn du diesen Hebel ganz nach unten drückst, diesen Hebel mit einem Griff aus Plastik und mit einem Stückchen braunem Isolierband am oberen Ende, wirst du die Bremsen lösen. Und die Wasser des Bösen werden aus dem Reservoir fließen wie ein fallender Fluss (mehr als ein düstrer Fluss) schnell, im Lärm versunken. Wenn die Flut zu strömen beginnt und den Staudamm durchbricht; sie stürzt bergab in die Felder – dann ist die Rückkehr unmöglich. Aus dem gesegneten Ruhezustand geht die ganze Welt in Spannung über: Die Wassermauern erheben sich und es beginnt das Rennen in das Herz des Strudels, in die Dunkelheit. In die Kälte, in die Dunkelheit. Silber1 wird sich in Schlamm verwandeln, es wird austrocknen und zu Staub werden. Wenn du diese Tür öffnest, sagte er und sein Atem vernebelte das Fenster, wird der durchsichtige Felsen zerbersten und dann werden sowohl wir wie auch alles, woran wir glauben, worauf wir hoffen, einfach verschwinden. Gaugins Fluch Du hast uns verflucht, Paul Gaugin, und hast dich unter dem Mantel der Insel Hiva Oa versteckt. Du hast dein Grab im Holz, das dem Vulkanregen widersteht, es ist nur eine weitere von deinen angewandten Skulpturen. Die Vegetation, die deine Sonne verschließt, ist vom kupferfarbenen Sand schwer geworden, die Blätter unbeweglich wie eine Ehrenwache, und der Wind ist tief unter dem Meer. 1 Der Name Srebrenica kommt vom Wort Srebro = Silber. 237 238 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Auf der Insel Hiva Oa ist der Wind ein Geräusch sowohl der vergangenen Zeit wie auch jener, die kommen wird. Ich bin gekommen um dir zu sagen, hier auf der Insel Hiva Oa, dass du der Pionier der Comic-Kunst bist, indem du auf drei Kartoffelsäcken maltest, versuchtest du die Menschen im Raum unterzubringen, aber deine Kerze brannte aus. Der letzte Bildabschnitt: Wohin gehen wir? ist unvollendet geblieben. Viele Reiter sind vorbeigeritten am Strand, den du vor langer Zeit entdeckt hast. Das Jahrhundert des Comics ist gekommen und vorbeigegangen. Siehst du, man kann alt werden auch nach dem Tod. Vielleicht ist es dir bekannt, aber du hast vergessen es uns zu sagen, ob wir von der Erde vertrieben werden so wie wir, wenn wir geboren werden, aus dem Paradies vertrieben sind, wie gefallene Engel? P.S. In einem Brief an de Monfried schreibt Gauguin über ein Bild, an dem er schon lange arbeitet, und welches beinahe vier Meter lang ist, und man solle es von rechts nach links anschauen. Es ist der Herbst 1897, und er wird auch noch das ganze Jahr 1898 an diesem Bild arbeiten, bis zum Schluss. In der linken Ecke steht der Titel des Bildes auf grell gelbem Hintergrund: Où Venons-Nous? Que Sommes-Nous? Où Allons-Nous? In der rechten Ecke steht die Unterschrift des Malers, ähnlich den goldenen Spuren auf einem beschädigten Fresco. Rechts unten schläft ein Baby. Um es herum sitzen drei Frauen. Ein blauer Hund liegt vor dem hellblauen Baum. Zwei Frauenfiguren vertrauen sich einander im Schatten des Baumes wie in einer Nussschale an. Eine klobige Figur, unabhängig von jeglicher Perspektive, hebt die Arme in die Luft und wundert sich über die beiden Frauen, die sich trauen, über das eigene Schicksal nachzudenken. Die Person in der Mitte pflückt Früchte. Zwei Katzen vor dem Kind. Eine weiße Ziege. Das Idol mit rhythmisch gehobenen Armen kündet vom Rätsel, das später kommt. Die Figur, die kniet, hört auf das Idol. Die Legende wird von einer alten Frau beendet, die aussieht, als würde sie die Nähe des Todes akzeptieren und sich ihren eigenen Gedanken überlassen, wie Sokrates glaubt sie, dass ihr dort nichts Schlechtes passieren kann. Neben ihren Füßen hält ein merkwürdiger weißer Vogel eine Eidechse in den Krallen und zeigt damit die Sinnlosigkeit der Eitelkeit. Die Szene spielt sich im Wald neben RELA TIONS Poesie der Nachbarn dem Bach ab. Im Hintergrund das Meer, dann die Berge der benachbarten Insel. Ungeachtet der Veränderungen in den Tönen ist die Landschaft blau und veronese-grün – vom einen Ende bis zum anderen. Dieses Bild, entstanden auf Kartoffelsäcken im Format 171,5 x 406,4 x 8,9 cm, das ich im Alter von vierzehn Jahren im Nationalmuseum in Berlin gesehen habe, befindet sich heute in der ständigen Ausstellung des Museums der schönen Künste in Boston. Schreckliche Sehnsucht Ich bringe das Wasser zum Kochen, in zwei Tassen rühre ich Nescafé ein und denke dabei nichts, das ist Gewohnheit. Erst wenn ich einen Schluck trinke, sehe ich, dass die zweite Tasse dort steht, die Kälte an sich zieht und verblasst. Denn du bist nicht da, und ich gieße auch noch Milch in beide Tassen, und beharrlich mache ich Kaffee für zwei. Die Nacht im Naturkundemuseum In der Nacht vor der russischen Invasion 1968 ordnete ich im Naturkundemuseum in Prag Exemplare von Schwertfischen in Mappen, Riesenschildkröten mit sieben Streifen, die einmal in 50 Jahren aus der Adria auftauchen. Ich sortierte nach Ordnungszahlen Schmetterlinge in seidenen Farben, sammelte Muscheln aus sieben Meeren, holte schwammige Versteinerungen aus dem Keller und vergessene Skelette von Delphinen. Bevor man mir den Museumsschlüssel nahm, ließ ich den Kraken tanzen in den Einmachgläsern der Ewigkeit. Jetzt fragt man mich, wie ich als Biologieprofessor die mit zugeteilte Stelle des Grabaushebers auf dem örtlichen Friedhof ertrage, nichts Merkwürdiges, antworte ich, sie werden verstehen, je tiefer ich den Spaten in die Erde steche, desto näher bin ich der Quelle des Lebens. 239 240 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Die Windjacke der New Yorker Müllmänner Ich sehe im Fernsehen einen Herrn aus Japan, der erklärt, dass Unglücke und Krieg ihre Ursachen in der fleischfresserischen Ernährungsweise haben, in der Kultur der Tötung von Hühnern und Schweinen. Die Makrobiotik sei, so sagte er, die Lösung für alles. Die Wirkung von Getreide auf den Organismus sei so etwas wie der Schlag Hiroshimas gegen die Atombombe. Er legte aufs Schnelle – soweit ihm das das TV-Timing erlaubte – die ganze Weltgeschichte als das verrückte Ritual eines Schlachtfestes dar, er erklärte, dass nicht nur Wesen im Weltall existierten, die makrobiotischen Bewohner anderer Planeten, die seine Arbeit auf der Erde unterstützten, sondern auch wir seien deren Samen, der bei den ersten Besuchen der Raumschiffe ausgesät worden wäre. Ich glaube, dass Unglücke und Kriege mit der Erfindung der Zeit beginnen: die Astronomie der Maya – die Sonnenuhren der Ägypter, der Griechen und der Römer. Die vier Reiter der Apokalypse hätten nie in voller Zahl und am verabredeten Ort eintreffen können, hätten die Menschen in Mesopotamien vor langer Zeit nicht begonnen, die Tage und Wochen zu zählen, sie zählten die Jahre nach den Herrschern, die Chinesen nach den Dynastien, die Inder zyklisch und die Etrusker nach den Generationen. Die Römer berechneten die Zeit ausgehend von der Entstehung ihrer Stadt; dieses Datum verdrängten die Christen später ins 753. Jahr vor Christus. Warum ist die Zeit so gefährlich, wenn es sie eigentlich gar nicht gibt, ist sie nicht nur, wie der Grieche sagt, ein metrisches Konzept? Wenn wir jung sind, erkennen wir die Verpflichtung der Zeit nicht, und wenn wir alt sind, negieren wir ihre Vergänglichkeit. Wir versuchen uns wie Thor Heyerdal zu fühlen, auf einem Floß mitten im Pazifischen Ozean, wo dieser Abenteurer, der Liebling der Osterinseln, feststellte, dass es keine Zeit gibt. So ist es auf hoher See, dort wo alles sichtbar ist, unverändert seit Urbeginn. Die Vergänglichkeit der Zeit spürte er später doch an der eigenen Haut, als sein Floß an den Felsen der Insel zerschellte und er nur um Haaresbreite dem Tod entronn – unter dem gebrochenen Segelmast. Der Herr aus dem Fernseher würde an dieser Stelle sicher hinzufügen, dass die Besetzung der Kon-Tiki nicht auf diese Art ihre epochale Reise beendet hätte, wenn die Mahlzeiten auf dem Floß aus makrobiotischen Zutaten zubereitet gewesen wären. Wie oft hört man, dass ausgerechnet nun die Zeit für irgendetwas gekommen sei, jenes unaufschiebbare Etwas, die Zeit, da wir endlich dies oder jenes unterbrechen müssen, das in Gang bringen, wovon wir geträumt haben und so weiter. Andererseits sagt man, dass nun nicht die Zeit sei, dass wir keine Zeit haben, nie ist der richtige Zeitpunkt. RELA TIONS Poesie der Nachbarn Die Zeit ist nicht nur der Schatten hinter uns und das Licht vor uns, jenes, das uns erwartet. Man muss lernen, in Freundschaft mit der Zeit zu leben. Das mechanische Konzept der Zeit kann dem Bösen tödliche Präzision verleihen. Hätte man nicht für ewige Zeiten warten können mit dem Abwurf der Atombombe oder irgendeiner anderer Bombe, hat man in den Nazi- und den Quisling-Todeslagern nicht die Zeit berechnet, hat man dort nicht mit Hilfe der Zeitinstanzen eine pedantische Administration aufgebaut? Und auch beim Angriff auf Kroatien spielte die Zeit eine bedeutsame Rolle; wird es der JNA gelingen, uns in der Zeit, die die internationale Gemeinschaft ihr zubilligt, nieder zu wälzen; wird uns rechtzeitig Hilfe erreichen oder nicht? *** Du hast meine Jacke der New Yorker Müllmänner verloren, die grüne mit dem orangefarbenen Futter, die ich dir geliehen habe, das sagtest du mir, als ich zurück aus dem dalmatinischen Hinterland kam, und ich wusste, dass ich schuldig bin, ich hatte sie in einem Haus liegen lassen, bei dem Panzerangriff auf das Dorf, das wir verteidigt haben. Ich hatte keine Zeit, oder vielleicht hätte ich sie sogar gehabt, wäre ich sofort losgelaufen und hätte die Jacke aus dem Haus geholt, das in Trümmern lag. Aber sobald ich darüber nachdachte, ob ich Zeit habe oder nicht – denn ein Panzer, der mit seinem Rohr auf mich zielte, war schon auf fünfzig Meter herangekommen –, habe ich einige wertvolle Sekunden mit meiner Überlegung verloren, und es blieb mir für nichts mehr Zeit. Ich nahm den Granatwerfer, den jemand hatte liegen lassen, und richtete ihn auf den Panzer, aber aus seinem Rohr blitzte es schon in meine Richtung, so dass ich über eine Steinmauer sprang und mich im letzten Moment rettete, denn es schlug genau an jener Stelle ein, an der ich noch eine Sekunde zuvor gestanden und darüber nachgedacht hatte, ob ich Zeit habe. Ich weiß, dass dir die Jacke, die ich verloren habe, sehr viel bedeutet. Das ist das Einzige, was von deinen jugendlichen Träumen über eine Reise nach New York übrig geblieben ist. Ehrlich gesagt hätte ich wahrscheinlich die Zeit gehabt, die Jacke zu holen, aber ich dachte damals, dass ich sie nicht habe. Noch wichtiger ist, dass ich vielleicht noch jemandem hätte helfen können, aber in dem Augenblick wusste ich es nicht. So war es im Krieg. An einem Morgen schwebst du mehr als dass du läufst, du lässt dich von deiner Intuition leiten, du bist ruhig im Herzen, aber manchmal sind deine Beine wie aus Blei, und schwarze Gedanken schwärmen durch deinen Kopf. 241 242 RELA Poesie der Nachbarn TIONS Volksastronomie Jugoslawien war ein Meteor, eine zusammengepresste Mixtur, ein Anti-Vulkan. Auf dieser Oberfläche rannten die Mutter und die Kinder sich in die Arme und fielen dabei in das Loch. Als es zerborsten war, blieb eine Menge jugoslawischer Scherben zurück und jaulte nach Kräften wie Wölfe zum Mond in Tönen, die einer den anderen hervorbringen. (Aus: Die Luft unter dem Meer, 2009) Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA TIONS Mediterraneo Gordana Benić GORDANA BENIĆ, geboren 1950 in Split/Kroatien. Sie studierte Kroatistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zadar und danach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Sie veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände und Gedichtprosa. Essays, die vom Palast des römischen Kaiser Diokletian in Split handeln, sind im Buch Godina Sfinge (Das Jahr der Sphinx) erschienen. 1998 erhielt sie den Tin-Ujević-Preis des kroatischen Schriftstellerverbandes für das Buch Laterna Magica. 2000 erhielt sie den Staatspreis „Vicko Andrić“ für ihre professionelle journalistische Leistung. Auf Deutsch sind ihre Gedichte in der Zeitschrift Die Horen und in der Anthologie Konzert für das Eis erschienen. Die Stimmen im Hafen Bisweilen sind die Schiffe größer als Häuser, heller als Straßen. Die Risse der Stadtmauern holen sie bis zum Inneren der Stadt und zerstreuen sie bis zum Strand. Dort verblassen langsam die Schatten der Palmen, die gelben Sandkörner werden zermalen. Wie Schwärme roter Fische, deren Fieber vom Meer fortgespült wurde, schweben an den Uferrändern die Sonnenschirme. Im flachen Wasser ertrinkt die Inschrift Marinero, Hip-Hop Sound aus dem Musikautomaten des Hafencafés dämpft die langen Wellen Auf dem Bürgersteig zerrissene Straßenplakate. Neben der weißen Mauer Stufen, die vom Wasser morsch geworden sind. Überall Fischgräten, und unter den Vordächern aus Stoff seit langem verblasste Inschriften. Wie das Spiel der Sonne und der Wolken vergrößert sich der Hafen bis zur Unendlichkeit und er verkleinert sich beengt an den Molen. Wie Samen fallen die Sterne von den Pinien. Zwischen den Bänken, dort, wo das Meer das Immergrün befallen hat, kräuseln sich die Schritte. Spaziergänger und Seeleute tauschen im Vorbeigehen stimmlose Botschaften aus. Ihre verstummten Gespräche, Fragen oder Antworten stelle ich mir im toskanischen Dialekt vor. Unter den Fremden riecht es nach afrikanischem Sand, nach exotischen Inseln und kalten Algen 244 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Das kubistische Bild des Hafens teilt sich in den zerflossenen Pfützen. Die Seile der Schiffe vermessen den Rest der Insel. In den Docks schimmern Quadrate aus Granit wie schwarze Glasflächen und hallen dumpf. An den Wellenbrechern schaukeln die Boote wie Pflanzen, umrankt von nassen Tauen. Hinter den beweglichen Brücken der Schiffe rauscht verdichtete Feuchtigkeit. Rauch oder Tau verdampfen von leeren Schiffsdecks. Zwischen dem Leuchtturm und dem Gebäude der Hafenverwaltung gleiten die Schiffe im trüben Spiegel geräuschlos vorüber. Sie ertrinken im Nebel, der nach Menthol und salzigen Sedimenten riecht Spiele mit dem Sand Auch unsere Vorfahren suchten tagelang in den Sandbuchten nach kostbaren Muscheln. Unter der Sandbank sind zähe Seen zurückgeblieben, umgeben von Dunkelheit. Manchmal leuchtet im flachen Wasser noch der Rücken eines geheimnisvollen Fisches auf oder eine Muschel mit merkwürdigen Verzierungen. Ein Schwamm bewegt sich, Perlmut funkelt im Inneren des Meerohres. Jemand oder etwas zwischen mir und dem Himmel spricht: Siehst du, wie die Welle die Fußspuren, die in den Sand geprägt sind, bewegt. Imaginäre Städte werden mit den Anschwemmungen kleiner. Der Wind hat den Duft der Gräser entfacht, ganz nahe am Leuchtturm ergießt sich das Meer. Der dunkelblaue Federbusch überschwemmt die Ränder der Bojen, in den türkisfarbenen Baumkronen der Tamarisken verschwinden Vögel hinter den verstreuten Bildern Und auf der anderen Seite der Stadtmauer Sand, in den Ecken der rissigen Häuser bröckelnder Mörtel. Auf dem Fensterbrett rötliche, wilde Orangen. Wasser, trübe wie Rauch, bewegt das Gestrüpp, das in den Pfützen ankert. Unter dem Purpur der Abenddämmerung bewegen sich die geschwärzten Ränder der kleinen Boote. An den leeren Stränden hat das Meer dunkle Rillen in den Sand gezogen. Neben den niedrigen Säulen überspringen nur Möwen die Schatten Das andere Meer Unter dem Meer ist das andere Meer. Es erhallt dumpf zwischen den Wänden in den Stadthäusern, es klingt ein wenig gespenstisch. Der Hafen eingekreist von Schatten, und wenn es ganz still ist, rauscht es in den Nebeln. Die Wände, umrankt von ewig grünen Blättern, sind schwer geworden von den Stimmen. Eilige Schritte bewegen die Straßen. In den Sandablagerungen atmen leicht die Schwämme und Seesterne. Die verborgene Welt erneuert sich aus den eigenen Schatten; frage nicht, wer vorbeigeht. Du drehst dich um, und hinter dir strömt die stille Stimme über Pompeji. Es ist eine schlechte Saison für die Fahrten der Segelschiffe. Man erwähnt die Händler aus Tasos; sie verkaufen in Narona Amphoren. Die Gärtner stellen aus der Blüte der Schwertlilie Düfte für die Korinther her RELA TIONS Poesie der Nachbarn Im Juni tauchten Skulpturen von Athleten aus Marmor von der Insel Paros auf; sie schimmern im flachen Wasser nahe am Ufer, wo die Reste der antiken Ziegeleien versunken sind; korrodierte und von Gräsern überwachsene Grundrisse. In der verregneten Nacht 1967 fanden die Korallensucher aus Šibenik die Glocke des Heiligen Landes Palästina; im August desselben Jahres stieg der mystische Stern Marias auf die dunkelblaue Plane der Barke. Der Schwammsucher aus Krapanj entdeckte geschmiedete Stangen, Murano-Glas und silberne Leuchter. Der Landvermesser aus Caska beschreibt das Gewand aus dem Fernen Osten; die Messer mit zwei Klingen und den Kelch aus weißem Metall Wenn die Nacht des Vollmonds herrscht, bewegen sich im Meer am Rande von Vranjic die steinernen Sarkophage. Die Schlepper quietschen in der Werft mit unsichtbaren Ketten, die aufgeschweißten Schiffe verschieben die Stille. Eine romantische Dame pflückte die rosarote Wolke; zwischen Ebbe und Flut blühte im flachen Wasser der Malvenbusch. Dieses undurchsichtige, andere Meer schenkt dem Land eine vielfältige Bildhaftigkeit Der Südwind Auch Theseus fährt zum Hafen mitten im Meer. Die Kontinente haben den Ozean zurückgedrängt, die Inseln werden ausgelöscht wie das farblose Gras in den Vorhallen der geleerten Tempel. Bringe das Meer hinüber: rufen ihm die Seeleute von der Barke zu. Die Dunkelheit hat alle Gegenstände umschlungen. Die Möwen, bereits schwarz vom verdichteten Sediment der Nacht, treten in die Lufttunnel ein. Die Erde hat sich vom Mond entfernt; obwohl weder Flut noch Ebbe ist, schimmert das weiße Sternbild der Fische auf dem gesprungenen Stein. Im Radio kündigt man Südwind an. Durch die Glieder der Schiffskette zieht der Horizont. Das offene Meer hat sich zurückgezogen Zwischen den Hauswänden, nahe der Landeszunge und am Turm, öffnen sich feuchte Flecken. Die Dunkelheit ist eingestürzt. Der Strick versinkt nicht im Schlamm. Die Inschriften und die übrig gebliebenen Buchstaben lösen sich wie Fischschuppen auf den Bürgersteigen. Die Innenhöfe des Hafenviertels riechen nach leeren Schwalbennestern. Welcher Maler hat die Strecken der Marathonschwimmer in die unendliche Krümmung gezeichnet. Die durchsichtigen Wellen hat er durch den Ruß ersetzt, der sich aus der Unterwelt befreit. Unter den Steinplatten des eingestürzten Ufers wächst der grüne Schlamm über das Festland hinaus. Südwind. In den stickigen Ecken der Gebäude baumeln trügerische Felder, die Samen der Palmenbäume Du betrachtest den durchweichten Ast, er ähnelt dem Schnabel eines gestrandeten Lappentauchers. Der Wind hat die Fensterläden geöffnet, weht die Sonnenschirme um und die Rattanstühle, die an Bäume festgebunden sind. Aus dem Café hört man ein verstimmtes Pianino. Vom Schiff meldet sich jemand mit leisem Fluchen zurück. Eilige Schritte die Straße hinab. Unter der Terrasse die Glut der Zigaretten. Vielleicht vergisst du den Weg und wohin du ge- 245 246 Poesie der Nachbarn RELA TIONS hen wolltest? Die Vertikale des Glockenturms wird ausradiert, mit ihr das Rund der Stadtuhr. Der Platz ist wie ein Spinnennetz zerstückelt durch viele Trennwände. Wahrscheinlich ist es auch hinter der hohen Mauer, die am Rand des überfluteten Ufers stehen geblieben ist, nicht besser Die Fallen der Kartographen (Die Ränder der neuen Kontinente) Im August prophezeite Fabijan, dass der grüne Kreis des leuchtenden Kometen Klio Stiron groß wie der Mond sein und danach wie eine in die Wolken geprägte Münze aussehen werde. Er sagte: der namenlose Schimmelpilz versenkt schon die Inseln, die Menschen immer kleiner und kleiner, während die mächtige Flut die Ränder neuer Kontinente erhöht Die Stadt Spalatro färbt sich schwarz am Rande der Bucht, aus dem dunklen Hafen verdampfen die herben Gerüche des Schwefels und der morschen Balken. Die Spalten im Schwarz und im Sumpf der Docks klaffen. Auf den feuchten Seilen klebrige Schatten und dicke Salztropfen. Die Zeichen der Öde zersetzen heimlich die Fundamente der Stadt. Der graue Sand überschüttete Straßen und Tempel, überdeckte Fenster und Mauern; er zog in die Pflanzen ein, mit Dunkelheit bedeckte er den Stein Ich höre, du sollst hören; seit Langem versunkene Stimmen rauschen über die Lagune. Die verschwiegenen Ufer und gestrandeten Schiffe werden wieder auf Landkarten gedruckt. Inmitten des Himmels erscheint das Meer. Von irgendwoher ein deutliches Flüstern: Die Welt der Seelen ist von kartographischen Fallen bevölkert. Ich weiß, er* weiß; es soll ihm Recht sein. Er ist müde vom Schwimmen geworden: Ha! Ha! Upha! Der goldene Berg (Die Seele des Glasbläsers) Monatelang sprach man über nichts anderes als über Juan Britto, den Glasbläser, der auf den Goldenen Berg gegangen ist. Als sich die Seele des Glasbläsers vom Körper entfernte, wurde sie – bedeckt mit Blättern – durchsichtig. Juan Britto empfand sich selbst als Zauberer im Nest des Urelements, er sprach: Meine Seele ist ein goldener Fisch. Sie wird den heißen Atem der Geysire nacheinander verspeisen, sie wird sich im Klang des zerschlagenen Glases erproben. Sie wird andauern im schweren Geruch der nicht aufgeschnittenen Bücher und im trübsinnigen Atem der Vergangenheit RELA TIONS Poesie der Nachbarn In der Stadt unter dem Berg tragen Straßen Namen von Muscheln: Thais, Purpura, Oliva, Aplysia, Sipho, Ensis. In den Schlammanschwemmungen unter den Stadtmauern finden sich nur die Spuren der Möwenfeder. Zwischen den finsteren Zypressen, die wie Heilige die Landkarte der Stadt überragen, schwebt die Seele des Glasbläsers wie ein Gespenst. Ich war der Erzengel. Wie unterhaltsam ist es, unbemerkt in der Menge zu verschwinden, ganz unsichtbar neben den Rändern der Schatten. Der Glasbläser Juan Britto ging zum Goldenen Berg, sein wundertätiges Vorhaben kennt man bereits als Trinklied aus einer wehmütigen Oper. Von ihm keine Spur Rapport 22 (Ich habe die Ozeane durchquert, ich fragte kein einziges Mal: wer bin ich?) Die Formen der Buchstaben in den Aufzeichnungen von Johann Köhl enthüllen, dass er Ende des 19. Jahrhunderts aus Deutschland in das kroatische Gebiet gekommen ist. Im Rapport 22 steht: Konzentriert auf das Geräusch der Wellen und das geheime Archipel rudern wir vorsichtig. Unser Boot fährt langsam zu den letzten Häusern der Landzunge Unserer Frau von den Engeln, schon lassen sich in der Ferne Mühlen und Stoffwalzwerke erkennen. Er schrieb weiter: Das sind keine wilden Gewässer, sie ähneln eher einer Stickerei auf dunkel gewordenem Stoff, während sie langsam die Leere umsäumen vor den getrübten Veduten eingefallener Städte. Man sieht Stadtmauern, Türme und Paläste, unter dem Schatten eines Sonnenschirms ähnelt die schöne Wirtsfrau Kirke. Aus dem Azur ihres Kleides steigt der Duft von Zitronen und Limonen auf Vielleicht ist es auch eine Sinnestäuschung, schrieb später Johann Köhl im Rapport 22: Ich habe die Ozeane durchquert und fragte nie wirklich, wer ich bin? Mein Gott, Wunder geschehen. Der eine oder andere Seemann verschwindet und taucht nie wieder auf Genius loci (Im Lapidarium) Die geheimnisvollen Seefahrer und die Jungen mit Krügen tauchten unter den mentholfarbenen Schimmel. Das feuchte Grün umwob zerbrochene Skulpturen und Torsi. Jene die im Altertum mit Reliquien handelten, tragen nun das Farnkraut, das aus dem Dunkel wächst; ihre Vorfahren brachten Geschenke für die Bewohner der Insel Issa. Im Lapidarium verdeckte ein beklemmender Schatten die römische Wege: Ave Caesar, der kaiserliche Sarkophag aus Porphyr ist zertrümmert worden Unter den Ruinen der Thermen des Tetrarchen: die Gestalten der Mächtigen aus weißem Stein sind mit dem Kopf nach unten gedreht. Von den Kieferzweigen tropft Harz auf die Ge- 247 248 Poesie der Nachbarn RELA TIONS wänder der mächtigen Centurii, in der Toga von Aurel Lorbeerblätter. Amseln und Schmetterlinge über dem Relief von Amor und Psyche. Der bröckelnde Mörtel ist im Schatten grau geworden, er materialisiert die neue Landkarte Atlas hebt die Wände mit aufgeplatztem Rücken, leicht wie Getreidebündeln. Die Zweispanner bewegen sich auf den Wandmalereien, die Matronen regen sich, ihr Lächeln hat sich schon in die Dunkelheit geprägt. Die Innungen der Maurer, der Steinmetze und der Schmiede werden von der Milch der angeschnittenen Agaven übertönt. In den Mosaikquadraten dunkelblaue Blumen, unendliche Verflechtungen des Efeus. Der Genius loci hat das Gesicht eines Kindes; seine Füße, Hände und Kleider sind aus Stein. Es ist früh alt geworden in der Einsamkeit und im Häftlingsschweigen Beschreibungen (Aqua Antiqua) Bekannte haben merkwürdige Spiele gespielt mit Wurfscheiben, Kegeln und Kristallkugeln. Die Spieler auf den Fresko-Malereien erschaffen neue Harmonien. Die Amphi forei für Oliven, Datteln, Feigen und Wasser liegen immer noch unberührt am Grund der Lagune aus Sand. Im Städtchen N. trägt niemand das Licht der Wachskerze über den verdunkelten Platz. Durch gesprungene Wände zieht der Wind, er entfacht den Geruch der Fäulnis. Aus den Steinplatten verdunstet die Stille, in den Hohlräumen ertönt die Leere Unter der Kirche das Meer; antike Anker zwischen den Schatten. Salzhändler, kleine Handwerker, Lastenträger; sie wiegen sich am Grund der Bucht. Die Flut und die Salzschicht bedrängten das Gestade, die Wände quellen auf und platzen. In den zurückgebliebenen Ruinen der Sommerhäuser von Livia und Agrippina fallen die Eukalyptusblätter ab; die Vögel aus Perlmutt sind eingewachsen in die rote Erde, die die römischen Mosaike und Mauern der villa rustica verschüttet hat. Auf dem Hang zum Meer Erbsen, Tomaten und Paprika und auf der Wiese kurzes weißes Gras Magistrale (Die Einöde aus Bernstein) Dorthin wo die Liburner getrocknete Blumensträuße und Schüsseln gefüllt mit weißem Balsam legten, erschafft der Mondschein die Magistrale; hohle Felsen und Säulengänge. In den Erddeichen wird die unbekannte Geschichte zerlegt. Die Perlen in der Gestalt Demetras, der Göttin des Ackerbaus, sind bereits zu durchsichtigen Keimlingen geworden, das Unkraut erfüllt Glaslampen – Modell Fortis. Über die verputzten Wände huschen Schatten; sie erinnern an Menschen, die im Vorbeigehen stehen geblieben sind RELA TIONS Poesie der Nachbarn In der Rille, unter der Erde, zermalen Wurzeln und Knollen Abschnitte aus Stein, die einst rituelle Opferstätten waren. Auf der Wiese von Marin Josipov, zwischen den Obstgärten und den zähen Ausläufern des Schlamms steht noch immer der Leuchtturm der antiken Scardona. Die Einöde aus Bernstein riecht leicht nach Jod, verfaulten Blättern und dem Südwind. Am Wellenbrecher, der im Morast zurückgeblieben ist, haftet die Form der unbekannten Materie Die Unsichtbaren (Eine verkleinerte Geschichte) Fern von den Ufern ist das Meer dicht und schwer; geschmolzenes Silber. Am Meeresgrund gibt es keine Straßen, es bewegen sich keine Wolken, noch lässt sich der Horizont erkennen, umrahmt von roten Algen. Ohne den Wechsel von Tag und Nacht verzweigen sich die Meeresgräser wie Schlingpflanzen, die Korallen wie Knollenblätterpilze. Unten den Atollen und in den Höhlen Spuren von urgeschichtlichen Wesen Die Unsichtbaren schweben ihr ganzes Leben lang zwischen hohen, steilen Felsen. Aus der Tiefe hört man Geräusche; vom schlammigen Boden den Triller, das Brüllen und die Stimmen der unbekannten Gattung. Ich weiß nicht, welche Kraft den Meeresgrund formt. Pflanzen und Tiere sind rot, und die Dunkelheit klettert auf wie eine Schildkröte mit undurchdringlichem Panzer. Noch ein Tropfen, vielleicht zerbricht auch der höchste Berg unter dem Wasser unter dem Gewicht des irdischen Lichts Festland. Oh, diese verkleinerte Geschichte! Sie bringt das Lebende und Nicht-Lebende näher. Größen aus Stein und Bronze, zerkleinert in den Fugen der versenkten Castra. Zwischen den Platten der versenkten Mauern hallen die Schritte der Verschwörer. Was über Götter und Heroen sagen. Sie bauten Pyramiden und Städte auf Sand. Wunderbar, aber wer glaubt daran Das Volk hörte den Hellsehern zu (Man baute den Triumphbogen des Titus) Aus dem uralten Traum, der durchwoben ist mit Gewalt und Verzweifelung, ziehen Züge von Sklaven. Angezogen von den Düften des Ebenholzes und wenig bekannter Dinge unterhalten sie sich über die Bitterwurzel, über die breiten Blätter, die in den Amphoren mit Wein eingeweicht werden. Galerius Flor beendete den Bau des prächtigen Tempels; danach pflasterten Arbeiter die Straßen. Im Namen des Verwalters gab Filon falsche Versprechungen und das Volk lauschte den Hellsehern. Die ungewöhnlichen Messiasse predigten von apokalyptischen Zeiten. Filon wurde von Fest beerbt und dieser vom Verwalter Abib. Dort wo das Brachland immer noch mit Mohnblumen bedeckt ist, wird der Triumphbogen des Titus gebaut In den engen Durchgängen zwischen den Mauern singen bisweilen Dämonen zur Lyra von Orpheus. Sie verzaubern wilde Tiere, bewegen Bäume und Steine, bringen Flüsse zum Stillstand. 249 250 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Indem sie lange Stangen in das schwarze Wasser treiben und dabei die Tiefe messen, stoßen sie sich den Fluss hinab. Auf ihre Rücken hat sich der Himmel gelegt; das finstere Bündel Engel des Nebels (Wie in den Filmen der art noir) Der Nebel kam aus dem Meer, wie in den Filmen der art noir verschwanden ganze Stadtteile. Die Szene dauerte einige Stunden; die Reliefs der Zäune und der Balkone, die eingefallenen Skulpturen und Abschnitte der Mauern häuften sich mitten auf den Straßen. Die Engel des Nebels ließen sich auf die leeren Plätze und Straßen der Stadt nieder; derart durchsichtig berührten sie kaum die Steine Der Mantel des Nebels erschaffte orientalische Gärten. In der anderen Wirklichkeit hörte man in den kaum sichtbaren Käfigen die Vögel, die die Gabe des Sprechens besaßen. Die Ebbe stoppte die Schiffe. Fern vom Ufer fingen die Lastkähne Hochseesterne, auf den gespenstischen Docks zündete man trübe Feuer an. Tilda stand unbewegt da; der Nebel sammelte sich um ihr Kleid und ihre schwer gewordenen Füße. Es schien, als wäre die Wüstenoase mit Farben beschenkt. Eine Vision der Mitte Urhäfen des Mittelmeers (Die Landkarten haben noch keinen Namen) Gebt mir einen Bleistift, ich werde die Grenzen der Welt zeichnen. Ich werde mich in die Einöde begeben, wie sie hier vor tausend Jahren war. Vor der Tür mit Sand erfülltes Niemandsland; die Menschen wenden sich weder an die Sonne noch an die Götter der Meerestiefen. Es kommen die ersten Kolonisten: exotische Expeditionen mit einer Fracht aus feuchten Töpferwaren, dem Geruch der Jacken aus Schafsfell und klammem Tuch. Um sie herum die gelben Schatten der vergossenen Gewässer, die Spuren der nassen Füße. Zerstreute Landkarten haben immer noch keine Namen, genauso die ersten Karten der uralten Siedlungen. Wie die nebligen Ufer des Mittelmeers zeichnen: die Urhäfen Matrus, Tobir und Mars Nirgends (Durch Weltallmauern) Anselmo ist besessen von Türen und Fenstern, von der Möglichkeit der Flucht. Jeder arme Mensch steht unter der großartigen Himmelskuppel: Aber ich! Ich sehe durch die Weltallmauern. Am späten Nachmittag, während er das Aquarium mit Goldfischen putzte, entdeckte auch Onkel Ernest Gott. Er konnte das Gewicht der eigenen Seele messen; sie streckte sich vor ihm aus, leicht wie Tüll. Der Engel der Erlösung berührte ihn im Vorbeigehen RELA TIONS 251 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush 252 Poesie der Nachbarn RELA TIONS Sie untersuchten die Grenzen der Wirklichkeit Die schwarzen Blumen sind ein Teil der neuen Botanikermode. Die tief blauen, entstanden durch das Kreuzen der elisabethanischen Sorten, nennt man Königinnen der Nacht. Davor sagt, dass die schwarzen Blumen auch in unansehnlichen Blumengeschäften auf den Stadtplätzen aufgetaucht sind. Ich weiß nicht, ob ich je den Geruch der leeren Zimmer und der Ruinen am kühlen Abend vergessen werde. In den baufälligen Häusern wuchs der unheilvolle Pilz Coreo, ein dunkelblauer Hutpilz mit durchsichtigen Tropfen an der Krempe. Wegen der Feuchtigkeit und des Geruchs der unbekannten Knollengewächse wurde die Kleidung im Nu farblos und alt, mit winzigen Pilzchen im Gewebe und zwischen den Nähten Nataša liest ein Märchen, ruft auf Russisch eine alte Zauberei herbei; ihr Schatten wurde immer dunkler. Celina klopft auf den Glasrand, leicht, im Halbschlaf, erbeben die Ozeane in den altertümlichen Koffern. Zeig mir die Lilie in den großen Kreuzworträtseln im Internet. Sie wird im Garten gezüchtet, den jede Woche das Passwort x markes the site öffnet Einstein N.N. hörte das Gespräch der toten Soldaten, ein halblautes Flüstern von Chris Marker, der 1995 ermordet wurde. Heute ist der Morgen, den man euch gestern versprochen hat; stand im Text unter dem Foto. Bruno weilt häufig im Planetarium, Teleskope und Optik ziehen ihn an, er stellt sich vor, wie er hinter den Sternenkulissen die doppelsinnige Art der Gnade Gottes entdecken wird Nach dem Krieg hat Herman Borowsky sieben Todessünden als Monster, die den blonden Jünglingen von Otto Dix ähneln, beschrieben. In einem Telefongespräch aus dem Hotel Excelsior in Dubrovnik gibt er Anweisungen für die Bergwerke von Jade in Polen; er wird in ein hochherrschaftliches Sommerhaus und in eine Plantage Orangen und Zitronen in Konavle investieren Willkommen im Nirgendwo In jenem Herbst flogen die Schwalben nicht nach Süden. Auf der Kreuzung stellt sich Adrian Reihen von Textilgeschäften und kilometerweise weißen Stoff mit gedruckten Mustern vor. Hinter den dunkelblauen Vorhängen werden die Schatten zu Meeren, die sich über die weißen Türschwellen der Häuser ergießen. In der längst verlassenen Stadt gehen die Straßen durch Zimmer und Balkone; für jene, die Illusionen und Filmschwafeleien mögen, sind Büsche von verblasstem Immergrün zu silbernen Kissen geworden. Die unüberschaubare Öde erstreckt sich jetzt in umgekehrter Richtung; zum inneren Rand der eingefallenen Häuser und Höfe hin Wer hat an dem stillen Abend die angezündete Kerze zum Stein des zersprungenen Palastes in Selca gebracht; so dass der trübe Widerschein der Renaissancefenster, die eingezuckerten RELA TIONS Poesie der Nachbarn Sauerkirschen in großen Einmachgläsern und der leere Vogelkäfig hinter der beleuchteten Tür gemeinsam flimmern. In den Fantasien der Reisenden werden die Bilder kleiner, sie zerbröseln in noch winzigere Stückchen. Die Ereignisse, die mit dem Staub der Kometen aufgeschrieben sind, erstrecken sich entlang des Himmels. Unter den Sternen sind die Sätze ein wenig schräg angereiht, wie Epitaphe auf Gräbern Als in der Wüste Schnee auf die heiligen Zederbäume fiel, starb im 98. Lebensjahr der Zeichner des Atlanten der Wüste Sahara, Theodore Monod. Er zog auf dem Kamel über viele Wege, er entdeckte Sandstädte in Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Libyen Im Jahr 1996 streuten die Ziegelsteine gelben Staub aus und Frauen bliesen den Saharasand von den Tischen. Die Menschen sprachen im Schlaf in unbekannten Sprachen; einige glauben, dass die Grenze der tropischen Gebiete verschoben wird. Und doch erwähnen sie im post scriptum nur die kalten Füße und die Depression, die durch die Schatten der Palmen befördert wurde Das Addieren des Vergessens Wenn die Seelen zurück in die Körper kehren, können sie wirklich jene sehen, die durch die Gegenden am Meer gelaufen sind. Im Schlamm der leeren Strände Fußabdrücke, die viertausend Jahre alt sind, erkennen. Die Piraten schnitzten Seife und färbten mit dem Purpur der Muschel Stoffe. Es wurde bestätigt, dass sie hier schon seit der Epoche der Karolingerherrscher lebten; dann sind sie jäh verschwunden. Er hieß Ka, er war ein Architekt oder Baumeister; er hat die unheilvolle Einöde beschrieben und wunderbare Städte. Auch er ist ins Unbekannte gegangen Tulio und Hera haben eine Nacht in Split verbracht; die gesammelte Töpferware, die bemalten Stoffe und Siegel, alles, was sie einzuschiffen beabsichtigten, verschwand im Feuer der Hafenmagazine. Sie haben die Asche der Brandstätte nicht auseinander geschürt, die zurückgelassenen Gegenstände glimmten vor sich hin und verpesteten die Luft Apokryphe Aufzeichnungen hüten die Erinnerung an den edlen Enia Andreis, Sohn eines Ornamentisten und Dekormalers. Er liebte seit jeher Schiffe: sein Vater war der Anführer der Himmelsbootsmänner. Wir ruderten munter zum Festland; inmitten der Nacht hörte man einen Knall, die Städte des fernen Afrika sind wie Sandkörner verschwunden. In zehn Tagen fuhren wir über das Mittelmeer und erreichten den Palast des Kaisers Diokles Wie romantisch. Wissen Sie, ich erkenne die Aufteilung der Räume, sogar das kleine Gefängnis unter der Treppe. Das Gitter wurde an der senkrechten Rinne, die an den Rändern mit Astragal verziert war, hoch und herunter gezogen; ein gemeißeltes Seil wurde in die benachbarten Gebäude eingemauert. Schulz hat als erster angenommen, das Biest der Finsternis komme aus der Tiefe 253 254 Poesie der Nachbarn RELA TIONS In dieser Stadt ist alles unecht und niemand kümmert sich um die Beleuchtung. Unter der Glocke der Kathedrale gibt es kein Pendel und der Glockengießer hat kein Siegel eingeprägt. Unwirklich sind die gotischen Fassaden, die Pferde auf dem Springbrunnen, sogar die Pappeln im Park. Ist das nicht ungewöhnlich: Frauen nähen Samt für Livreen, man erkennt die Fülle der Ornamente Als sie in der Einöde eingetroffen waren, begannen die Seeleute, Paläste in maurischem Stil zu erbauen. Dort bin ich vor tausend Jahren geboren. Wenn Trauer mich erfüllt, laufe ich durch den geheimen Tunnel unter der Stadt; obwohl ich ein Schatten im fernen Land Bay bin. Es ist mir eine Ehre, über mein vergangenes Leben zu sprechen, in dem ich eine Schildkröte war. Schon seit fünf Jahren bin ich keine Schildkröte mehr. Das ist tatsächlich eine lange Zeit, wenn man galoppieren muss Sternendeuter Alle, die mit Getreide genährt wurden, haben sich versammelt: es begann dunkel zu werden und sie gehen entlang der Hauptstraße. Sie bleiben unter Platanen stehen, groß und schlecht gelaunt, stumm und sehr esoterisch. Solche kannst du auf jeden Schritt und Tritt treffen; einst arbeiteten sie in Zimmermannswerkstätten, auf Lastkähnen und in den Docks der großen Hafenstädte. In den Höhen, wo die Tiefe des Weltalls zunichte gemacht wird und die Sterne den Perlen des gewöhnlichen Modeschmucks ähneln Zapp und Fulvio betreten den großen Wartesaal des Bahnhofs an der Peripherie; ohne überflüssige Blicke zurück oder Erinnerungen, wegen derer man ihnen das Herz herausreißen könnte. Die Nebel und die Schneestürme legen sich lautlos, aber schnell. Neben dem Bahnhof passt die erfundene Geschichte in einen Pappkoffer und in den tristen Ton der Ziehharmonika Andrea und Hegel finden in der Leere des Barockpalastes ein Zimmer, es hat Tapeten mit Blumenmuster. Durch das Fensterglas sehen sie einen Betonzaun aus den Sechzigern, entlegene Straßen und Passanten aus Sankt Petersburg Die Retro-Zukunft glaubt an Roboter; wenn sie von Kameras reden, lächeln sie und sagen, dass sie glücklich seien. Er hat festgestellt: Alles, was früher geschehen ist, muss man erneut bedenken. Willkommen in einer wunderbaren Welt, die keine Katastrophe kennt. Die Sternendeuter tun so, als ginge keine Gefahr aus von den großen Metallrobotern, die Zeppeline fliegen immer noch über Manhattan und die Brooklyn-Brücke und die schönen Blondinen tragen schicke Hüte Mysteriöses Verschwinden ereignet sich, viele Personen aus der ganzen Welt sind verschwunden. Die bizarre Familie Safamis zeugt vom Menschenhandel in San Francisco. In den Abendstunden erscheint das Bild der Göttin mit der Botschaft: Schießen Sie nicht auf die Königin der Illusion! RELA TIONS Poesie der Nachbarn Engel an meinem Tisch I. Er hat häufig davon geträumt, nach Westen zu gehen und Gebiete zu sehen, die man die Wolke des Geheimnisses nannte; er konnte den Abenteuern der Frühlingsreisen folgen, zwischen den zersprungenen Sternen rauschen. Die einzige wichtige und heilige Sache in seinem Leben war das surrealistische Bild Utopie in Blau Michaele sagte, dass er mit einer derartigen Sicht auf die Welt zufrieden sei, und er begab sich durch den Fieberwahn der westlichen Länder. Er zog überaus munter los, mit dem Grundriss der geographischen Haltestellen und den roten Karten für das Yocker-Spiel; bis zu jenem Augenblick, an dem er beschloss, für immer zur See zu gehen Es sah so aus, als würde sein nasses Haar bloß an die Wildnis erinnern; alles Weitere wird in den Meeresstraßen gefangen, wo die Bewegung nie nachlässt und nie aufhört. Aus unbekanntem Grund ertönen immer mehr Stimmen vom Bug der Schiffe, das Kreischen verwöhnter Kinder, das Stimmengewirr der Passagiere und die Geräusche von der Küste II. Dieser Eugen Kohn hört die tiefsten Geräusche des Meeres, was wirklich gespenstisch ist. In den Formen seiner Fantasie gibt es verdunkelte Stellen; Dämmerungsereignisse, die von Schwefeldämpfen umwoben sind. Wenn die Schlammwolke die flachen Küsten bedeckt, in einer Entfernung von hundert Metern, und die schwarzen Barken, die mit Teer übertüncht sind, so winzig erscheinen. Von einer noch größeren Entfernung ähneln die Städte des Mittelmeers Skulpturen aus Sand; an einem Strand Kaliforniens den Meeresfluten ausgesetzt Bereit die Geheimnisse der europäischen Städte zu erforschen, sagte Stabat Mater des neuen Jahrhunderts: Das, wovor der Mensch oder das Tier Angst haben, wenn sie zu dieser Zeit laufen, ist nur ein Hirngespinst. Der Lichtstaub, mit dem das Weltall diese wunderbare, unvollendete Welt befragt Tomasina Disopra eilt zum Treffen mit den Möwen. Es hat begonnen zu regnen. Jeder Tropfen ist ein schwarzes Loch, in dem jene wohnen, die nicht sprechen; Kilometer und Kilometer aus Wasser. Was für eine Erstauntheit, aufgrund des Mangels an Farbe sind sogar die nächsten Dinge verschwunden. Mit dem Scheitel den Sternen zugewandt stürzte Marion Dor in die durchnässte Erde III. Die Gottheit des Meeres erwacht; gewisse neue Wesen gehören nicht zu den Sterblichen, noch wollen sie laufen. Bestimmt schweben sie, auf der Suche nach der Stelle, wo der Mächtige mit der Spitze des Schattens die Schlange zertreten hat, die ab nun wie ein Verbrecher 255 256 Poesie der Nachbarn RELA TIONS kriecht, gezwungen zum Rückzug. Der Halbgott hält den Himmel, und die Erde wird er mit Dunkel zähmen. Man hat ihn Pagard genannt, Echo der undurchsichtigen Epoche. Als sich am Ende der Planet, der vom Mondschein beleuchtet war, aus der Ewigkeit trennte, wurde Pagard in den ersten botanischen Büchern als eine Art Unkraut erwähnt Emanuel mochte Vögel, er meinte, dass Vogelzucht und Vogelkunde die ältesten Gewerbe seien. Er bewunderte die Amsel und die Meise, er konnte jedes Zwitschern hinter der Hecke erkennen. Nach Dalmatien ist er wahrscheinlich vor zehn Jahren gekommen, er war überzeugt, dass die Vögel aus allen vier Weltrichtungen hierher kommen, und die Zeit im Nu Vollkommenheit erreicht. Der Abend war dunkelblau wie nie zuvor. Leicht und ohne ein Geräusch verdunstete das letzte Licht aus dem Meer. Vielleicht haben auch die Engel vor so viel Schönheit und Rührung vergessen zu atmen (Split, work in progress 1998 – 2008) Aus dem Kroatischen von Alida Bremer RELA TIONS Ivana Simić Bodrožić IVANA SIMIĆ BODROŽIĆ, geboren 1982 in Vukovar/Kroatien. Sie studierte Kroatistik und Philosophie in Zagreb. Lyrik veröffentlicht sie in den Literaturzeitschriften Quorum und Vijenac sowie in der Rundfunksendung Poesie laut gesprochen. Ihr erster Gedichtband Prvi korak u tamu („Der erste Schritt in die Finsternis“) wurde von der Kritik sofort als eine neue, lyrische Stimme erkannt, und die Autorin erhielt den bedeutendsten kroatischen Preis für junge DichterInnen Goran. Eine stille, einsame, intime Stimme, die bar jeder patriotischen Rhetorik von der Zerstörung der Stadt Vukovar im letzten Krieg „berichtet“. Der Roman Hotel Zagorje, in dem sie ihr Aufwachsen in einem Flüchtlingsheim bearbeitet, ist 2010 erschienen. Auf Deutsch ist sie in der Anthologie Konzert für das Eis vertreten. *** Der Sieg gehört dem Mann in der Unterwäsche der eine Etage über mir in mein Fenster sieht während er auf dem Heimtrainer trainiert. Mein Sonntagnachmittag ist noch hoffnungsloser. Im Wohnzimmer ist das Zentrum für Kriegsverbrechen eröffnet. Die alte Frau döst im Sessel, jeder Knochen wurde mindestens einmal gebrochen, und über jeden soll man wenigstens so lange reden, wie es gedauert hat, bis er zusammenwuchs (und in dem Alter braucht es lange). Den anderen Wesen, die sich in meiner Sichtweite bewegen, klingt jeder zufällige, wenn auch kleine Ausbruch von Freude wie eine unangebrachte Provokation, die uns der Feind untergejubelt hat. Ohne ihn hat man, solange ich mich erinnern kann, nie gelebt. Er hat uns ewig irgendwohin verfolgt, am häufigsten durch die Busbahnhöfe und Hotelflure. Foto: Vladimira Spindle Poesie 258 Poesie der Nachbarn RELA (In müßigen Stunden zählen wir alle Bekannte an den Fingern ab und ordnen sie Freunden oder Feinden zu, heute brach ein Streit aus, von den ersten gibt es nur wenige, und in dieser Woche haben sie eine mir liebe Person der zweiten Gruppe zugeordnet.) Der Frühlingsnachmittag ist nie leicht zu überleben, er ist immer ein wenig unwirklich und man muss gut vorbereitet sein, um nichts zu unternehmen, bis er vorbei ist, denn schon zweimal seit dem Mittagessen hatte ich den Eindruck, ich wäre die Seide der Pusteblume, dabei sitze ich eigentlich die ganze Zeit auf dem Balkon der vierten Etage, ohne eine einzige außerordentliche Fähigkeit, und halte mich fest am heißen Blech, während ich warte, dass sich die Dinge klären. Das Hotel „Donau“ Diese zu dünnen Arme habe ich von ihm Manchmal betrinke auch ich mich gerne richtig Wie die wahre Tochter des Hotelsaalchefs Die kleine Spaßmacherin, ich hatte ihn am Werk gesehen Versteckt hinter dem Pokerapparat, anständig bestochen Mit Schokolade aus dem Duty-Free-Shop, die nach Vukovar Zu spät kam Genauso wie das Internationale Rote Kreuz Wie die Menschlichkeit Wie schließlich auch alles andere Gute, das unendlich verspätet kommt In diesen Teil der Welt Diese zu dünnen Arme habe ich von ihm Es tut mir nicht Leid um mich Aber wie konnte er sich mit ihnen verteidigen, als man ihn schlug. *** Man sollte unbedingt den Hund ausführen. Wir sollten unbedingt in Kontakt bleiben. Ich sollte ihm gegenüber unbedingt ehrlich, freundlich und gutwillig sein. Vor allem sollte man unbedingt jene Zeit vergessen TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn 259 in der wir nach jedem Kaffee die Tassen umdrehten und in der wir bei der Zeitschrift Arena für jeden eine Kette mit einem Anhänger in Form eines wundertätigen Kleeblattes mit vier Blättern bestellten (da stand: vergoldet, aber später stellte sich heraus, dass die Farbe absplitterte). Der Sohn einer Frau wurde gesund, ein älterer, wohlhabender Mann fand eine wunderbare junge Frau, es war die Zeit der Verzweiflung. Alles ist weit fort von uns, das neue Badezimmer kommt. Es ist wichtig, dass wir vertraut und zugeneigt bleiben. Damit uns das nie mehr passiert. Ich werde jenes belanglose Gefühl der Verstellung vernachlässigen. Die Deine sein, obwohl ich es nicht bin. Glücklich sein, obwohl ich daran nicht glaube. Das Leben ist endlich gut und wir werden nie mehr etwas Wundertätiges bestellen müssen. Schließlich spielte sich all das vor so langer Zeit ab, heute weiß ich es nicht mehr und bin nicht auf dem Laufenden, in welcher Gestalt die Hilfe kommt. *** Auf die Plätze, fertig, los! Er schubst mich mit der rechten Hand, so weit er reichen kann. Und dann diene ich ihm auch noch zum Absprung, von der Treppe bis zum Eingangstor habe ich es nie als Erste geschafft, ich bin sieben Jahre langsamer. Er hat alle Kurven als Erster mit Knien und Fäusten durchbrochen. All seine Tricks ähnelten jenem mit dem Mittelfinger, sie führten dazu, dass ich mich tagelang schämte, sie aber auch bewunderte und fürchtete Er war als Erster auf dem Motorrad auf die falsche Spur geraten und er war der größte in der Straße. Er holte die künstliche Kugel aus meinem Knie und brach dem Pistolenbesitzer die Nase. Das erste „Verpisst euch“ gegen die Eltern und ein Regen aus Ohrfeigen... Als Erster blieb er allein, der letzte in der Schlange für humanitäre Hilfe (damit es keiner sieht), der erste in der aufgebrochenen Wohnung, der erste neben mir auf dem Boden, der erste im Flüchtlingsheim, als Erster geht er von zu Hause weg. Mein älterer Bruder, immer bleibt er nur ein wenig vor dem Ziel stehen, nur um mich anzuschwindeln, als würde er mich als Erste ankommen lassen, aber er siegt immer, weil er größer und mutiger ist. 260 Poesie der Nachbarn RELA Ohne dich Warum bin ich so fröhlich? Jeden Morgen esse ich einen Teller voller Cornflakes I sorrisi della mattina (das morgendliche Lächeln), gehe an Atlanta vorbei, dem American Roulet Kasino einige Schritte von meinem Haus entfernt. Ich laufe sonnig daher und stelle mich mir in den Zwanziger in meinem Kleid und mit meiner Frisur vor. Die Angst und die Sorgen um dich verlassen mich, um die Personen aus der Sendung, meine Helden, um Nina, die Angst hat vor dem kleinen Hund und schrecklich schreit, um ihn, der vor dem großen Hund Angst hat und hysterisch bellt. Gegen Mittag erinnere ich mich an dich, das unbestimmte Gefühl des Grauens schleicht sich unter meine Zunge. Ich bin nicht bei mir, wenn du so weit weg bist. Um eins komme ich zurück zum Mittagessen. Ich stelle mir vor, dass sich, um die Zeit schneller zu vertreiben, wenigstens jemand erwischen lassen wird mit der Geschichte über die Menschen, die zwanzig Jahre lang ihre Wohnung nicht gestrichen haben. Ich frage mich, ob irgendjemand mit mir Mitleid haben und im Rhythmus meiner Stimme etwas ausrufen wird, um die Stille zu vertreiben, damit ich leichter hinter die Augenlider entwischen kann, zu dir. Aber dann, ein Klingeln an der Tür! Die Stimme sagt: das innere Licht, ich erfahre: so wird die Reportage über meine blinde Nachbarin heißen. Das unbestimmte Gefühl des Grauens schleicht sich unter die Zunge, der Abend kommt näher, ich erinnere mich deiner. Ich bin nicht ganz bei mir, wenn du so weit weg bist. *** Sie haben ihre Kameras direkt an den Straßenrand gestellt. Du bist aus der Stadt gegangen, wie so viele Male vorher. An dem Morgen etwas anders, mit deinem Vater um den Hals. Ich sehe dich heute, nach vielen Jahren in einem ausländischen Programm, du hättest TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn 261 meine Freundin sein können, ich denke darüber nach während du sagst: we are not guilty we don’t have food they kill us but we still don’t hate. Es ist rührend, wie du auf deine Art über dieses Fenster in die Welt verfügst, ich stelle mir vor, wie du Englisch gelernt hast, vielleicht sogar in meiner Schule und was für eine Lektion das hätte sein können in der man kill, guilty, hate lernt, oder war das aus den Filmen, so dass du diesen Menschen jetzt näher bist, die in sicheren Welten leben, weil sie hinter der Kamera stehen. Wie merkwürdig die Regeln in dieser Welt sind, und in derselben Stadt wird Krieg geführt. Ich wechsele das Programm, das kostet mich viel Mühe, aber es verfolgt mich das Bild deines Vaters, der sich mit der Faust neben das Loch im Pullover schlägt, irgendwo dort, wo das Herz ist, und wie er ohnmächtiger ist als du, das Kind, da er nicht einmal übersetzen kann, wie sehr es ihn schmerzt, und wenn er es könnte, so denkt er, würden die hinter der Kamera kommen und wenigstens ihre Hand auf diese Stelle drücken. So wird klar, wie ernsthaft die sprachliche Barriere ist, wenn sie es sein möchte. *** Es ist früh am Morgen und ich verlasse deine allerwärmste Wohnung mit dem blauen Stadtbus zu einer kleinen Verpflichtung. Wir haben eine wunderbare Nacht verbracht ohne irgendein Erzittern in irgendeine Richtung. Das leichte Bremsen und die Hupe schrecken mich kurz auf, der Fahrer winkt einer Frau auf der Straße zu, ich möchte glauben, dass es seine Frau ist, aber ich möchte gar keine Geschichte, das würde heißen, dass sich etwas ändern soll, und wenn es sogar zum Besseren wäre, möchte ich es nicht, denn nach all dem wäre es schlechter, und ich möchte nicht diesen Morgen verderben. Das soll das wichtigste Ereignis in meinem Leben sein. Ich möchte gar keine Geschichte, nur dass ich in diesem Augenblick des Tages verharre. 262 Luka Baljkas: Shapes of Hindu Kush RELA TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn *** Was ist mit den Frauen aus meinem Leben passiert? Ich weiß, dass mir niemand mehr den Rücken freihält. Der Mond hat es nach dem dreißigsten Versuch geschafft, dünner in der Taille zu werden, langsam bleibe ich allein. Wenn ich sie besuche, machen mich vor allem die Blicke durchzogen vom Star traurig, die Tischdecken durchzogen von Flecken. Ich übernehme ihren Platz, man wird kämpfen müssen und Verstärkung holen. Ich fülle den Platz im Bett aus. Lege mir die Kapuze zurecht, dir scheint es wenig, aber auch dieses Wenig kannst du nicht unbedingt jedem sagen. Lege es zurecht und ich öffne dir die Tür meiner Intimität. Ich bleibe in der Zimmerecke, ich werde da ruhig sitzen und warten, bis alles vorbeigeht. Wie in der Kindheit werde ich die Furchen in den Neapolitanerschnitten abschlecken und den Rest in der Serviette verstecken. Ich drehe mich nach jedem Licht um, beherrsche die notwendigen Fertigkeiten, höre wie das Gras unter der Erde Kriege führt, Säfte vergießt. Ich enthalte mich des Lebens, manchmal liebe ich dich nicht. Zum Beispiel, zum Beispiel, wenn der Sturm wütet, die Luft mit dem Knallen der Fenster ins Zimmer schreit, und ich stelle mir vor, dass man mich ertrunken findet und weine, weine, und du schließt nur das Fenster und glaubst, du wärest Gott. Ich drehe mich nach jedem Licht um. Kann ich mehr um das Leben bangen? *** Wir haben ein breites Bett. Aus der sicheren Entfernung über die Kissen nehmen wir uns mit Seufzern ins Visier wie zwei feindliche Soldaten, zu allem bereit, nur um ihre Stellung zu halten. Ich lege dir meine Hand auf den Mund, du schläfst ein, betört von meinem Duft, den ich in die Geschichte unserer Betten schreibe. Die Geschichte unserer Leben als die Geschichte unserer Betten. Ich bin in einem ungünstigen Moment des Familienumzugs auf die Welt gekommen, 263 264 Poesie der Nachbarn RELA das erste Stöhnen kam aus zwei zusammengestellten Sesseln, Die Sesselprinzessin, so hat mich Papa genannt, also hatte ich sofort mein Königreich, an das ich immer dachte, als der Fußboden, Fußboden, Fußboden kam, das Hotel und dann das Flüchtlingsheim, deshalb sollst du mir viel Platz lassen, sonst werde ich meine goldenen Skorpione unter das Laken lassen. Komm ja nicht auf die Idee mich zuzudecken, es soll immer warm sein, lass mich weggehen und zurückkehren, lass mich glauben, dass es etwas mehr mein Bett ist als unseres. Bevor ich eintauche, zeigt sich der letzte Seufzer des Festlandes als weiße Bettwäsche mit orangenfarbenen Blumen und einem Garfield auf dem Kopfkissen; das wird sicher das lebhafteste Bild sein vor meinem persönlichen Ende. *** Wir sind beim Spaziergang in Richtung Gornji grad in eine Gruppe von Deutschen geraten. Sie, angeführt von einem roten Fähnchen, wir, nicht zu nah aneinander, warteten auf die erste Gelegenheit, dass uns etwas trennt. Lass uns irgendwie diesen Regen anhalten, bevor er sich auf uns stürzt, dachte ich. Du gingst auf der rechten Seite der Kolonne, neben der Dame im gelben Regenmantel, die sicher das komplette Osterpaket gebucht hat. Und man konnte sehen, dass Du nicht zu ihnen gehörst, Du hattest eine slawische Sorge im Sinn, eine Perle im Auge, künstlich gezüchtet (aber doch eine Perle!), die Ebene, die so ermüdend ist, und hier und dort ist ein Sammellager. Und noch ein wenig böse auf mich, aber doch so schön an diesem beinahe verregneten Morgen beim Spaziergang in Richtung Gornji grad dass ich den Wunsch bekam, nach Deiner Hand zu greifen (aber Du warst immer noch ein wenig über mich verärgert) und Dich in das erste Reisebüro mitzunehmen, das uns in jenes Städtchen in Österreich bringen würde, in dem das ganze Jahr hindurch Weihnachten ist. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn *** Der erste Schritt in die Dunkelheit. Mache das Licht nicht an, folge meiner Stimme. Komme ins Bett. Wir beginnen ein neues Spiel. Zuerst erobert mich dein Haar auf meinem Gesicht. Das Haar des kubanischen Revolutionärs, aus dem Worte über meine Wangen verstreut werden. Heute hast du mit deinen kräftigen Händen eine ganze Stadt verteidigt, und nun stützen sie sich auf meine Schultern. Du bist ganz erglüht, die Luft beginnt erst irgendwo über unseren Köpfen. Dein Herz klopft rückwärts, so ist es immer, wenn es zwischen meine Beine rutscht. Die Revolutionäre sind die zahmsten und die treuesten. Und so halten wir uns kurz an... Einer den anderen, wie vor dem Haus im Sommer, wenn es dunkel wird, man sieht nichts mehr und die Luft ist voller Vorahnung. Und doch, deine Gestalt hebt sich ab von allen mir bisher bekannten Formen. Warte nur noch kurz auf mich... Heute ist Sonntag. Ich habe meine Haare gewaschen. Wir müssen nirgendwohin. Außer nach Kuba. *** Rosmarin, der an der Wand des Hauses wächst Das kleine Grab mit einem Steinkreuz irgendwo in Imotski Duftende Männerhände mit weichen Härchen Der unaufschiebbare Wunsch nach einem chlorierten Schwimmbad Eines Kindes aus dem Flachland, das das Meer nicht kennt Der Gedanke vor dem Schlafengehen als Widmung an den Tod 265 266 Poesie der Nachbarn RELA Kolonnen zahnloser Frauen mit Kopftüchern Und zahnloser Kinder auch, aber ohne Kopftücher Jetzt kommt der Schlaf, manchmal als Befreiung Manchmal auch nicht Marzipan aus Deutschland und ein Lederfußball Mein Vater Der schöne junge Mann Jemand schießt in seinen Kopf Er sagt, dass er sie alle erschießen wird Nicht einmal ihre Katze wird am Leben bleiben Er schreit mit den Augen und verschwindet Ich wache auf und puste auf die roten Halbmonde Der Fingernägel auf den Handinnenflächen Tagebuch einer Mutter Der liebe Gott wohnt im Detail aber wir lieben uns schon seit langer Zeit ohne überflüssige Bewegungen. Erinnerst du dich daran, dass du einmal eine Zecke auf der Innenseite meiner Oberschenkel entdeckt hast? Ich habe Angst bekommen, aber du hast alles, alles getan Öl, Alkohol, dein Speichel, Küsse. Damals konnte man an nichts sterben. Jetzt ist es anders. Das Detail wohnt in mir, der liebe Gott in seiner minimalen Bewegung, deine Hand auf meinem Bauch ist Sein Zeuge. Ich bin für eine ganze Welt verantwortlich, jeden Morgen, wenn du hinter dir die Tür schließt, das Treppenhaus, der Zug, die Arbeit. Die Welt und ich bleiben allein, eingewickelt in ein wenig warme Baumwolle und Haut. Wir warten, dass die Dunkelheit kommt und das Wunder der ersten Begegnung, denn heute kann man an allem... TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn *** Alles ist vorbereitet für Deine Ankunft. Der Krieg ist zu Ende gegangen Ein-zwei Schokoladenstückchen in den Kreißsaal geschmuggelt Das Plätschern des Wassers in der Sauerstoffflasche Papa sagt, das sei das Meer. Der großartige Augenblick Deiner Ankunft Auf die Welt, aber nur wir weinen vor Glück. Und da ist es. Bisher der deutlichste Augenblick meiner Mutterschaft Ich küsse Dich auf Deinen kleinen Rücken Meist bleiben wir allein, zwei Mädchen Dann schnurren wir Geschichten. Durch das Fenster hören wir den Flügelschlag. Flügelschlag. Wie soll ich dir das erklären, es ist so viel notwendig: Feder, Wind, Raum für die Freiheit, hohle Knochen Meine Mama hat einmal für mich Schwarze Plüsch-Leggings bei Nama gestohlen Dafür waren der Krieg, das Elend, ein Kind ohne Vater Und der Anfang des neuen Schuljahres notwendig. Ich küsse Dich auf Deinen kleinen Rücken Ich habe Angst, dass er sich beugt, anstatt eine kindliche Sprache zu verwenden, Sage ich ganz falsche Worte an Deinem zweiundzwanzigsten Tag Und ich werde Dir diese ganze Welt erklären müssen. *** Die Nacht war lang, die Sonne kommt heraus. Du füllst die Lunge mit Luft, für ein Weinen, für das Leben und dann für ein kleines Lächeln. Wir müssen uns jeden Morgen waschen, mein Schatz. Ich erwische mich, wie ich Dich liebkose, wenn Gott dich sehen würde, pflegte meine Großmutter zu sagen, er hat lange die Augen zugedrückt, wenigstens das eine, denke ich. Die Mutter Gottes weint, wenn kleine Mädchen pupsen, sagte die Nachbarin Maria, 267 268 Poesie der Nachbarn RELA und meine Mutter fügt immer hinzu: nicht so oft zum Arzt, nicht so oft zum Arzt, immer in ihrem Singsang und immer zweimal. Du verlangst sofort unabdingbar Nahrung, meinen Körper, es gibt kein Halten, keine Ruhepause, kein Aufschieben. Alle Heiligen im Himmel haben ihre Augen auf uns gerichtet, dein kleiner, verpflichtender Körper umarmt mich. Auch heute bin ich deine Mama, die Nahrung, alles in der Welt, hinreichend. *** Immer ernsthafter bete ich zu Gott, dass dieses Leben nie aufhört. Gestern Abend habe ich lange gebraucht, um mich zu erinnern... Wie hieß doch dieser Ort, diese Fügung von Umständen in welchen ich einst gelebt habe, Unterkunft für Vertriebene, so hieß er. Ich weiß, dass es drei Worte waren, ich habe Zeit gebraucht, um mich zu erinnern... Ich schmiege mich an dich, wir sind zwei allzu verantwortungsbewusste Menschen, zwei zu früh gereifte Kinder, wir haben ein Baby im anderen Zimmer. Der Gedanke an den Tod ist so weit weg. Die schattigen Balkone erinnern mich an Vukovar. Linden im Juni, Wassermelonen in der Badewanne, die Boris-Kidrič-Straße, ein Ort ungetrübten Glücks. Ich weiß überhaupt nicht, wer dieser Mann ist. Der Ort, der Ort an dem wir die Nacht verbringen werden, du, die Stelle an ihrem Hals, so riecht wahrscheinlich das Paradies, nur dass das Leben mich dieses Mal verschont dass es mich vergisst. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn Zimmer 39 Eine Frau war dort, sechsundzwanzig Wochen, vorbei, kein Weinen, gar nichts, auf dem Tischchen Tabletten damit die Milch gestoppt wird. Radio Maria die ganze Nacht und einige Menschen aus der Betgemeinschaft. Dann die andere, ihr erster unverheirateter Mann Hat das Kind nach Serbien mitgenommen, keine Meldung, kein Brief, sie weiß, dass es lebt, es ist ein Mädchen. Mit diesem Mann wollte sie es, ein geordnetes Leben und alles, aber schon zum zweiten Mal geht es nur bis zum dritten Monat und Schluss. Die dritte wurde am letzten Tag gebracht, jung und hübsch, auf der zweiten Etage ist das Bäuchlein geblieben, ein Kilo und achthundert Gramm. Ich sagte ihr, dass alles ganz sicher, hundertprozentig gut sein wird. Man hat sich bei mir entschuldigt, dass man mir die Neununddreißig gegeben hat mit diesen Frauen, denn in dieser Nacht war viel los, es gab keinen Platz. Als man sie mir brachte, wollte ich nicht, dass sie sie anschauen. *** Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten an Dir, Einatmen, Ausatmen, Katze, Hund, Schlange, Du zündest die Kerze an, schaust in ihre Flamme, die indischen Monsune tragen dich fort, die Ajurveda-Ärzte flicken deinen beschleunigten Westen. Die Anstrengung bringt Ruhe, Ruhe, Ruhe, Die Exotik flößt Vertrauen ein, schwarze Kügelchen gleiten die Kehle entlang die Abendrituale bringen dir endlich Zufriedenheit. Jeden Abend arbeitest du fünfundvierzig Minuten an Dir, Einatmen, Ausatmen, Katze, Hund, Schlange. Du löschst die Kerze, bleibst im Dunkel, genauso wie auch ich diese ganze Zeit auf dem Bett im Schlafzimmer, jeden Abend, ich arbeite nicht an mir (es ist nicht so, dass ich es nicht nötig hätte), ich versuche, wachend auf dich zu warten. 269 270 Poesie der Nachbarn RELA Ein Tag am Meer Der Abend riecht weder nach Krebsen noch nach Muscheln, die Nacht wird lang sein und vom Weinen mehrfach unterbrochen. Wir schlafen in Etagebetten, so dass in unser Zimmer noch ein – kleines – Bett passt. Einem retardierten Jungen in der Nachbarschaft hat man ein Karaokegerät gekauft, das freut ihn schrecklich, es freut ihn bis tief in die Nacht. In diesem Hof leben keine Käfer sondern blutrünstige Wesen schlimmster Art und sie ist am Morgen ganz aufgeschwollen. An den Strand können wir nicht gehen. Die Sonne stört sie und sie weint wieder. Wir baden abwechselnd, eine halbe Stunde du, eine halbe Stunde ich. Ich tauche unter das Wasser, um Luft zu schöpfen. Am Abend bereiten sich die Nachbarn darauf vor, in ein Restaurant zu gehen, und wir füllen ein kleines Gummiboot mit Wasser um daraus eine Wanne zu machen, sie lacht. Vor Glück vergessen wir, wo wir sind. Der Abend ist klebrig und schwül, sie will nicht schlafen, dann weint sie. Wir wiegen sie lange in den Schlaf, du, ich, du, ich... Später sitzen wir auf der Terrasse, du sagst: Erinnerst du dich daran, als wir im Sommer hier waren... Ich sage: Ja, wir hatten mindestens zehn Regentage, das Wetter war wirklich schrecklich. TIONS RELA TIONS Poesie der Nachbarn 271 *** Heute haben mich Kirschen aus dem Bett geholt. Wer weiß, wie lange ich so getan hätte, als würde ich schlafen, Hätte ich mich nicht an sie erinnert, im Kühlschrank im untersten Fach. Sie sind gestern gekommen, nur für mich, ein junger Mann hat sie gebracht, Der einst in mich verliebt war, und jetzt hat er Einen Sohn und eine Frau und eine komplizierte Situation diesbezüglich. Er bat mich nach unten zu kommen, unten vor das Gebäude, Ich konnte nicht, denn mein Kind schlief, so kam er nach oben. Er küsste mich auf die Wange und gab mir einen Sack voller dunkler roter Kirschen, Ich lud ihn ein, hinein zu kommen, aber dann rief sie aus dem Zimmer Mama, Mama... Er fragte mich, wann ich dicker zu werden beabsichtige und sagte, Dass ich mich gar nicht ändere, und ich habe nur gelacht. Ich glaube, dass er immer noch ein wenig in mich verliebt ist, Während die glatten Kirschen unter meinen Zähnen aufplatzen Und es scheint mir, dass ich mich wirklich nicht viel verändert habe. Gestern Abend, als wir im Bett lagen, fragte ich meinen Mann, ob er gesehen hat, Wie viel Kirschen wir im Kühlschrank haben, er sagte nein, Aber ich erzählte ihm trotzdem, wie ich sie bekommen habe. Er sagte super, aber ich fragte, ob er nicht eifersüchtig sein sollte, Wäre er ohne Kirschen gekommen, dann wäre ich es, antwortete er. Er steht auf, schaltet das Telefon ab, dann umarmt er mich von hinten und küsst mir den Hals, Über mich beugt sich der Schatten, eine Frau ruft ihn an, früh morgens, Sie spricht etwas zu ihm oder schweigt nur, wir wissen alle, dass sie verrückt ist, Aber ich denke, dass sie vielleicht ein wenig in ihn verliebt ist, Ich stelle mir vor, dass es sich um eine Studentin mit kurzem Haar handelt Oder um eine Frau in mittleren Jahren, die nicht gewusst hat, dass sie lebt, Bis sie ihn erblickt hat, und das gefällt mir, aber andererseits hat er vielleicht deshalb die Kirschen nicht bemerkt. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer