Hamburger Abendblatt

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K U LT U R
Hamburger Abendblatt
Montag/Dienstag, 30. April/1. Mai 2012
Permanent auf Trab
Jeder Ton macht
beim „neuen werk“
die Musik
Eine Tragödie zum Lachen bringt Ingrid Lausunds bestens gelungene Uraufführung ihrer „Zeit“ auf die Bühne der Hamburger Kammerspiele
KLAU S WI TZE LI N G
H A MB UR G :: „Es läuft ja irgendwie.“
Schwer schleppt die überorganisierte
Hausfrau, Mitte 30, an ihrem ständig
größer werdenden Rucksack. Sie ist die
„Schnecke“ im Untertitel von Ingrid
Lausunds Tragikomödie „Zeit – Die erschöpfte Schnecke wirft ihr Haus weg
und flippt richtig aus“. Imke Trommler
spielt sich mit wachsender Aggression
in die Nervenkrise: „Ich hab ja nicht mal
Zeit, um in die Klapse zu kommen.“ Es
ist ungeheuer komisch und traurig zugleich, Trommler und den Schicksalsgenossen zuzusehen, wie sie der Tagesplanung und Terminhetze hinterherhecheln. Sie bewegen sich auf ihren Bahnen gegen den Uhrzeigersinn, treten
mit sekundengenauer Präzision in Beatrix von Pilgrims schwarzem Kreislabyrinth auf und verschwinden wieder.
Lausunds Formstrenge und das ausgefeilte Timing in ihrer Versuchsanordnung entfalten bei der Uraufführung in
den Kammerspielen einen Sog und
schwarzen Humor, der in Momenten an
Samuel Becketts Clowns erinnert, die
im Netz ihrer Existenz dem Ende entgegenzappeln.
Der eilige smarte Businessman
(Max Landgrebe), natürlich ganz vorn
auf der Rampen-Laufbahn, immer tipptopp mit Jackett und Krawatte, zieht
einmal die Hose über seinen Bauch
hoch und wirkt sofort albern: Der Ma-
Die Schauspieler sind in ihrem Wettlauf gegen die Zeit zu ständiger Bewegung verdonnert Foto: imago/Future Image
nager – nur ein Komiker, der seinen Po
trainiert. Diese Rolle kommt eigentlich
dem Loser ganz hinten zu. Er hofft, dass
seine Frau wieder zu ihm zurückkommt, und verplempert die Zeit mit
Erinnerungen und Glühlampenwechseln. Als der sanguinische Christian Ke-
repeszki einmal versehentlich vorn auf
die Winner-Bahn gerät, ruft er panisch:
„Für mich wär das nix.“ Übrigens tritt
der Schauspieler 400-mal pro Vorstellung auf und läuft dabei drei Kilometer,
während Landgrebe in 186 Auftritten
sechs bewältigt.
Nicht nur Lausunds logistische
Meisterleistung besticht, ihr während
des Inszenierens geschriebener Text
mit pointiert gesetzten Parallelen und
Querverbindungen sowie die auf Punkt
eingesetzten Kostüm- und Rhythmuswechsel funktionieren glänzend in der
hochintelligenten Performance. Jeder
Zuschauer – so er denn gewillt ist – wird
im schonungslosen Wettlauf mit der
Zeit ein Stück von sich und seinen Gedanken entdecken können.
„Ich bin ein Komplettversager“,
verzweifelt die attraktive Blondine (Verena Ehrmann). Sie kaschiert im großen
Auftritt mit rotem Kleid die innere Unsicherheit, sucht noch nach ihrer Chance. Beim Small Talk über die Bahnen
hinweg lässt sie sich, nur aus Selbstbestätigung, kurz mit dem Manager ein.
Doch sind die Figuren meist dazu verdonnert, isoliert ihre Kreise zu ziehen.
„Ich bin allein, aber ich bin nicht einsam“, ermuntert sich die Frau im gelben
Kostüm (Hildegard Schroedter). Sie
verpasste die Liebe, tröstet sich mit
Blümchen, Kino und Eiskonfekt, bringt
auch den Tod ins Spiel und erinnert an
die Endlichkeit der Lebenszeit.
Mehrmals hält Lausund die Figuren in ihrer Zeitverschleuder-Maschine
an. Doch sie gelangen nicht zu Bewusstsein, sie bleiben auf Trab und singen –
als gegen Ende Leerlauf droht – ein Lied
in einer von Lausund erfundenen Sprache. Es ist die Kunst der Regisseurin,
das Vergehen der Zeit sinnlich erfahren
zu lassen und ihren erkennbaren, lebensnahen Charakteren ein (poetisches) Geheimnis zu bewahren.
„Zeit – Die erschöpfte Schnecke …“ bis 19.5.,
Kammerspiele, Karten unter T. 0800/41 33 440
HA MBUR G ::
Mittels elektroakustischer Analyse erkundeten Klangforscher in den 70er-Jahren das Spektrum
jedes Tons und die feinen Veränderungen im Entstehen, Übergehen, Vergehen; in Anspielung auf den Reise-Charakter ihrer Unternehmung nannte sich
eine 1973 in Paris gegründete Komponistengruppe „L’itinéraire“, Reiseroute.
Vertreter und Nachfolger dieser Schule
standen jetzt in der Reihe „das neue
werk“ auf dem Programm des NDR Sinfonieorchesters.
Gérard Grisey, Kopf der „Spektralisten“, beschäftigte sich in „Le temps et
l’écume“ mit dem Einfluss von Zeit auf
die Wahrnehmung. Seine DX7-Synthesizer aus den 80ern, ein heute rares Kulturgut, durchzogen die Textur wie Pilzhyphen das Brot. Der zackig dirigierende Dima Slobodeniouk hatte im Moderatorengespräch nichts ausgesprochen
„Finnisches“ in Magnus Lindbergs
„EXPO“ ausgemacht, einem virtuos-voluminösen Stück, das der Finne einst
zur Saisoneröffnung für die New Yorker
Philharmoniker schrieb. Tatsächlich erinnerten die schwelgenden Streicherpassagen sehr an Sibelius. Lindberg
lässt stellenweise an Filmmusik denken, wenn Errol Flynn blechlastig befeuert das feindliche Schiff entert. Die
weniger konventionell gesetzten, akzentreichen „Palimpsests“ des einstigen Wunderkinds George Benjamin
machten am meisten Freude. (alt)
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