Peter L. Berger - Im Morgenlicht der Erinnerung

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Peter L. Berger - Im Morgenlicht der Erinnerung
Im Morgenlicht der Erinnerung
Eine Kindheit in turbulenter Zeit
Peter L. Berger
Im Morgenlicht der Erinnerung
Eine Kindheit in turbulenter Zeit
Mit einem Nachwort von Rudolf Bretschneider
Molden Verlag
Inhalt
Einleitung
6
Häuser in Schönbrunner Gelb
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Eine andere Sprache
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Außenseitertum
107
Identitätskarten
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Eine Schule am Meer
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Neumanns Lehrplan
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Gespräche in Stella Maris
173
Persische Gärten
179
Pastor Bergs Bibliothek
186
Wien–Graz–Klagenfurt
Rasse: Österreichisch
192
www.molden.at
Kurzer theoretischer Einschub
197
Umschlaggestaltung: Bruno Wegscheider
Befreiungen
201
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Ruth Pauli
Peter L. Berger heute
ISBN 978-3-85485-219-3
© 2008 by Molden Verlag in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Lektorat: Marion Mauthe
Herstellung: Marion Mauthe
Ein Nachwort von Rudolf Bretschneider
221
Druck: Druckerei Theiss GmbH, St. Stefan
Personenregister
234
Alle Rechte vorbehalten
Auswahlbibliografie Peter L. Berger
240
Einleitung
Verstehen Sie bitte diese Bemerkungen nicht als Ausdruck meiner Demut, das wäre unglaubwürdig, denn
wirklich demütige Menschen tragen diese ihre Eigenschaft
Warum veröffentlicht einer seine Erinnerungen? Die Grün-
nicht vor sich her. Und ich halte mich an das, was Golda
de dafür, die mir zunächst in den Sinn kommen, scheinen
Meir angeblich einmal zu einem ihrer Minister gesagt hat:
mir alle nicht gerade sympathisch. Da wären: Exhibitio-
»Seien Sie nicht so demütig. Dafür sind Sie nicht bedeu-
nismus, also der Drang, sich in der Öffentlichkeit seiner
tend genug.«
Kleider zu entledigen. Oder Größenwahn, also die über-
Ich habe den vorliegenden Text vor drei Jahren geschrie-
spannte Einschätzung der eigenen Wichtigkeit unter der
ben, als ich krankheitshalber das Haus einige Wochen lang
Annahme, dass sich jemand für jedes Detail im Leben des
nicht verlassen konnte. Dieser Hausarrest war selbstver-
Schreibenden interessieren könnte. Und dann Raffgier, also
ständlich langweilig und ich suchte etwas, das die leeren
die Hoffnung, viel Geld mit der Veröffentlichung zu verdie-
Stunden füllen konnte. Was aber viel wichtiger war: Derar-
nen. Aber ist das nicht eine Folge des erwähnten Größen-
tige Lebensabschnitte zwingen einem Menschen, der wie
wahns? Und da ist dann noch die Enthüllung, wenn man
ich beinahe ein Patriarchenalter erreicht hat, das heftige
meint, wirklich überraschende, sehr wichtige Geheimnisse
Gefühl der eigenen Endlichkeit auf. Auf ganz eigenartige
offenbaren zu können.
Weise lassen Kindheitserinnerungen dieses Gefühl erträg-
Manche sind überzeugt, dass die eigenen Lebenserfah-
licher werden. So wie der tröstliche Satz, der meine Kind-
rungen auch für andere wichtig sein können. Und für mich
heit begleitete: »Wein’ nicht, alles wird gut«, liefert uns
trifft nur der letztgenannte Grund zu. Ich bin kein Exhi-
der Glaube die endgültige Rechtfertigung. Schon die mit-
bitionist, mein natürlicher Hang zum Größenwahn, den
telalterliche Mystikerin Juliana von Norwich sagte: »Und
eigentlich jeder Intellektuelle hat, ist durch einen sicheren
alles wird gut. Und alles wird gut. Und jedes Ding wird
Instinkt fürs Lächerliche gezügelt. Und bedauerlicherwei-
gut.« Diese Verse könnte man als kosmisches Wiegenlied
se habe ich nur sehr triviale »Geheimnisse« zu enthüllen.
verstehen. Vielleicht ist das der Grund, warum Kindheits-
Ich habe anfangs bezweifelt, dass aus meinen autobiogra-
erinnerungen angesichts der Sterblichkeit Kraft verleihen
fischen Grübeleien wirklich Fundiertes zu erfahren wäre.
können.
Ich habe auch gezögert, meine Erinnerungen zu veröffent-
Als ich wieder gesund wurde, legte ich das Manuskript
lichen, denn immer noch hege ich so manchen Zweifel
in einen Aktenschrank. Nur zwei Menschen bekamen es
über deren Nützlichkeit für die Allgemeinheit.
zu lesen – mein älterer Sohn Thomas und meine Frau
6
7
Brigitte. Ich dachte damals noch nicht daran, daraus ein
Zukunft jeder menschlichen Gesellschaft davon abhängt,
Buch zu machen. Ich muss Rudolf Bretschneider dafür
dass sich die Mehrheit dieser nachgerade hohepriesterli-
danken – oder ihm auch den Vorwurf machen –, dass er
chen Rolle stellt.
mich ermutigt hat, überhaupt an eine Veröffentlichung zu
Auch meine keineswegs friktionsfreihe Beziehung zu
denken. Denn würde ich die erste Frage zur Prämisse ma-
Österreich fiel mir beim Wiederlesen auf – sie ist wohl
chen, die mein Lehrer Alfred Schütz als Vorsitzender eines
der Grund dafür, dass sich ein österreichischer Verlag für
Promotionskomitees stets stellte, wäre mein Erinnerungs-
das Buch interessierte. Friedrich Torberg stellt in seinem
band nicht erschienen. Denn er meinte: »Sagen Sie uns
Roman über den mittelalterlichen jüdischen Minnesänger
in weniger als zwanzig Minuten, was Sie erforscht haben,
Süßkind von Trimberg die Hypothese auf, dass man dort
und sagen Sie uns nur das, was jeden interessieren sollte.«
zu Hause ist, wo man seine Kindheit verlebt hat. Ich glau-
Die Lektüre der folgenden Seiten benötigt mehr als zwan-
be nicht, dass das eine allgemeingültige Aussage ist. Man-
zig Minuten. Und was daran interessant ist, wird vom Le-
che Menschen fühlen sich ihr ganzes Leben lang gerade
ser zu beurteilen sein.
von dem Ort abgestoßen, wo sie Kind gewesen sind. Bei
Als ich das Manuskript wieder zur Hand nahm und er-
mir ist das eindeutig nicht der Fall. Ich verließ Wien, als
neut durchlas, fiel mir auf, dass besonders die ersten Ab-
ich neun Jahre alt war, und mit 26 kam ich erstmals wieder
schnitte eine ausführliche Danksagung an meine Eltern
zurück. Ich fühlte mich gleich wieder zu Hause, obwohl
sind. Ihre Liebe und Fürsorge haben mir einen gewalti-
ich Erinnerungen an die Zeit nach dem »Anschluss« hatte,
gen Schutzwall gegen Ängste geschaffen, die mich sonst
die alles andere als angenehm waren. Ich habe sie weder
schwer belastet hätten. Sie stellten sich zwischen mich
verdrängt noch verleugnet, aber die Straßen und Häuser
und die potenziell mörderischen Mächte der Geschichte.
– vom Klang der Sprache erst gar nicht zu reden – konnten
Und so hatte ich trotz aller politischen und gesellschaftli-
mir das Glücksgefühl meiner Kindheit zurückbringen. Na-
chen Bedrohungen eine glückliche Kindheit. Dabei muss
türlich ist Wien nicht der einzige Ort auf der Welt, wo ich
man sich klar vor Augen halten, wie wichtig der elterliche
heimisch bin. Daneben gibt es den mütterlichen italieni-
Einfluss auf die Zukunft ihrer Kinder ist. Sie allein können
schen Anteil meiner Kindheit, und es gibt Amerika, wo ich
dem jungen Menschen die Wege ebnen oder verbauen. Es
mich mein ganzes Erwachsenenleben lang wohl gefühlt
leuchtet ein, dass sich manche junge Menschen angesichts
habe. Es gibt auch noch andere Orte überall auf der Welt,
dieser Verantwortung dazu entschließen, keine Kinder
wo ich prägende Erfahrungen gemacht habe. Und es gibt
zu bekommen. Aber es ist ebenso einleuchtend, dass die
Orte, an denen ich mich zwar nicht zu Hause fühle, die
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mir aber sehr nahe sind und von denen ich weiß, dass sie
Klassiker gewordenes Buch Der Habsburgische Mythos in
mir Heimat sein könnten.
der österreichischen Literatur.
Und trotzdem: Wien spielt eine besondere Rolle, wenn
Ist das von Interesse jenseits der Besonderheiten meiner
es ums Sich-zu-Hause-Fühlen geht. Wobei ich keinerlei ro-
Biografie in der Auseinandersetzung mit einem Land, das
mantische Vorstellungen von Österreich habe. Zu einem
große Identitätsprobleme hatte? Ich glaube doch, denn es
bestimmten Grad decken sich also Torbergs Aussagen mit
kann als Beispiel eines viel allgemeineren Phänomens die-
dem, was ich erlebt habe. Auch das könnte von allgemei-
nen: Dafür, wie die Vergangenheit – ob tatsächlich oder
nem Interesse sein.
verklärt – Teil der Gegenwart wird. Auf der persönlichen
Doch meine Beziehung zu Österreich ist viel komplexer
Ebene zeigt sich das in der Art und Weise, wie die Welt der
und an und für sich recht eigen. Da ist einmal die Bezie-
Großeltern im Bewusstsein ihrer Enkel weiterwirkt. Das
hung, die ich zum alten Österreich vor 1918 habe. Das ist
ist natürlich nicht immer wünschenswert. Manche Groß-
eine Welt, wie sie mir mein Vater weitergegeben hat, und
eltern können nur sehr Negatives weitergeben. Andere
deren Bild durch die Lektüre historischer und literarischer
Welten aber – und wieder spielt es keine Rolle, ob sie in
Werke noch klarer vor mir steht. In dieser Hinsicht bin ich
Wirklichkeit oder in der Fantasie so existierten –, andere
mir eines gewissen illusionistischen Elements durchaus be-
Welten sind besser.
wusst. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich zwischen 1890
Schließlich und endlich bin ich davon überzeugt, dass es
(als mein Vater geboren wurde) und 1918 ein zufriedener
ein schmerzliches Aufeinandertreffen von Weltgeschichte
Untertan der Habsburger Monarchie gewesen wäre. Diese
mit jeder Kindheit gibt, das jedes Individuum prägt. Vie-
eigenartigen nostalgischen Gefühle für eine für mich unbe-
les, was in dessen Lebenszeit geschieht, entzieht sich der
kannte Welt haben natürlich keinerlei politischen Konnex.
Kontrolle des Individuums, wird vom Schicksal diktiert
Würde ich sie in Worte fassen wollen, so bediente ich mich
und nicht freiwillig gewählt. Und trotzdem eröffnet dieser
wohl eines Zitats aus Robert Musils Mann ohne Eigen-
Umstand die Gelegenheit, sich willentlich zu entscheiden:
schaften (auch wenn er sie in einem ganz anderen Kontext
eine davon ist die Identitätsfindung; ich bezweifle, dass
verwendet): »Ein entsprungenes Gleichnis der Ordnung«.
alle Menschen diese Möglichkeit haben. Immer noch gibt
Anders gesagt, ist die Monarchie – romantisiert oder nicht
es Individuen, die keine Alternativen zu der Biografie ha-
– für mich gedanklich ein Symbol für Ordnung. Und mit
ben, die die Umstände ihnen auferlegt haben. Aber auch
dieser Einschätzung bin ich nicht allein; als Beispiel für
wenn sich jemand frei entscheiden kann, braucht es dazu
viele andere erinnere ich hier nur an Claudio Magris’ zum
die Erfahrung, was Freiheit überhaupt ist. Solche Augen-
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blicke muss man genießen und immer wieder danach su-
ben sehr einschneidend – bei der ethnischen und bei der
chen. Jean-Paul Sartre hat postuliert, dass der Mensch zur
religiösen Zugehörigkeit. Ich habe nicht die Entscheidung
Freiheit verdammt ist. Als allgemeines anthropologisches
getroffen, als Sohn jüdischer Eltern geboren zu werden,
Theorem ist das mehr als zweifelhaft. Aber als Beschrei-
mit allen Konsequenzen, die das nach dem »Anschluss«
bung der Situation des modernen Menschen ist es plausi-
hatte. Eben so wenig habe ich die Entscheidung getroffen,
bel. Meine eigene Lebensgeschichte mit all ihren Idiosyn-
in Palästina zu landen und dort während prägender Jahre
krasien ist eine Fallstudie dieser Situation. Auch als solche
meines Lebens festzusitzen. Es war auch nicht meine freie
kann sie allgemeingültige Einsichten beinhalten.
Wahl, an jener lächerlichen Taufzeremonie teilzunehmen,
Für Machiavelli war das Leben eines Individuums ein
zu der mich meine Eltern in die Kapelle der Britischen Bot-
Drama, das sich aus fortuna und virtus entwickelt – auf
schaft in Wien gebracht haben. Dann aber, mit 16, war
der einen Seite das Schicksal, auf der anderen Seite die
es sehr wohl meine Entscheidung, wie ich mit diesem
Tugend, also der Wille, der sich dem Schicksal entgegen-
Wirrwarr an Identitäten umgehen wollte, als ich in einem
stellt. Man könnte auch ein anderes Bild nehmen: die Di-
entscheidenden Schritt als Nationalität »österreichisch« in
chotomie beim Kartenspiel zwischen dem Blatt, das man
meine Identitätskarte setzen ließ – es war tatsächlich eine
bekommt, und der Entscheidung, wie man damit spielt.
Identitäts-Karte! –, die mir die britische Mandatsbehörde
Jeder Mensch bekommt bestimmte Karten zugeteilt
in Palästina ausstellte. Mit diesem Schritt habe ich mich
– und an ihnen kann er nichts ändern: Niemand kann sich
als nichtjüdisch definiert. Es stand mir frei, das zu tun,
seine Eltern oder seine Großeltern aussuchen. Natürlich
und meine Eltern hätten zu diesem Zeitpunkt nichts da-
kann er sich als Erwachsener gegen sie abgrenzen, ja sich
gegen gehabt. Doch dann wäre mein Leben ein anderes
sogar gegen sein elterliches Erbe auflehnen, aber auch in
geworden. Genauso hätte es einen ganz anderen Verlauf
diesem Fall hinterlässt es unauslöschliche Spuren im ei-
genommen, hätten sich meine Eltern auf dem britischen
genen Wesen. Fortuna meinte es gut mit mir, und ich bin
Konsulat in Triest für ein Visum nach Kenia statt nach Pa-
wirklich bevorteilt worden. Aber mein Leben und alles,
lästina entschieden.
was ich bin und was ich geworden bin, hätte eindeutig
Es ist nicht schwer sich auszumalen, was die Entschei-
ganz anders ausgesehen, hätten sich meine Eltern nicht
dung für eine jüdische Identität für mein Leben ab 16 be-
vor vielen Jahren in einem Kurort an der damaligen »öster-
deutet hätte. Jude-Sein im religiösen Sinn war in meinem
reichischen Riviera« kennen gelernt.
Fall kaum möglich, denn ich hatte keinerlei Erfahrungen
Auf zwei Seiten war diese Dichotomie in meinem Le-
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auf diesem Gebiet. Aber ich hätte mich für ein säkulares
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Judentum entscheiden können. Dann wäre ich vielleicht in
derkehr nach Israel während einer Vorlesungsreise in den
Israel geblieben oder aus Amerika dorthin zurückgekehrt.
1970ern abspielte. Ich aß mit einer sehr netten Dame zu
Vielleicht wäre ich dann jetzt ein emeritierter Professor der
Mittag, deren Institut mich in Jerusalem betreute. Sie bom-
Hebräischen Universität in Jerusalem.
bardierte mich nahezu mit Propaganda über das »Größere
Gerade wegen des jüdischen Elements in meiner Biogra-
Israel« nach dem Sechs-Tage-Krieg. Das irritierte mich zu-
fie habe ich gezögert, diese Erinnerungen zu veröffentli-
nehmend. Es war ganz eindeutig, dass sie mich als Jude
chen. Ich habe viele jüdische Freunde und ich könnte sie
wahrnahm und das schloss in ihrem Denken auch ein, dass
durch die Wahl meiner Identität verletzen, denn schließ-
ich mit ihren politischen Ansichten völlig übereinstimmen
lich ist für die meisten Juden das Bekenntnis zum Ju-
musste. Wie unter Zwang sagte ich zu ihr: Ȇbrigens, ich
dentum sehr wichtig. Ich könnte mich damit sogar dem
bin kein Jude.« Sie verlor ein bisschen die Fassung und
Vorwurf des »jüdischen Selbsthasses« aussetzen. Ich kann
gab zurück: »Und warum finden Sie es nötig, mir das zu
nur wiederholen, dass weder Hass noch Antizionismus bei
sagen?« Ohne nachzudenken antwortete ich etwas grob:
meiner Entscheidung gegen das Judentum mitspielte. Ich
»Um überstürzte Verbrüderungen zu vermeiden.«
habe meine jüdische Herkunft nie verleugnet, auch damals
Wie aus meinem vorliegenden Buch deutlich wird, ist
nicht. In der Schule hatte ich vier Freunde, zwei Juden und
meine nationale Identität sehr stark mit meiner religiösen
zwei Araber. Mein Freund Farid hat einmal einem anderen
verbunden; ich bin zu allererst Christ und dann lutheri-
arabischen Buben erklärt, ich sei »ya’ani« – »sozusagen«
scher Protestant. Das allerdings verdanke ich verschiede-
jüdischer Herkunft. Als Erwachsener habe ich mich nie
nen glücklichen Zufällen – dem unvermuteten Kontakt
bemüßigt gefühlt, besonders darauf hinzuweisen – außer
meiner Eltern mit den protestantischen Missionaren, die
das eine Mal, als ich in den 1950er Jahren zum ersten Mal
mich an die Schweizer Schule auf dem Karmel brachten;
durch Deutschland und Österreich reiste. Damals fühlte
dem Umstand, dass ich Fritz Neumanns Schüler wurde
ich mich moralisch dazu verpflichtet, diese jüdische Her-
(wie viele Fünfzehnjährige werden schon dazu angehal-
kunft zu betonen.
ten, Kierkegaard zu lesen?); und schließlich und endlich
Man könnte sagen, dass ich mich dazu entschlossen habe,
dem Auffinden der Bibliothek, die der erste Pastor der lu-
dass ich mir meine Identität von niemandem aufzwingen
therischen »Deutschen Kolonie« in Haifa zurückgelassen
lasse – nicht von den Nazis, nicht von den jüdischen Na-
hatte. Bei all diesen zufälligen Fügungen hätte ich freilich
tionalisten, von niemandem. In diesem Zusammenhang
auch alle möglichen anderen Entscheidungen treffen kön-
fällt mir eine Episode ein, die sich bei meiner ersten Wie-
nen. Ich habe die christliche und die lutherische gewählt.
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Und auch wenn ich später den Grund für dieser Entscheidungen in Richtung einer viel moderateren theologischen
Einstellung veränderte, war ich niemals gezwungen, sie
zu verleugnen.
Ich habe einmal Werner Stark gefragt, einen sehr produktiven Soziologen, wie es einem Buch gehe, das er gerade
herausgebracht hatte. Er antwortete: »Bücher, die ich veröffentlicht habe, gehen denselben Weg wie die Toten bei
Calvin: Wir können nichts mehr für sie tun, sie sind auf
dem Weg in ihr Verderben.« Sollte dieses Buch nur einige
wenige einfühlsame Leser finden, dann wird es irgendwohin unterwegs sein – aber sicher nicht in sein Verderben.
Boston, Herbst 2007
»Wir stiegen immer beim Volksgarten aus …
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Häuser in Schönbrunner Gelb
seinen Charakter bis ans Lebensende überstrahlte. Noch
bevor ich sprechen konnte (das erzählte man mir zumindest so) begrüßte ich ihn – und zwar nur ihn – mit einem
Jetzt, da der Tag zu Ende geht, beschwöre ich den Morgen,
jubelnden »Iii!« (und man sagte mir auch, dass ihn das
denn ich habe die Hoffnung, dass die Erinnerung an die
sehr gefreut hat). Später, als ich schon der Sprache mäch-
ersten Sonnenstrahlen Kräfte für die Nacht birgt.
tig war, brachte er mir den »Familienpfiff« bei. Das war
Erinnerungen an die Kindheit haben die Klarhei des frü-
eine weit verbreitete Praxis bürgerlicher Wiener Familien:
hen Morgens. Jede Szene, die an die Oberfläche des Ge-
Man pfiff eine bestimmte kurze Melodie aus einer Oper,
dächtnisses dringt, ist in helles Licht getaucht und klar
einer Operette oder aus einem Volkslied, wenn man einem
umrissen. Zumindest bei mir sind sie meist von den beiden
anderen Familienmitglied die eigene Anwesenheit signali-
Menschen überragt, die eine Kindheit ausmachen – über-
sieren wollte. Wahrscheinlich war die Idee dahinter, dass
lebensgroß, scheinbar allmächtig, die Quelle unendlichen
man sich leichter wieder finden konnte, wenn man sich
Vertrauens. Vati und Mutti: Mein ganzes Erwachsenen-
bei einem Waldspaziergang aus den Augen verloren hatte
leben hindurch standen in meinen Notizen die Buchstaben
– was eine beliebte Feizeitbeschäftigung des Wiener Bür-
V. und M. für sie – niemals habe ich diese Abkürzungen
gertums war. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob dieser
für jemand anderen gebraucht. Als mein Sohn Michael zur
absurde Brauch häufig von Nutzen gewesen sein kann; bei
Welt kam, begann ich ihn als MG. zu bezeichnen – ich
uns erfüllte er, jedenfalls soweit ich mich erinnere, niemals
fügte seinen Mittel-Initial zum Anfangsbuchstaben des
diesen Zweck. Aber den »Familienpfiff« zu lernen, das war
Vornamens, um Aufzeichnungen über ihn von jenen zu
ein Moment im Kinderleben, der mich mit ungeheurem
unterscheiden, die M. betrafen. Damals lebte sie noch
Stolz erfüllte. V. hatte eine Notenfolge gewählt, die aus
– aber auch nach ihrem Tod habe ich diese Gewohnheit
dem Repertoire der österreichisch-ungarischen Kavallerie
beibehalten.
stammte, in der er als junger Mann gedient hatte. Es war
Meine ersten Erinnerungen an V. sind untrennbar mit
das Angriffssignal. Über diese ehrwürdige Herkunft unse-
Gerüchen und Geräuschen verbunden. Ich konnte seinen
res Pfiffs wurde ich eingehend informiert. Für mich war
Geruch schon vernehmen, bevor er mich noch hochhob.
V. von klein auf ein Repräsentant jenes entschwundenen
Es war die spezielle Mischung aus dem Duft seines Anzug-
Kaiserreiches, noch bevor ich die leiseste Ahnung von ge-
stoffes und das alles beherrschende Aroma seines Tabaks.
schichtlichen Zusammenhängen hatte. Es musste unge-
Ich muss wohl sein sonniges Gemüt gespürt haben, das
heuer prächtig gewesen sein. In meiner späteren Kindheit
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wandelte sich der Familienpfiff irgendwie in den Radetzky-
Teil der Stadt, zwischen der Josefstadt, wo wir wohnten,
marsch – jenes Stück Militärmusik also, das wie kein ande-
und der Inneren Stadt, wo V. sein Geschäft hatte (zuerst
res die nostalgische Welt der Habsburger verkörpert. (Sie
am illustren Kohlmarkt und später, als er sich die Miete
wurde übrigens von Joseph Roth in seinem gleichnamigen
dort nicht mehr leisten konnte, Ecke Petersplatz). Die Ver-
Roman in literarische Form gegossen.) Ich besitze zwei
bindung zwischen diesen beiden Orten war der J-Wagen
CDs mit diesem Marsch. Fast immer, wenn ich sie höre,
– wie er es auch heute noch ist. Wir stiegen immer beim
steigt in mir ein Schwall schöner Kindheitserinnerungen
Volksgarten aus, wo ich mit meinem Freund Wolfi spiel-
auf, in denen die Figur V.s mit Bildern und Klängen des
te. Unsere Familien waren schon lange Jahre befreundet,
Wien meiner ersten Kindheitsjahre ineinander fließt, aber
die Mütter waren zur gleichen Zeit schwanger gewesen
auch mit jenen der alten Kaiserstadt, die V. mir, der sie
– wenn auch Wolfi einige Monate jünger ist als ich, was
nie selbst erlebt hat, vermittelt hat. Eigentlich wurde ich
mir eine Zeitlang ein Überlegenheitsgefühl gab. Wolfi sagt
dadurch Patriot eines nicht existierenden Landes.
heute noch, dass wir schon befreundet waren, bevor wir
Friedrich Torberg schreibt in seinem Roman Süßkind von
überhaupt auf der Welt waren.
Trimberg, dass man dort zu Hause ist, wo man ein Kind
Der Theseustempel im Volksgarten: Immer versperrt und
war. Ich weiß nicht, ob Torberg damit im Allgemeinen
ohne Fenster, durch die man hätte hineinspähen können,
Recht hat. Für mich aber trifft es zu. Zu keiner anderen
ließ er uns stets vermuten, dass große Geheimnisse darin
Stadt habe ich eine vergleichbare Beziehung wie zu Wien,
wären (auch als Erwachsener habe ich ihn nie offen gese-
und es ist im Grunde eine positive Beziehung. Ich mache
hen). Vom Volksgarten war es nur ein kurzer Spaziergang
mir keinerlei Illusionen über Wien, über Österreich oder
zu V.s Geschäft. Ich freute mich immer auf die Besuche
über die Habsburger Monarchie. Ich weiß alles über die
dort, schon wegen des königlichen Empfangs, den V. und
dunkle Seite der viel gerühmten Wiener Gemütlichkeit, die
seine Angestellten (solange er noch welche hatte) mir be-
mit bösartiger Macht hervorbrach, als Hitlers Wehrmacht
scherten. Es handedlte sich um ein Herrenmodengeschäft,
1938 in die Stadt einmarschierte.
das freilich nie sehr gut ging. V. und M. sprachen oft über
In meiner Kindheit gab es zwei Welten. Eine war in
die finanziellen Sorgen, die es ihnen machte. Wenn V. nach
Wien. Die andere in Italien, wo M.s Familie lebte und wo-
Hause kam, erkundigte ich mich immer, wie das Geschäft
hin man mich jeden Sommer brachte. Die Unterschiede
ging – auch wenn ich das noch nicht richtig aussprechen
zwischen den beiden waren immens.
konnte und stets »Koschäft« sagte.
Meine Wiener Welt betraf nur einen ziemlich kleinen
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Ich war ein Einzelkind und wurde dementsprechend
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verwöhnt – nicht nur von V. und M., sondern auch von V.s
gerne hören wollte, den jeder hatte, der das Gespräch im
beiden Schwestern und ihren Familien, von M.s Schwester
Konsulat annahm. Die Sprache hat sich verändert, seit ich
und ihrem Mann, die in Wien lebten, aber auch von der
Österreich verlassen habe. Und darum klingt mein Deutsch
entfernteren Familie. Natürlich machten wir manchmal
altmodisch in den Ohren derer, die immer dort geblieben
Ausflüge ins Grüne, aber es war nur ein Ort, den ich in
sind. Trotzdem, sobald ich meinen Mund aufmache und
meine Welt einbezog: Pressbaum. Dort hatte das einzige
Deutsch spreche, ist meine Herkunft klar. (Englisch spre-
reiche Familienmitglied, V.s Schwager, eine Villa. In der
che ich mit einem unbestimmbaren mitteleuropäischen
schönen Jahreszeit verbrachten wir manchmal die Wo-
Akzent.) Vor einigen Jahren habe ich in Paris ein Auto ge-
chenenden dort, und ich konnte im großen Garten spie-
kauft und bin damit durch Italien und Österreich gereist.
len. Wieder sind es Gerüche, die mit dieser Erinnerung
Der Wagen hatte französische Nummerntafeln. Als ich
verbunden sind: der Duft des nassen Grases nach einem
zum ersten Mal in Frankreich tankte, machte mir der Tank-
Sommerregen und jener von frisch gesägtem Holz des ört-
wart Komplimente für mein Französisch (vielleicht sollte
lichen Sägewerks. Es muss in Pressbaum gewesen sein,
ich hinzufügen, dass er ein sehr höflicher Mann war). Bei
wo mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen ist, dass
meinem ersten Tankstellen-Stopp in Österreich wollte der
auch der Himmel wie nasses Gras nach einem Sommer-
Tankwart wissen, wieso ich französische Nummerntafeln
regen riechen muss – wovon ich manchmal immer noch
hätte. Vielleicht hat Torberg doch Recht.
überzeugt bin.
V. war ein talentierter Amateurmaler. Am liebsten malte
Jede Kindheit hat einen »Klang an sich«: die Sprache.
er Szenen aus dem Militärleben und einzelne Soldaten mit
In meiner Kindheit gab es zwei Sprachen – jene Wiens
Uniformen und Rangabzeichen der alten Armee, worauf
und jene Italiens. Die Sprache Wiens ist untrennbar mit V.s
er akribische Genauigkeit verwendete. Er unterwies mich
Welt verbunden. Ihr unnachahmlicher Akzent, die Syntax
in all diesen Details, und schon als sehr kleiner Bub war
und das Vokabular sind von jedem, der Deutsch spricht,
ich dadurch Experte in Militärkunde. Ich besitze noch ei-
sofort lokalisierbar. Mein Deutsch ist immer noch davon
nige von V.s Gemälden. Für mich hat er auch viele klei-
durchdrungen. Mir geht dieser Klang nahe. Wohl weil er
ne Soldaten in den Uniformen unterschiedlicher Nationen
in meiner amerikanischen Umgebung so selten vorkommt,
gemalt – Briten, Franzosen etc. Er malte sie auf dickes
freue ich mich immer besonders, ihn zu hören. Oft habe
Papier, schnitt sie aus und schrieb einen Namen auf die
ich den österreichischen Konsul in New York auch ganz
Rückseite jedes Soldatenbilds. Ich legte sie auf den Boden
ohne bestimmten Grund angerufen, weil ich den Akzent so
und inszenierte Schlachten mit ihnen. Wenn einer von ih-
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nen fiel, drehte ich ihn um. Mit großem Talent arbeitete V.
auch mit Karton. Er machte mir kleine Häuser, Schiffe und
Landschaften mit Bäumen. Ich benutzte sie als Kulisse für
die Schlachten, die meine kleinen Armeen schlugen. Im
Sommer, wenn M. und ich in Italien waren, konnte sich V.
höchstens für eine Woche vom Geschäft frei machen und
mit uns kommen. Die übrige Zeit war er allein in Wien,
wo er offensichtlich Langeweile hatte. Deshalb konnte ich
mich jedes Mal auf eine beachtliche Vermehrung meines
von V. gebastelten Spielzeugs freuen. Speziell eine solche
Heimkehr ist mir in Erinnerung geblieben: Wir kamen am
späten Nachmittag vom Bahnhof in unsere Wohnung. V.
führte mich in mein Zimmer und machte Licht. Der größte
Teil des Fußbodens war zu einem Hafen mutiert – da gab es
einige große Schiffe, ich erinnere mich an ein ganz schwarzes und sehr bedrohlich wirkendes Schlachtschiff und an
ein Schiff der Handelsmarine. Aber es gab auch kleinere
Boote. Auf jedem Schiff standen kleine Matrosen an Deck.
Und als Kulisse für den Hafen stand da eine ganze Stadt
– Häuser, eine Kirche, kleine Wägen. Ich begann sofort
mit all diesen Wunderdingen zu spielen und konnte mich
lange nicht losreißen, um schlafen zu gehen.
Im März 1938, als Österreich dem Dritten Reich einverleibt wurde, endete meine Wiener Kindheit abrupt. Aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze waren
wir Juden, obwohl V. und M. Mitglieder der protestantischen Kirche waren. Dass sie Protestanten geworden wa…wo ich mit meinem Freund Wolfi spielte.«
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ren, hatte nichts mit ihrer religiösen Überzeugung oder gar
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einer Bekehrung zu tun, sondern war ein völlig nüchterner
dann sang die ganze Versammlung, offensichtlich spon-
Schritt gewesen. Schon lange vor dem »Anschluss« wurde
tan, das Andreas-Hofer-Lied.
dieser Schritt von Juden und Nicht-Juden als »getauft wer-
Dem Innsbrucker Parteitag folgte eine wahre patrioti-
den« bezeichnet, was schon darauf hinwies, dass religiöse
sche Propagandaflut. Überall wurde die österreichische
Motive dabei keine Rolle spielten. Was es in unserem Fall
Fahne aufgezogen, riesige Plakate forderten auf, mit »Ja«
bedeutet hat, möchte ich an anderer Stelle erzählen.
zu stimmen, über den Rundfunk riefen viele wichtige
Ich war von der abrupten Veränderung unserer Lage er-
Persönlichkeiten (darunter auch Vertreter der verbotenen
schreckt und verwirrt. Die wenigen Monate, die wir nach
Sozialistischen Partei) ebenfalls dazu auf. Ich war sehr
dem »Anschluss« in Wien blieben, waren natürlich angst-
aufgeregt – das patriotische Fieber griff auf mich über.
erfüllt. Obwohl sie sich bemühten, ihre Beklommenheit so
Ich sah eine kleine Parade der Vaterländischen Front, bei
weit wie möglich vor mir zu verbergen, hat sie sich natür-
der »Österreich, Österreich!« skandiert wurde. Eine Volks-
lich auf mich übertragen. Ich war damals neun, aber wohl
abstimmung als solche fand nie statt. Ich weiß nicht, ob
ein recht altkluger Neunjähriger. Ich verfolgte die Nach-
das autoritäre Schuschnigg-Regime überhaupt eine freie
richten und konnte recht gut verstehen, was vor sich ging.
Abstimmung zugelassen hätte. Die Nazis hatten damals
Und ich konnte die Veränderungen auch jedes Mal klar
keine loyale Mehrheit hinter sich (auch wenn eine Mehr-
erkennen, wenn ich außer Haus ging.
heit im Allgemeinen den »Anschluss« enthusiastisch be-
Alle, die ich kannte, auch Wolfis Eltern (die »arisch«,
grüßte, als er erst einmal Realität wurde). Also war es sehr
katholisch und politisch konservativ waren), hofften in-
wahrscheinlich, dass die Abstimmung ganz in Schusch-
brünstig, dass es der Schuschnigg-Regierung gelingen
niggs Sinn ausgegangen wäre. Hitler wollte dieses Risiko
würde, Österreichs Unabhängigkeit zu bewahren. Unter
nicht eingehen. Einige Tage vor der angesetzten Volks-
dem steigenden Druck aus Deutschland entschloss sich
abstimmung hielt er eine Rede, in der er sie als Provoka-
Schuschnigg zu einer verzweifelten Handlung. Er setzte
tion einstufte, den Rücktritt der österreichischen Regierung
eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit an. Er
verlangte und ankündigte, dass deutsche Truppen einmar-
kündigte sie auf dem Parteitag der »Vaterländischen Front«
schieren würden, um sicher zu stellen, dass die Abstim-
– der einzigen zugelassenen Partei im damaligen »Stän-
mung »ehrlich« sein würde. (Eine Abstimmung wurde erst
destaat« – in Innsbruck an. Ich erinnere mich, wie ich
abgehalten, als die Deutschen schon an der Macht waren
seine Rede im Radio hörte und sehr bewegt von ihr war.
und natürlich ging sie aus, wie die Nazis es wünschten.)
Als Schuschnigg endete, brandete langer Applaus auf und
Wieder hörte ich Schuschnigg im Radio sprechen, wie er
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angesichts der Übermacht der deutschen Nationalsozialis-
Figur auf, den Kopf in schwindelnden Höhen. Ihr Gesicht
ten seinen Rücktritt ankündigte. Er sagte, er wolle Blutver-
war eine böse Fratze. Mir war klar: Das ist der Teufel.
gießen vermeiden und beschwor die Bevölkerung, sich der
Im Schlepptau der Deutschen Wehrmacht kam die Ge-
deutschen Armee nicht zu widersetzen. Er endete mit den
stapo. Nun kam es zu Verhaftungen, Gewaltakten gegen
Worten »Gott schütze Österreich!«. Das letzte Mal erklang
Juden auf der Straße, Selbstmorden. Menschen belager-
die österreichische Hymne im Radio. Dann gab es Öster-
ten die ausländischen Konsulate in der Hoffnung, einen
reich nicht mehr. Für die nächsten sieben Jahre war es die
sicheren Ort zu finden, wohin sie sich retten könnten.
»Ostmark«, eine von vielen Provinzen des so genannten
Jetzt weiß ich natürlich viel darüber, was in diesen Tagen
»Großdeutschen Reichs«. Und mit Österreich verschwand
und Wochen passierte, aber damals als Kind nahm ich nur
das Wien meiner Kindheit. Aus der Stadt der Sicherheit
Teile des Terrors wahr, der über der Stadt wütete. V. und
war eine Stadt der Bedrohung geworden.
M. versuchten so gut wie irgend möglich, all das von mir
Ich kann mich gut an die Tage zwischen Schuschniggs
fern zu halten. Doch ich erinnere mich, dass ich nicht nur
Rücktritt und der Ankunft der deutschen Truppen erin-
erschreckt, sondern auch fasziniert von all den Verände-
nern. Wahrscheinlich war ich die meiste Zeit zu Hause,
rungen war, die ich beobachtete. Dank der Unterweisung
aber ich erinnere mich an den Anblick von Wiener Poli-
durch V. hatten mich Uniformen immer fasziniert. Auch in
zisten, die Hakenkreuzschleifen über ihre Uniformärmel
Italien hatten mich die verschiedenen Uniformen immer
gezogen hatten (die Uniformen wurden erst später an die
interessiert. Jetzt gehörte meine ganze Aufmerksamkeit
deutschen angepasst). Im Radio hörte man jetzt natürlich
den neuen Uniformen in den Straßen Wiens – Uniformen
Nazi-Propaganda und Nazi-Lieder. Die Luftwaffe überflog
der Deutschen Wehrmacht, der SS und der SA, der Hitler-
Wien; immer wieder hörte ich ihr lautes Dröhnen am Him-
Jugend. Auch die neuen Lieder faszinierten mich. Einige
mel. Als die Deutsche Werhmacht die Grenze überschritt,
davon brachte man uns in der Schule bei. Und bis heute
wurde ihr Vorankommen im Radio übertragen. Sie traf auf
sind mir einige im Gedächtnis geblieben. Ich wusste na-
keinerlei Widerstand, bewegte sich aber langsam vorwärts.
türlich, dass ich von all dem ausgeschlossen war, ja ich
Sie brauchte zwei Tage, bis sie Wien erreichte. Die lebhaf-
glaube, dass ich gar nicht dazu gehören wollte; ich wollte
teste Erinnerung aus diesen Tagen ist ein Traum: Es war
einfach unbehelligt bleiben. Trotzdem: Das alles war span-
ein stiller, wohl früher Abend. Ich schaute über die Stadt
nend. Ich weiß nicht warum, aber besonders blieb mir das
mit der vertrauten Silhouette des Stephansturms in der
neue deutsche Geld in Erinnerung, das die österreichische
Mitte. Bedrohlich tauchte über der Stadt eine riesige, rote
Währung ersetzt hatte. Die Münzen schienen heller und
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schwerer. Viele Jahre später, als ich zum ersten Mal in mei-
wo wir wie immer den Sommer hatten verbringen wollen.
nem Erwachsenenleben nach Deutschland kam und an der
Onkel Willi traf uns am Grenzbahnhof, mit dem Faschis-
Grenze zu Frankreich mein Geld in D-Mark eintauschte,
tenabzeichen, weil er sicher gehen wollte, dass wir über
machte diese damals noch ziemlich junge Währung einen
die Grenze kamen. Es gelang uns und das war der Beginn
ähnlichen Eindruck auf mich. Die Münzen fühlten sich
eines völlig anderen Lebensabschnitts.
schwerer und heller an. Das rief die Kindheitserinnerung
Wie immer, wenn wir nach Italien reisten, fuhren wir
in mir wach, aber ich konnte nichts mit dieser Assoziation
vom Südbahnhof ab. Wir hatten sehr wenig Gepäck, weil
anfangen: Sie erschreckte mich nicht.
wir den Eindruck erwecken wollten, wir wären nur ganz
Kurz nach dem »Anschluss« kam Onkel Willi, M.s Bru-
gewöhnliche Touristen, die in die Ferien aufbrachen. Teile
der, aus Italien nach Wien. Auf seinem Revers trug er das
unseres Besitzes hatten wir einer Spedition anvertraut,
Parteiabzeichen der Faschisten. Ich fragte ihn, was er tun
die sie nach Italien bringen sollte (wir haben nie wieder
würde, wenn er auf der Straße angepöbelt und man ihm
etwas davon gesehen). Es war Abend. Der Zufall wollte
den Nazi-Gruß abverlangen würde. Er meinte, dass er die
es, dass eine große HJ-Gruppe in denselben Zug einstieg,
Hand zum Faschisten-Gruß heben (was im Übrigen die
offensichtlich auf dem Weg zu irgendeinem Ausbildungs-
gleiche Armbewegung wie beim Hitler-Gruß war) und
lager. Sie waren ein ungestümer Haufen in brandneuen
dazu »Evviva il Duce!« rufen würde. Das machte mich
Uniformen und braunen Hemden mit Hakenkreuzbinden.
zornig, denn das Italien des Duce hatte Hitler nicht daran
Sie sangen ihre Lieder. Einige dieser HJ-Burschen waren
gehindert, Österreich zu annektieren (anders als vier Jah-
genauso alt wie ich. Sie waren der letzte Eindruck, den ich
re davor, als Italien sich anschickte, Österreich nach dem
aus Wien mitnahm.
Nazi-Putsch, im Zuge dessen Dollfuß ermordet wurde, zu
V. kam nie mehr nach Wien zurück. Nach dem Krieg, als
Hilfe zu eilen). Onkel Willi verschaffte sich nur einen kur-
er in New York lebte, korrespondierte er mit verschiedenen
zen Eindruck von der Situation. Dann sagte er zu V. und
Personen in Wien. Er hatte wohl vor, seine Heimatstadt zu
M., dass wir so schnell wie möglich weg müssten, koste es,
besuchen, aber seine schlechte Gesundheit hielten in von
was es wolle. V. verkaufte also sein Geschäft mit enormem
diesem Vorhaben ab. M. fuhr ein- oder zweimal nach Wien
Verlust – was freilich nicht wirklich etwas ausmachte, weil
zurück. Es machte ihr zwar Freude, alte Freunde zu treffen
Emigranten aus dem Reich den neuen Bestimmungen zu-
(auch Wolfis Mutter), aber sie hat Wien nie wirklich ge-
folge nur eine sehr kleine Geldsumme mitnehmen durf-
liebt und darum war dieser Besuch, so weit ich das beur-
ten. Zu unserem Glück hatten wir gültige Visa für Italien,
teilen kann, auch keine besonders gefühlsbetonte Sache.
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Ich kam das erste Mal im Sommer 1955 wieder nach
ren die Gebäude wieder so hergestellt, wie sie vor dem
Wien. Ich war 26, amerikanischer Staatsbürger, erst kürz-
Krieg ausgesehen hatten. Zumindest dieser Teil von Wien
lich aus der U.S. Army entlassen und (ebenfalls erst seit
sah fast genauso aus, wie ich ihn aus meinen Kinderta-
kurzem) frisch promovierter Doktor der Soziologie. Eigent-
gen in Erinnerung hatte. Mascha Breunig, Wolfis Mutter,
lich hatte mich schon davor eine kurze Reise nach Öster-
meinte: »Du musst Dich ja wie verzaubert fühlen!« Und
reich geführt. Ich hatte für die Evangelische Akademie Bad
tatsächlich: Meine Spaziergänge verliefen manchmal wie
Boll in Württemberg ein Forschungsprojekt übernommen,
im Traum. Natürlich, da waren die großen öffentlichen Ge-
doch bevor die Arbeit beginnen sollte, blieb mir noch et-
bäude – der Stephansdom, das Parlament, die Hofburg und
was Zeit. Ein Mitarbeiter der Akademie wollte zu einem
die großen Museen. Aber es gab auch viel intimere Wie-
protestantischen Jugendlager in den österreichischen Al-
derbegegnungen – da waren die beiden Geschäftslokale,
pen fahren und lud mich ein, mit ihm zu kommen. Er fuhr
die V. gehört hatten, das frühere Geschäft meines Großva-
mit seinem schrottreifen Volkswagen mit halsbrecheri-
ters an der eleganten Kärntnerstraße, das jetzt seiner »ari-
scher Geschwindigkeit, weil er vor Einbruch der Dunkel-
schen« Witwe gehörte (über dem Eingang prangte noch
heit ankommen wollte. Wir schafften es dann aber doch
der Name »Carl Hermann Berger«), der Volksgarten, wo
erst in der Nacht. Die Grenze war nicht besetzt, und so
ich als Kind gespielt hatte, mit seinem geheimnisumwitter-
fuhren wir einfach hinüber. Plötzlich beleuchteten unsere
ten Theseustempel. Das Spielzeuggeschäft Kober war noch
Schweinwerfer ein Schild. Darauf waren der österreichi-
da, wohin meine Eltern immer mit mir gegangen waren,
sche Adler (etwas modifiziert gegenüber dem Adler der
wenn sie mich für gutes Benehmen belohnten, und auch
Dreißiger Jahre) und eine Aufschrift: Republik Österreich.
die Konditorei Sluka, wo es die köstlichen Schokoladesta-
Das Schild verschwand gleich wieder im Dunkeln, aber
nitzel gab. Sie waren in Schokoladekuvertüre getaucht und
die Tatsache, dass ich wieder auf österreichischem Gebiet
mit Schokoladecreme gefüllt. Dieses Wiener Musterbei-
war, bewegte mich tief. Das Lager hatte freilich nichts mit
spiel für ungesunde Süßigkeiten, bekannt als Slukaspitz,
Österreich zu tun, dort waren nur langweilige deutsche
war das absolute Lieblingsgebäck meiner Kinderjahre, das
Teenager und ihre ebenso langweiligen Betreuer.
ich immer nur zu ganz besonderen Anlässen bekommen
Später im Sommer nahm ich den Zug nach Wien. Ich
hatte. Also ging ich in die Konditorei und bestellte einen
quartierte mich in der Innenstadt ein und ging auch haupt-
Slukaspitz, der selbstverständlich prompt serviert wurde.
sächlich dort spazieren. Zu diesem Zeitpunkt waren die
Eigentlich nicht weiter überraschend erschien er mir jetzt
Kriegsschäden bereits beseitigt – mit großer Sorgfalt wa-
aber viel kleiner (vielleicht war er es auch), und sein Ver-
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zehr gab eindeutig kaum noch Anlass zur Ekstase. Auch
traumwandlerische Rückkehr eine grundsätzlich positive
die Straßenbahnen gab es noch, stromlinienförmiger als
Erfahrung war. Diese angenehmen Erinnerungen konn-
früher, aber immer noch rot. Und die Polizisten trugen die
ten offensichtlich ganz friedlich neben den sehr negativen
gleichen Uniformen wie in den Tagen, als sie noch nicht
an die Tage unserer Abreise aus Wien bestehen. Und es
Schupos nach deutschem Muster geworden waren.
gab Orte, die ich mit solchen Erlebnissen verbinde: Der
Ich fuhr mit dem J-Wagen in den achten Bezirk zu unse-
Rathausplatz, nahe der Konditorei Sluka, wo V. und ich
rem alten Wohnhaus in der Piaristengasse. Im Erdgeschoss
einmal in eine gewalttätige Nazi-Demonstration geraten
war in meiner Kindheit ein Bandagist gewesen, der eigen-
waren. Der Michaelerplatz bei der Hofburg, wo die Natio-
artige Verbände und Beinprothesen in der Auslage ausstell-
nalsozialisten über dem Eingang des Looshauses eine Art
te, was mich als Kind immer geängstigt hatte. Das Geschäft
Heiligenschrein mit einem Hitler-Porträt und Hakenkeuz-
war immer noch da. Ich nahm den Fahrstuhl zu unserer
fahnen angebracht hatten. Sturmbannführer flankierten
alten Wohnung und läutete an. Eine freundliche Dame
ihn. Jeder, der vorbeiging, musste den Hitler-Gruß leisten.
mittleren Alters öffnete. Ich erklärte ihr, dass ich als Kind
Also hatte man mich angewiesen, dem Ort niemals auch
in dieser Wohnung gewohnt hatte, und bat, sie mir anse-
nur in die Nähe zu kommen.
hen zu dürfen. Sie erlaubte es sofort. Ich ging durch die
Bei meinen Spaziergängen als Erwachsener beobachtete
Wohnung, die (natürlich) viel kleiner war, als ich sie in Er-
ich nun die Passanten, die Mitte Dreißig oder älter wa-
innerung hatte, aber da war nichts, was vertraut auf mich
ren, und rätselte, welche Untaten sie vielleicht vor zehn
wirkte. Ich schlenderte dann in der nächsten Umgebung
Jahren begangen hatten. Auch in Deutschland beschäftigte
umher, vorbei an meiner alten Volksschule in der Lange
mich das immer. (Die angenehme Seite meiner Reisen
Gasse zur Piaristenkirche, in die mein Kindermädchen Lisi
nach Österreich und Deutschland seither ist, dass solche
immer gegangen war. Aber außer diesen beiden Orientie-
unangenehme Gedanken nur mehr durch sehr alte Men-
rungspunkten stieß ich auf nichts Bemerkenswertes. Den-
schen hervorgerufen werden.) Aber ich war nicht nach
noch umhüllte mich auf diesen Pilgerwegen die Sprache
Wien gekommen, um Wunden wieder aufzureißen oder
wie eine behagliche Decke, egal ob es Hochdeutsch mit
Rachegefühle zu kultivieren. Ich war gekommen, um mei-
Wiener Akzent oder Dialekt war. Wenn ich sprach, kam
ne Kindheit und damit V.s Welt wieder zu erleben. Und
diese Sprache ganz natürlich auch von meinen Lippen,
das ist mir bestens gelungen.
und so wurde ich als Einheimischer wahrgenommen.
Schon diese wenigen Details zeigen, dass meine leicht
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Ich glaube, dass meine Fähigkeit, die Erinnerungen an
1938 auszuklammern, viel mit den Menschen zu tun hat,
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die ich bei meiner ersten Rückkehr besucht habe. Zum Bei-
rigens stets stolz darauf, persönlicher Lieferant des Kaisers
spiel mit Tante Kitty, V.s »halbjüdischer« Stiefschwester,
zu sein – k.u-k.-Hoflieferant war zu jener Zeit eine Aus-
und ihrer Familie. Sie hatte es während des Krieges sehr
zeichnung, aber die persönliche Belieferung für die kaiser-
schwer gehabt, und logischerweise war sie weit davon
liche Familie war ein noch größeres Privileg.
entfernt, mit den Nazi verstrickt gewesen zu sein. Oder
Als ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben
mit einigen Sozialwissenschaftern und Theologen, deren
auf den Petersplatz kam, wurde mir plötzlich klar, dass
politischer Hintergrund mir bekannt war. Vor allem aber
dieses Haus eine Metapher für die Weiterentwicklung der
ist es wohl den Breunigs zu verdanken, Wolfis Familie, die
bürgerlichen Berufe aus den Handwerksberufen ist, denn
mich überschwänglich und liebevoll willkommen hieß.
noch immer war dort die Bäckerei mit ihrem ebenerdi-
Seit damals ist das Haus der Breunigs am Petersplatz das
gen Verkaufslokal angesiedelt. Eine Treppe höher war die
Zentrum meines »Erwachsenen«-Wien.
Rechtsanwaltskanzlei von Wolfis Vater und darüber die
Der Petersplatz liegt hundert Meter vom Stephansplatz
Wohnung. Wolfi, der Ingenieur geworden war und eine
entfernt und ist eine von Fußgängerzonen umgebene be-
Ärztin geheiratet hatte, wohnt bis heute in diesem Haus, in
lebte Ecke im Zentrum der Innenstadt. In der Mitte die
das er als 14-Jähriger einzog. Seine Kinderzeit verbrachte
Peterskirche, dieser schön dimensionierte Bau mit Barock-
er in der Wipplingerstraße, wo ich ihn häufig besuchte.
kuppel, wo jetzt, meines Wissens nach, Opus Dei ein Zen-
Über die Jahrzehnte waren vier Generationen der Breunigs
trum hat. Das Breunig-Haus liegt schräg gegenüber jenem,
hier ein- und ausgezogen. Auch jetzt, während ich dieses
in dem V. sein letztes Geschäft hatte. 1955 war dort ein
Buch schreibe, leben in diesem Haus Wolfi und seine Frau,
Modegeschäft, seither gab es einige Inhaber- und Bran-
seine Tochter mit ihrem Mann und drei Kindern. Breunig
chenwechsel. Das Haus der Breunigs hat in seinen Grund-
junior wohnt mit seiner Familie nicht weit entfernt und
mauern Ziegel aus der Römerzeit, seine heutige Fassade
besucht häufig das Elternhaus.
stammt aus dem 18. Jahrhundert und beherbergte eine
Ich glaube, Wolfi und ich beneiden uns gegenseitig: Ich
Bäckerei, in der – laut einer lokalen Legende (die von den
beneide ihn um die erstaunliche Kontinuität und Stabili-
Hauseigentümern eifrig genährt wurde) – schon Mozart
tät seines Lebens, und er beneidet mich um das, was ihm
sein Frühstücksgebäck gekauft haben soll (was recht un-
als nicht weniger erstaunliches Weltbürgertum erscheinen
wahrscheinlich klingt). Wolfis Großvater, ein Bäcker, hat
muss.
das Haus Ende des 19. Jahrhunderts erworben und seit
Die Bäckerei gab es auch noch, als Wolfi schon seine er-
damals blieb es im Familienbesitz. Johann Breunig war üb-
folgreiche Laufbahn als Ingenieur eingeschlagen hatte. Es
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wurde auch erwartet, dass er sie übernehmen würde. Ich
erinnere mich, wie er am Abend, wenn er aus der Arbeit
kam, an seinem Tisch saß und Riesenmengen kleiner Münzen zählte, die die Bäckerei tagsüber eingenommen hatte.
Das ganze Haus duftete nach frischem Brot, und das Rumpeln der Backöfen verstummte auch in der Nacht nicht. Irgendwann hatte Wolfi genug davon. Er schloss die Bäckerei und vermietete das Geschäftslokal an eine Schneiderin.
Mascha Breunig lebte damals noch. Sie sagte mir: »Weißt
du, ich vermisse die Geräusche der Nacht.« Ich vermisste
den Duft. Sogar jetzt noch glaube ich manchmal, wenn
ich das Haus betrete, dass ich einen schwachen Überrest
davon wahrnehmen kann, ein sinnliches Phantom meiner
glücklichen Kindheit.
Mein Großvater, Carl Hermann Berger, kam als junger
Mann aus Zuberec, einem slowakischen Dorf im damaligen Ungarn, nach Wien. Sein Vater betrieb dort eine Art
Gemischtwarenhandlung. Er muss wohl das, was man damals Schnapsjude nannte, gewesen sein – ein Kaufmann
mosaischen Glaubens, der Spirituosen verkaufte. V. war
als Kind einmal dort gewesen und erinnerte sich an einen
abstoßend schmutzigen Ort mit ungepflasterten, schlammigen Straßen und heruntergekommenen Häusern. Zuberec ist heute ein stark frequentierter Fremdenverkehrsort
am Fuß der Hohen Tatra.
Carl Hermann war Schneider und, allem Anschein nach,
ein guter Schneider. Er hatte in Wien innerhalb kürzester Zeit einen so großen Erfolg, dass man ein dunkles
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»Das ganze Haus duftete nach frischem Brot«:
Bäckerei Johann Breunig auf dem Petersplatz, 1950
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Geheimnis dahinter witterte. Der Klatsch wollte wissen
Ehe zu entkommen, angeblich, nachdem Carl Hermann ihr
(so erzählte mir zumindest V.), dass die Frau, die meine
gesagt hatte, dass eine Scheidung nicht in Frage kommt.
Großmutter werden sollte (sie hieß Ida und stammte aus
Fotografien und das Ölgemälde, das ich noch immer be-
einer deutschen Familie), von einem Mitglied des Hocha-
sitze, zeigen Carl Hermann als attraktiven Mann, der zur
dels schwanger geworden wäre. Man hätte Carl Hermann
Unterstreichung seiner Männlichkeit einen feschen Bart
eine riesige Summe gezahlt, damit er sie heiratete und das
trug und Augen hatte, die gebieterisch in die Welt blickten.
Kind als sein eigenes anerkannte. Ob das wahr ist, kann
Obwohl er nach außen hin großen Wert auf bürgerliche
ich nicht sagen, es erscheint mir allerdings einigermaßen
Ehrbarkeit legte, scheint er seine männlichen Bedürfnisse
unwahrscheinlich. Wie auch immer, Carl Hermann eröff-
nicht nur in der Ehe ausgelebt zu haben. Häufig war er
nete schon bald ein Herrenmodengeschäft auf der Kärnt-
auf Geschäftsreisen, besonders nach London, und Gerüch-
nerstraße und nannte es »Zur Englischen Flotte«, um die
ten zufolge hielt er sich dort eine Geliebte. Seine Frau Ida
solide britische Herkunft der verwendeten Stoffe zu signa-
starb kurz vor oder während des Ersten Weltkriegs. Carl
lisieren. Das Geschäft erwarb einen ausgezeichneten Ruf
Hermann war damals in seinen frühen Sechzigern. Er hei-
für seine maßgefertigten Anzüge und Hemden und wurde
ratete eine achtzehnjährige Angestellte, die in der Familie
von reicher Klientel aus dem In- und Ausland frequentiert.
nur »die schöne Frieda« hieß. Mit ihr zeugte er noch eine
Einer der Kunden war ein russischer Prinz, der einmal im
weitere Tochter. Diese späte Ehe verursachte dann auch
Jahr kam und eine große Menge vorbestellter Waren kauf-
die schmerzlichste Episode in V.s Leben.
te, von denen er einige sofort an das Geschäftspersonal
Mein Vater hieß Georg. Eine Mittelinitiale legte er sich
verschenkte. Carl Hermann war bald ziemlich wohlhabend
erst in Amerika zu, weil er der Meinung war, das wäre dort
und konnte seiner wachsenden Familie einen angenehmen
so üblich. Er nannte sich George W., auch wenn nie zu eru-
großbürgerlichen Lebensstandard bieten. Sie wohnte in
ieren war, was denn das W. bedeuten sollte. Einmal sagte
einer herrschaftlich eingerichteten Wohnung in der Wie-
er, vielleicht im Scherz, dass W. für Wellington stünde. Ein
ner Innenstadt und verbrachte die Sommer in Baden bei
andermal bemerkte er, dass Präsident Harry S. Trumans
Wien.
»S.« keine Abkürzung wäre und er sich daher berechtigt
Carl Hermann hatte vier Kinder, die bis ins Erwachse-
fühle, ebenfalls eine Mittelinitiale zu führen. V.s Freunde
nenalter lebten (zwei weitere starben sehr früh), drei Töch-
nannten ihn Schorsch, sein Kosename aus der Wiener Zeit,
ter und V. Die älteste Tochter (über die es den erwähnten
M. benützte die Verkleinerung – Schorschi.
Klatsch gab) beging Selbstmord, um einer unglücklichen
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Als einziger Sohn galt V. immer als künftiger Erbe der
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»Flotte«. Sein Vater nahm ihn regelmäßig ins Geschäft mit,
des Fin de Siècle verklären. Dass man sie eher skeptisch
wo ihn das Personal bewunderte und verwöhnte. Gleicher-
betrachten muss, ist wohl gar nicht nötig anzumerken. Ich
maßen wurde er auch in der Familie verwöhnt, besonders
habe die dunkle Seite der Wiener Gemütlichkeit schon er-
von seinen Schwestern. Er lernte schon sehr früh alles,
wähnt – und auch darüber wurden Bücher geschrieben (es
was man als Herrenausstatter wissen musste, er kannte
seien hier nur die leidenschaftliche Kritik und die Satiren
auch alle Regeln des guten Geschmacks, vor allem die Her-
von Karl Kraus erwähnt, der die Wiener Gesellschaft eben-
renmode seiner Zeit betreffend. Er hatte zwei Gouvernan-
so verachtete wie liebte). Es ist jedoch glaubhaft, dass das
ten, eine »Miss« und eine »Mademoiselle«, die ihm Eng-
Leben damals für einigermaßen wohlhabende Mitglieder
lisch und Französisch beibrachten (ich vermute freilich,
des Bürgertums, ob sie Juden waren oder nicht, ausge-
dass sie ihm auch noch andere Lektionen erteilten). Und
sprochen angenehm war. Es gab natürlich Antisemitismus,
so sprach er beide Sprachen fließend. Mit Erfolg schloss er
manchmal auch in seinen hässlichen Ausprägungen, aber
eine Realschule ab, eine naturwissenschaftlich orientierte
man konnte sich dagegen abschirmen, besonders weil der
Ausbildung. Laut Gesetz musste der Inhaber eines Schnei-
Staat und das Gesetz Schutz gewährten. V. konnte sich
dergeschäfts selbst Schneidermeister sein (dieses Gesetz
kaum an antisemitische Erfahrungen in seiner Jugend er-
geht wahrscheinlich auf die mittelalterlichen Zünfte zu-
innern. Der mosaische Glauben wurde in seiner Familie
rück), und so musste V. eine Schneiderlehre machen und
– wenn überhaupt – nur sehr oberflächlich praktiziert und
mit der Meisterprüfung abschließen. Dann wurde er für
das Judentum keinesfalls als wichtiger Teil ihrer Identität
ein Jahr als Volontär zu einem Herrenausstatter nach Lon-
angesehen. Die bürgerliche Gesellschaft damals war he-
don geschickt, damit er eine Legitimation als Repräsentant
donistisch und permissiv. Was den moralischen Anspruch
britischer Mode vorweisen konnte. Ihm ist dieses Jahr als
betrifft, so wurde selbstverständlich mit zweierlei Maß
besonders glücklich in Erinnerung geblieben. Aber auch
gemessen. Von den Mädchen wurde erwartet, dass sie
seine Jugend in Wien war eine sehr glückliche gewesen. Ich
als Jungfrauen in die Ehe gingen (obwohl ich sicher bin,
habe keinen Grund, seine Version dieses Lebensabschnitts
dass auch dabei oft getrickst wurde), während von ihren
in Zweifel zu ziehen: Sein eingefleischter Optimismus und
Brüdern erwartet wurde, dass sie schon vor ihrer Verehe-
seine Lebensfreude, die für ihn so charakteristisch waren,
lichung das weite Feld der Erotik kennen gelernt hatten.
mussten mit diesem Lebensabschnitt zusammenhängen.
Mein Eindruck ist, dass sich damals Wiens Großbürger-
Es gibt zahlreiche Bücher, die die Jahre vor dem Unter-
tum, kaum in den Hafen der Ehe eingelaufen, beeindru-
gang des Habsburgerreiches und insbesondere das Wien
ckend häufig in außereheliche Affären stürzte. In diesem
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Zusammenhang fällt mir eine Bemerkung über diese Peri-
Frieda gut für den alten Mann, der in sie und ihre gemein-
ode in den Memoiren von Peter Drucker ein. Er frage sich,
same kleine Tochter ganz vernarrt war. Es leuchtet ein,
wieso Freud so viele Patienten mit Angstzuständen hatte,
dass er sein Testament nach der Hochzeit mit Frieda ge-
die aus sexueller Verdrängung resultierten, wo doch die
ändert hat. V. war nicht länger der Alleinerbe der »Flotte«.
Gesellschaft überhaupt nicht repressiv war. Mit ironischem
Frieda und er sollten sie gemeinsam erben und gemeinsam
Unterton stellt Drucker folgende Hypothese auf: Das bür-
führen. Jeder beliebige Rechtsanwalt hätte Carl Hermann
gerliche Wien – jüdisch oder nicht – war an sich permis-
sagen können, dass dieses Testament unentrinnbar in eine
siv. Man war aber äußerst besorgt um Status und Geld. In
Katastrophe münden musste.
einer wirtschaftlich so aufgeheizten Stimmung waren viele
V. kam aus dem Krieg heim, während dem er eine kurze
erst kurz zuvor in eine bessere Gesellschaftsschicht aufge-
und sehr unglückliche Ehe eingegangen war, die rasch
stiegen, weshalb tief sitzende Ängste vor dem Verlust die-
geschieden wurde. Carl Hermann starb bald darauf. Eine
ser Position als sexuelle Probleme gedeutet wurden – und
Zeitlang versuchten V. und Frieda Großvaters letzten Wil-
Freud fiel darauf herein.
len zu erfüllen und das Geschäft gemeinsam zu führen,
Der Krieg beendete V.s goldene Jugend. 1914 war er 24.
aber das Testament hatte keinerlei Verfügungen getroffen,
Wie alle anderen tauglichen Absolventen einer höheren
wer wofür zuständig sein und wie der Gewinn aufgeteilt
Schule hatte auch er seinen Militärdienst abgeleistet und
werden sollte. Sehr bald schon lagen sich die beiden Erben
war Reserveoffizier. Also wurde er sofort eingezogen, als
in den Haaren. V. versuchte, das Testament bei Gericht an-
der Erste Weltkrieg ausbrach. Die Kriegsjahre waren sehr
zufechten. Die Verhandlungen zogen sich bis in die zwan-
wichtig für ihn, wovon ich gleich berichten werde. Es war
ziger Jahre (Robert Breunig, Wolfis Vater, war V.s Anwalt).
jedoch Carl Hermanns Frieda, die einen viel tieferen Ein-
An einem bestimmten Punkt tauchte als beste Lösung der
schnitt in seinem Leben verursachte. Vielleicht sollte ich
Misere die Idee auf, dass V. Frieda selbst heiraten sollte
vorausschicken, dass Frieda nach allem, was ich über sie
(sie war ohnehin jünger als er). Noch lange danach amü-
gehört habe (selbst gekannt habe ich sie nicht), keines-
sierte es ihn, sich die abenteuerlichen Familienverhältnisse
wegs eine bösartige Frau gewesen war. Es ist schwer zu
vorzustellen, die eine solche Ehe zur Folge gehabt hätte
glauben, dass sie einen Mann, der alt genug war, ihr Groß-
– er wäre sein eigener Vater und sein eigener Sohn gewe-
vater zu sein, aus Liebe geheiratet hatte (obwohl ich glau-
sen, seine Schwestern seine Stiefkinder und so weiter. Aus
be, dass man in Liebesangelegenheiten überhaupt nichts
dieser Idee wurde natürlich nichts.
apodiktisch ausschließen kann). Nach ihrer Heirat sorgte
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In der Zwischenzeit hatten meine Eltern geheiratet, und
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ihre ersten Ehejahre waren von gerichtlichen Auseinandersetzungen über V.s Erbe überschattet. Endlich wurde
ein Vergleich erzielt, Frieda zahlte V. mit einer stattlichen
Summe aus, dafür verzichtete er auf alle seine Ansprüche
an der »Flotte« und gründete sein eigenes Geschäft. Trotzdem war er stets zutiefst davon überzeugt, dass er betrogen und verraten worden war. Nie mehr sprach er mit Frieda auch nur ein Wort und verlangte vom Rest der Familie,
sie ebenfalls zu meiden. Meine Cousinen, die Töchter von
V.s jüngerer Schwester, erzählten mir manchmal, dass sie
Kitty, die Tochter Carl Hermanns mit seiner zweiten Frau
Frieda, auf der Straße oder im Park gesehen hätten. Allem
Anschein nach war sie ein entzückendes Mädchen, aber
es war uns verboten, mit ihr Kontakt zu halten. Nach dem
Zweiten Weltkrieg begann ein Briefwechsel zwischen V.
und Kitty, die die Familienbande wiederaufleben lassen
wollte. Als Erwachsener habe ich sie mehrmals besucht,
aber V. und Kitty sind einander niemals begegnet. Nach
Friedas Tod erbte Kitty die »Flotte«. Jedes Mal, wenn ich
durch die Kärntnerstraße ging, sah ich mit großer Freude,
wie der Name meines Großvaters immer noch über dem
Eingang prangte. Ich ließ mir sogar einmal einen Anzug
dort anfertigen (es war mein erster Maßanzug). Dann ging
Kitty in Pension und verkaufte das Geschäft an Benetton.
Der Name meines Großvaters war verschwunden.
V. und M. trafen noch vor dem Krieg in Portorose (jetzt
»Frieda zahlte V. mit einer stattlichen Summe aus, dafür verzichtete er auf alle seine
Ansprüche an der ›Flotte‹«: Eintragung der »Englischen Flotte« ins Handelsregister
Wien, 1900
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Portorož, Kroatien) aufeinander, einem Kurort, der im
Habsburger Reich zur »Österreichischen Mittelmeerküste«
47
oder auch »Österreichischen Riviera« gehörte. Dort arbeite-
Assicurazioni Generali in Wien an, einer großen Versiche-
te M.s Vater als Kurarzt (was bedeutete, dass er kaum etwas
rungsgesellschaft mit Sitz in Triest. Die Versicherung gibt
zu tun hatte, sieht man davon ab, dass er die verwöhnten
es immer noch, auch das Wiener Büro in unmittelbarer
Hypochonder aus der damaligen High Society umhegen
Nähe zum Petersplatz. M. und V. heirateten am 6. De-
musste). V. muss damals 23 gewesen sein, M. ungefähr
zember 1923. Sie feierten ihren Hochzeitstag alljährlich,
17. Sie lernten einander am Swimmingpool kennen. V. war
eben am Nikolaustag. Am Tag davor aber war Krampus.
beeindruckt. Mir ist auch klar, warum: Fotografien zeigen
Und jedes Jahr am Hochzeitstag schenkte V. seiner An-
M. als sehr attraktive junge Frau mit der Ausstrahlung
getrauten einen kleinen Krampus – entweder eine Gips-
unschuldiger Frische. V. wirkte gutaussehend, großstäd-
figur oder ein kleines Bild. Sie hatte eine Schachtel voll
tisch und ein bisschen einschüchternd auf sie. Er sprach
von diesen Krampussen. Jahre später malte V. ein großes
sie mit dem besten Wiener Charme an, dessen er fähig
Bild, auf dem er zeigte, was in all den Jahren ihrer Ehe
war, was M. lächerlich und peinlich fand (sie war an die
geschehen war – und über dem Bild eines jeden Jahres
spielerische Verführungskunst der kaiserlichen Hauptstadt
thronte ein Krampus. Ab 1929, also ab dem Jahr meiner
nicht gewöhnt). Weil sie nicht mehr ein und aus wusste,
Geburt, spielte ich die Hauptrolle auf diesen Jahresbildern.
sprang sie ins Becken und schwamm davon. Es muss aber
Und da ich das einzige Kind blieb, waren wir von da an
noch einige weitere Gespräche gegeben haben, denn sie
immer zu viert zu sehen – V., M., ich und der über allem
begannen nach V.s Abreise zu korrespondieren und haben
waltende Krampus.
den Kontakt zueinander nie abreißen lassen. V. erinnerte
Kinder können die Ehen ihrer Eltern nie wirklich be-
sich gerne daran, wie sehr ihn M.s Intelligenz und Bildung
urteilen. Vielleicht gab es Seiten dieser Ehe, die mir nie
in diesen Briefen beeindruckt hatten. Ihm gefiel auch der
aufgefallen sind. Ich glaube aber nicht. Alle meine Erin-
leichte Akzent ihres ansonst fließenden Deutsch und ihr
nerungen deuten darauf hin, dass V. und M. tatsächlich
Name – Jelka – bezauberte ihn (wie sie zu diesem kroati-
glücklich verheiratet waren. M. hat immer wieder gesagt,
schen Vornamen kam, ist wieder eine andere Geschichte).
dass V. nie aufhörte, sie zu amüsieren und zu erheitern.
Nachdem sie im Krieg in Militärspitälern als Kranken-
Er war gesellig, meist der Mittelpunkt jeder Gesellschaft,
schwester gearbeitet hatte, kam M. 1918 ganz allein nach
und ein unermüdlicher Witze-Erzähler. (Er ermutigte mich
Wien, ihre Familie blieb in Triest (das gerade an Italien
von klein auf, auch Witze zu erzählen. Ich befolgte die-
gefallen war). Ich weiß nicht, warum sie sich zu diesem
sen Rat fleißig. Und mit Genugtuung stelle ich fest, dass
Schritt entschlossen hatte. Sie nahm einen Posten bei den
ich diese Gabe an meinen älteren Sohn und zuletzt auch
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an meine Enkelin weitervererbt habe.) V. starb neun Jahre
asmus. Wien war überschwemmt von Loyalitätskundge-
vor M., sie blieb untröstlich zurück. Auf der anderen Sei-
bungen für den alten Kaiser. So marschierten die Solda-
te konnte V. auf M.s Empathie und auf ihre sanfte Unter-
ten mit stolzgeschwellter Brust an die Front, und überall
stützung ebenso zählen wie auf ihre absolute Loyalität.
herrschte die unerschütterliche Überzeugung, dass dieser
Sie blieben einander rührend ergeben durch viele schwere
Krieg einer gerechten Sache diente – Serbien musste ein
Jahre hindurch – all die Jahre des Kampfes mit Frieda, des
für alle Mal eine Lektion erteilt werden. Man war einhellig
ausbleibenden Erfolges seiner Selbstständigkeit, des tiefen
der Meinung, dass die Kampfhandlungen vor Weihnachten
Einschnittes durch die erzwungene Abreise aus Wien und
zu Ende sein werden. Auch V. scheint keinerlei Zweifel
der vielen Schwierigkeiten, die ihr Leben als Emigranten in
über die Notwendigkeit dieses Krieges gehabt zu haben
den darauffolgenden Jahren bestimmten. All das geschah
und sah seine Mobilisierung als seine erste Pflicht. Viele
lange nach dem ersten unschuldigen Zusammentreffen in
Jahre später, schon nachdem er sich in Amerika zur Ruhe
Portorose. Davor aber kam der Erste Weltkrieg mit seinen
gesetzt hatte, verfasste er ein schmales Bändchen, in dem
weitreichenden Konsequenzen für beider Leben.
der Krieg einen großen Teil einnimmt (viel von dem, was
V. war Erster Offizier der Reserve beim k.u.k. Husaren-
ich hier schreibe, hat diese Schrift zur Grundlage, auch
Regiment Nummer 15. Die Husaren waren die prestige-
wenn ich viele Geschichten schon in meiner Kindheit ge-
trächtigste Abteilung der Kavallerie. Wie alle Einheiten
hört habe). Sogar Jahrzehnte danach war er davon über-
der Husaren war das Regiment beinahe rein ungarisch,
zeugt, dass sowohl der Krieg als auch seine Rolle darin
wenn auch einige Offiziere Österreicher waren. Auch in
gerechtfertigt waren (mit Ausnahme einer schrecklichen
der Reserve hatte V. an einigen Manövern teilgenommen
Episode, auf die ich noch eingehen werde).
und war mit den meisten anderen Offizieren gut bekannt.
Zu Beginn muss noch ziemliches Durcheinander vorge-
Auch Ungarisch hatte er dort wenigstens in Grundzügen
herrscht haben. Es gab nicht genug Uniformen, zahlrei-
gelernt. Das Regiment war in der Stadt Nyiregyhaza sta-
che Ausrüstungsgegenstände wurden erst angeliefert, und
tioniert, und dorthin fuhr er zum Rapport, gleich nach der
sogar die Vorräte für die Truppenversorgung waren nicht
Kriegserklärung im August 1914. Seine Erzählungen über
ausreichend organisiert, so dass Ehefrauen und Mütter
diese Zeit decken sich mit allen Quellen, die ich dazu gele-
der Soldaten in die Baracken kamen, um zu kochen. Die
sen habe. In Österreich-Ungarn, wie auch in allen anderen
Offiziere dagegen lebten in Saus und Braus, denn die ört-
Ländern, die auf beiden Seiten am Krieg teilnahmen, kam
lichen Adelsfamilien traten in einen wahren Betreuungs-
es zu einer schieren Explosion von patriotischem Enthusi-
wettbewerb. So jagte ein Festmahl das andere, gekrönt von
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Trinksprüchen auf den Kaiser und Hochs auf die öster-
ten durch feldgraue ersetzt. Diese Veränderungen wurden
reichisch-ungarische Monarchie. Die Offiziere trugen noch
bei all ihrer Notwendigkeit heftig bedauert.
die traditionelle Husarenuniform – dunkelblau und über
Natürlich gab es schreckliche Vorfälle. V. geriet einige
und über goldene Bänder. Sie müssen einen prächtigen
Male selbst in Lebensgefahr und musste zuschauen, wie
Anblick geboten haben.
Kameraden fielen. Ich glaube aber, dass all diese Erfah-
V.s Regiment wurde an die Ostfront geschickt (nur
rungen V.s positive Lebenseinstellung nicht wirklich be-
wenige österreichische Einheiten kämpften im Westen),
einträchtigt hatten; sie trugen nur zu einem gewöhnlich
wo V. den Großteil der Kriegsjahre verbrachte, teils in
unterdrückten Hang zur Traurigkeit bei. Es ist nicht un-
kämpfenden Einheiten, teils in der Stabsleitung. In heiterer
wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass mein Vater da-
Erinnerung blieb ihm eine Szene, die die Leichtigkeit in der
mals noch ziemlich jung war und dass die Vitalität der
Stimmung wiedergab, die zu Beginn des Krieges herrschte:
Jugend in Kriegszeiten besondere Energien hervorbringt.
V.s Schwadron musste eines Morgens gegen eine russische
Es gab einige Ereignisse, an die er sich immer mit einiger
Einheit in der Nähe ausrücken. Sie formierten sich zum
Belustigung erinnerte. Einmal ritt seine Schwadron in ei-
Angriff, immer noch in ihren blau-goldenen Uniformen
ner vornehmlich jüdischen Stadt ein (irgendwo entweder
(sicher hat der Trompeter das Signal geblasen, das später
im österreichischen Galizien oder im russischen Teil Po-
unser »Familienpfiff« wurde). Die Kundschafter hatten sich
lens). V. führte seine Abteilung, hoch zu Ross, noch in der
geirrt: Am Schauplatz gab es weit und breit keine Russen.
traditionellen Husarenuniform. Ein Mann auf der Straße
Später kämpften sie doch noch gegen russische Einheiten,
rief laut auf Jiddisch (und mit Bewunderung, glaube ich):
und V. musste einmal eine große Zahl russischer Kriegsge-
»Schau! Ein Jud auf einem Pferd!« V. sah nicht besonders
fangener beaufsichtigen (die allem Anschein nach gut be-
jüdisch aus und wunderte sich daher noch lange, woher
handelt wurden). Diese ersten Erinnerungen an den Krieg
der Mann von seiner Herkunft gewusst haben mag.
waren besonders schmerzlich, denn schon bald danach
Später, als er im Generalstab arbeitete, bekam er den
verloren die Husaren genauso wie die gesamte Kavallerie
Befehl, ein mobiles Offiziersbordell zu organisieren (die
Pferde und Uniformen. Berittene Einheiten waren in einem
Rekruten waren in dieser Hinsicht offensichtlich sich
Schützengrabenkrieg, der nun folgte, nicht mehr einsatzfä-
selbst überlassen). Diese Weisung war eine echte Heraus-
hig, und die alten Uniformen erwiesen sich als wahre Ziel-
forderung. V. beauftragte einen jüdischen Zuhälter aus
scheiben für den Feind. Die Husaren wurden der Infanterie
der Umgebung, ihm die notwendigen Frauen aufzutreiben
zugeteilt und ihre Uniformen, wie die aller anderen Solda-
(alle waren erfahrene Prostituierte) und ließ sie sich zur
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Inspektion bringen. V. hat nie erzählt, wie diese Inspektion
Krieg eine Ausbildung zum Bordellbetreiber und Autodieb
abgelaufen ist. Wie auch immer, die Frauen wurden vom
erhalten hatte.
Stabsarzt untersucht, bekamen Armee-Ausweise (natür-
Es gab freilich auch einen Zwischenfall, an den er sich
lich keine Uniformen) und wurden mit großzügigem Sold
mit Grauen erinnerte. Noch zu Kriegsbeginn stand das Re-
sowie Pferdekutschen ausgestattet. Dieses noble Etablis-
giment an der Grenze zwischen der Monarchie und Russ-
sement operierte sodann mobil in einem ziemlich großen
land in Ungarn. In dieser Region gab es eine erhebliche
Gebiet hinter der Ostfront, und noch Monate später erhielt
ukrainische Minderheit (in der österreichisch-ungarischen
V. überschwängliche Dankesbriefe von seinen zufriedenen
Diktion wurden sie Ruthenen genannt), die teils katholisch,
Offizierskollegen.
teils orthodox war. Den Orthodoxen wurden prorussische
Ein anderes Mal bekam V. den Befehl, ein deutsches
Sympathien unterstellt. V.s befehlshabender Offizier be-
Armeefahrzeug an sich zu bringen. Seiner Einheit waren
kam die Information, dass der Bürgermeister eines Dorfes,
die Autos ausgegangen und ein befehlshabender Offizier
der ein Orthodoxer war, die Kirchenglocken läuten würde,
hatte gehört, dass nicht weit von ihrer Stationierung eine
um die Russen zu verständigen, dass die österreichische
deutsche Einheit stünde, die über eine ganze Menge Autos
Armee vorrückte. V. bekam den Befehl, den Bürgermeister
verfügte. (Ich sollte wohl hinzufügen, dass zwischen die-
gefangen zu nehmen und auf der Stelle zu exekutieren. Er
sen beiden verbündeten Armeen keine großen Sympathi-
hatte auch den Auftrag, den orthodoxen Popen des Dor-
en herrschten.) V. wurden Papiere ausgehändigt, die ihn
fes zu verhören und ebenfalls zu erschießen, sollte sich
als Sonderbeauftragten in wichtiger Mission auswiesen.
bei dem Verhör der Verdacht bestätigen. V. marschierte
Er machte sich auf den Weg in das deutsche Lager, gab
mit einer kleinen Abteilung in das Dorf ein, verhaftete
zu Protokoll, dass sein Fahrzeug zusammengebrochen sei
den Bürgermeister, brachte ihn auf ein Feld und ließ ihn
und verlangte mit deutlichem Nachdruck ein Auto. Sei-
exekutieren. V. kommandierte das Exekutionskommando,
ne Papiere überzeugten, und so gab man ihm den Wagen,
den Schuss feuerte ein Unteroffizier ab. Der Mann verhielt
natürlich mit der Auflage, ihn nach Durchführung seiner
sich sehr tapfer. V. hatte gar nicht die Absicht, den Popen
Aufgabe sofort wieder zurückzuerstatten. Er brachte das
erschießen zu lassen, aber er ließ ihn zum Verhör bringen.
Fahrzeug hinter die österreichischen Linien, wo die deut-
Da warf sich eine wunderschöne junge Frau (vielleicht des
schen Kennzeichen durch österreichische ersetzt wurden.
Popen Tochter) vor seine Füße, beteuerte tränenreich die
Das Auto wurde nie zurückgegeben. V. erzählte gern, dass
Unschuld des Geistlichen und flehte, ihn frei zu lassen.
er – neben all dem anderen, das ihm widerfahren war – im
V. ließ den Popen gehen und zog mit seinem Kommando
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aus dem Dorf wieder ab. Dieser Zwischenfall hatte komplizierte rechtliche Konsequenzen und eine Zeitlang drohte
V. das Kriegsgericht. Selbst im ungarischen Parlament in
Budapest kam der Fall auf die Tagesordnung, und es wurde
schließlich eine Untersuchung eingeleitet, weil ein österreichischer Offizier im Schnellverfahren einen Mann hatte
exekutieren lassen, der rechtlich gesehen ein ungarischer
Staatsbeamter war. Irgendwann wurde die Untersuchung
fallen gelassen, und V. wurde nicht belangt. Der Vorfall
blieb aber V.s dunkelste Kriegserinnerung. Sowohl in seinen Notizen, als auch in seinen Erzählungen bedauerte
V. immer wieder, in eine derart grausame Handlung verwickelt gewesen zu sein. Ich glaube aber nicht, dass er
sich schuldig fühlte. Er war davon überzeugt, keine andere
Wahl gehabt zu haben, als dem ausdrücklichen Befehl zu
gehorchen, und offensichtlich hielt er diese Sicht der Dinge auch in späteren Jahren bei.
Nachdem Italien in den Krieg eingetreten war, wurde V.s
Regiment an die Südfront in den Alpen verlegt und dort
in schwere Gefechte verwickelt. Gegen Kriegsende schlug
V. seine letzte Schlacht gegen die Briten und zeichnete
sich durch große Tapferkeit aus. In diesem Kampf wurde
V. durch eine Maschinengewehrsalve an der linken Hand
verwundet. Er blutete stark, einer seiner Männer legte ihm
einen provisorischen Verband an. V. musste mit seiner Abteilung in Rufweite vor einer anderen britischen Einheit
zurückmarschieren. Er rief den Feinden auf Englisch zu,
sie mögen nicht schießen, da er englische Kriegsgefangene
»Die Offiziere trugen noch die traditionelle Husarenuniform
– dunkelblau und über und über goldene Bänder«: Georg Berger als
Erster Offizier der Reserve beim k.u.k. Husaren-Regiment Nummer 15
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zu eskortieren hätte. Die Briten hielten still, und so konnte
V. war alles andere als ein Militarist, und es blieb mir im-
sich V. mit seinen Mannen sicher hinter die österreichi-
mer ein Rätsel, warum der Krieg eine derart große Rolle in
schen Linien zurückziehen. V. bekam für diese Heldentat
seinem Leben spielte. Vielleicht deshalb, weil das Ende des
einen Orden. Zurück im Lager begann V.s Hand noch stär-
Krieges auch das Ende seiner Jugend war. Er gründete ei-
ker zu bluten und zu schmerzen. Er wurde ins Lazarett
nen Hausstand und musste sich selbst um seinen Lebens-
gebracht, wo der teilweise abgetrennte kleine Finger der
unterhalt kümmern. Vielleicht hat ihm der Krieg aber auch
linken Hand wieder angenäht wurde. Die Operation ist
den Beweis erbracht, dass er, so behütet sein Leben bis da-
nicht gut gelungen, denn V. konnte den Finger nie mehr
hin auch verlaufen sein mag, jeder Gefahr und sogar dem
ganz ausstrecken, er blieb verkrümmt – was mich als Kind
Tod mutig gegenüber treten konnte. Wie auch immer: V.
faszinierte. Im Lazarett wurde V. für eine Rückkehr an
sprach stets gern über seine Kriegsjahre. Er hatte mehrere
die Front untauglich geschrieben und zur weiteren (frei-
Orden bekommen, nicht nur für sein mutiges Verhalten
lich nicht erfolgreichen) Behandlung und Rekonvaleszenz
gegenüber den Briten. Er war stolz auf diese Auszeichnun-
nach Wien evakuiert.
gen und bewahrte sie in einer Kassette mit rotem Samtfut-
Zu diesem Zeitpunkt begann der Zerfall der Monarchie.
V. bemerkte erste Anzeichen, noch während er auf seine
ter auf. Er hatte auch Miniaturen seiner Orden, die man
zur Zivilkleidung tragen konnte.
Evakuierung wartete. Denn in einem benachbarten Zim-
In den Tagen nach dem »Anschluss« hat fast jeder auf
mer, so erzählte man ihm, waren zwei tschechische Solda-
der Straße irgendein Nazi-Abzeichen getragen und Juden
ten, die desertiert waren, und niemand hinderte sie daran,
oftmals ihre Verdienstabzeichen aus dem Krieg. Ich habe
nach Hause zu gehen. Als V. nach Wien kam, wurde er
eine Fotografie von V., aufgenommen knapp vor unserer
angewiesen, auf der Straße keine Uniform zu tragen, weil
Abreise, auf der er die Miniaturen ans Revers gesteckt
Anti-Habsburg-Demonstranten allen Offizieren, die ihnen
trägt. Sowohl Orden als auch Miniaturen gingen verloren.
begegneten, die Rangabzeichen abrissen. V. wurde Zeuge,
Die Habsburger regierten 640 Jahre über Österreich, und
wie vor dem Parlament die alte Kaiserfahne eingezogen
politisch verschwand die Monarchie 1918 ganz plötzlich
und durch eine rote Revolutionsfahne ersetzt wurde. Die-
von der Landkarte. Ihr kulturelles Erbe aber überdauerte
se Szene machte V. traurig. Es kam zu keiner wirklichen
sie in vielen ihrer ehemaligen Kronländer bis in unsere
Revolution; die Sozialdemokraten, die die erste Regierung
Tage. Auch heute noch kann man, wenn man Antennen
bildeten, waren keine Hitzköpfe. Aber es war klar, dass die
dafür hat, bei genauer Betrachtung die langen Schatten
Monarchie zu Ende war.
des versunkenen Kaiserreichs sehen – in gewissen Um-
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gangsformen, in sprachlichen Eigenarten (nicht nur im
merkt, dass neben den Kommunisten die habsburgloyalen
Deutschen, sondern auch im Ungarischen, Tschechischen
Kaisertreuen eine wesentliche Gruppe im (nicht gerade
und Kroatischen), in der »Institution Kaffeehaus«. Als das
großen) österreichischen Widerstand gegen die National-
Habsburger Reich noch existierte, sprach man nur von »der
sozialisten bildeten. Einige von ihnen wurden hingerich-
Monarchie« – als ob es daneben keine andere gegeben hät-
tet. Ich erwähne all diese Details, um zu unterstreichen,
te. Die sichtbarste Spur dieses Geistes der Vergangenheit
dass die Monarchie keineswegs nur ein Produkt von V.s
ist die Farbe vieler (Verwaltungs-)Gebäude – jenes war-
oder meiner Fantasie war. Als »erfundene Nation« (um ei-
me, leuchtende Schönbrunner Gelb, das früher Kaisergelb
nen Terminus der amerikanischen Sozialwissenschaften
hieß. Man findet es nicht nur in Österreich, sondern auch
zu bemühen) überlebte sie noch sehr lange ihr Verschwin-
in Triest, im ehemaligen Jugoslawien und in der früheren
den von der politischen Landkarte.
Tschechoslowakei. (Hätte V. den Zerfall dieser »Nachfolge-
Die Monarchie blieb V.s Orientierungspunkt für sein
staaten« erlebt, hätte er sicher eine gewisse Schadenfreude
Weltbild und vielleicht auch für seine Identität. Noch lange
über die Adjektive »ehemalig« und »früher« empfunden,
nach ihrem Untergang blieb er ihr loyal verbunden. V. war
hatte er doch stets die Serben und die Tschechen für das
Mitglied der »Legitimisten«, jener Gruppe, die für Öster-
Ende der Monarchie verantwortlich gemacht.) Wo immer
reich die 1918 abgeschaffte Monarchie wiederherstellen
ich diese Mauerfarbe gefunden habe, konnte ich mich in
wollte (so weit ich das beurteilen kann, hatte V.s Mitglied-
gewisser Weise zu Hause fühlen, was natürlich mit der
schaft eher symbolischen Charakter und zog keinerlei kon-
Erinnerung an V. zusammenhängt. Nach 1989, als die
krete Aktivität nach sich). V. war politisch interessiert, und
kommunistischen Regime Mittel- und Südosteuropas zu-
es war ihm klar, dass das legitimistische Anliegen keinerlei
sammenbrachen, gab es einen kurzen Moment, in dem für
Aussicht auf Erfolg hatte. Für ihn – wie für die meisten an-
so manche die Monarchie wieder zur politischen Lösung
deren Anhänger der Bewegung – war es das Festhalten an
wurde. Ich war gerade in Budapest, als die letzten sowje-
einer verlorenen Zeit, die ihm als eine bessere erschien. V.
tischen Soldaten abzogen. Da tauchten in den Geschäften
hatte aber einen immer wiederkehrenden Traum die Mo-
neben Devotionalien aus der Monarchie verschiedene fun-
narchie betreffend, von dem er öfters erzählte. In diesem
kelnagelneue Ansichtskarten mit Kaiser Franz Joseph und
Traum ritt er bei einer Parade an der Spitze einer Kavalle-
Kaiserin Elisabeth (von den Ungarn »Erzsebet« genannt
rieabteilung über die Ringstraße, vorbei an einer Tribüne
und abgöttisch geliebt) unter ineinander verschlungenen
vor dem Parlament. Ich vermute, dass der Kaiser selbst
ungarischen und kaiserlichen Fahnen auf. Dabei sei ange-
auf dieser Tribüne stand. Alle Häuser entlang der Ring-
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straße waren beflaggt, und eine Zuschauermenge jubelte
des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
ihm zu.
rührt daher, obwohl ich kein Historiker bin. Ganz objektiv
Angesichts seiner Herkunft und seiner Biografie über-
und als amerikanischer Sozialwissenschafter gesprochen,
rascht es nicht weiter, dass die Monarchie einen wichtigen
stimme ich mit V.s Einschätzung überein, dass der Zusam-
Platz in V.s Denkweise einnahm. Weniger logisch ist, dass
menbruch des Habsburgerreiches ein gefährliches Vakuum
sie den auch in der meinen einnimmt, natürlich weniger
im Herzen Europas zurückgelassen hat, und dass viele Ka-
prominent, aber doch bemerkbar. Ich wurde elf Jahre nach
tastrophen nach 1918 hätten vermieden werden können,
ihrem Untergang geboren. Ich habe sie also selbst nie er-
hätte es weiter existiert. Diese Überzeugung enthält kei-
lebt, aber V.s Erzählungen vermittelten mir ein sehr rea-
nerlei sentimentale Illusionen über den Charakter dieses
les Bild (vielleicht sollte ich hier anmerken, dass M. dabei
Kaiserreiches, das innen- wie außenpolitisch oft teuflisch
keine Rolle zukam. Sie hatte kein Interesse an der Mon-
agierte, oder über seine herrschende Klasse, die großteils
archie, ihre Denkmuster sahen anders aus.) Natürlich hat
ordentlich stupide war.
diese Monarchie im Geiste, oder besser gesagt im Herzen,
Alles in allem wäre es aber wohl besser gewesen, wenn
nie meine politischen Ansichten geprägt. Als Erwachsener
eine wiederhergestellte oder modernisierte Monarchie den
wäre mir nie der Gedanke gekommen, eine Monarchie in
Ersten Weltkrieg überdauert hätte. In regelmäßigen Ab-
Österreich oder anderswo aufleben lassen zu wollen, ich
ständen spiele ich das Was-wäre-wenn-Spiel mit meinem
bin auch im weitesten Sinn (und jenseits der Habsburger)
Freund und Kollegen Thomas Luckmann, dessen öster-
kein Monarchist. Am ehesten trifft wahrscheinlich zu, dass
reichisch-slowenische Herkunft ihm einige Kompetenz zu
diese meine internalisierte Monarchie zu meiner Sympa-
diesem Thema zuspricht. Wir stellen uns beispielsweise
thie für politischen Konservatismus beigetragen hat – zu
vor, dass uns die Regierung in Wien 1910 zu Rate gezogen
der Überzeugung, dass Ordnung ein zentraler politischer
hätte, wie man die Monarchie erhalten könnte. Wir ge-
Wert ist, dass die meisten, wenn nicht alle radikalen Verän-
hen davon aus, dass wir damals das gewusst hätten, was
derungen nicht wünschenswert sind und dass man lieber
wir heute als Sozialwissenschafter zu wissen glauben. Im-
zweimal darüber nachdenken sollte, bevor man etwas ab-
mer wieder kommen wir dann zu demselben Schluss: Die
schafft, was bis dahin einigermaßen gut funktioniert hat.
Habsburger hätten den Ausgleich mit Ungarn wenigstens
Allerdings bin ich auch ohne Träume vom Kaiser beim De-
auf Tschechen und Kroaten ausdehnen und sich in Prag
filée zu dieser Überzeugung gelangt. Auch mein Interesse
und Zagreb krönen lassen müssen. Das wäre die »Vier-
an der Geschichte Mitteleuropas in der Zeit von der Mitte
Kronen-Lösung« gewesen. Wahrscheinlich hätte man das
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nur über einen Putsch (wohl einen Putsch von oben) in
da eine andere Entscheidung getroffen – was stets von den
Ungarn bewerkstelligen können – in einer Art habsburgi-
handelnden Personen abhängt.
schem 18. Brumaire, mit einer loyalen k.u.k. Armee, die
Welche Bedeutung hat also die Monarchie in meinem
das Parlament in Budapest mit seinen ungarischen Natio-
eigenen Leben? Ganz offensichtlich stellt sie eine emoti-
nalisten hätte auflösen müssen. Doch dann tauchen jedes
onale Verbindung zu V. und seiner Welt dar. Sie ist für
Mal verblüffende Fragen auf: Wäre eine »Fünf-Kronen-
mich Metapher für Ordnung, Sicherheit und Heimatgefühl.
Lösung« mit einer Krönung zum polnischen König in
Robert Musil bezeichnete dies im Mann ohne Eigenschaf-
Krakau denkbar? Das hätte dann natürlich internationa-
ten als »entsprungenes Gleichnis der Ordnung«. All das
le Komplikationen zur Folge gehabt: Alle Tschechen und
gehört in den Bereich der Emotionen, der »Weisheit des
Kroaten lebten auf dem Gebiet der Monarchie, aber ein
Herzens«, dessen Einsichten nur schwer in intellektuellen
Großteil der Polen in Russland und Deutschland. Hätten
Zusammenhängen formuliert werden können. Diese Meta-
»wir« die Regionen mit italienisch sprechender Bevölke-
pher hat jedoch auch eine kognitive Seite. Das wurde mir
rung angesichts des italienischen Irredentismus halten
schlagartig bei einem Ereignis klar, das ich – ganz Zeitge-
können? Welche Arrangements würden »wir« mit Italien
nosse der Postmoderne – nur im Fernsehen gesehen habe.
anstreben? Und was sollte mit den anderen Minderheiten
1989 starb Kaiserin Zita, die Witwe Karls, des letzten
der Monarchie geschehen – Slowaken, Slowenen, Ruthe-
habsburgischen Kaisers, der auf Madeira gestorben ist. Ich
nen, Rumänen? Sollten Jiddisch sprechende Juden sowohl
hatte von der Beisetzungszeremonie gehört und besorgte
als nationale als auch als religiöse Gruppe gelten? Und, die
mir ein Video vom ORF. Es war kein offizielles Staatsbe-
interessanteste Frage: Wie müsste die Verfassung für eine
gräbnis, aber es hatte sehr wohl eine solche Wirkung.
derart umgestaltete Monarchie aussehen? Solche Gedan-
Bei der feierlichen Seelenmesse im Stephansdom, die der
kenexperimente werden auch für alle möglichen anderen
Erzbischof von Wien zelebrierte, wurden Gebete in allen
geschichtlichen Perioden gerne durchgespielt – etwa wenn
offiziellen Sprachen der Monarchie gesprochen. Anschlie-
man sich vorstellt, was passiert wäre, hätten die Südstaa-
ßend wurde der Katafalk zur Kapuzinergruft gebracht, seit
ten den Amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen. Jenseits
Jahrhunderten Begräbnisstätte der Habsburger. Dort an-
des Unterhaltungswertes solcher Spielereien kann man
gekommen, lebte ein altes Ritual auf. Der Marschall der
dabei eines lernen: Dass kaum eine Entwicklung der Ge-
Prozession pochte an das Tor. Der Abt, der mit den ver-
schichte unvermeidlich ist und dass die historischen Ereig-
sammelten Mönchen dahinter stand, fragte: »Wer begehrt
nisse oft ganz anders verlaufen wären, hätte man hier oder
Einlass?« Darauf las der Marschall den langen Titel Zitas
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vor, der alle Königreiche und Territorien aufzählte, die der
tator, der die ganze Zeit über das Geschehen begleitet hat-
Kaiser (oder in diesem Fall: die Kaiserin) als sein Eigentum
te, überging dies schweigend. Jedenfalls wurde die letzte
beansprucht hatte. Der Vortrag dieser Liste dauerte zehn
habsburgische Kaiserin unter all ihren Ehrentiteln auch
Minuten. Danach erklärte der Abt: »Wir kennen sie nicht.
als Herzogin von Auschwitz zur letzten Ruhe gebettet. Ich
Wer begehrt Einlass?« Traditionellerweise wäre jetzt eine
stellte mir die Frage, was ich wohl getan hätte, wäre ich für
abgekürzte Auflistung erfolgt, der so genannte »mittlere
die Zeremonie verantwortlich gewesen. Hätte ich diesen
Titel«. 1989 ging der Marschall sofort zum »kurzen Titel«
kompromittierenden Titel ausgelassen? Ich kam zu dem
über: »Zita, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn,
Schluss: Nein, ich hätte ihn in der Aufzählung gelassen,
Königin von Böhmen.« Und wieder antwortete der Abt:
und zwar aus einem einfachen Grund: Hätte es in den
»Wir kennen sie nicht. Wer begehrt Einlass?« Dann sagte
1940er Jahren ein Herzogtum Auschwitz mit einem Habs-
der Marschall: »Zita, eine arme Sünderin, Deine Schwes-
burger als Regenten gegeben, hätte Auschwitz sehr wahr-
ter.« Darauf wurde das Tor geöffnet, und Zita durfte bei all
scheinlich nicht die Bedeutung, die es heute für uns hat.
den Habsburgern bestattet werden, die in dieser Krypta
unter dem Kloster ruhen.
Ein Teil von V.s K.u.k.-Identität resultierte aus seiner
Beziehung zu Ungarn und zur ungarischen Sprache. Und
Dieses altertümliche Ritual ist beredter Ausdruck der
das kam so: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als
christlichen Herrschaftstheorie. Als ich dieser, seiner wohl
er Dienst als Reserveoffizier seines Husarenregiments tat,
letzten Wiederaufführung zuschaute, kam Rührung in mir
musste er zwar exerzieren, was oftmals anstrengend war,
hoch. Aber ich hörte genau hin und wartete auf eine klei-
aber offensichtlich gab es für Offiziere auch angenehme-
ne Passage des langen Titels, von der ich wusste, dass sie
ren Zeitvertreib. Es gab, wie man das im Jargon der kaiser-
kommen musste. Neben all den vielen anderen kaiserlich-
lichen Armee nannte, genug Zeit fürs Mulatieren. Dieses
königlichen Titeln, die der Kaiser für sich beanspruchte,
Verb ist eine Eindeutschung des ungarischen Wortes mu-
gab es auch jenen eines »Herzogs von Auschwitz«. Wie
latság, was soviel wie Ausgelassenheit bedeutet, allerdings
es zu diesem Titel gekommen ist, weiß ich nicht; wahr-
mit erotischem Unterton. V. mochte Ungarn und alles Un-
scheinlich gab es da einmal ein kleines Herzogtum dieses
garische, weil es für ihn mit den besten Jahren seiner Ju-
Namens, das irgendwann an die Habsburger gefallen ist.
gend gleichbedeutend war. Er konnte ganz passabel Un-
Als der Marschall all die Titel rezitierte, fragte ich mich,
garisch, zumindest genügte es für den Militäralltag. Wenn
ob er diesen Titel auslassen würde. Das tat er nicht. Laut
er allerdings mit Ungarn sprach, erntete er Gelächter – er
trug er ihn vor: »Herzogin von Auschwitz.« Der Kommen-
verfügte wohl nicht gerade über den elegantesten Wort-
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schatz. Er kannte eine eindrucksvolle Vielzahl obszöner
gewesen sein muss. Man könnte sagen, ich besuchte die
Schimpfworte, die er auch in sein Deutsch einflocht, wenn
Stadt aus V.s Jugend.
er wütend war.
Zu dieser Zeit hatte ich bereits einige Bücher veröffent-
V.s Ungarophilie teilte sich mir als Kind mit. Ich eignete
licht, die mich in internationalen Soziologenkreisen be-
mir einige ungarische Floskeln an – auch einige Schimpf-
kannt gemacht hatten. Ich war eingeladen worden, Vorle-
worte. Eine – vielleicht nicht gerade häufig einsetzbare –
sungen am Soziologischen Institut der Ungarischen Aka-
Redewendung brachte mir V. mit besonderem Augenmerk
demie der Wissenschaften zu halten. Dieses Institut hatte
auf die richtige Aussprache bei: »Königlich-Ungarische
eine besonders interessante Atmosphäre, denn sein Direk-
Postsparkasse« (wüsste ich, wie man es schreibt, würde
tor war András Hegedüs, ein früherer Minister, der eine
ich hier die ungarische Bezeichnung anführen). Es gab
gewisse Rolle zu Beginn der kommunistischen Herrschaft
ein ungarisches Reisebüro nicht weit von V.s Geschäft. In
gespielt, sich dann aber von seiner früheren Überzeugung
der Auslage waren elektrisch beleuchtete Ansichten von
abgewandt hatte. Das Institut wurde so zum Refugium für
Budapest ausgestellt. Ich fand das sehr aufregend. Immer
andersdenkende Intellektuelle und ließ vergleichsweise of-
wieder fragte ich, wann wir denn endlich nach Budapest
fene Diskussionen zu. Für mich war dieser Besuch sehr
fahren würden. V. vertröstete mich auf Weihnachten. Wir
lehrreich; da ich noch niemanden in Budapest kannte, ver-
sind nie hingefahren.
brachte ich die meiste Zeit dort mit den Kollegen. Mit ei-
Als Erwachsener bin ich mehrmals in Budapest gewe-
ner Ausnahme allerdings: Ich unterrichtete damals an der
sen. Ich habe dort Freunde gefunden, die Stadt gefällt mir,
New School of Social Research in New York, wo ich einen
und mit Freude habe ich ihre Wandlung von der sozialisti-
ungarischen Kollegen hatte, der mich bat, seine Eltern in
schen Tristesse zu einem ziemlich wohlhabenden und leb-
Budapest zu besuchen. Der Vater war ein pensionierter
haften kosmopolitischen Ort miterlebt. 1967 besuchte ich
Anwalt, der mit seiner Frau eine große Wohnung in einem
Budapest zum ersten Mal, elf Jahre nach dem ungarischen
alten Viertel von Buda bewohnte. Man bot mir Kaffee und
Aufstand, den die Sowjetpanzer niedergeschlagen hatten.
Kuchen an. Ich überbrachte die Grüße meines Kollegen,
Es herrschten zwar die Kommunisten, allerdings machte
und es folgte eine belanglose Unterhaltung.
das relativ entspannte Kadar-Regime aus dem Land die
Da fragten sie mich, ob ich mir während meines Auf-
»lustigste Baracke des sozialistischen Lagers«. Es war ein
enthalts noch mehr vom Land anschauen wollte. Ja, sagte
eigenartiger Aufenthalt. Bei meinen Spaziergängen sah ich
ich, ich würde mir ein Auto mieten und zählte dann die
die Stadt nicht so, wie sie war, sondern wie sie zu V.s Zeit
geplanten Reiseziele auf. Der alte Herr bemerkte, dass ich
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die Ortsnamen korrekt aussprach und fragte, ob ich Unga-
empfing mich dort ein junger Historiker (natürlich ein Zi-
risch könne. Das nicht, sagte ich, aber ich sei aus Wien,
vilist). Als ich ihm erklärte, was mich interessierte, meinte
und dort wüssten wir, wie man ungarische Namen aus-
er: »Schauen wir zuerst den Herrn Papa nach.« Er holte
spricht. Ich fügte hinzu, dass ich ein paar Brocken von
einen dicken Band hervor, in dem alle Reserveoffiziere der
meinem Vater gelernt hätte, der im Ersten Weltkrieg in
alten Armee aufgelistet waren. Schnell fand er V. und las
einem ungarischen Regiment gedient hatte. »Welches Re-
seine Militärakte vor – inklusive sämtlicher Auszeichnun-
giment?« wollte der alte Herr wissen. Ich antwortete: »Im
gen –, was ihm offensichtlich tiefe Befriedigung verschaff-
15. Husaren-Regiment.« »Ja, aber das war doch in Nyíre-
te. Dann ereigneten sich zwei Dinge, die mir noch surrea-
gyháza stationiert!« rief er aus. Das sei mir bekannt. »Ich
ler vorkamen als das Gespräch in Buda.
bin aus Nyíregyháza«, sagte er. Und dann wurde alles sehr
Wir wurden unterbrochen. Ein alter Mann kam ins Büro,
merkwürdig: Mehr als zehn Minuten lang entschuldigte
er hatte ein Holzbein und hinkte. Er hatte einen langen
sich der alte Mann dafür, dass er nicht im 15. Husaren-Re-
grauen Staubmantel an, wie sie die Beamten eigentlich
giment gedient hatte, obwohl er aus Nyíregyháza stammte.
schon seit Jahrzehnten nicht mehr trugen. Allem Anschein
Während des Krieges tat er Dienst in einem Honved-Re-
nach war er ein Amtsdiener, also ein Beamter der nied-
giment. Letzteres allerdings genoss geringeres Ansehen,
rigsten Stufe. Kurz überlegte ich, in welchem Weltkrieg er
weil es nicht »kaiserlich und königlich«, sondern nur »kö-
sein Bein wohl verloren hatte. Er brachte eine graue Kar-
niglich-ungarisch« war, also eine Armee-Einheit, die nicht
tonmappe, die mit Bändern in den habsburgischen Farben
dem Wiener Militärkommando, sondern der Budapester
Schwarz-Gold zusammengebunden war. Der junge Histo-
Regierung unterstellt war. Ich wusste nicht, was ich dar-
riker unterschrieb die Empfangsbestätigung, wandte sich
auf sagen sollte, und nickte nur immerzu. Mir blieb nichts
an mich und sagte: »Bitte entschuldigen Sie mich kurz. Ich
anderes übrig, als im Namen der k.u.k. Armee seine Ent-
habe wochenlang auf diese Unterlagen gewartet, ich werfe
schuldigung anzunehmen.
nur einen kurzen Blick hinein.« Er öffnete die Mappe und
Einige Jahre später hatte ich ein ähnliches Erlebnis. Ich
blätterte sie durch. Die Papiere waren handgeschrieben in
spielte gerade mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben,
Kurrentschrift und trugen einen offiziellen Briefkopf. Von
in dem ich V.s Kriegserzählungen mit den amtlichen Mi-
meinem Platz aus konnte ich nichts lesen, aber es schien
litär-Dokumenten zusammenführen wollte. Ich war aus
sich um Militärbefehle zu handeln. Dann kam mir zu Be-
einem ganz anderen Grund in Wien, doch rief ich beim
wusstsein: Diese Armee ist vor fast einem halben Jahrhun-
Militärarchiv an und machte einen Termin aus. Freundlich
dert verschwunden, aber ihre Papiere waren noch immer
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im Aktenlauf, in denselben Mappen und werden mit den-
freundlich ein alter Beamter. Er erhob sich von seinem
selben Prozeduren bearbeitet wie damals – nur von Histo-
Schreibtisch und überreichte mir eine teure Ledermappe.
rikern und nicht mehr von Offizieren.
Er sagte mir, dass er auf »allerhöchsten Befehl« handle.
Widerwillig riss sich der junge Historiker von seinem pa-
Und er fügte hinzu: »Sie sind hiermit höchst offiziell ent-
pierenen Schatz los, sodass ich ihm endlich mein Projekt
sorgt. Sie müssen sich nicht länger über irgendetwas Sor-
erklären konnte. Er schüttelte den Kopf, er konnte mir nicht
gen machen.« Ich bedankte mich und verließ mit der Map-
helfen. Die Archive in Wien enthielten nur Materialien der
pe unter dem Arm die Hofburg. Ich kam in den Park und
gesamten k.u.k. Armee oder jener Regimenter, die in Ös-
sah die blühenden Fliedersträucher. Die Luft war voller
terreich stationiert gewesen waren. Alle Akten über das
Frühlingsduft.
15. Husaren-Regiment müssten in den ungarischen Militärarchiven in Budapest aufbewahrt sein. Und er fügte hinzu:
»Das sollte aber kein Problem sein. Es gibt zwei Herren
des ungarischen Militärarchivs hier, die sich ständig bei
uns aufhalten. Sie werden Ihnen weiterhelfen können. Im
Augenblick sind sie auf Urlaub daheim in Ungarn. In zwei
Wochen werden sie wieder da sein.« Und das war eine
weitere befremdliche Situation: Die kommunistische ungarische Regierung bezahlte zwei Dienstposten für Historiker
in den Wiener Militärarchiven, die Akten bearbeiteten, die
mit Bändern in den habsburgischen Farben zusammengebunden waren. Ich habe die beiden Ungarn nie kennen
gelernt. Als sie aus dem Urlaub zurückkamen, hatte ich
Wien wieder verlassen und auch das Projekt, für das ich
ihre Hilfe benötigt hätte, habe ich nicht weiter verfolgt.
Vor kurzem hatte ich einen Traum. Ich war in Wien und
ging durch die langen Korridore der Hofburg. Ich suchte
das Entsorgungsamt – das Amt für die Entledigung von
Sorgen. Als ich es gefunden hatte, empfing mich dort
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Eine andere Sprache
Meine Kindheit verlief in einem jahreszeitlichen Rhythmus zwischen Wien und Italien. Bis zu meinem neunten
Lebensjahr verbrachten M. und ich die Sommer stets bei
ihrer italienischen Familie, entweder in deren Haus (zuerst
in Porto Maurizio an der Riviera, später in Monfalcone bei
Triest) oder in verschiedenen Ferienorten. Wir nahmen üblicherweise den Nachtzug von Wien, was an und für sich
schon eine aufregende Sache war. Ich kann mich noch gut
an die umständlichen Vorbereitungen erinnern, die nötig
waren, um im Schlafwagenabteil die Betten aufzubauen.
Besonderen Eindruck machte mir ein blaues Nachtlicht,
das im Badezimmer brannte. Es folgte die Zeremonie des
Grenzübertritts – immer im Dunkel der Nacht. Zuerst kamen die österreichischen Grenzer, dann die italienischen.
Plötzlich also gab es andere Uniformen und eine andere
Sprache. Sobald der Zug weiterfuhr, stieg angenehme Vorfreude in mir auf.
Diese Erinnerungen reichen bis in meine früheste Kindheit zurück, sogar noch vor die Zeit meiner sprachlichen
Entwicklung. Müsste ich einen Ausdruck für diese Gefühle finden, würde ich wahrscheinlich von »sanfter Fürsorge« sprechen. Zweifellos umschreiben diese beiden Worte
das, was jedes Kind von seiner Mutter erfährt, in meinem
Fall aber hat diese Erfahrung einen italienischen Akzent.
»Der Fahrplan der Lloyd-Schiffe bestimmte das gesamte Familienleben.«
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Meine Sommer in Italien waren »sanft« – im Gegensatz
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zum strengeren Charakter des Wiener Lebens, das von
Minuten fand die Panik ein Ende: Der Zug war nur rangiert
meiner Beschäftigung mit der Schule, von V.s beruflichen
worden und fuhr prompt wieder in die Station ein – mit
Erfolgen und auch von der deutschen Sprache dominiert
ihm M., die mir vom Abteilfenster aus zuwinkte. Dennoch
war. Freilich wurde ich von M.s Familie auch besonders
überkommt mich von Zeit zu Zeit genau dieses Gefühl,
verwöhnt. Der engste Familienkreis war nicht sehr groß.
plötzlich verlassen zu werden, allein und hilflos an einem
Er bestand aus M.s Bruder, den ich Onkel Willi nannte,
fremden Ort zurückbleiben zu müssen.
seiner Frau, seinem Sohn (der, obwohl ungefähr ein Jahr
Für mich ist Italien M.s Heimat, und ich bin sicher, sie
älter als ich, mein wichtigster Spielgefährte war), seiner
hatte das ebenso empfunden. Ich werde kurz auf M.s Fa-
Tochter sowie aus M.s Mutter. Onkel Willis Frau war aus
miliengeschichte eingehen, obwohl ich natürlich meine
Bologna und hatte unzählige Verwandte dort, die aber nur
eigenen Empfindungen für dieses Land schon vor meiner
selten unsere Sommeridylle unterbrachen. In diesen Som-
Kenntnis über familiäre Zusammenhänge entwickelt habe.
mermonaten erlebte ich eine gebündelte »sanfte Fürsorge«,
Für mich ist Italien immer »das Andere« gewesen – auch
denn M. gehörte ganz mir, eine andere Familie nahm mich
wenn das nicht ganz richtig ist, weil »anders« eigentlich
herzlich auf, der Klang einer anderen Sprache drang an
negative Konnotationen hat, während fast alles, was ich
mein Ohr, und ich war weit weg von der Schule und all
in Italien erlebte, positiv war. Italien war das Erlebnis des
den anderen bedeutsamen Angelegenheiten in Wien – ich
Andersseins, zugleich angenehm und faszinierend. Um es
kannte nur noch die Freuden des Sommers.
besser auszudrücken, zitiere ich Albert Camus, der seine
Deshalb sind wohl alle meine Erinnerungen an diese
Sommer so positiv. Eine Ausnahme ist mir allerdings leb-
Kindheit und Jugend in Algerien als einen »immerwährenden Sommer« bezeichnete.
haft in Erinnerung geblieben, sie muss wohl einen tiefen
Im Sommer war alles anders. Der Wiener Alltag
Eindruck hinterlassen haben. Ich saß mit M. im Zug ir-
verblasste. Als ich noch sehr klein war, verschwand er
gendwo zwischen Wien und Monfalcone. Wir fuhren in
überhaupt – was zu einem Zwischenfall führte, der V. sehr
einen Bahnhof ein, in dem angekündigt wurde, dass der
verletzt hatte. Als er uns anlässlich unserer Rückkehr aus
Aufenthalt zwanzig Minuten dauern würde. M. gab mir
Italien vom Bahnhof abholte, hob M. mich hoch, zeigte
Geld, damit ich aussteigen und irgendetwas kaufen konnte.
auf V. und fragte mich, wer das sei. »Sag’s mir«, war meine
Sie blieb im Abteil. Als ich auf den Bahnsteig zurückkehr-
Antwort.
te, fuhr der Zug gerade aus. Ich konnte nicht mehr zustei-
In Italien war alles anders. Da waren vor allem die anders
gen. Ich erstarrte vor Schreck. Nach ein paar angsterfüllten
aussehenden Uniformen, die mich besonders interessier-
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ten: die Carabinieri (nationale Polizei) mit ihren Dreispit-
Propaganda. Etwa in den Heldenepen aus dem antiken
zen; die Alpini (Gebirgsjäger) mit ihrem typischen Capello
Rom, wo darauf angespielt wurde, dass der Duce dem ita-
Alpino, einem federdekorierten Hut, der auch in einem
lienischen Volk jene Bedeutung zurückgeben würde, die es
ihrer Lieder besungen wird; die Elitetruppe der Bersaglieri
in der Antike hatte. Ich kann mich noch an eine Bildfolge
(vom italienischen bersaglio, »Ziel[scheibe]«; deutsch
während der Invasion Äthiopiens (das die Italiener Abis-
etwa »Schützen«), eine Infanterietruppe, die immer nur
sinia nannten) erinnern, die italienische Soldaten bei der
im Laufschritt marschierte, sogar bei Paraden; und natür-
Befreiung von in Ketten liegenden Sklaven zeigte.
lich die verschiedenen Organisationen der Schwarzhem-
Es wäre falsch, Italienisch als meine erste Fremdspra-
den der faschistischen Partei. In Mussolinis Italien waren
che zu bezeichnen, denn ich habe sie fast zeitgleich mit
Paraden sehr beliebt, die mir die Gelegenheit boten, mei-
Deutsch gelernt, weshalb sie für mich nie fremd war. Ita-
ne Weiterbildung in vergleichender militärischer Uniform-
lienisch war vielmehr meine »Mutter-Sprache« im wörtli-
wissenschaft voranzutreiben.
chen Sinn (Deutsch würde ich dagegen als »Vater-Sprache«
Aber über all dem stand die Sprache. M. hatte mir schon
bezeichnen, wenn es diesen Ausdruck gebe). Genauer ge-
in Wien Italienischunterricht erteilt, aber eigentlich habe
sagt, bezeichne ich sie als meine »andere Sprache«, durch
ich es erst durch die Praxis in Italien richtig gelernt. Schon
die ich – wenn auch zuerst völlig unterbewusst – erlebte,
früh konnte ich ziemlich fließend sprechen. Einmal, als ich
dass man die Welt auf ganz unterschiedliche Weise erfah-
noch recht klein war, schickte mich Onkel Willi ins nächste
ren kann, je nachdem welche Sprache man benutzt. Als
Geschäft, um Streichhölzer zu kaufen, aber ich kannte das
Erwachsener habe ich von meinem Italienisch kaum Ge-
Wort dafür nicht. Er half aus – fiammiferi. Ich wiederhol-
brauch gemacht. Außer in den Sommern meiner Kindheit
te das Wort mehrmals, um sicher zu gehen, dass ich es
sprach ich mit M. Deutsch. In Amerika habe ich keine
mir auch merkte, ging ins Geschäft und brachte wirklich
italienischen Freunde und beruflich muss ich auch kaum
Streichhölzer heim. Es war ein kleiner Triumph.
italienische Texte lesen. Aber immer wieder bin ich nach
Durch die Kinderausgabe einer Zeitung, die mein Cousin
Italien gefahren, leider nur allzu selten im Lauf der Jahre,
Vico abonniert hatte, lernte ich auch italienisch lesen. Ein
doch dann kehren auch meine Italienischkenntnisse sehr
Comic gefiel mir besonders: Sein Held Volfartutto (»Will al-
schnell zurück. Und was noch dazukommt: In den ers-
les machen«) reparierte zwar bereitwillig alles in Haus und
ten Stunden meines Aufenthalts in Italien fühle ich eine
Garten, richtete dabei aber mehr Schaden an als Nutzen.
Vielfalt von Empfindungen, die nur schwer in Worte zu
Manche dieser Comics steckten auch voll faschistischer
fassen sind. Am ehesten entsprechen sie Folgendem: »Es
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ist Sommer. Hier gibt es eine Menge Leute, die sehr nett
chen, andere europäische Regierungen zu Hilfe zu rufen,
zu mir sein werden. Ich werde hier eine wunderbare Zeit
schließlich verrückt wurde vor Kummer. Viele Jahre später
verbringen.« Dann freilich stellt sich die Wirklichkeit ein:
besichtigte ich in Mexico City den 400 Hektar großen Park
Es ist nicht Sommer. Niemand ist außergewöhnlich nett
von Chapultepec, wo Maximilian während seiner kurzen
zu mir. Und ich verbringe keine wunderbare Zeit. Aber
Regentschaft 1864 ein Schloss für sich und seine Familie
das macht alles nichts. Für ein paar Augenblicke kann ich
errichten ließ. Ich war gerührt, als ich in seinen Privaträu-
mich wieder in jenem »immerwährenden Sommer« wär-
men Fotografien von Miramare fand.
men, der mir immer eine Quelle des Trosts und des Vertrauens geblieben ist.
Mehrere Sommer verbrachten wir im Südtiroler Bruneck/Brunico. Die Gründung des Hauptortes des Pustertales
Die Ferien verbrachten wir stets entweder am Meer oder
geht auf die Zeit um 1250 zurück, als Fürstbischof Bruno
in den Bergen, an der westlichen und der östlichen Küste
von Kirchberg und Bullenstätten ein eindrucksvolles wehr-
der Halbinsel und in den Alpen Südtirols, das seit dem
haftes Schloss hoch über der Stadt errichten ließ. Bis heute
Ersten Weltkrieg Alto Adige heißt. Beide Ferienziele waren
ist es im Besitz des Bischofs von Brixen. In dem alten Ge-
gleich bedeutend mit Sport – Schwimmen und Bergsteigen,
bäude gab es einige renovierte Appartements, in die wir
beides machte mir allerdings wenig Spaß. Was ich aller-
uns gemeinsam mit Onkel Willis Familie einmieteten. Mit
dings genoss, war die jeweilige Umgebung, die Sonne, den
Vico und allen anderen Kindern, die wir dort antrafen,
Klang der Wellen, die frische Bergluft. Während unserer
spielten wir herrliche Spiele. Denn da gab es alles: dicke
Aufenthalte bei Onkel Willi in Monfalcone gingen wir öfter
Befestigungsmauern mit Wachtürmen und Schießscharten;
nahe dem Schloss Miramare baden. Kaiser Franz Josephs
einen Burggraben und eine Zugbrücke; einen Innenhof mit
Bruder Maximilian, der von Napoleon III. installierte Kai-
Fresken und einer Sonnenuhr; ein Labyrinth von unter-
ser von Mexiko, hatte es 1856 fünf Kilometer nördlich von
irdischen Gängen und sogar Verliese. Einmal bin ich auf
Triest für seine Frau Charlotte von Belgien erbauen las-
einer Urlaubsreise mit B. (das ist das Kürzel für meine Frau
sen. Wir haben es dann einmal mit einer Führung besich-
Brigitte) durch Bruneck gefahren. Die Burg war verschlos-
tigt. Von daher kannte ich die traurige Geschichte – wie
sen, obwohl es Sommer war. Man sagte uns, dass sie nicht
Maximilian von seinem französischen Schutzherrn fallen
mehr benützt werde, aber wir konnten jemanden ausfin-
gelassen, von den aufständischen Truppen des Benito
dig machen, der den Schlüssel zur Burg hatte und der uns
Juarez gefangen genommen und schließlich erschossen
aufschloss. Für einen Augenblick lag der Hof genau so vor
wurde; wie seine Frau Charlotte nach ergebnislosen Versu-
mir, wie ich ihn in meiner Erinnerung hatte. Immer noch
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war die Sonnenuhr da, aber beim zweiten Hinsehen kam
Nazi-Deutschland einging und seine antisemitische Politik
mir alles viel kleiner und schäbig vor. Ich war sehr ent-
begann (die auch Onkel Willi und seine Familie zur Emi-
täuscht: Es fällt nicht immer leicht, das magische Tor zur
gration nach Südamerika gezwungen hatte). Doch dann
Kindheit aufzuschließen …
setzte er hinzu: »Und trotzdem bin ich überzeugt, dass die
Das Schicksal jedes Einzelnen wird von der jeweiligen
Ideale unserer Jugend nicht vollständig falsch waren.« In
politischen Situation geprägt. Das gilt vor allem für jene
diesem Zusammenhang muss man allerdings sagen, dass
Menschen, die mit der Geschichte Mitteleuropas des 20.
die faschistische Regierung in Italien bis 1938 keine anti-
Jahrhunderts verwoben sind. Exemplarisch sind meiner
semitische Politik verfolgte, und Mussolini selbst immer
Ansicht nach die Lebensläufe von V., von M. und von
wieder seine Abscheu gegenüber jener der Nationalsozia-
mir selbst. Ich muss zugeben, dass mein als so freundlich
listen betont hatte.
empfundenes sommerliches Italien bereits unter der Herr-
Vico war Standartenführer bei der Balilla, der faschis-
schaft der Faschisten stand, was aber das subjektive posi-
tischen Kinderorganisation. (Die Balilla oder »Opera Na-
tive Empfinden nicht schmälern konnte – bis zum letzten
zionale Balilla« wurde 1926 als Jugendorganisation der
dieser Sommer, 1938, als unser italienisches Leben plötz-
Faschistischen Partei Italiens gegründet und in Deutsch-
lich von einer dunklen Wolke überschattet wurde.
land zum Vorbild für die Hitler-Jugend. Der Name leitet
In den 1930er Jahren war der Faschismus in Italien
sich vom Spitznamen eines jugendlichen Nationalhelden,
omnipräsent – in den Uniformen, den Paraden, den Radio-
Giovan Battista Perasso, ab, der 1746 einen Aufstand ge-
ansprachen (natürlich hauptsächlich in jenen Mussolinis)
gen die österreichische Besatzung von Genua anführte und
und in den Liedern. Onkel Willi war Parteimitglied, und
in der italienischen Nationalhymne Fratelli d’Italia Erwäh-
das nicht nur aus Opportunismus. Ich habe das letzte
nung findet.) Ich weiß noch, wie ich meinen Cousin benei-
Mal in den 1970er Jahren mit ihm gesprochen. Ich war
dete, als er zu seinen Versammlungen ging, herausgeputzt
bei einem Kongress in Rom, und er besuchte mich, aus
in einer schwarzen Uniform, an seinem Hut baumelten
Bologna kommend, wohin er nach seiner Pensionierung
Troddeln.
übersiedelt war. Wir machten einen Spaziergang zur Spa-
Aber am wichtigsten waren die Lieder. Ich hatte viele
nischen Treppe und unterhielten uns über frühere Zeiten.
von ihnen gelernt, manche von Vico, manche aus dem Ra-
Seiner Meinung nach hätte es von Anfang an bedauerli-
dio – besonders die faschistische Hymne Giovinezza (Ju-
che Seiten an diesem Regime gegeben, die eine grausame
gend), aber es gab auch viele mitreißende Marschlieder.
Wendung genommen hätten, als Mussolini die Allianz mit
Sie gehören zu den Klängen meiner Kindheit, was nichts
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mit meiner späteren politischen Überzeugung zu tun hat.
Denn die Melodien unterschieden sich in keiner Weise von
dem, was ich schon vorher als italienische Musik kennen
gelernt hatte. M. sang sehr gern. Sie brachte mir Opernarien bei (La donna è mobile aus Verdis »Rigoletto« beispielsweise), aber auch viele italienische Soldatenlieder,
von denen die meisten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs
stammten und voll leidenschaftlichen Hasses gegen den
österreichischen Feind waren (Monte Grappa oder Auf der
Brücke von Bassano). Wahrscheinlich hatte sie diese Weisen von Onkel Willi gelernt, der seinen Militärdienst in den
1920er Jahren leistete, als die Lieder noch frisch waren.
Besonders gefiel mir das Lied der Alpini mit dem Refrain
Eviva il regimento, eviva il Tricolor, und das eine oder andere kann ich immer noch singen. Zum Beispiel die zweite
Strophe von Monte Grappa – dabei handelt es sich um einen der höchsten Berge der Vicentiner Alpen, wo im Ersten Weltkrieg mehr als 12.000 italienische und über 10.000
österreichische Soldaten fielen: »Die Felder und Weinberge
vor uns sind ein Glied, das man Italien abgetrennt hat. Wir
holen es von den feindlichen Eindringlingen zurück.« (M.
hat sich eigentlich nicht mit der antiösterreichischen Stimmung identifiziert, ihr gefiel einfach die Melodie).
Zwischen Monfalcone und Triest gibt es eine Straße entlang der Küste, über die wir oft gefahren sind. MussoliniZitate prangten dort in riesigen Lettern an den Felsen. Es
gab sie auch an den Wänden der öffentlichen Gebäude,
besonders in Südtirol, wo man damit die deutschsprachige
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»Aber am wichtigsten waren die Lieder. Ich hatte viele von ihnen
gelernt, manche von Vico, manche aus dem Radio.«
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Bevölkerung einschüchtern wollte. Das berühmteste Zitat
Falangisten. Mussolini prägte den Ausdruck »totalitär«.
war: Il Duce ha sempre raggione – »Der Führer hat im-
In einer seiner ersten Reden kündigte er an, dass das fa-
mer Recht«. Aber ich erinnere mich noch an viele andere:
schistische Italien totalitär sein werde und erklärte dazu,
»Kämpfe, gehorche, kritisiere nicht!«, »Viel Feind, viel
es würde »nichts gegen den Staat, nichts ohne den Staat
Ehr’!« und das wahrscheinlich beste von allen: »Ein Tag
und nichts außerhalb des Staates« geben. Wenn Hannah
lang ein Löwe ist besser als das ganze Leben ein Schaf!« Im
Arendt Recht hat, war das Nazi-Regime erst ab 1939 voll
Rückblick erscheinen sie alle lächerlich, ein Teil der Ope-
totalitär, aber ich bin der Meinung, dass schon in den drei-
retten- oder besser Opera-buffa-Atmosphäre, die für das
ßiger Jahren der Unterschied zu Italien bemerkbar war.
faschistische Italien so typisch war. Wenig verwunderlich,
Tatsächlich aber war der italienische faschistische Staat im
dass sie mir als Kind nicht lächerlich vorgekommen sind,
Sinne des späteren politologischen Terminus nicht totali-
aber sie haben mich auch nicht beeindruckt (ich verstand
tär. Es gab ein autoritäres Regime, das keine Opposition
sie auch sicher nicht als Teil der ideologischen Indoktrinie-
duldete, gelegentlich war es brutal, hatte eine Vielzahl von
rung), für mich waren sie einfach ein völlig normaler Teil
Organisationen für die verschiedenen Gruppen der Bevöl-
der Landschaft.
kerung (etwa Dopo Lavoro, die Ferienheime für Arbeiter
Es ist sicherlich nicht möglich, aus dem späteren histo-
unterhielt) und es operierte mit einer massiven Propa-
rischen wie politischen Wissen Rückschlüsse auf die Ur-
gandamaschinerie. Aber anders als Nazi-Deutschland oder
teilsfähigkeit eines Kindes zu ziehen. Trotzdem würde ich
das kommunistische Russland versuchte der faschistische
ganz objektiv sagen, dass es einen Unterschied zwischen
Staat nicht, das gesamte soziale und persönliche Leben zu
dem italienischen Faschismus und anderen faschistischen
bestimmen. Menschen, die ihre Nase nicht in politische
Diktaturen gab. Der Begriff »Faschismus« wird bis heute
Angelegenheiten steckten und wenigstens alibihalber Lip-
sehr flexibel angewandt. Ich bin der Meinung, er ist ei-
penbekenntnisse zur offiziellen Ideologie abgaben, konn-
gentlich korrekterweise nur für das Mussolini-Regime in
ten ihr Leben weitgehend unbehelligt führen. Mehr noch:
Italien anzuwenden. Der italienische Faschismus ist oft
Sich am Leben zu erfreuen hieß im Italien der 1930er-Jahre
in dieselbe Kategorie eingereiht worden wie die Regime
für Erwachsene und noch viel mehr für die Kinder nicht,
in Nazi-Deutschland und im falangistischen Spanien. In
dass man ständig wegschauen musste, weil sich gegen den
Italien herrschte der Terror nicht allenthalben wie unter
Nachbarn unaussprechliche Greueltaten abspielten.
den Nationalsozialisten – zumindest nicht bis zur letzten
An zwei Episoden meiner Kindheit, die eng mit dem
Konsequenz. Und es gab kein Blutvergießen wie bei den
Faschismus zusammenhängen, erinnere ich mich ganz
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besonders. Beide sind nicht wirklich aufregend. Die eine
Einige Zuschauer (bei weitem nicht jeder) grüßten die vor-
ereignete sich in jenem Sommer, in dem wir bei einem
beiziehenden Soldaten mit dem Faschistengruß (wir mach-
deutschsprachigen Bauern in Südtirol einquartiert waren.
ten das natürlich nicht). M. wandte sich an die Dame, die
Die national ausgerichtete Politik der Faschisten sah die
bei uns stand: »Schauen Sie sich doch diese armen Tiroler
Unterdrückung der deutschen Sprache vor, die Bevölke-
Burschen an. Warum müssen die nach Afrika ziehen und
rung sollte italianisiert werden. Diejenigen, die Widerstand
dort sterben?«
leisteten, wurden bestraft, und jene, die sich fügten, be-
Viele Jahre später hielt ich eine Vorlesung in Puerto
lohnt. Meiner Erinnerung nach hatte der Bauer zehn Kin-
Rico. Es war die Zeit des Vietnam-Kriegs. Meine Gastgebe-
der (allein das beeindruckte mich sehr). Die ersten neun
rin war Professorin der dortigen Universität. Am Sonntag
hatten gute österreichische Vornamen, so wie sie auch in
Morgen frühstückten wir mit ihrem Freund, einem Psy-
Nordtirol üblich sind. Das zehnte Kind war ein Bub, der
chiater, der vorschlug, eine Fahrt über die Insel zu machen
kurz vor unserem Eintreffen geboren wurde. Er hieß Italo.
und in einem neuen Fischrestaurant einzukehren, das ihm
Die zweite Episode fand später statt und deren Zusam-
empfohlen worden war. Auf der Fahrt blieben wir in einer
menhang mit der ersten ist schwer zu erklären. Ich werde
kleinen Stadt im Stau stecken, was an einem Sonntagvor-
ihn nicht erklären und die Geschichten einfach nachein-
mittag eher ungewöhnlich schien. Die Ursache war typisch
ander erzählen. Es muss 1935 oder 1936 gewesen sein.
südländisch: Ein Priester ging hinter einem Sarg, gefolgt
Wir waren in Bruneck/Brunico. M., ich und eine Dame,
von schwarz gekleideten Frauen, die laut und hemmungs-
die vermutlich Wienerin war, weil sie sich mit M. auf
los schluchzten. Einige Zuschauer knieten nieder und be-
Deutsch unterhielt, schauten an der Hauptstraße einer Pa-
kreuzigten sich. Der Sarg war mit einer amerikanischen
rade der Alpini zu, die losmarschierten, um am Feldzug
Flagge bedeckt. Es war das Begräbnis eines Burschen der
gegen Äthiopien teilzunehmen. Sie sangen ein damals sehr
Ortschaft, der als Soldat im Vietnamkrieg gefallen war.
populäres Lied: »Schwarze Gesichter in Abessinien freuet
Das Schauspiel entfaltete sich unter der strahlenden ka-
Euch, wir bringen Euch den Duce und den König!« (Inte-
ribischen Sonne. Aber mir kamen die Tiroler Burschen in
ressanterweise hieß es in einer anderen Liedzeile – und
den Sinn, die auszogen, um in Afrika zu sterben.
das mag als Beweis des nicht-rassistischen Charakters der
Die Italianità von M.s Familie und damit auch meines
faschistischen Ideologie im Italien der 1930er Jahre gelten:
Lebens ist dem großväterlichen Hang zur Romantik zu ver-
»Schwarzes Mädchen von Abessinien, freue Dich. Jetzt
danken (ein kritischer Beobachter würde wahrscheinlich
bist Du Sklavin, aber wir machen eine Römerin aus Dir!«).
träumerische Sehnsucht dazu sagen). Ludwig Löw war in
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Wien in eine sehr wohlhabende, assimilierte jüdische Fa-
Zum einen war Ludwig die Privatpraxis zuwider. Er gab
milie hineingeboren worden. Die Loews waren seit einigen
vor, keine Honorare von Patienten annehmen zu wollen,
Generationen in Wien ansässig; Ludwigs Vater war Juwe-
was aber wenig glaubwürdig ist. Ich vermute, dass ihm
lier. Er selbst studierte Medizin, obwohl er offensichtlich
eine Anstellung mit regelmäßigem Gehalt und klar gere-
andere Neigungen hatte, und begann mit wenig Engage-
gelten Arbeitszeiten sehr wichtig waren, um sich seinen
ment eine Laufbahn als Arzt. Fotografien zeigen ihn als
anderen Interessen widmen zu können. Und so suchte er
attraktiven Mann mit verträumtem Blick. Er begann seine
nach einem passenden Posten. Zum anderen hatte er sich
Karriere als Militärarzt in Zagreb (damals Agram), wo er
in Italien und in alles Italienische verliebt. Woher diese
meiner Großmutter begegnete. Einer Familienlegende zu-
Neigung kam, weiß ich nicht, aber sie hatte weitreichende
folge betrat er eines Tages in seiner eleganten Uniform den
Konsequenzen. Zuerst arbeitete er als Kurarzt in verschie-
Tabakladen meiner Urgroßmutter und fragte von oben her-
denen Badeorten Istriens, der italienischsprachigen Region
ab: »Kann man hier so etwas wie Zigaretten bekommen?«
rund um Triest. Schließlich aber fand er genau jene Anstel-
Meine Großmutter Hermine (sie italianisierte später ihren
lung, die zu im passte: als Schiffsarzt des Österreichischen
Namen auf Erminia), damals eine junge Frau, ließ sich vom
Lloyd. Er arbeitete auf Passagierschiffen, die von Triest aus
Wiener Hochmut, der da in ihre provinzielle Umgebung
in die Levante und weiter fuhren.
einbrach, nicht beeindrucken. Sie verkaufte ihm Zigaret-
Die Familie übersiedelte deshalb von Zagreb nach Triest
ten, und wenig später waren sie verheiratet. Die Ehe hielt
und fand dort eine neue Heimat. Alle lernten innerhalb
bis zu Ludwigs Tod in den 1920er Jahren. Aus ihr gingen
kurzer Zeit fließend Italienisch. Das Leben war ruhig und
drei Kinder hervor – M., ihre ältere Schwester Marianne
angenehm. Triest war damals ein Zentrum des Welthandels
und der Jüngste, der mein Onkel Willi werden sollte. Die
und bot eine bunte kulturelle Vielfalt. Außer einer Mehr-
beiden anderen Kinder bekamen deutsche Vornamen, aber
heit von Italienern lebte dort eine große deutschsprachige
aus irgendeinem Grund sollte der Vorname meiner Mutter
Minderheit (darunter auch eine einflussreiche jüdische Ge-
zu ihrem Geburtsort passen und sie wurde auf den kroati-
meinde). Die angrenzenden Gebiete waren kroatisch und
schen Namen Jelka getauft. Nachdem er abgerüstet hatte,
slowenisch. Nicht immer lebten die verschiedenen Ethnien
eröffnete Ludwig für einige Jahre eine Praxis in Zagreb. So
in Eintracht. Die Triestiner Stadtpolitik wurde vom italie-
lernte M. Kroatisch und ging in Zagreb zur Schule.
nischen Irredentismo überschattet, jener panitalienischen
Was sich wie eine ganz gewöhnliche Ärztelaufbahn an-
Bewegung, die für eine Loslösung von der österreichisch-
ließ, verlief schließlich in weniger vorhersagbaren Bahnen.
ungarischen Monarchie und der Zugehörigkeit zum geein-
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ten italienischen Staat eintrat. Der Begriff kommt von terre
manchmal sogar in Bombay und Yokohama. Was Ludwig
irredente (»unerlöste Gebiete«), womit aber vor allem jene
wohl bei seinen Landausflügen gemacht hat? Jedenfalls
Völker gemeint sind, die Anschluss an ihr Mutterland (oft
brachte er seiner Familie immer Geschenke mit.
im Sinne von »muttersprachlichem Land«) suchen. Allein
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Ludwig
schon diese Emotionalisierung zeigt, dass der Irredentis-
eingezogen und arbeitete wieder als Militärarzt. Der Hö-
mus fast religiösen Charakter hatte. Ich weiß nicht, ob
hepunkt seiner Militärkarriere war seine Bestellung zum
überhaupt und in wieweit sich Ludwig mit diesen politi-
Leiter der Zentralklinik für Geschlechtskrankheiten in Mis-
schen Ansichten identifiziert haben mag, aber er genoss
kolc (Ungarn). Erst nach dem Krieg musste er dann seine
sein erreichtes Ziel, im kulturellen Umfeld Italiens leben
wirklich große Lebensentscheidung treffen: Triest war ita-
zu können. Es sieht auch ganz danach aus, als wäre er
lienisch geworden. Viele Deutschsprachige verließen die
gern auf seinen Schiffen fortgesegelt.
Stadt. Ludwig aber entschloss sich, nicht nur in Italien zu
Der Fahrplan der Lloyd-Schiffe bestimmte daher das
bleiben, sondern auch Italiener zu werden. Er suchte um
gesamte Familienleben. Wenn Ludwig heim kam, wurde
die Staatsbürgerschaft an. Er wurde vor eine Gerichtsbe-
er von einer hingebungsvollen Ehefrau und ihn bewun-
hörde zitiert, wo er seine Italianità nachweisen musste.
dernden Kindern empfangen. Nach kurzer Zeit reiste er
Zwei Beweisstücke, eines absurd und eines berührend,
dann wieder ab. M. erzählte, dass Ludwig ein liebevoller
überzeugten schließlich die Behörden davon, dass Lud-
Ehemann und Vater gewesen wäre. Ich habe keinen Grund
wig würdig war, an der »Erlösung« seiner Stadt im Sinne
daran zu zweifeln, auch wenn es mir verwunderlich er-
des Irredentismus teilhaben zu dürfen. Das eine war die
scheint, dass sich ein derartiger Ausbund an familiärer Tu-
Kopie eines Telegramms, in dem Ludwig dem römischen
gend ausgerechnet einen Beruf ausgesucht haben soll, der
Königshaus zur Geburt eines Thronerben gratuliert hatte.
ihn die meiste Zeit über von seiner Familie fern hielt. Ich
Es handelte sich um Kronprinz Umberto, der nach dem
habe einiges über den Österreichischen Lloyd gelesen (es
Zweiten Weltkrieg für 35 Tage den Thron bestieg, bis die
gibt mittlerweile viel Literatur über Triest, und der Lloyd
Italiener in einem Referendum entschieden, dass sie von
war wahrscheinlich die wichtigste Institution der Stadt).
den glücklosen Savoyern genug hätten und lieber in einer
Das Leben an Bord muss angenehm gewesen sein. Es gab
Republik lebten. Neben dieser Kopie hatte Ludwig auch
ein großes Freizeit- und Erholungsangebot und für einen
die Empfangsbestätigung eines Hofbeamten.
Arzt wahrscheinlich wenig zu tun. Die Schiffe legten in
Das zweite Beweisstück war von ganz anderer Natur:
interessanten Häfen an – Korfu, Istanbul, Alexandria,
Während des Krieges hatte Ludwig überall, wo er statio-
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niert gewesen war, zuerst einmal nachgefragt, ob es italie-
ten in Italien. Auch er wurde italienischer Staatsbürger,
nische Kriegsgefangene gab. Er besuchte sie dann, brachte
leistete seinen Militärdienst in der italienischen Armee und
ihnen Geschenke, hörte sich ihre Sorgen an und versuchte,
studierte an einer italienischen Universität Chemie. Er hei-
so gut er konnte zu helfen. Er hatte ein Bündel von Dan-
ratete Tante Maria – eine geborene, keine konvertierte Ita-
kesbriefen dieser ehemaligen Gefangenen, die Zeugnis von
lienerin, eine wunderschöne Frau mit feurigem Tempera-
seiner Liebe zu Italien ablegten. Und so hatte sich Ludwig
ment. Sie hatten zwei Kinder, Vico und Paola (Vico wurde
endlich die Identität verschafft, nach der er sich immer
Angestellter in einem Konzern, Paola Schauspielerin). Für
gesehnt hatte: Er wurde ganz offiziell Italiener. Er änderte
Onkel Willi war die Identität als Italiener eine Selbstver-
seinen Vornamen in Lodovico (wie dann auch sein En-
ständlichkeit und er war ein echter Patriot (samt Faschis-
kel getauft wurde, Onkel Willis Sohn Vico; mein zweiter
mus). Soweit ich das beurteilen kann, erbte er von seinem
Taufname ist ebenfalls Ludwig.) Aus Wilhelm/Willi wurde
Vater das verträumte Temperament, dessen universellen
Guglielmo. M. blieb aber Jelka, obwohl Ludwig/Lodovico
Forschergeist und ausnehmende Liebenswürdigkeit. Nach
wollte, dass sie ihren Namen auf Elena ändern sollte.
Ludwigs Tod lebte meine Großmutter Hermine/Erminia in
Der ganz profane Vorteil dieses Wechsels der Staatsbür-
Onkel Willis Haushalt, auch wenn sie ihre beiden Töch-
gerschaft bestand darin, dass sich Ludwig keine andere
ter oft und ausgiebig in Wien besuchte. Onkel Willi war
Stelle suchen musste. Ab November 1918 stand der Öster-
Fachmann für Pflanzenöle und arbeitete viele Jahre lang
reichische Lloyd unter kommissarischer italienischer Ver-
für »Olio Sasso«, einen mittlerweile europaweit bekannter
waltung und wurde als »Lloyd Triestino« weitergeführt, der
Speiseölerzeuger. Als Mussolini als Zeichen seiner Allianz
vorerst sein Hauptquartier in jenem prächtigen Gebäude
mit Nazi-Deutschland antisemitische Politik betrieb, emig-
am Hauptplatz behielt, der jetzt Piazza dell’Unità d’Italia
rierte Onkel Willi zuerst nach Paraguay, dann nach Argen-
heißt. Die Familie wohnte weiter in der Via Carducci. Und
tinien. In beiden Ländern hatte er weiterhin beruflichen
Ludwig segelte weiterhin auf seinen Schiffen dahin. Ir-
Erfolg. Als er in Pension ging, zogen er und Tante Maria
gendwann in den 1920er Jahren starb er auf einem Lloyd-
in deren Heimatstadt Bologna zurück, wo sie auch beide
Schiff, als es gerade aus einem griechischen Hafen auslief.
beerdigt sind. M. hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrem
Einem Gerücht zufolge hat er Selbstmord begangen, aber
Bruder. Als es nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mög-
ich habe keine Möglichkeit, das zu überprüfen.
lich war, besuchte sie ihn in Argentinien, er kam zu ihr in
Während M. und ihre Schwester nach Wien heirateten,
die USA und gemeinsam unternahmen sie Europareisen.
blieb mein Onkel Willi ganz im Sinne von Ludwigs Absich-
Ein Charakteristikum der Familie Löw ist es – wie es eine
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meiner Wiener Tanten einmal abschätzig bezeichnet hat
in Zagreb, als die serbische Armee die Stadt besetzte. Sie
– »aufeinander zu sitzen«: Diese intensive familiäre Nähe
wusste noch, wie sie durch einen Vorhang vom Fenster
muss auf Außenstehende wohl unangehem gewirkt haben.
aus serbische Abteilungen durch die Straßen marschieren
Für mich war es das nie. Ich erinnere mich an Onkel Willi
sah, die fremd und bedrohlich auf sie wirkten. Sie sangen
als einen Mann von großer Güte. Ich habe noch im Ohr,
Loblieder auf die Dynastie der Karadjordjevic, die das pro-
wie er Deutsch gesprochen hat – fließend, aber mit einer
österreichische Regime der Obrenovic gestürzt und jene
weichen italienischen Färbung.
Verschwörung angezettelt hatte, die schließlich zur Ermor-
M. sprach genauso gut Deutsch wie Italienisch und
dung Erzherzog Franz Ferdinands in Sarajewo führte. Ich
Kroatisch. Aber ich glaube, dass die emotionelle Bindung
glaube, dass ich die grauenhafte Geschichte vom Sturz der
an ihre Geburtstadt Zagreb nicht sehr eng war. Wenn sie
Obrenovic-Dynastie durch eine Junta serbisch-nationaler
nach ihrer Herkunft gefragt wurde und nicht erst lange
Offiziere erstmals von M. gehört habe. König und Köni-
ihre komplizierte Familiengeschichte erzählen wollte,
gin wurden im Palast in Belgrad ermordet, ihre Leichen
sagte sie immer: »Ich bin aus Triest.« Dennoch prägte die
aus dem Fenster geworfen, und die meuternden Offiziere
turbulente Geschichte dieser Stadt auch ihre Biografie und
tanzten »Kolo«, den serbischen Nationaltanz, rund um die
frühen Erinnerungen. Kroatien war bis zum Ersten Welt-
sterblichen Überreste. Ist es dann verwunderlich, wenn M.
krieg autonomer Teil Ungarns. Ein Symbol der ungari-
auf ihre Triestiner Provenienz pochte?
schen Herrschaft war die Hauptpost (die vermutlich auch
Ich bin nie in Zagreb gewesen. Ich schnappte einige kro-
jene Königlich Ungarische Postsparkasse beherbergte, de-
atische Redewendungen auf, weil ich manchmal M. mit
ren Namen ich als Kind so eifrig lernte auszusprechen).
Freunden aus ihrer Kindheit reden hörte, die sie immer
Über dem Eingang prangte riesig das ungarische Wappen.
wieder traf. Aber die paar Brocken haben mir nie etwas
M. erzählte, dass es von kroatischen Nationalisten häu-
bedeutet. Es gibt allerdings eine Episode meiner Kindheit,
fig mit Tinte und faulen Eiern beworfen wurde. Auch an
die mit Zagreb in Verbindung steht und die sich lebhaft
Ausschreitungen gegen die serbische Minderheit konnte
in mein Gedächtnis eingegraben hat. Dabei erlebte ich
sie sich erinnern, in deren Verlauf kroatischer Mob einen
erstmals den Umgang mit dem Tod. Ich muss sieben oder
Friseurladen in ihrer Nähe demolierte, nur weil er einem
acht gewesen sein. Ein Mann mittleren Alters, dessen Fa-
Serben gehörte. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war M.s
milie M. kannte, kam nach Wien, um sich dort ärztlich
Familie über verschiedene Orte verstreut. Obwohl M. so
behandeln zu lassen. Ich weiß nicht, wie er wirklich hieß;
lange in Triest gelebt hatte, war sie aus irgendeinem Grund
alle sprachen ihn nur mit seinem Kosenamen Tschintschi
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an. M. und ich besuchten ihn während seiner Rekonva-
tat, dass Tschintschi gestorben war, aber ich konnte es
leszenz nach einem mir unbekannten Heilverfahren. Er
nicht. Wir saßen an einem Tisch, darauf stand eine Schale
wohnte in der Krainerhütte im Helenental bei Baden (wo
mit ungeschälten Erdnüssen, die mir die beiden unablässig
ich als Erwachsener auch einmal abgestiegen bin). M. und
zuschoben. Das war mir peinlich und ich wusste mir nicht
ich fuhren mit der Badner Bahn hin, und obwohl ich sie
anders zu helfen, als ständig Erdnüsse zu essen, bis ein
nicht zum ersten Mal bestiegen hatte, war ich dennoch
riesiger Berg Schalen vor mir lag.
davon beeindruckt, dass sie blau war und sonst wie die
Während des Esten Weltkrieges arbeitete M. als Kran-
roten Wiener Straßenbahnen aussah. In der Krainerhütte
kenschwester in einem Militärspital in Triest. Sie hat viele
bekamen wir Kaffee und Kuchen, danach hatte Tschintschi
Briefe und Postkarten von ehemaligen Patienten aufgeho-
eine besondere Überraschung für mich parat: Er hatte eine
ben, die sich dafür bedankten, wie wundervoll sie sich
Pferdekutsche gemietet. Ich fuhr zum ersten Mal mit ei-
um sie gekümmert hatte. Als Ludwig das Spital in Miskolc
nem solchen Gefährt und es war sehr aufregend für mich.
leitete, fuhr M. hin, um ihm den Haushalt zu führen. Sie
Wir fuhren mit dem Gespann durch das liebliche Helenen-
hatte zwei schöne Erinnerungen an diese Zeit. Zum einen
tal, vorbei an dem berühmten Jagdhaus, in dem Kronprinz
brachten ihr dort einige Ärzte bei, den ungarischen Czar-
Rudolf mit seiner jungen Geliebten Selbstmord begangen
das zu tanzen. Sie rieten ihr, mit einem Sessel zu üben.
hatte. Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Geschichte damals
Zum anderen gab es in der Offiziersmesse eine Musikka-
schon gekannt habe, aber man wies mich auf Mayerling
pelle, die stets zum Abendessen aufspielte. Immer wenn
hin. Es war ein wunderbarer Besuch bei Tschintschi und
Ludwig, der befehlshabende Offizier, und M. die Messe
ich bedankte mich herzlich für die Kutschenfahrt. Wenig
betraten, unterbrach das Orchester sein Spiel und stimmte
später starb Tschintschi. Ich überlegte, ob er wohl schon
den Rakoczy-Marsch, die ungarische Nationalhymne, an.
gewusst hatte, dass er sterben würde, als wir bei ihm zu
Das war jedes Mal ein bewegender Augenblick für sie.
Besuch waren. Dann kamen seine Witwe und seine zwei
M.s Ehe war glücklich und so war Wien für sie mit
Töchter nach Wien, wohl um das Begräbnis zu arrangie-
schönen Erinnerungen verbunden. Immer wieder erzählte
ren. M. und ich besuchten sie. M. saß mit der Witwe bei-
sie mir von einem Ereignis, das – obwohl an und für sich
sammen, und ich war in Gesellschaft der beiden Töchter,
belanglos – für sie sehr bedeutungsvoll gewesen ist. Ich
Teenager, die ich als sehr schön in Erinnerung habe. Sie
war damals noch ein Baby. M. besuchte V. in seinem Ge-
sprachen nur Kroatisch und daher konnten wir uns nicht
schäft, das ausnahmsweise einmal gut ging. So entschloss
unterhalten. Ich wollte ihnen gerne sagen, wie leid es mir
sie sich, mit einem Taxi nach Hause zu fahren, wo ein
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Kindermädchen auf mich aufpasste. Sie erinnerte sich ge-
Abgsehen davon: Italien ist das einzige Land Europas, in
nau daran, wie sie sich zurücklehnte und überlegte, wie
dem von der Antike bis heute ununterbrochen Juden in
glücklich sie doch war: Sie hatte gerade ihren Ehemann
organisierter Form lebten und leben. Vielleicht hatte Groß-
besucht, der sie liebte und den sie liebte, sie konnte sich
papa Löw also doch Recht.
ein Taxi leisten und sie fuhr jetzt zurück in eine schöne
Wir kamen im Sommer 1938 wieder nach Italien, nach-
Wohnung zu ihrem Kind. Trotzdem hat M. Wien nie ge-
dem wir das von den Nationalsozialisten besetzte Wien
mocht. Sie vermisste natürlich ihre Familie in Italien. Aber
verlassen mussten. Ich erinnere mich an unsere Ankunft
noch mehr: Sie empfand Wien als einen gefühlskalten Ort,
an der Grenzstation. Onkel Willi – wie immer mit seinem
was auch daran liegen mag, dass sie zu V.s Schwestern
faschistischen Parteiabzeichen am Revers – erwartete uns
keine herzliche Beziehung aufbauen konnte.
winkend auf dem Bahnsteig. Er musste sich nicht weiter
Ich frage mich, ob Ludwigs Italienverliebtheit, die er M.
für uns einsetzen; die Passkontrolle durch die Italiener
vererbt und die so weitreichende Folgen für jedes einzelne
verlief ohne Probleme. Wir waren alle sehr erleichtert, als
Familienmitglied gehabt hatte, einfach nur auf einer unbe-
der Zug weiterfuhr. Aber diese Erleichterung war nur von
stimmbaren Sehnsucht beruhte. Zu einem gewissen Grad
kurzer Dauer.
war das sicher so. Denn wie jede andere Gesellschaft hat
Wir hätten keinen schlechteren Zeitpunkt wählen kön-
auch die italienische ihre dunklen Seiten. Ludwig aber war
nen. Gerade hatte Mussolini seine Rassengesetze erlassen,
felsenfest davon überzeugt, dass Italien nicht nur das zivi-
die unter anderem die Ausweisung aller Flüchtlinge aus
lisierteste Land Europas ist, sondern auch das menschen-
Nazi-Deutschland vorsah. Alle Bemühungen von Onkel
freundlichste. Dagegen lässt sich tatsächlich schwer argu-
Willi, uns das zu ersparen, nützten nichts. Als Nicht-Arier
mentieren. Wenn man jedoch die Humanität am Umgang
war er selbst gefährdet und wurde wenig später aus der
eines Volkes mit dem Antisemitismus misst – zumindest in
faschistischen Partei ausgeschlossen. Es wurde uns eine
Europa –, dann steigt Italien aus einem solchen Vergleich
Frist von ein paar Wochen gesetzt, um Italien zu verlassen,
noch verhältnismäßig gut aus. Mussolinis antisemitische
ansonsten würden wir zurück ins Deutsche Reich abge-
Politik hatte nämlich kein Echo in der Bevölkerung. Viele
schoben werden (wir wussten, dass das – zumindest für
einfache Italiener versteckten Juden oder halfen ihnen bei
V. – die Deportation in ein Konzentrationslager bedeutet
der Flucht. Wirklich bemerkenswert aber ist das Verhalten
hätte; was mit M. und mir selbst geschehen wäre, möchte
der italienischen Armee, denn viele ihrer Soldaten sabo-
ich mir nicht vorstellen.) Wie in den früheren Sommern
tierten die Judenhatz der deutschen Besatzungssoldaten.
fuhren wir nach Bruneck/Brunico und mieteten uns in der
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Bischofsburg ein. Wieder spielten Vico und ich bei den Be-
uns trotz gegenteiliger Vorschriften ein Besuchervisum für
festigungsmauern und in den Verliesen, aber wir konnten
Kenia oder Palästina auszustellen – die Elten sollten sich
nicht so sorglos sein wie früher. Eine unserer Spielkame-
entscheiden für welches Land. Es war klar, dass die briti-
radinnen war eine rothaarige Italienerin in unserem Alter,
schen Behörden uns aus keinem dieser Staaten ausweisen
deren Vater wenigstens Admiral war. Sie begann mit Vico
würden, auch wenn die Visa abgelaufen sein würden. Ich
zu streiten und nannte ihn einen dreckigen Juden. Später
glaube nicht, dass V. und M. für ihre Entscheidung viel Zeit
hat sie sich dafür entschuldigt, aber er war weniger ver-
hatten. Sie entschieden sich für Palästina. Später sagten
letzt als vielmehr verwundert über diese Zurückweisung,
sie, es sei ihnen weniger fremd vorgekommen. Manchmal
wo er doch ein treuer junger Faschist war.
habe ich mir überlegt, wie mein Leben verlaufen wäre,
Die darauf folgenden Wochen vergingen mit verzweifel-
hätten sie sich für Kenia entschlossen.
ten Bemühungen, Visa in irgendein anderes Land zu er-
Wir brachen eilig auf – mit wenig Geld und noch weni-
halten. Onkel Willi fuhr uns nach Mailand, wo viele Kon-
ger Gepäck. Aber wir reisten mit Stil – völlig unangebracht
sulate ansässig waren, aber keines war bereit, uns Visa
in unserer Situation. Onkel Willi hatte für uns einen Flug
auszustellen. Ich erinnere mich nicht an die Details dieses
mit der Ala Littoria (das war die staatliche Fluglinie, die
Aufenthalts in Mailand außer der allgegenwärtigen Beklom-
Bezeichnung leitet sich von »ala« für Flügel und »littorio«
menheit. Am Weg zurück wurde mir im Auto schlecht. Wir
für Liktor ab) von Triest nach Haifa gebucht. Die Reise
hielten an einem Pass namens Monte Croce, wo Soldaten
war angenehm und luxuriös – sieht man vom Start ab, bei
postiert waren. Ich stieg aus und übergab mich. Ein Soldat
dem mir schlecht wurde, als ich plötzlich das Meer über
der Alpini sprach tröstend auf mich ein, und als er unsere
statt unter mir sah (Fliegen ging damals nicht so glatt wie
Triestiner Nummerntafeln sah, sagte er: »Oje, ihr habt ja
heute). Das Flugzeug war ein Wasserflugzeug und machte
noch einen weiten Weg vor Euch.«
Zwischenlandungen in Brindisi, Athen und auf Rhodos. In
Am Ende des Sommers kehrten wir zu Onkel Willi nach
Athen brachte uns die Fluglinie in einem eleganten Hotel
Monfalcone zurück. M. und V. klapperten alle Konsulate
unter. Ein entfernter Verwandter von V. war mit einer rei-
ab, die es in Triest gab. Schließlich gingen sie zum wieder-
chen Griechin verheiratet. Er führte uns zu einem opulen-
holten Mal ins britische Konsulat, ich war nicht mit. Als
ten Abendessen aus (im Bürgerkrieg ist er dann unter mir
man ihnen neuerlich sagte, dass uns keine Visa ausgestellt
unbekannten Umständen von den Kommunisten erschos-
werden könnten, brach M. weinend zusammen. Anschei-
sen worden). Auf Rhodos (das damals zu Italien gehör-
nend hatte der Konsularbeamte Mitleid und war nun bereit,
te) gab es ein paar Stunden Aufenthalt. Wir mieteten eine
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Pferdekutsche, die uns durch die Stadt führte. Dann verlie-
Magris zu kontaktieren, den Doyen der Triestiner Intellek-
ßen wir Italien für immer. Einige Stunden später landeten
tuellen. In seinem ersten Buch rechnete er scharf mit dem
wir in Haifa und konnten ohne Schwierigkeiten einreisen.
so genannten »Habsburg-Mythos« ab, später hat er seine
Hier begann eine ganz andere Geschichte.
Meinung geändert und die Habsburgische Vergangenheit
Seither bin ich oft wieder in Italien gewesen und habe
Triests sogar verklärt. Magris versprach mir Unterstützung,
mich dort immer zu Hause gefühlt. Auf einem Familien-
wenn ich nach Triest käme. Das tat ich aber nie. Andere
urlaub mit M. in Jugoslawien fuhren wir nach Portorož/
Projekte kamen dazwischen.
Portorose. Das Hotel, in dem sich meine Eltern kennen ge-
Ich stelle mir M. mit ihrer Mutter und ihren Geschwis-
lernt hatten, war noch da, und wir machten ein Foto mit
tern vor, wie sie am Ufer in Triest stehen und auf das
M. davorstehend. Es hieß immer noch Hotel Regina. Nach
Lloyd-Schiff warten, das Ludwig nach Hause bringen wird.
Triest kam ich nur einmal zurück. Es war kein besonders
Manchmal denke ich, dass wir alle, tief in unserem Her-
erwähnenswerter Besuch. Ich fand tatsächlich Ludwigs
zen, auf dieses weiße Schiff warten – Madame Butterflys
Grab auf dem jüdischen Friedhof, wo es auch einen Ge-
Questa nave bianca –, von dem wir uns die Erfüllung all
denkstein für alle in den letzten Kriegsmonaten aus Triest
unserer Wünsche erhoffen.
in die deutschen Vernichtungslager deportierten Juden
gab. Ich fand die Via Carducci auf einem Stadtplan, aber
es hatte keinen Sinn hinzufahren, da ich mich nicht an
die Hausnummer erinnerte. In den frühen 1970er Jahren
spielte ich mit dem Gedanken, einen Roman vor dem Hintergrund Triests zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Es wäre einen Versuch wert gewesen, die Zeit, als
Österreich an der Adria lag, wieder auferstehen zu lassen
und dabei die unterschiedlichen Einflüsse der Mitteleuropäer, Italiener und Slawen herauszuarbeiten. Damals lebte
M. noch. Ich zeichnete Interviews mit ihr auf, in denen
sie das Leben im Triest von damals beschrieb. Das Band
habe ich noch, aber ich habe es nie übers Herz gebracht,
es abzuhören. Ich bin sogar so weit gegangen, Claudio
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Außenseitertum
Nach unserer zweimaligen unfreiwilligen Abreise zuerst
aus Wien, dann aus Italien kamen wir im Herbst 1938 in
Haifa an. Ich glaube, V. und M. waren davon überzeugt,
dass es sich um einen kurzen Aufenthalt handeln würde,
eine Zwischenstation vor der Weiterreise zu begehrteren
Destinationen in Nord- oder Südamerika, wohin viele unserer Verwandten unterwegs waren. Es war nicht vorhersehbar, dass der Krieg dazwischenkommen würde und wir
Palästina (wie es damals hieß) erst acht Jahre später verlassen werden können. Ich war neun bei unserer Einreise
und siebzehn, als wir weg gingen. Kein Wunder, dass die
dazwischenliegenden Jahre für mein Leben äußerst prägend waren.
Bevor das Wasserflugzeug der Ala Littoria im hoch aufspritzenden Wasser aufsetzte, zog es eine Schleife über
den Golf von Haifa, so dass wir die Stadt und ihre herrliche Lage am Fuß des Karmel sehen konnten. Wir waren
in Hochstimmung, froh, den Belastungen und Sorgen der
letzten Monate entkommen zu sein, und genossen immer
noch den noblen Charakter unserer Reise. Man hatte uns
»Gemeinsam mit einigen anderen Neuankömmlingen steckte man
mich zuerst in den Hebräischunterricht.«
ein kleines Hotel am Karmel empfohlen, wo wir einige
Tage wohnten, während V. Verbindung zu Bekannten aufnahm, über die er hoffte, Arbeit zu finden; Die ersten, mit
denen wir Kontakt aufnahmen, waren die Marbergers aus
Zagreb, die M. von früher kannte. Als wir sie besuchten,
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waren sie entsetzt über die hohen Kosten unseres Hotels
war ein jüdischer Polizist, der sein Gewehr immer in der
und rieten uns zu übersiedeln. Sie halfen uns, ein möblier-
Küche putzte, eine Handlung, die ich mit großem Interesse
tes Zimmer im Vorort Bat Galim zu finden, wo sie selbst
verfolgte. Die Busse ins Zentrum hatten Jalousien, die vor
wohnten. Bat Galim blieb während all der Jahre in Paläs-
Steinen oder Handgranaten schützen sollten, und die Bus-
tina unser Zuhause, zuerst wohnten wir in verschiedenen
fahrer waren mit Revolvern bewaffnet. Einmal beobachte-
möblierten Zimmern, dann, als V. endlich Arbeit gefunden
te ich einen britischen Offizier in Paradeuniform auf dem
hatte, nacheinander in zwei Wohnungen.
Weg ins Kasino, der eine große Pistole in der Hand trug.
Ich weiß nicht, wie Bat Galim heute aussieht. Damals war
Um ein wenig Geld zu verdienen, hatte M. in Annoncen
es eine sehr angenehme Wohngegend, ungefähr zwanzig
Italienisch- und Deutschunterricht angeboten, und aus ir-
Busminuten vom Zentrum Haifas entfernt. Und es lag am
gendeinem Grund buchte ein sehr netter britischer Offizier
Meer – das hebräische Bat Galim heißt auf Deutsch »Toch-
die angebotenen Italienischstunden. Er wurde getötet, als
ter der Wogen«. In seinem Zentrum gab es zwei öffentliche
sein Wagen auf eine Landmine auflief. Sein Adjutant kam
Einrichtungen: ein Schwimmbad für alle, die nicht gern im
tränenüberströmt in unser Zimmer und erzählte, was ge-
Meer badeten, und ein großes Gebäude, das sich Casino
schehen war. Schließlich bot er an, eventuell noch offene
nannte. Der Name war irreführend, denn eigentlich han-
Unterrichtsgebühren zu begleichen.
delte es sich um einen Nachtklub, der besonders gern von
Wir trugen unser Christentum (wenn man das über-
britischen Offizieren frequentiert wurde. Es gab aber eine
haupt so nennen kann) nicht vor uns her. Wir benahmen
gute Infrastruktur mit Geschäften und zwei Kaffeehäusern.
uns wie alle anderen jüdischen Flüchtlingsfamilien und
Das schönste war für mich ein Sandstrand neben dem Ca-
wurden auch für eine solche gehalten. In Bat Galim gab
sino, wo wir oft badeten und in der Sonne lagen. Am Rand
es auch eine Schule, in die ich eingeschrieben wurde (ich
von Bat Galim gab es zwei große britische Armeelager, ei-
glaube, es wurde Unterricht vom Kindergarten bis zur
nes davon hatte Artilleriegeschütze, die aufs Meer und in
Mittelschule angeboten). Gemeinsam mit einigen anderen
den Himmel gerichtet waren.
Neuankömmlingen steckte man mich zuerst in den Heb-
Zu dieser Zeit gab es zahlreiche Terrorakte von Seiten
räischunterricht. Ich weiß nicht, wie gut ich dort Hebrä-
der Araber. Als der Krieg ausbrach, fand diese Bedrohung
isch gelernt habe, aber anscheinend genügend, um über
ein Ende, und als wir abreisten, wurde sie durch jüdische
die Runden zu kommen. Heute kann ich nicht mehr sehr
Gewalttaten ersetzt. Man warnte uns davor, in die arabi-
viel, obwohl ich jedes Mal, wenn ich Hebräisch höre, über-
schen Teile der Stadt zu gehen. Einer unserer Nachbarn
rascht bin, wie viel ich doch noch verstehe. Meine Klas-
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senlehrerin war eine engagierte junge Frau, die uns von
Ich erinnere mich an ein Ereignis, das mich besonders
jüdischen Heldentaten erzählte und zionistische Lieder
unglücklich machte: Der Direktor hatte seine Wohnung
beibrachte. Mir sagte man, dass mein Vorname unzulässig
in dem Haus, das gegenüber unserer ersten möblierten
sei und man mich von nun an Jakov nennen würde. Das
Unterkunft lag. Eines Nachmittags nach Schulschluss gab
behagte mir überhaupt nicht. Die Schule mochte ich eben-
es dort einen großen Tumult. Man erzählte mir, dass der
falls nicht. Die einheimischen Kinder, die sabras, machten
kleine Sohn des Direktors, den ich ein paar Mal gesehen
sich ununterbrochen über mich und die anderen Neuan-
hatte und der wohl erst drei oder vier Jahre alt war, in ein
kömmlinge lustig, und das ärgerte mich.
Becken gefallen und ertrunken war. Dann brachte man den
Soweit ich mich an meinen damaligen Seelenzustand
Direktor und seine Frau in ihre Wohnung. Er war bewusst-
erinnern kann, glaube ich nicht, dass meine ablehnende
los und musste auf einer Tragbahre getragen werden. Die
Einstellung der Schule gegenüber damit zu tun hat, dass
Frau des Direktors wurde von zwei Frauen gestützt und
ich mich nicht als Jude empfand, was man natürlich vor-
schrie immerfort.
aussetzte. Mir war auch das Christentum gleichgültig, vor
Unsere finanzielle Lage war ziemlich prekär. M.s Sprach-
allem in Anbetracht der Umstände meiner Taufe (auf die
unterricht brachte sehr wenig ein. V. fand zwar immer
ich gleich zu sprechen kommen werde). Vielmehr habe
wieder Gelegenheitsjobs, aber keinen ständigen Arbeits-
ich wohl als Neuling auf meine Art auf den Spott und das
platz. Wir überlebten dank kleiner Überweisungen von
mangelnde Entgegenkommen der einheimischen Kinder
Verwandten und Freunden aus dem Ausland. Als wir uns
reagiert.
die Miete für das möblierte Zimmer nicht mehr leisten
Die Lieder, die wir lernten, gefielen mir und ich habe
konnten, schlugen uns die Marbergers großzügigerweise
noch einige Melodien im Ohr, wenn ich auch die Texte
vor, zu ihnen zu ziehen. Wir hatten ein Zimmer in ihrer
nicht behalten habe. Wir hatten einen athletischen jungen
kleinen Wohnung, die nun sieben Menschen beherbergte
Lehrer, der mit uns Fußmärsche unternahm. Wenn wir im
– uns, das Ehepaar Marberger und ihre beiden Kinder. Es
Gleichschritt an einem Armeelager vorbeigingen, rief er uns
war also ziemlich beengt dort, aber die Wohnung lag di-
zu: »Zeigen wir den Engländern, wie wir marschieren kön-
rekt am Strand, wohin ich mit der ungefähr gleichaltrigen
nen!« Dann ließ er uns damals übliche zionistische Parolen
Tochter der Marbergers schwimmen und Ball spielen ge-
rufen: »Freie Zuwanderung! Für einen hebräischen Staat!«
hen konnte.
Einige britische Soldaten saßen in Unterhemden vor ihren
Baracken und rauchten. Sie beachteten uns nicht.
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Es muss ungefähr ein Jahr nach unserer Ankunft in Haifa
gewesen sein, als V. eine zufällige Bekanntschaft machte,
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die unsere Situation grundlegend veränderte und weit-
Herrn Plotke eröffnete, dass wir Christen sind. Dafür muss
reichende Auswirkungen auf mein ganzes Leben hatte.
ich in die Zeit kurz vor unserer Abreise aus dem national-
Auf einer seiner Stadtrundgänge, die er im Zuge seiner
sozialistisch besetzten Wien zurückgreifen.
Arbeitssuche immer wieder unternahm, kam er an einer
Gemäß der Ideologie und den Gesetzen der Nazis war
protestantischen Mission vorbei. Er blieb stehen, um sich
man als Jude Angehöriger einer Rasse, woran auch die
deren Informationsmaterial anzusehen und kam dabei
Konversion vom Judentum zu einer anderen Religion nichts
mit einem der Missionare, einem gewissen Herrn Plotke,
änderte. Im Sommer 1938 gab es jedoch Gerüchte in der
ins Gespräch. Der war ein recht jovialer deutscher Jude,
Wiener Kultusgemeinde, dass bestimmte südamerikani-
der schon in Deutschland der Heilsarmee beigetreten und
sche Staaten großzügiger bei der Visavergabe wären, wenn
sogar »Offizier« dort geworden war. V. ließ durchblicken,
sich Juden als Angehörige einer christlichen Gemeinde
dass wir auch Christen seien, worauf ihm Herr Plotke ver-
ausweisen könnten. Ob daran etwas wahr war, kann ich
sprach, ihn bei der Arbeitssuche zu unterstützen.
nicht beurteilen, ich kenne niemanden, der es ausprobiert
Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, stelle ich
hat. Wie auch immer. Ein christlicher Kleriker ließ wissen,
mir oft die Frage, wie es verlaufen wäre, wenn es das eine
dass er jeden, der ihn darum bitten sollte, taufen würde. Es
oder andere Ereignis gar nicht oder ganz anders gegeben
war der anglikanische Kaplan an der britischen Botschaft.
hätte. Was wäre wohl gewesen, wenn V. nicht stehen ge-
Er verlangte ein bescheidenes Honorar für diesen Dienst
blieben wäre und mit Herrn Plotke geplaudert hätte? Oder
und, so viel ich weiß, ist er später von seinen Vorgesetzten
wenn V. und M. sich auf dem Konsulat in Triest nicht für
für diesen Taufschacher gerügt worden. Ich weiß nicht, ob
Palästina, sondern für Kenia entschieden hätten? Oder
ihn nur die Gier trieb (wobei der Profit kein großer gewe-
wenn V. nicht mit der jungen Tochter des italophilen Kur-
sen sein kann) oder ob er einfach Menschen dabei helfen
arztes in Portorose schwimmen gegangen wäre? Und wenn
wollte, den Nationalsozialisten zu entkommen.
dieser Kurarzt nicht von Italien besessen gewesen wäre?
Im Spätsommer 1938 fanden V., M. und ich uns gemein-
Die Macht des Zufalls lastet ebenso schwer auf der persön-
sam mit ungefähr 30 anderen in der Kapelle der britischen
lichen wie auf der Weltgeschichte – was wäre geschehen,
Botschaft ein, um die Taufe nach dem Ritus der »Church
wenn Thomas Luckmann und ich 1910 die österreichisch-
of England« zu empfangen. Auch eine von V.s Schwestern
ungarische Monarchie hätten retten können? Hier soll aber
und ihr Mann waren mit von der Partie. In kleinen Grup-
nicht über Zufall und Notwendigkeit philosophiert werden.
pen traten wir vor, knieten vor dem Altar nieder und wur-
Viel mehr muss ich erklären, was dahinter steckte, als V.
den einer nach dem anderen getauft. Als wir in unsere
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Kirchenbank zurückkehrten, beugte sich mein Onkel zu
die einzige christliche Gruppe, die ich damals kannte). Er
mir und sagte mit einem zynischen Grinsen: »Jetzt bist Du
sagte nein, wir würden Anglikaner werden. Er konnte mir
also getauft!« Ich weiß noch, wie schrecklich verlegen und
nicht wirklich erklären, was der Unterschied zwischen
irgendwie erniedrigt ich mich da fühlte. Nach der Zere-
den beiden Konfessionen war. Wir wurden auch von un-
monie bekamen wir die Taufscheine, die ja der eigentliche
serem Botschaftskaplan nicht einschlägig unterwiesen.
Sinn und Zweck des Unternehmens waren. Ich habe den
Als ich mehr über die Bedeutung der Taufe wissen wollte,
meinen noch immer. Es waren offensichtlich Standard-
kaufte mir V. einen katholischen Katechismus. Er sagte,
formulare, die in den englischen Kirchen auch verwendet
dass mir das weiterhelfen würde. Das tat er nicht, aber
wurden. Darauf stand, dass wir in der »Pfarre« Wien in der
ich habe mich auch nicht weiter damit beschäftigt. Ich er-
»Grafschaft« Österreich getauft worden waren. Die Unter-
innere mich an eine Passage über die heiligen Handlun-
schrift des vollziehenden Priesters ist unleserlich.
gen des Priesters während der Messe, aber V. wies mich
Es ist schwierig, mich in die Stimmungslage eines Neun-
darauf hin, dass diese Dinge in der »Church of England«
jährigen zu versetzen und eine Antwort darauf zu finden,
eine andere Rolle spielten. Ich muss wohl dazu sagen, dass
was ihm dieses (in der Rückschau albern erscheinende)
V.s theologische Interessen gleich null waren, aber er war
Ereignis bedeutet haben mag. Außer an eine unbestimmte
immer von allem Englischen entzückt gewesen, und ich
Verlegenheit erinnere ich mich an keine Wirkung von
kann mir vorstellen, dass es seinem anglophilen Hang sehr
dieser Begebenheit, die freilich in einer Atmosphäre der
entgegenkam, anglikanisch zu sein. Das also war die Basis
Angst stattfand. Ich liege sicher nicht falsch mit der An-
unseres Christentums, mit dem sich V. gegenüber Herrn
nahme, dass ich mich ohne Schwierigkeiten von dieser
Plotke auswies.
christlichen Identität, die mir angeblich bei dieser kleinen
Bevor ich von den Folgen von V.s Gespräch mit Herrn
Zeremonie verliehen worden ist, lossagen hätte können,
Plotke berichte, sollte ich noch von einem ziemlich unge-
dass ich sie ganz einfach hätte vergessen können, hätte sie
wöhnlichen Vorfall erzählen, der mit den erwähnten Tauf-
nicht kurze Zeit später eine sehr praktische Bedeutung be-
scheinen zusammenhängt. Die Kirche des Heiligen Gra-
kommen. Darum hatte ich auch keinerlei Gewissensbisse
bes in der Altstadt von Jerusalem wird traditionellerweise
wegen uns vermeintlichen Christen, die sich in Haifa als
(und vermutlich fälschlich) als Bestattungsstelle Jesu an-
ganz gewöhnliche jüdische Flüchtlinge ausgaben. Ich er-
gesehen. Nur Christen sollen sie betreten dürfen. Da aber
innere mich noch, wie ich kurz vor der Taufzeremonie V.
die verschiedenen christlichen Gemeinschaften, die dort
gefragt habe, ob wir denn nun Katholiken werden (das war
ihre Gottesdienste abhielten – die Griechen, die Lateiner,
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die Armenier, die Kopten –, über endloses Gezänk nicht
Die Mission, der Herr Plotke vorstand, gehörte einer
hinauskamen, hatten die ottomanischen Behörden die Ver-
Organisation, die sich »British Jews Society« nannte, ein
waltung dieser Kirche in muslimische Hände gelegt und
etwas irreführender Name, da es sich nicht um eine Verei-
daran haben die Briten später nichts geändert. Irgendwann
nigung britischer Juden handelte, sondern um eine solche,
während unseres Aufenthalts in Palästina sind V. und M.
die sich für die Bekehrung von Juden zum Christentum
mit mir nach Jerusalem gereist. Wir wollten in die Gra-
einsetzte – egal ob britisch oder nicht. Das Gebäude lag
beskirche gehen, wurden aber von einem muslimischen
in der Hadar, dem größten jüdischen Viertel von Haifa. Im
Wächter aufgehalten. Er sagte: Hier dürfen nur Christen
selben Haus gab es auch eine Klinik, die ein sehr kompe-
hinein, nicht Juden wie ihr. V. wurde sehr zornig und
tenter Arzt, ein gewisser Dr. Churcher, leitete. Im straßen-
streckte ihm triumphierend jenen Taufschein entgegen,
seitigen Eingangsbereich der Mission, einer Art Kapelle,
der ihm in der Botschaft in Wien ausgestellt worden war.
gab es Bücher über das Christentum in allen möglichen
Der Moslem, der höchstwahrscheinlich das Dokument gar
Sprachen. Manchmal wurden dort auch Gottesdienste ab-
nicht lesen konnte, war offensichtlich so beeindruckt, dass
gehalten. Soweit ich weiß, ist aber nie einer auf Hebräisch
er uns durchwinkte. Mir war der Vorfall peinlich. Ich fragte
gehalten worden. Herr Plotke predigte auf Deutsch, ebenso
mich, ob V. seinen Taufschein immer mit sich herumtrug
wie Dr. Neumann, ein anderer Missionar, der etwas später
und wenn ja, warum.
dazustieß und der eine wichtige Rolle in meinem Leben
Der britische Imperialismus hatte immer eine religiöse
spielen sollte. Ich vermied es, zu diesen zutiefst absurden
Dimension, legitimiert einerseits durch die enge Verbin-
Veranstaltungen zu gehen – ein Gottesdienst auf Deutsch,
dung mit der etablierten Kirche (immerhin gibt es den
eine winzige Gemeinde aus fragwürdigen Anhängern, die
vom Souverän hochgeschätzten Titel Defender of the Faith,
Türen zur Straße immer offen und draußen kleine Grup-
also zu Deutsch »Verteidiger des Glaubens«), andererseits
pen von Jugendlichen aus der Umgebung, die auf Heb-
durch den weit verbreiteten Einfluss des evanglikalen Pro-
räisch Verbalinjurien hineinriefen. Wie die Organisation
testantismus. Es ist daher nicht überraschend, wenn diese
aufgebaut war, weiß ich nicht. Aber zumindest auf dem
Dimension deutlich sichtbar wurde, als das Heilige Land
Papier war eine Frau Rohold die Leiterin, die Witwe jenes
nach dem Ersten Weltkrieg ins britische Königreich ein-
Missionars, der die Organisation in Haifa auf die Beine ge-
gegliedert wurde. V. war nun sozusagen in Kontakt mit
stellt hatte.
dem religiösen Unterbau der britischen Herrschaft über
Palästina getreten.
Frau Rohold wohnte in einer gemütlichen Villa in der
so genannten »Deutschen Kolonie« am Fuße des Karmel.
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Ab und zu waren wir in die Villa zum Tee eingeladen, ei-
auch eine Abteilung für Herrenmode haben (wofür V. na-
ner Zeremonie unter der Oberhoheit der alten Dame. Die
türlich die besten Referenzen mitbrachte).
Gäste waren eine bunte Runde aus »eingeborenen« Mis-
V. behielt diese Anstellung bis zu unserer Ausreise aus
sionsmitgliedern sowie Angehörigen der niedrigen Ränge
Palästina. Für die dortigen Verhältnisse war es ein guter
der britischen Zivil- und Militärverwaltung. Dazu kamen
Arbeitsplatz. Wir konnten davon leben, aber erst als un-
noch einige arabische Mägde als dienstbare Geister. Am
gefähr ein Jahr später Spinney’s in Bat Galim zusätzlich
deutlichsten erinnere ich mich freilich an die Schwierig-
noch ein Lebensmittelgeschäft eröffnete und auch M. dort
keiten, in einer Hand eine Teetasse samt Untertasse und
angestellt wurde, verbesserte sich unsere finanzielle Situ-
in der anderen einen Kuchenteller zu balancieren, weil es
ation wesentlich. M. arbeitete als Assistentin des Filiallei-
keine Tische gab. Möglicherweise hatte die Meisterschaft
ters, eines genialen russischen Juden, später leitete sie ein
in dieser Disziplin für das kulturbringende Missionswerk
Postamt, das im Geschäft untergebracht war.
des britischen Königreichs den gleichen Stellenwert wie
die Bekehrung zum protestantischen Christentum.
Klarerweise wurden sowohl Fulworth’s im Stadtzentrum
als auch Spinney’s in Bat Galim wichtige Bezugspunkte
Herr Plotke hielt Wort. Schon bald nach ihrem ersten
für mich. Besonders gern holte ich V. am Ende seines
Zusammentreffen erhielt V. das Angebot, Zweigstellenma-
Arbeitstages ab. Fulworth’s lag in der Jaffa Road, im Her-
nager bei Spinney’s zu werden, einer britischen Firma mit
zen des Geschäftszentrums der Stadt. Ich fuhr mit dem Bus
Filialen in ganz Palästina. Ihr Gründer, Mr. Spinney, führte
von Bat Galim bis zur Jaffa Road mit all ihren Kaffeehäu-
die Firma damals noch selbst. Er war Versorgungsunter-
sern, aus denen laute arabische Musik tönte, die ich gerne
offizier in der Armee von General Allenby gewesen, die
hörte. Als Sohn des Chefs wurde ich im Fulworth’s immer
Palästina im Ersten Weltkrieg erobert hatte. Mr. Spinney
gut aufgenommen und mit Freude empfangen. Es gab dort
entschloss sich zu bleiben und Geschäftsmann zu werden.
V.s Assistenten, einen angenehmen jungen Araber na-
Er war ein ziemlich derber, aber im Wesentlichen guther-
mens Mr. Khoury, und einige (verdächtig attraktive) junge
ziger Mann; welche Verbindung er zu dem bewussten re-
Verkäuferinnen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. V.
ligiösen Netzwerk hatte, weiß ich nicht. Spinney’s betrieb
schloss das Geschäft ab, dann gingen wir manchmal noch
Lebensmittelläden in den großen Städten, aber V. wurde
ins Zentrum einkaufen und fuhren schließlich gemeinsam
für ein neues Unternehmen angestellt, das sich (vielleicht
mit dem Bus nach Bat Galim zurück. Manchmal ging ich
ironisch gemeint) Fulworth’s nannte. Es sollte ein richtiges
an Tagen, an denen ich nicht in der Schule war, auf ein
Warenhaus, nicht nur ein Lebensmittelladen werden und
Mittagessen mit V. in einem Restaurant in der Nähe. Ich
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erinnere mich an diese Besuche als wären es Festbanketts
Jahre alt. Selbst vom Standpunkt meines wohlsituierten
gewesen.
Lebensabschnitts in Amerika aus auf diese Zeit zurück-
Als die Angriffe mit Axis-Bomben auf Haifa begannen,
blickend, schäme ich mich nicht dafür. Angesichts der Le-
kam V. eine besondere Aufgabe zu, die mich tief beein-
bensumstände kann ich auch V. und M. keinen Vorwurf
druckte. Immer wenn das Entwarnungssignal ertönte, so-
machen. Aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, welch
gar wenn das mitten in der Nacht war, nahm V. ein Taxi,
unterschiedliche Auswirkungen auf die Religiosität jedes
fuhr zu Fulworth’s und überprüfte, ob dort auch alles heil
einzelnen von uns dreien diese Zeit hatte. Ich glaube, dass
geblieben war.
V. unbeeindruckt blieb. Er war zuvor nicht areligiös, auch
Unsere Lage verbesserte sich merklich durch V.s Anstel-
wenn er sich zu keinem bestimmten Glauben bekannte.
lung bei Fulworth’s. Endlich war Schluss mit den möb-
Ich weiß, dass er manchmal zu einem Gott um Hilfe flehte,
lierten Zimmern, und wir konnten eine eigene Wohnung
den man vage als »jüdisch-christlich« bezeichnen könnte.
mieten. Sie befand sich in einer Straße namens Blue Coast,
»Christ-Sein« war für V. ein Wechsel im sozialen Umfeld,
direkt am Meer zwischen dem Casino und der Stellung
was er als völlig unproblematisch erlebte. Er hat nie vor-
der britischen Artillerie. Die Wohnung lag im dritten Stock
gegeben, an Dinge zu glauben, derer er sich nicht sicher
eines ziemlich großen Hauses und hatte einen Balkon
sein konnte. Später, als Heranwachsender, hat mich das in
zum Meer hinaus. Sie bestand aus einem Schlafzimmer
meiner Phase intensiver Religiosität gestört. Einmal habe
für V. und M., einem Wohnzimmer, das gleichzeitig auch
ich ihn gefragt, ob er an ein Leben nach dem Tod glaubt. Er
mein Zimmer war und auf die Terrasse hinausführte, ei-
zuckte nur mit den Achseln und sagte: »Bis jetzt ist keiner
ner Küche mit Essecke und einem Badezimmer – äußerst
zurückgekommen und hat davon erzählt.«
luxuriös im Vergleich zu dem, was wir zuvor bewohnt hat-
M. ihrerseits entwickelte eine intensive und offene Fröm-
ten. »Christlich« zu sein hatte sich also ausgezahlt. Auch,
migkeit, an der sie ihr ganzes Leben festhielt. Für mich
was meine Schullaufbahn betraf, wovon noch ausführlich
wiederum sollte das Christentum zum Mittelpunkt meines
die Rede sein wird.
Lebens werden. Folglich bin ich nicht bereit, die profanen
Wir waren bestimmt das, was man »Reis-Christen«
(wenn nicht sogar leicht fragwürdigen) Anfänge zu bedau-
nennt. (Diese Bezeichnung galt in Asien für jene Men-
ern. Ich könnte das auch theologisch präziser ausdrücken.
schen, die sich ihren Reis nicht selbst anbauen konnten
Aber in diesem Zusammenhang genügt es zu sagen, dass
oder wollten und sich ihre Reisrationen zum Preis einer
ich moralische Urteile über diese weit zurückliegenden Er-
Taufe von den Missionaren holten.) Ich war damals zehn
eignisse für unangebracht halte.
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Damals gab es aber auch Leute, die weniger tolerant
lesen habe, in einem kleinen roten Notizbuch; ich habe
waren. Als unsere christlichen Verbindungen allgemein
es später dann verloren. Gegen Ende unseres Aufenthalts
bekannt wurden, wollten einige unserer jüdischen Be-
in Bat Galim leitete eine junge Frau namens Rina die Bi-
kannten nichts mehr mit uns zu tun haben. Am schmerz-
bliothek, die – ohne es zu ahnen – Objekt meiner frühen
lichsten war der Rückzug der Jakobsons, eines deutsch-
erotischen Fantasien wurde. Die Bibliothek bot aber mehr
jüdischen Ehepaars in Bat Galim, mit dem sich V. und M.
als nur Bücher. Jede Woche gab es dort ein »Konzert«. Das
sehr angefreundet hatten; Herr Jakobson war unser Zahn-
lief so ab: Eine kleine Gruppe versammelte sich rund um
arzt gewesen. Er ließ wissen, dass wir keinen Charakter
ein Grammofon, auf dem von einem Bibliotheksangestell-
hatten und forderte auch andere dazu auf, nicht mehr mit
ten Platten mit klassischer Musik auflegt wurden. Das war
uns zu verkehren; deswegen mussten wir unter anderem
freilich noch vor der Erfindung der Langspielplatte, sodass
unseren Zahnarzt wechseln. Unser christliches Outing«
es häufig Pausen gab, wenn der Tonträger umgedreht wer-
hatte jedoch keine Auswirkungen auf zwei Familien, die
den musste. Die Anwesenden hörten aufmerksam zu.
V. und M.s beste Freunde in Bat Galim geworden waren:
Vielleicht sollte ich noch ein anderes kulturelles Ange-
die Marbergers, von denen schon die Rede war, und die
bot erwähnen. Einer der Buschauffeure war in Deutsch-
Hochstädters, ein Ehepaar aus Wien. Die Hochstädters
land Schauspieler gewesen, und ein- oder zweimal bin ich
waren wichtig, weil sie die einzigen in unserer Bekannt-
zu Lesungen deutscher Dramen gegangen, die er in seiner
schaft waren, die ein Kurzwellenradio besaßen. Manchmal
Wohnung hielt. Dabei hatte er aus Goethes Faust vorge-
besuchten wir sie in ihrer Wohnung, um Radio zu hören
tragen. Ich sagte M., dass ich bis dahin gar nicht gewusst
– auch Programme der BBC in London und des Deutschen
hatte, was für eine schöne Sprache das Deutsche sei. Sie
Afrika Korps.
erzählte dem Chauffeur/Schauspieler davon, worauf er in
Wichtig für unser soziales und kulturelles Leben in Bat
Tränen ausbrach. Der tat uns übrigens wegen des scham-
Galim war die örtliche Zweigstelle der Pevsner Bibliothek.
losen Benehmens seiner Frau Leid. Sie war viel jünger als
Für eine geringe monatliche Gebühr konnte man dort Bü-
er und recht attraktiv. Da ihre Wohnung gleich neben der
cher entlehnen. Davon habe ich intensiv Gebrauch ge-
Spinney’s-Filiale lag, konnte man von dort ohne Mühe se-
macht und zuerst deutsche, später englische Bücher zu
hen, wie der eine oder andere Liebhaber dort auftauchte,
den unterschiedlichsten Themenkreisen ausgeliehen. Es
sobald der Ehemann mitsamt seinem Revolver zur Arbeit
gab eine bemerkenswerte Auswahl. Mehrere Jahre hin-
gegangen war. Dabei handelte es sich samt und sonders
durch notierte ich mir den Titel jedes Buches, das ich ge-
um britische Offiziere, die oft eine Rauchpause im Unter-
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hemd auf dem kleinen Balkon der Wohnung machten. M.
den schneebedeckten Gipfel des Hermon sehen. Über dem
fragte sich, ob der Ehemann etwas von diesen außerplan-
Hauseingang hing ein Schild mit der Bezeichnung »Schwei-
mäßigen Aktivitäten seiner Frau wusste.
zer Judenmission«, auf dem auch die Schweizer Fahne
Die wichtigste »christliche« Erfahrung machte ich in den
dargestellt war. Das ärgerte einige Juden in der Nachbar-
zwei Jahren an der Schweizer Missionsschule am Karmel.
schaft und sie beschwerten sich beim Schweizer Konsulat.
Dazu muss ich sagen, dass dieses Christentum sehr eigen-
Sie sandten der Mission eine Note, in der verlangt wurde,
willig war. Die Schule wurde irgendwie von einer offen-
das Schild zu entfernen, da nach Schweizer Gesetz nur
sichtlich pietistischen Institution namens »Schweizer Mis-
Einrichtungen der Schweizer Bundesregierung das Recht
sion bei den Juden« finanziert. Die Mission gab es schon
hätten, die Schweizer Fahne zu verwenden. Herr Löwen-
länger, aber bis zu meinem Eintritt wurde hier noch kein
stein ließ wissen, dass er sich nicht dem Schweizer Gesetz
Unterricht angeboten. Offenbar führte sie genauso wie ihr
verpflichtet fühlte, und so blieb das Schild, wie es war.
britisches Gegenstück am Fuß des Berges verschiedene
Nachdem ich mich geweigert hatte, länger in die Schule
missionarische auf deutschsprachige Juden abgezielte Tä-
von Bat Galim zu gehen, ging ich einige Zeit überhaupt
tigkeiten durch, um die sich ebenfalls eine kleine Schar
nicht zur Schule. Über das protestantische Netzwerk, mit
von Anhängern versammelt hatte. Freilich war nichts an
dem wir durch Herrn Plotke in Kontakt getreten waren,
der Mission schweizerisch, sieht man von der ursprüngli-
lernten wir dann Herrn Löwenstein kennen. Er meinte,
chen Finanzierung ab. Der leitende Missionar war Herr Lö-
dass er eine Reihe von Kindern mit dem gleichen Problem
wenstein, ein bekehrter deutscher 60-jähriger Jude. Es gab
kennt und deshalb eine Schule eröffnen will. Ich glaube
noch zwei weitere Angestellte, Herrn Löwensteins Toch-
nicht, dass er sich um irgendeine offizielle Anerkennung
ter Ruth und Schwester Else, eine Frau in den Fünfzigern.
der Schule gekümmert hat, was wohl auch nicht nötig
Ruth und Else konnten einander nicht leiden. Ruth hegte
war. Während meines ersten Schuljahrs dort begannen die
wahrscheinlich gar nicht zu Unrecht den Verdacht, dass
Bombenangriffe, und da es auf dem Karmel sicherer zu
sich Else ihren Vater angeln wollte. Dieses unglückliche
sein schien als in Bat Galim, kam ich dorthin ins Internat.
Trio bewohnte ein schönes Gebäude auf dem Karmel. Von
Dann ebbten die Bombardements wieder ab, weil die Bri-
der großen Terrasse hatte man einen wunderbaren Blick
ten die Gebiete Vichy-Frankreichs in Syrien und im Liba-
über die Stadt und den Hafen von Haifa, auf die Stadt-
non besetzt hatten, und so konnte ich nach der ersten im
mauern von Acre auf der anderen Seite des Golfs und auf
Internat verbrachten Klasse wieder zu Hause in Bat Galim
die Berge Galiläas. Bei klarem Wetter konnte man sogar
wohnen und mit dem Bus zur Schule fahren.
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Soweit ich mich erinnere, hatte meine Schule im ersten
er und meine deutsche Mitschülerin auch; mit anderen
Jahr nur vier oder fünf Schüler. Es gab außer mir noch
»arischen« Deutschen wurden sie von den britischen Be-
einen weiteren Internatsschüler, mit dem ich mir das Zim-
hörden interniert. An die anderen paar Schüler kann ich
mer neben Schwester Elses Zimmer teilte und mit dem
mich nicht mehr erinnern. Der Ersatz für Herrn Lippmann
ich mich nicht sonderlich gut verstand. Unter den exter-
war eine athletisch wirkende junge Frau, Fräulein Edith,
nen Schülern gab es ein deutsches Mädchen, das ich gern
eine konvertierte deutsche Jüdin, die davor an einer Kib-
hatte. Die Schule (schon dieses Wort ist ein Euphemis-
buz-Schule unterrichtet hatte. Ob sie irgendwelche Quali-
mus!) war eine wild zusammengestoppelte Angelegenheit.
fikationen für den Lehrberuf hatte, kann ich nicht sagen,
Für das Klassenzimmer hatte man einige Tische und eine
aber sie war leichter auszuhalten als ihr Vorgänger. Auch
Tafel ins Terrassenzimmer gestellt. Unterrichtssprache war
sie war im Missionshaus untergebracht. Ich konnte zu
Deutsch. Herr Löwenstein und Schwester Else unterrich-
meiner Freude wieder zu Hause wohnen. Um in die Schule
teten Religion, Fräulein Ruth gab uns Musikunterricht; für
zu kommen, musste ich zwei verschiedene Busse nehmen,
alle anderen Gegenstände, auch Arithmetik, gab es einen
zuerst einen von Bat Galim zum Jüdischen Zentrum und
zusätzlich angestellten Deutschen namens Lippmann, der
von dort einen anderen, der mich auf den Karmel brachte.
ebenfalls im Missionshaus untergebracht wurde, das nun
Ich mochte diese Busfahrten sehr.
recht voll war. Trotz der eigenartigen Atmosphäre, die dort
Herr Lippmann war aus Jerusalem; was er dort getan
herrschte, wurde ich sehr liebevoll behandelt. Und den-
und wie Herr Löwenstein ihn gefunden hatte, entzieht sich
noch: Es war das erste Mal, dass ich von V. und M. ge-
meiner Kenntnis. Er war in den Dreißigern, hatte einen
trennt war, und ich hatte starkes Heimweh. Ich erinnere
schwarzen Vollbart und stechende Augen – er sah aus
mich, wie ich sie einmal in Bat Galim besucht habe. Sie
wie Rasputin. Das Erste, was er zu mir sagte, war, dass
wohnten damals noch bei den Marbergers und es galten
er einem Menschen nur in die Augen zu schauen brauch-
Verdunklungsvorschriften. Wir saßen in unserem Zimmer,
te und darin alle seine Krankheiten erkennen konnte; er
die Fenster waren abgedunkelt und die einzige Beleuch-
sah mir in die Augen, und ich begann, mir Sorgen zu ma-
tung war ein gespenstisch wirkendes blaues Licht. Wir
chen, welch schreckliche Krankheit er da finden würde.
aßen zu Abend. Ich fühlte mich in Sicherheit.
Aber er sagte gar nichts. Später erzählte er mir immer wie-
In diesem ersten Jahr an der Missionsschule war Herr
der, dass Hitler der Antichrist sei und dass schon bald die
Lippmann eine echte Geißel Gottes für mich, worauf ich
letzte Schlacht vor dem Ende der Welt geschlagen würde
noch zurückkommen werde. Im zweiten Jahr verschwand
– und zwar würde sie buchstäblich nebenan stattfinden:
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Von der Terrasse aus zeigte er mir die Ebene Emek, wo die
Pietismus erschien mir viel plausibler als Herrn Lippmanns
entscheidende Schlacht stattfinden würde. Gespickt mit
abgründige Apokalyptik. Herr Löwenstein nahm sich Herrn
bluttriefenden Details schilderte Herr Lippmann, was da
Lippmann dann offensichtlich vor, denn er hörte auf, mich
in nächster Zukunft zu erwarten sei. Auch sagte er mir,
mit seiner düsteren Weltsicht zu indoktrinieren. Ich hörte
dass böse Geister um das Missionsgebäude kreisten, und
aber nie auf, mich vor ihm zu fürchten und war sehr er-
zwar besonders des Nachts, dass er aber wüsste, wie man
leichtert, als er aus der Schule verschwand.
sie austreiben konnte. Kurz, er versetzte mich in Angst
Die Bombardements begannen Mitte 1940, nachdem
und Schrecken. Den Höhepunkt erreichte dieser Lehrplan
Italien an der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten
des Horrors, als er mich einmal auf einen Spaziergang
war. Das erste Mal wurden Bomben geworfen, als ich ge-
mitnahm. Dabei sagte er, er müsste mich vor einer sehr
rade vor unserem Wohnhaus aufs Meer hinaus schwamm.
realen Gefahr warnen: Ich durfte nämlich ja nicht in einer
Man hörte das dumpfe Dröhnen des schweren Flugzeugs,
schwachen Stunde dem Teufel meine Seele verschreiben,
dann das grollende Geräusch, als die Bombe einschlug
weil ich sonst für immer verloren wäre. Natürlich würde
und dann stieg eine riesige Rauchwolke auf. Britische
der Teufel selbst Ursache dieser Schwäche sein, aber das
Flugabwehrgeschütze, auch diejenigen, die an unserem
würde mir nichts nützen, denn die Unterschrift unter dem
Strand aufgestellt waren, traten ohne viel Wirkung in Ak-
Seelenverkauf würde trotzdem gelten. Nach dieser Unter-
tion. Später haben wir erfahren, dass die Ölraffinerien am
redung ging ich zu Herrn Löwenstein und informierte ihn,
Golf von Haifa in Brand gesetzt worden waren. Es kam zu
was mir Herr Lippmann so alles erzählte. Herr Löwenstein
einer Panik am Strand: Die Menschen beeilten sich, aus
wurde sehr zornig. Er beruhigte mich, dass die Sache mit
dem Wasser zu kommen, und versuchten herauszufinden,
dem Verkauf meiner Seele an den Teufel lächerlich sei: Es
was geschehen war. Die Raffinerien standen einige Tage
gibt nur eine Person, die dann über einen solchen Pakt
lang in Flammen. Der Feuerschein erhellte den Nachthim-
entscheiden könne, und das sei Gott. Und Gott würde nur
mel so stark, dass man in diesem gespenstischen Licht
einen einzigen kurzen Blick auf das Dokument werfen und
die Zeitung lesen konnte. Die Angriffe bei Tag dauerten
es dann wegwerfen. Die anderen Horrorgeschichten von
einige Monate. Sie waren auf alle Einrichtungen der Öl-
Herrn Lippmann entkräftete er damit, dass Gott ein Gott
förderung und -verarbeitung gerichtet, auf den Hafen, die
der Liebe sei, dass er in Gestalt Jesu gekommen sei, um die
Bahn – und so gab es, so viel ich weiß, kaum Bombenopfer
Welt zu erlösen, und daran müsse man nur fest glauben.
zu beklagen. Man hörte, dass die angreifenden Flugzeuge
Ich war ungeheuer erleichtert: Herrn Löwensteins gütiger
italienische waren und aus Rhodos anflogen – vielleicht
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gesteuert von denselben Ala Littoria-Piloten, die uns nach
rade zu Mittag gegessen und wollten in der Nähe etwas
Haifa gebracht hatten und die Route so genau kannten.
besorgen, als ohne jede Vorwarnung Bomben neben uns
Die Behörden ergriffen die üblichen Luftabwehr-Maßnah-
einschlugen (später erfuhren wir, dass der Hafen getroffen
men – verschiedene Sirenen, die Alarm und Entwarnung
worden war). Wir rannten zum nächstgelegenen Gebäude
signalisierten, Instruktionen, wohin man während der An-
und suchten Schutz im Eingangsbereich. Der Lärm der ex-
griffe zu gehen hatte. Eine Person in unserem Wohnhaus
plodierenden Bomben war ohrenbetäubend. V. blieb ganz
wurde zum Luftschutzwart ernannt und ging von da an
ruhig, er sagte mir, dass wir in Sicherheit wären (was wir
nur mehr mit einem Stahlhelm (einem flachen, wie ihn
aber eindeutig nicht waren). Eine alte Araberin kam über
die Briten trugen) und mit einer Armschleife herum. Noch
die Stiegen herunter auf uns zu. Auf jeder Stufe blieb sie
gab es aber keine Luftschutzkeller; die Menschen hatten
stehen und schrie laut. Ich weiß nicht, wie lange der An-
deshalb die Anweisung, sich im Erdgeschoss der Häuser
griff gedauert hat. Als endlich Entwarnung gegeben wurde,
aufzuhalten.
gingen wir zu Fulworth’s zurück, wo alles heil geblieben
Nach der Kapitulation Frankreichs gab es verstärkte
war. Mr. Khoury umarmte mich erleichtert.
Bombardements. Die französischen Behörden in Syrien
Ich weiß nicht, welchen Schaden die Luftangriffe ange-
und im Libanon waren vichytreu und erteilten der deut-
richtet haben. Aber ich habe den Eindruck, dass die bri-
schen Luftwaffe Landeerlaubnis auf ihren Gebieten. Jetzt
tische Verteidigung sehr schwach war. Die Luftabwehrge-
waren die angreifenden Flugzeuge nicht mehr italienische,
schütze haben meines Wissens keinen einzigen Bomber
sondern deutsche. Jede Offensive dauerte nur mehr zehn
abgeschossen und zu Luftgefechten mit dem Feind ist es
Minuten, dafür wurde öfter und Tag und Nacht geflogen.
nie gekommen. Das alles war erst vorüber, als die Briten
Von da an waren die Ziele gestreut und auch Wohngegen-
in die französischen Gebiete im Norden einmarschierten,
den wurden – ob beabsichtigt oder nicht – bombardiert.
und die deutsche Luftwaffe damit ihre Flugbasen verlor.
Hinter unserem Haus baute man einen Luftschutzbunker
Ich kann den Zeitpunkt nicht festlegen, aber eines Tages
aus Beton, aber das dauerte sehr lange. Unterdessen flüch-
wurde entschieden, dass auch der Karmel nicht mehr si-
teten wir uns in eine Wohnung im Erdgeschoss, wo wir
cher genug war. Herr Löwenstein hatte einen Neffen (vom
oft stundenlang ausharrten und ängstlich abwechselnd
Christentum nicht kontaminiert, wie es schien), der einen
den Geräuschen der Flugzeuge, der Bomben und der Flug-
Bauernhof in Pardess Chanah, einem jüdischen Dort an der
abwehr lauschten. Den schlimmsten Vorfall erlebte ich
Küste südlich von Haifa, hatte. Für einige Wochen wurde
einmal, als ich V. im Geschäft besuchte. Wir hatten ge-
ich dort hingeschickt. Ich wohnte bei diesem Neffen, sei-
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ner Frau und einem sehr ungezogenen kleinen Mädchen,
Deutschen Diakonissen. Ich glaube, es war eine Art Pflege-
das immer auf Hebräisch über mich spottete. Die jungen
heim. Zwischen den beiden christlichen Vorposten gab es
Löwensteins waren sehr nett zu mir, aber ich langweilte
einen regen Austausch. Besonders mochte ich eine ältere
mich und hatte Heimweh. Ich konnte mit V. und M. nur
Diakonisse, die sich auch für mich interessierte. Nach Aus-
über Postkarten in Verbindung treten (einige davon habe
bruch des Krieges schlossen die Behörden die Einrichtung
ich noch). Und ich konnte von Ferne das dumpfe Grollen
der Diakonissen. Einigen wurde gestattet, nach Deutsch-
hören, wenn Haifa bombardiert wurde, und das machte
land zurückzukehren, andere wurden interniert. Die Inter-
mir natürlich angst. Einmal gelang es mir, Fulworth’s von
nierungen möchte ich als human und praktisch zugleich
der örtlichen Post aus anzurufen. Ich fühlte mich sehr er-
bezeichnen: Schon seit Jahren hatte es einige deutsche,
leichtert, als ich V.s Stimme hörte (natürlich hatten weder
von Pietisten gegründete landwirtschaftliche Siedlungen
V. und M. noch die jungen Löwensteins damals ein Tele-
in Palästina gegeben. Wahrscheinlich wollten sie auf die
fon). Während dieses Aufenthalts hatte ich auch ein schö-
Wiederkehr Christi genau dort warten, wo sie stattfinden
nes Erlebnis. Der junge Herr Löwenstein schlug vor, eine
sollte – im Heiligen Land. Die britischen Behörden zäun-
längere Wanderung in eine benachbarte jüdische Siedlung
ten diese Siedlungen einfach mit Stacheldraht ein und sie-
zu unternehmen; sie lag einige Stunden entfernt. Es war
delten mehr Menschen darin an. Eine dieser Siedlungen
ein heißer Tag und wir beschlossen, Rast zu machen. Ne-
trug den Namen »Waldheim« und war nicht weit vom Kar-
ben der Straße wuchsen Wassermelonen und wir nahmen
mel entfernt. Herr Löwenstein meinte, wir sollten einmal
uns eine. Ich fragte, ob man das denn dürfe. Ja, sagte der
hinfahren. Fräulein Ruth begleitete uns. Es war eine recht
junge Herr Löwenstein, es sei üblich, dass Wanderer sich
umständliche Busreise. Sowohl die bejahrte Diakonisse als
so viele Früchte nehmen könnten, wie sie zur Erfrischung
auch die Eltern meiner deutschen Mitschülerin waren in
brauchten; dafür gab es offensichtlich eine biblische Be-
»Waldheim« interniert. Meiner Erinnerung nach hatten wir
fugnis. Wir legten uns unter einen schattigen Baum und
keine Probleme, eingelassen zu werden (ich glaube unsere
aßen unsere Wassermelone. Ich war entspannt und eine
Schweizer Kennmarken halfen da mit), und alle freuten
angenehme Kühle stieg in mir auf.
sich sehr über unseren Besuch. Wir brachten Geschenke
Es gibt noch eine weitere Kriegserinnerung, die berich-
mit und hielten eine kleine Andacht. Nicht einen Augen-
tenswert ist. Die folgende Begebenheit illustriert den Ge-
blick lang ist mir auch nur in den Sinn gekommen, dass
sinnungswirrwarr, in dem ich mich damals befand. Neben
diese Menschen Feinde sein könnten. Soviel ich weiß, sind
der Schweizer Mission am Karmel lag eine Institution der
die meisten überzeugten Nazis vor dem Ausbruch des
132
133
Krieges nach Deutschland zurückgegangen; die Leute in
Lippmannismus zurückwies. In Löwensteins Glauben war
»Waldheim« waren also entweder Anti-Nazis oder einfach
Gott immer nahe, an seiner liebevollen Gegenwart konnte
apolitisch (auf Jesu Wiederkehr zu warten, überstrahlt
man durch Gebet, Verehrung und Bibellesungen teilhaben.
jedwede Tagespolitik). In das Haus der Diakonissen zogen
Gottes Liebe hatte ihren höchsten Ausdruck im Erlösungs-
britische Offiziere ein. Besonders einer dieser neuen Be-
werk Jesu Christi entfaltet, das im Einzelnen sehr orthodox
wohner hat mich sehr beeindruckt: Einmal am Tag trat er
aufgefasst wurde. Auch wenn ich heute aus dem Blickwin-
im Kilt auf den Balkon und spielte Dudelsack.
kel eines (hoffentlich) differenzierten Verständnisses des
Ich möchte nun versuchen, die religiöse Praxis zu be-
Christentums auf meine ersten Erfahrungen zurückblicke,
schreiben, die mir in der Schule am Karmel beigebracht
gibt es wenig bis nichts, was ich ablehnen würde. Ich kann
wurde. Es war die erste Erfahrung dieser Art, die ich in
das sehr einfach erklären: Am Karmel habe ich erstmals
meinem Leben machte, und sie hat mich dementspre-
die Verkündigung des Evangeliums gehört (Kerygma) und
chend stark beeindruckt. Es wäre falsch, von einer »Be-
es war dasselbe Evangelium, dem ich seither in der ei-
kehrung« zu sprechen. Mit einer Entscheidung oder einem
nen oder anderen Weise immer wieder begegnet bin. Noch
Willensakt hatte all das nichts zu tun. Ich wurde einfach
mehr: Diese religiöse Botschaft wurde von einer kleinen
hineingezogen in ein festgefügtes Universum aus frommen
Gemeinde vermittelt, die, um es milde zu sagen, sozio-
Taten und Regeln, eine Welt, die mich mit offenen Armen
logisch bizarr, aber entgegenkommend und liebevoll war.
aufnahm. Theologisch gesehen war es keine anspruchs-
Ich habe allen Grund, dafür dankbar zu sein.
volle Vorgabe, alles war immer noch so wie vor langer Zeit
Es gibt zwei Begebenheiten aus meinen beiden Jahren
im deutschen protestantischen Pietismus. Die Sprache war
am Karmel, die das eben Gesagte veranschaulichen. Als
natürlich Deutsch, die Kirchenlieder lutherisch, die Bibel
ich noch Internatsschüler war, hatte ich eine akute Blind-
in der klassischen Übersetzung von Martin Luther. Auch
darmentzündung. Dr. Churcher (er machte Hausbesuche!)
wenn die Leute vom Karmel keine orthodoxen Lutheraner
stellte fest, dass ich kurz vor einem Blinddarmdurchbruch
waren, vermittelten sie eine Religiosität lutherischer Fär-
stand und sofort operiert werden musste. Ich wurde mit
bung, und das dürfte mich nachhaltig beeinflusst haben.
heulenden Sirenen in einem Rettungswagen den Berg hi-
Müsste ich diese religiöse Welt mit einem einzigen Adjek-
nunter ins Hassadah Spital gebracht, also in die jüdische
tiv beschreiben, würde ich sie als gütig bezeichnen. Diese
Zentralklinik, mit der Dr. Churcher offensichtlich zusam-
Eigenschaft trat ganz deutlich hervor, als Herr Löwenstein
menarbeitete. Ich hatte große Angst. Fräulein Ruth fuhr
die schauerliche religiöse Auffassung des – nennen wir es –
mit. Ich begann eines der Kirchenlieder zu singen, die ich
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gelernt hatte, ein klassisches deutsches Kirchenlied Harre,
nahm. Die Gruppe setzte sich aus Angehörigen verschie-
meine Seele, harre des Herrn. Fräulein Ruth hatte feuchte
dener missionarischer Einrichtungen in Nordpalästina zu-
Augen, sie nahm meine Hand und stimmte ein. Nach der
sammen. Ich kann mich dunkel an eine Organisation »He-
Operation musste ich noch einige Tage im Spital bleiben.
bräischer Christen« erinnern, die diese Reise organisiert
Dort sprach man mit mir nur Hebräisch, was die Konver-
hatte. Wir fuhren mit einem gemieteten Bus. Ich saß neben
sation doch etwas schwierig gestaltete (ich konnte nur we-
Herrn Löwenstein (der wohl als einziger aus der Schule
nig Hebräisch), aber alle waren sehr nett zu mir. Eine der
mitkam). Wir fuhren die Küste entlang. Als die ersten Häu-
Krankenschwestern – sie wurde nur als Schwester (achot)
ser von Jerusalem zu sehen waren, stimmten einige Mit-
angesprochen – mochte ich besonders gern, weil sie ein bis-
fahrende das berühmte deutsche Kirchenlied »Jerusalem,
schen Deutsch konnte. Danach hatte ich das Gefühl, dass
du hochgebaute Stadt« an. Wir bezogen Quartier in einem
die positiven Erlebnisse meines Krankenhausaufenthalts
Missionshaus und machten verschiedene Besichtigungs-
meinen Glauben gestärkt hatten. Und als ich dann auf den
touren durch die Altstadt. Am Ostermontag gingen Herr
Karmel zurückkehrte, hatte ich das, was man vermutlich
Löwenstein und ich ganz allein die Via Dolorosa entlang.
eine pietistische Erfahrung nennt: Ich hatte das dringende
Pilgergruppen waren ebenfalls unterwegs. Viele Kirchen-
Gefühl, dass ich ins Krankenhaus gehen sollte, um eine
glocken läuteten. Die Luft war kühl und angenehm. Ich
Mission zu erfüllen, über deren Natur ich mir alles ande-
hatte das intensive Gefühl, die Auferstehung körperlich zu
re als klar war. Ich erzählte Herrn Löwenstein davon, der
spüren (und wieder ist an dieser Erfahrung nichts, was ich
aber skeptisch blieb. Er sagte, dass er nicht wüsste, was ich
in der Rückschau zurücknehmen würde). Aus irgendei-
dort tun könnte, aber vielleicht sollte ich wenigstens einige
nem Grund hielten wir an einem katholischen Kloster in
seiner missionarischen Traktate verteilen. Nein, sagte ich,
der Altstadt an. Dort erzählte Herr Löwenstein einer Non-
nein, das war es nicht. Jedenfalls bin ich ins Spital gefah-
ne, dass ich ein guter kleiner Christ sei. Sie gab mir ein
ren – unbeschwert, da nicht beladen mit missionarischen
Andenken – eine billige kleine Nachbildung des Kreuzes
Traktaten. Meine Lieblingsschwester war überrascht mich
von Jerusalem (irgendwo habe ich sie noch) – und sagte,
zu sehen. Ich erklärte ihr, dass ich nur hereingeschaut hät-
dass ich nie vergessen soll, dass ich zu Ostern in Jerusalem
te, um sie zu sehen und mich zu bedanken und ging mit
gewesen bin. Ich habe es nicht vergessen.
einem sehr guten Gefühl nach Hause.
Wie schon gesagt, reagierten V. und M. sehr unter-
Es muss in meinem zweiten Schuljahr gewesen sein, als
schiedlich auf das religiöse Umfeld, in dem ich vollstän-
ich zu Ostern an einer Gruppenreise nach Jerusalem teil-
dig aufging. V. war dankbar für die Hilfe, die die Missi-
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onsgemeinde uns hatte angedeihen lassen, aber nur mit
akademische Karriere zu verzichten, und sah sich dazu
Vorbehalten nahm er an ihren religiösen Aktivitäten teil.
berufen, die Juden zu missionieren, Edith nahm an diesem
Ich erinnere mich, dass er bei einigen Anlässen gebeten
Projekt mit großem Enthusiasmus teil. Die beiden hatten
wurde, das Harmonium zu spielen, das bei den gelegent-
keine Kinder. Fritz arbeitete zuerst in Wien und dann in
lichen Gottesdiensten im Saal der Karmel-Mission für die
Jugoslawien für eine schwedische Missionsgesellschaft,
musikalische Untermalung sorgte. V. war nicht gerade ein
die sich der Evangelisierung der Juden verschrieben hat-
geübter Klavierspieler, und mit dem Harmonium kam er
te. Dann gingen die Neumanns nach England, wo er sich
kaum zurecht, weshalb ihm diese Anlässe sehr peinlich
entschloss, Pfarrer zu werden. Er wurde freikirchlicher
waren. Ich kann die Chronologie nicht mehr rekonstruie-
evangelischer Pastor (was ich viel später als besonders un-
ren, aber langsam betrat auch M. die religiöse Welt, die
geeignet erachtete). Dann wurde er von derselben britisch-
sich uns anbot, wodurch ich mich ihr noch näher fühlte.
jüdischen Gesellschaft nach Palästina geschickt, die auch
Während meines zweiten Schuljahres auf dem Karmel
Herrn Plotkes Institution betrieb. Die Neumanns bekamen
kamen Fritz und Edith Neumann nach Haifa. (Sie haben
eine große Wohnung in der Nähe von Frau Roholds Haus
mir erst viel später angeboten, sie bei ihren Vornamen zu
über einem Wadi gelegen mit einer wunderbaren Aussicht
nennen; damals waren sie noch Doktor Neumann und Frau
von der Terrasse aus. Irgendwie war es ihnen auch gelun-
Neumann für mich; aber ich bleibe der Einfachheit halber
gen, ihre Bibliothek nach Haifa zu übersiedeln, und so war
bei den Vornamen). Ich war sofort von ihrem mitreißend
ihre Wohnung voller Bücher – Philosophie, Theologie, Li-
gelebten Christentum beeindruckt. Die Neumanns hatten
teratur. Mir ist bis heute nicht ganz klar, welche Aufgaben
beide jüdische Wurzeln und kamen aus Wien. Fritz hatte
Fritz hätte übernehmen sollen. Manchmal hielt er in seiner
ein Philosophiedoktorat an der Universität Wien erwor-
Wohnung Bibelstunden, die nur sehr spärlich besucht wa-
ben, durchlebte dann eine meinem Verständnis nach weg-
ren. Zeitweise predigte er auch in der Missionskapelle. Ihm
weisende Bekehrung zum Christentum – offenbar hatte er
war, so glaube ich, die Absurdität dieser Veranstaltungen
sich zutiefst Kierkegaards Gedankengut angeeignet (der
völlig bewusst, aber genau das bestärkte ihn in seinem
für ihn immer der wichtigste Philosoph blieb). Im Selbst-
Selbstverständnis als Kierkegaard’scher »Ritter des Glau-
studium erwarb er umfassende Kenntnisse der Bibelwis-
bens« (was man als protestantische Version einer viel älte-
senschaft (inklusive alttestamentarisches Hebräisch sowie
ren christlichen Figur bezeichnen könnte, des »Narren in
neutestamentarisches Griechisch) und der Theologie – von
Christo«). Ich kann mich noch sehr lebhaft daran erinnern,
den Kirchenvätern abwärts. Er entschloss sich, auf eine
wie ich Fritz das erste Mal in dieser Umgebung predigen
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hörte. Da stand er also, predigte auf Deutsch, vor sich eine
Gesicht. Das würde die Lage verändern, sagte er: »Diese
Handvoll Missionsangehörige, und vor der offenen Tür
Kinder wären ja ein zersetzendes Element!« Das machte
versammelten sich wie gewöhnlich johlende Jugendliche.
Herrn Löwenstein sehr wütend. Er sagte, dass der Direktor
Er predigte über jene Stelle des Evangeliums, als Pontius
sich der Nazidiktion befleißigte, dass er nie erwartet hätte,
Pilatus von der Menge aufgefordert wird, Jesus zu kreuzi-
solche Ausdrücke von einem jüdischen Erzieher in Paläs-
gen. Fritz wiederholte die Rufe der Menge – »Kreuzige ihn!
tina zu hören, und dass er, Löwenstein, sich wohl besser
Kreuzige ihn!« Er sprach sehr laut, der Schweiß strömte
nach einer anderen Lösung für das Problem seiner Kinder
ihm über das Gesicht. Herr Plotke, der in der ersten Rei-
umsehen wird müssen.
he saß, unterbrach ihn mit einem beschwichtigenden »na,
Das taten wir. Wieder funktionierte das missionarische
na«, was Fritz erbitterte. Die beiden Männer sind nie gut
Netzwerk perfekt. Ich weiß nicht, wie es den anderen er-
miteinander ausgekommen.
ging, aber die Lösung, die für mich gefunden wurde, stellte
Mit der Zeit sah Herr Löwenstein ein, dass seine hand-
sich als ideal heraus. Ich wurde in der St. Lukas-Schule in
gestrickte Schule an die Grenzen ihrer Effizienz für uns
Haifa aufgenommen, einer der wenigen Bildungsstätten,
kleine Schülertruppe gestoßen war. Ich war damals unge-
die in Palästina unter der Oberhoheit des anglikanischen
fähr zwölf. Also ließ sich Herr Löwenstein einen Termin
Bischofs in Jerusalem geführt wurden. Dort schloss ich die
beim Direktor der »Bet Sefer Reali« geben, damals die jü-
Mittelschule ab, kurz bevor wir Palästina wieder verlie-
dische Eliteschule in Haifa. Er nahm mich mit. Die Un-
ßen. Und dadurch kam ich in eine völlig veränderte so-
terhaltung wurde auf Deutsch geführt. Herr Löwenstein
ziale Lage. Sie war immer noch die eines Außenseiters in
erklärte, dass er eine kleine, aus Schweizer Geldern finan-
vielerlei Hinsicht, aber verglichen mit der Welt am Karmel,
zierte Schule leitete, die aber den Bedürfnissen der älteren
war es (wenn man so sagen kann) ein etwas normaleres
Schüler nicht mehr gerecht werden konnte. Deshalb suchte
Außenseiterum.
er für mich und zwei andere Jungen nach weiterführen-
Würde ich den gesellschaftlichen Status der drei Bergers
den Ausbildungsmöglichkeiten. Der Direktor war zunächst
in diesen Jahren mit einem einzigen Wort beschreiben
sehr entgegenkommend (wieder scheint die Schweizer Le-
wollen, dann würde ich wohl am besten »Außenseiter«
gitimation ihre Wirkung getan zu haben). Doch dann sagte
wählen. Wir lebten natürlich außerhalb von Europa, und
Herr Löwenstein, dass er den Direktor noch über etwas in
das war uns sehr bewusst. Wir waren Teil der bunt zusam-
Kenntnis setzen musste, dass nämlich diese Kinder »He-
mengewürfelten Schar von Flüchtlingen, die am Rande
bräische Christen« waren. Der Mann machte ein langes
Asiens gelandet war. Einige von ihnen haben sicherlich
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ihren Weg ins zionistische Selbstverständnis der Yishuv
Eines Abends ging ich zufällig an einem abgeernteten
gemacht, also der »freien organisierten Gemeinschaft der
Feld in der Nähe des größten Armeelagers in Bat Galim
jüdischen Einwanderer/Einwohner in Palästina«. Viele von
vorbei. Eine Gruppe jüdischer Jugendlicher hatte sich dort
ihnen waren aber wie wir nicht aus zionistischen Motiven
zu irgendeinem Fest versammelt. Sie hatten ein großes La-
nach Palästina gekommen und blieben daher außerhalb
gerfeuer gemacht und tanzten den »Hora«, einen Rund-
jenes Personenkreises, der sich der Verwirklichung des Ju-
tanz, darum herum. Dabei sangen sie aus voller Kehle
denstaates verschrieben hatte. Die meisten dieser Außen-
zionistische Lieder. Ich blieb stehen und schaute ihnen
seiter lernten wenig bis gar kein Hebräisch. Ich erinnere
eine Weile zu. Ich wäre gern einer von ihnen gewesen.
mich an eine Begebenheit, die M. mir erzählte, weil sie
ihr sehr nahe ging. In das Postamt in der Spinney’s-Filiale
in Bat Galim, das M. leitete, gab es auch die Möglichkeit
zu telefonieren. Ein älterer Mann kam herein und bat um
einen Apparat. M. hörte, wie er auf Deutsch in den Hörer
sagte: »Hier spricht Manfred Kohn aus Berlin. Ich bin jetzt
in…« Er unterbrach sich und wandte sich an M.: »Sagen
Sie, wo bin ich jetzt?« Ja, wo denn eigentlich?
Aber schließlich waren auch wir als Christen keinesfalls
Teil der Gemeinschaft der Flüchtlinge, die sich als Juden,
wenn schon nicht als Zionisten verstanden. Mit Sicherheit
konnte sich V. und zu einem hohen Grad auch M. nicht
mit der kleinen Gruppe identifizieren, die sich »Hebräische
Christen« nannte. Was mich betrifft, so gehörte ich durch
die religiöse Bildung, die mir in der Schule am Karmel zuteil geworden war, zu dem, was Benedict Anderson später
als »erfundene Nation« bezeichnen wird – eine kleine Gemeinschaft mit nur vage definierten Grenzen, über der ein
wohlmeinender, Deutsch sprechender Jesus waltete. Was
Wunder, dass das ein sozial zerbrechliches Gebilde war.
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Identitätskarten
Bisher bin ich mit meiner Geschichte mehr oder weniger
dem Ablauf der Ereignisse gefolgt. Auf den nächsten Seiten werde ich zwar von den fünf Jahren berichten, die vor
unserer Abreise aus Palästina lagen, die Chronologie aber
außer Acht lassen. Statt einfach die Reihenfolge der Ereignisse zu berücksichtigen, scheint es mir sinnvoller, nacheinander von meinen wichtigsten Prägungen zu erzählen.
Eine Schule am Meer
Wie schon erwähnt, war die St. Lukas Schule eine der wenigen Bildungseinrichtungen, die unter der Ägide des anglikanischen Bischofs von Jerusalem standen. Es war eine
reine Bubenschule, wo man versuchte, dem Alltag und
dem Ethos der englischen Privatschulen so gut wie möglich nachzukommen. Es gab eine weitere solche Schule in
Haifa, die Englische Mittelschule für Mädchen, die aber
weit entfernt war und keinerlei Beziehungen mit St. Lukas
unterhielt. Unsere Schule, ein großes Gebäude, lag auf einer dem Karmel vorgelagerten Anhöhe, von der aus man
die Küstenstraße und das Meer überblickte.
»›Sind Sie Österreicher?‹ Mit fester Stimme antwortete ich: ›Ja.‹«
Es wäre der Mühe wert, würde sich ein Historiker diese
Lehranstalten genauer anschauen und auch, was aus ihren
Schülern geworden ist. Soweit ich weiß, waren sie die einzigen Schulen im Land, wo Kinder aus aller Herren Länder
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(Briten, Armenier und viele andere), aber vor allem arabi-
hatte ungefähr 100 bis 150 Schüler – mehr als 45 Prozent
sche und jüdische Kinder gemeinsam unterrichtet wurden.
waren Araber, 45 Prozent Juden, und die restlichen zehn
In diesen Schulen wurde jedwede Evangelisierung penibel
Prozent fielen auf alle anderen. Rund die Hälfte waren In-
vermieden. Für die Schüler gab es keinerlei verpflichtende
ternatsschüler; die anderen – darunter auch ich – benutz-
Gottesdienste. Die meisten arabischen Schüler waren
ten die Schulbusse, die an bestimmten Haltestellen zwi-
Christen und mit anderen christlichen Schülern hatten sie
schen dem Zentrum Haifas und der Schule hielten. Alle
das Fach »Religionskunde«, in dem hauptsächlich die Bibel
britischen Lehrer wohnten ebenfalls in der Schule, wäh-
studiert wurde. Die wenigen arabischen Muslime waren
rend die nicht-britischen nur zum Unterricht hinkamen.
vom Religionsunterricht befreit, mussten aber Arabisch
Das Schulgeld war sehr niedrig und entfiel für Familien,
lernen. Die jüdischen Schüler wiederum hatten einen eige-
die sich selbst diese kleine Summe nicht leisten konnten.
nen Lehrer für Hebräisch und Tanach (»Torah, Propheten
Es fällt mir auf, dass ich nachgerade eine Idylle be-
und Schriften«), also den klassischen jüdischen Religions-
schreibe. Es könnte natürlich sein, dass mein Gedächtnis
unterricht. Alle Lehrer bemühten sich sehr, uns den gegen-
die weniger schönen Seiten unterdrückt hat, ganz einfach
seitigen Respekt gegenüber den verschiedenen religiösen
deshalb, weil ich in dieser Schule glücklich war. Wie dem
und ethnischen Gruppierungen beizubringen, und so kann
auch sei, ich bin überzeugt, dass St. Lukas einen bedeu-
ich mich nur an sehr wenige Vorfälle offen ausgetragener
tenden Beitrag zur multi-religiösen und multi-ethnischen
Feindseligkeiten erinnern. Freundschaften wurden über
Erziehungsarbeit geleistet hat, was umso bemerkenswer-
die Gräben hinweg geschlossen. Alle gängigen Schulfächer
ter ist, als sie es in einem Land tat, in dem oft mörderische
wurden auf Englisch unterrichtet. Die wenigen von uns,
Feindschaften zwischen unterschiedlichen Gruppen hoch-
die weder Arabisch noch Hebräisch lernten, mussten am
kochten. Ich nehme an, dass die anglikanischen Behör-
Lateinunterricht teilnehmen. Ich hatte wenigstens Grund-
den ihre integrativen Bildungsstätten als zivilisatorischen
kenntnisse in Englisch, als wir in Palästina ankamen. V.,
Beitrag ihrer Mission in Palästina sahen. Ich glaube, die
der immer anglophil gewesen war, hatte es mir beigebracht
Schulen wurden geschlossen, als das Mandat 1948 endete,
und auch an der Schweizer Schule hatte es Englischunter-
zumindest in jenen Landesteilen, die von da an zum Staat
richt gegeben. Ich beherrschte Englisch sehr schnell; aus
Israel gehörten. Ich weiß allerdings, dass St. Lukas nicht
irgendeinem Grund empfand ich eine besondere Affinität
mehr besteht.
zu dieser Sprache (ich könnte es auch den Beginn einer
Der Gründer von St. Lukas war ein Mr. Semple, der bei
Liebesbeziehung nennen, die bis heute währt). St. Lukas
meinem Schuleintritt immer noch dort Direktor war. Er
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war ein sehr großgewachsener Mathematiklehrer in seinen
fie der Bibel, das er viele Jahre später auch abschließen
Sechzigern, der allerdings kaum noch selbst unterrichtete.
konnte. Auch er hatte eine eigenartige Macke: Er wurde
Wir hatten ziemlich große Angst vor ihm. Wenn man
sehr ärgerlich, wenn ein Schüler »oben« und »unten« statt
aus disziplinären Gründen zu ihm geschickt wurde, be-
»Nord« und »Süd« sagte. Dann mussten wir uns immer ei-
kam man meist mit einem Lederriemen Schläge auf die
nen nicht enden wollenden Vortrag über die Willkür von
ausgestreckten Hände – so wie es die beste englische
Landkarten anhören. Ich kann nicht sagen, dass von sei-
Privatschultradition vorsieht (mir ist das nie passiert). Mr.
nen Unterweisungen viel hängen geblieben ist, aber ich
Semple hatte eine eigenartige Obsession: Er wurde zornig,
schätzte Mr. Baly, weil er freundlich war und sich für seine
wenn ein Schüler die Sieben mit einem Mittelstrich oder
Schüler sehr einsetzte. Nach dem Krieg heiratete er eine
die Eins mit einem Aufstrich schrieb; wahrscheinlich sah
Amerikanerin und unterrichtete einige Jahre am Kenyon
er diese Schreibart als degeneriert »continental« an. Er und
College in Ohio, wo er auch starb.
seine Frau (die ich, glaube ich, nie gesehen habe) wohn-
Von den dreien aber hatte Mr. King den größten Ein-
ten in einem kleinen Haus am Ende des Schulgeländes.
fluss auf mich, und von ihm habe ich auch am meisten
Als Mr. Semple in Pension ging, folgte ihm Mr. Hooper,
gelernt. Seine Fächer waren Geschichte und Latein. Er war
der Kaplan bei der Royal Air Force gewesen war und an
ein außerordentlich anregender Lehrer, und ich verdanke
seinem ersten Tag in der Schule in Uniform erschien. Trotz
ihm eine lebenslange Liebe zur Geschichte. Er brachte uns
seiner militärischen Vergangenheit war er bei weitem we-
nicht nur die Geschichte Europas und Großbritanniens bei,
niger einschüchternd als sein Vorgänger. Er und seine Frau
sondern auch die des antiken Nahen Ostens und der mus-
luden die älteren Schüler sogar zum Tee nach Hause ein.
limischen Reiche. Für mich war das lange Duell zwischen
Drei britische Lehrer haben mich in meiner Schulzeit in
Disraeli und Gladstone genauso faszinierend wie Aufstieg
St. Lukas sehr stark beeinflusst – Mr. Baly, Mr. King und
und Fall der Abbasiden oder der Ottomanischen Kalifen. Er
Miss Robinson. Alle drei waren unverheiratet; die beiden
wurde nicht müde, uns Bücher zu empfehlen, und so las
Männer, erst Ende Zwanzig, waren offensichtlich vom Mi-
ich so Unterschiedliches wie eine Oliver Cromwell-Biogra-
litärdienst befreit, weil ihre Lehrtätigkeit als wichtiger an-
fie und Philip Hittis Geschichte der Araber. Von Mr. King
gesehen wurde. Mr. Baly – von französischer Herkunft und
bekamen wir auch eine sehr nützliche Anregung: Er riet
sehr bedacht auf die ungewöhnliche Schreibweise seines
uns, in seinem Unterricht auf den linken Seiten unserer
Namens – unterrichtete Geografie und »Religionskunde«.
Hefte mitzuschreiben, und die ursprünglich leer gelasse-
Sein wichtigstes Projekt war ein Werk über die Geogra-
nen rechten Seiten für Notizen aus Büchern zu demselben
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Thema zu benützen. Meine rechten Seiten waren so schnell
Zwei Lehrer unterrichteten Mathematik und Physik – ein
vollgeschrieben, dass ich zusätzliche Notizbücher anlegte.
Jude, Mr. Friedmann, und ein Araber, Mr. Khamis. Beide
In Latein war ich Mr. Kings einziger Schüler. Dabei entwi-
waren sehr gute Lehrer; mit Mr. Khamis hatte ich mehr zu
ckelten sich oft Gespräche zu ganz anderen Themen. Er
tun, denn eine Zeitlang hatte ich auch Privatunterricht bei
war ein tiefgläubiger Anglo-Katholik oder Tractarianer (Mr.
ihm, da Mathematik immer schon meine schwache Seite
Baly dagegen eher ein liberaler Anglikaner) und versuchte
war. Er wirkte nervös und verschlagen. Gerüchteweise
mir zu vermitteln, worum es dabei ging. (Diese christli-
wurde erzählt, dass er aus einer muslimischen Familie aus
che Lehre hat mich allerdings nie besonders angezogen,
dem Norden stammte, die jahrelang in eine blutige Fehde
obwohl mir die Ästhetik sehr zusagt; hervorstechend ist
verwickelt gewesen sein soll: Da er als hochgebildeter
die Milde, die ich immer mit der anglikanischen Kirche
Mann das prominenteste Familienmitglied war, galt er als
assoziiert habe). Ich las damals einiges pro und contra die
besonders gefährdet.
Tractarianer, John Henry Newmans Apologia Pro Vita Sua
Ein anderer Lehrer, Araber und gläubiger Protestant, war
und Die Türme von Barchester von Anthony Trollope. Nach
Mr. Haddad, ein Schüler von Mr. Semple, dem er bei der
dem Krieg arbeitete Mr. King lange Zeit für den Weltkir-
Schulgründung geholfen hatte. Eigentlich hatte ich wenig
chenrat in Genf, dann heiratete er eine Griechin und zog
mit ihm zu tun, da er Arabisch unterrichtete. Manchmal
nach Athen, wo ich ihn aus den Augen verloren habe.
aber vertrat er einen der anderen Lehrer und dann ließ
Miss Robinson war in ihren Dreißigern und stark ver-
er sich für ein Bravourstück bewundern: Vom Lehrertisch
krüppelt. Nur mit großer Mühe konnte sie sich auf zwei
aus, der in der Mitte der Stirnwand des Klassenzimmers
Krücken fortbewegen. Sie unterrichtete englische Gram-
stand, konnte er in weitem Bogen in einen Papierkorb spu-
matik und Literatur, wobei sie für Letztere eine brennende
cken, der auf der anderen Seite des Raums unter einem
Leidenschaft entwickelte. Damit hat sie mich sicher ange-
Fenster stand. Wir beobachteten ihn dabei sehr gespannt,
steckt. Sie ließ uns Werke von William Shakespeare lesen,
in der Hoffnung, er möge einmal nicht treffen. Aber er
aber auch die Lyrik des 19. Jahrhunderts (besonders liebte
traf immer. Es war mir klar, dass er ein sehr guter Ara-
sie Lucy Cycle von William Wordsworth) und Romane wie
bisch-Lehrer war. Er hatte eine sonore Stimme und trug
beispielsweise Silas Marner von George Eliot. Oscar Wil-
in seinen Stunden gern arabische Gedichte vor. Wenn er
des The Importance of Being Earnest führten wir sogar auf.
deklamierte, konnte man ihn noch auf dem Gang hören,
Was nach der Schließung von St. Lukas aus ihr wurde,
und ich war von der Kraft dieser Sprache beeindruckt.
weiß ich nicht.
Der Hebräisch-Lehrer, Mr. Labiush, war ein eher un-
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angenehmer Mensch, der es als seine höchste Aufgabe
gegen Leibesübungen zusammen, die die Schule in der
ansah, die jüdischen Schüler von allen nur möglichen
guten Tradition des britischen, physisch orientierten Chris-
anti-zionistischen Einflüssen abzuschirmen. Er wies sei-
tentums förderte – Gymnastik, Fußball, Handball und Lau-
ne Schüler an, sie sollten ihre Männlichkeit herauskehren,
fen –, und wir waren sehr erfinderisch in der Entwicklung
wenn sie Hebräisch sprachen. Einer jener, die sich einer
von Strategien, die die Teilnahme unmöglich machten. Ich
solchen Sprache befleißigten, war ein älterer, Labiush
hatte mir einen Brief von unserem Hausarzt in Bat Galim,
sehr ergebener Bursche, dem ich den einzigen Zwischen-
einem gütigen älteren Herrn, besorgt. Darin bestätigte er,
fall meines Glaubens wegen an der St. Lukas Schule ver-
dass ich unter schweren Allergien litt, die meine Nase und
dankte: Er trat mir in den Weg und schimpfte mich auf
meine Augen befielen. Das stimmte auch. Was in diesem
Hebräisch einen »dreckigen Christen« (wörtlich sagte er:
Brief aber nicht stand, war, dass dieser Zustand immer nur
»dreckiger Nazarener«). Einige Monate später beobachtete
während ein paar Wochen im Frühling auftrat. Ich legte
ich in einem Kino in der Stadt, wie ein Aufruhr zwischen
ihn jedoch als Nachweis eines chronischen Leidens vor,
jüdischen und arabischen Jugendlichen ausbrach. Und ich
und er wurde als solcher akzeptiert. Wie die drei ande-
sah denselben Anhänger von Mr. Labiush, wie er seine
ren sich vom Sport befreiten, weiß ich nicht mehr. Doch
Brille abnahm, sich in das Handgemenge warf und schrie:
so zweifelhaft die Grundlage dieser Freundschaft war, wir
»Auf die Nigger!« (wörtlich heißt das auf Hebräisch: auf
fanden dann doch noch einiges, das uns verband – etwa
die Schwarzen). Es sieht so aus, als würde es diese Verbin-
die große Leidenschaft fürs Lesen und für literarische Ge-
dung von Rassismus und Drang nach Männlichkeit in den
spräche. Wir haben sogar einmal eine Vereinigung gegrün-
unterschiedlichsten Kulturen geben.
det, die wir »St. Lukas Kunst-und-Musik-Klub« nannten
Gegen Ende meiner Schulzeit in St. Lukas hatte ich
ein Jahr Chemie-Unterricht bei Edith Neumann. Biologie
wurde überhaupt nicht gelehrt.
– mit Statuten und einigen regelmäßigen Treffen. Soweit
ich mich erinnere, war ich der Präsident des Vereins.
Hans war ein großer, schmächtiger Bursche, dessen
In all den Jahren schloss ich einige Freundschaften. Am
Muttersprache Deutsch war. Er und ich lagen im Wettstreit
Anfang waren meine wichtigsten Freunde drei Burschen,
ums Witze-Erzählen. Ein oder zwei Jahre nach meiner
die sich mit mir gemeinsam gegen den Sport verschworen;
Ausreise aus Palästina habe ich erfahren, dass Hans ge-
und dann gab es noch Moshe. Das Trio bestand aus einem
heiratet hat und mit seiner Frau mehrfach in Einbruchs-
Juden, den ich Hans nennen möchte, und zwei Arabern,
diebstähle in den reichen Wohngegenden auf dem Karmel
Farid und Henry. Zunächst brachte uns die tiefe Abneigung
verwickelt war, bis er schließlich verhaftet wurde und ins
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Gefängnis kam. Ich habe dann jede Spur von ihm verloren,
seien, kennen zu lernen. Alle, die »C.o.E.« waren, sollten
bis ich vor einigen Jahren vollkommen unvermutet einen
aufzeigen. Keiner von uns dreien wusste, was »C.o.E.«
Brief von ihm erhielt. Er hatte eines meiner Bücher in die
zu bedeuten hat. Also erklärte Mr. Semple leicht irritiert:
Hände bekommen und sich irgendwie meine Adresse be-
»Church of England. Anglikanisch«. Dann war uns klar,
sorgt. Er lebte in Portugal gemeinsam mit seiner Tochter,
was gemeint war, und wir zeigten auf. Sicher dachte Mr.
war offensichtlich bei schlechter Gesundheit und lebte in
Semple, dass unser anglikanisches Engagement sehr zwei-
schwierigen finanziellen Verhältnissen. Wir begannen ei-
felhaft sein musste – womit er sicher Recht hatte.
nen Briefwechsel, fanden heraus, wie unser Leben verlaufen war, hatten uns aber nur wenig zu sagen.
Mit Moshe war alles ganz anders. Er gehörte nicht zur
Anti-Sport-Liga. Wir schlossen erst in meinem letzten
Henry war Katholik. 1948 flüchtete seine Familie nach
Schuljahr in St. Lukas Freundschaft. Seine Familie war
England. Am nächsten aber stand mir Farid, ein sehr ge-
sehr arm. Als ich ihn einmal zu Hause besuchte, war ich
scheiter, freundlicher und ziemlich übergewichtiger Bur-
entsetzt, wie sie lebten – wie in einem Slum. Moshe war
sche. Es gab nichts, worüber wir nicht miteinander disku-
ein »Sabra«, ein glühender Marxist und Atheist. Er ver-
tieren konnten. Einmal beschlossen wir, uns gegenseitig
suchte mich davon zu überzeugen, dass jedwede Religi-
Arabisch und Deutsch beizubringen, aber das Projekt er-
on nur Illusion sei und meine religiösen Interessen nur
lahmte bald. Ich kaufte mir ein arabisches Wörterbuch,
Zeitverschwendung. Einmal haben wir uns über das Le-
das ich lange Jahre, auch noch in Amerika, behielt, weil
ben nach dem Tod unterhalten, an das er natürlich nicht
ich dachte, ich würde eines Tages mein Arabisch-Projekt
glaubte. Ich fragte ihn, ob es ihn denn nicht rein theore-
wieder aufnehmen. Ich habe es nie getan. Farids Familie
tisch interessieren würde, ob irgend etwas von ihm nach
stammte aus dem Libanon. Nach 1948 gingen sie wieder
dem Tod weiterlebt. Nein, sagte er. Er würde gern als guter
dorthin zurück. Farid wurde schließlich Arzt.
Genosse in Erinnerung bleiben, sich vielleicht sogar eine
Ironischerweise hatten Farid und ich noch etwas anderes
Gedenktafel für seine Verdienste um die Anliegen der Ar-
gemeinsam: Offiziell wurden wir als Anglikaner geführt.
beiter wünschen – aber das wäre auch schon die gesamte
Wir waren zwei von nur drei Burschen dieser Konfession
Unsterblichkeit, die er braucht. Ich antwortete ihm, dass er
an der Schule, der dritte war der Sohn eines britischen
sich einer Illusion hingäbe, wenn er das schon als eine Art
Polizisten. Eines Tages kam Mr. Semple in unsere Klasse,
Unsterblichkeit ansieht. Er wäre dann nämlich gar nicht
erzählte, dass jemand aus dem Diözesanbüro in Jerusalem
dabei, wenn seine Genossen über ihn sprächen und könne
die Schule besuchen käme, um die Burschen, die »C.o.E.«
gar nicht lesen, was auf der Gedenktafel stand. Überflüssig
154
155
zu erwähnen, dass keiner von uns den anderen überzeu-
wäre dann mit seiner rechtmäßig angetrauten Frau zurück-
gen konnte.
gekommen, denn das israelische Rabbinat hatte keine ge-
Kurz bevor ich Palästina verließ und nachdem wir beide
setzlichen Befugnisse außerhalb der Staatsgrenzen. Aber
unser Abschlusszeugnis von St. Lukas erhalten hatten,
ein solches Schlupfloch auszunützen widerstrebte Moshes
schloss sich Moshe einem radikalen linken Kibbuz an. Ich
Prinzipien: Er war ein israelischer Bürger und hatte das
habe ihn dort einmal besucht, fand die Verhältnisse dort
Recht, die Frau seiner Wahl zu heiraten, ohne sich einer
aber nicht gerade reizvoll. Stolz erzählte mir Moshe, dass
Religion zu unterwerfen, an die er ohnehin nicht glaubte.
er kein Privateigentum hatte, nicht einmal seine Unterwä-
Er wollte seinen Hungerstreik fortsetzen, bis das Gesetz ge-
sche gehörte ihm: Schmutzige Wäsche würde er einfach
ändert wird. Angesichts der politischen Machtverhältnisse
in die Gemeinschaftswäscherei geben und erhielt saubere
der religiösen Parteien in Israel war das eine leere Hoff-
Kleidung in seiner Größe, egal ob er sie zuvor getragen
nung. Der Fall muss aber ziemlich hohe Wellen geschlagen
hatte oder nicht. Es mag unfair sein, aber lange Zeit war
haben. Moshe scheint den Hungerstreik nach einer Unter-
das meine Metapher für Sozialismus: Man trägt die Unter-
redung mit einem Minister abgebrochen zu haben, der ihn
wäsche von jemand anderem.
überzeugen konnte aufzugeben. Ich habe Moshe damals
Einige Jahre nach meiner Übersiedlung nach Amerika
geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Später erfuhr
hörte ich wieder von Moshe. Jemand sandte mir Zeitungs-
ich, dass er mit seiner Frau Israel verlassen und sich in
ausschnitte über ihn. Offensichtlich hatte er schon vor
Europa niedergelassen hat.
langem den Kibbuz verlassen und lebte, wie ich glaube,
St. Lukas verdanke ich eine sehr gute höhere Bildung,
als Maler in einer Künstlerkolonie in Tel Aviv. Er machte
auch wenn sie etwas einseitig auf die Geisteswissenschaf-
Schlagzeilen, weil er im Hungerstreik war: Er wollte eine
ten ausgerichtet war. Ich lernte gutes Englisch und erwarb
Nicht-Jüdin heiraten; weil sie aber nicht zum Judaismus
ausgezeichnete Kenntnisse in Geschichte, Geografie und
übertreten wollte, konnte die Hochzeit nicht in Israel statt-
englischer Literatur. Meine Kenntnisse in Mathematik und
finden. Der neue Staat folgte wie die Briten der alten otto-
den Naturwissenschaften waren allerdings schwach. Trotz-
manischen Gesetzgebung, wonach jeder Millet, also jede
dem haben meine Mitschüler und ich mit Erfolg die Ab-
religiöse Gemeinschaft auch in zivilrechtlichen Fragen die
schlussprüfung abgelegt – die so genannte London matric
Gerichtsbarkeit über ihre Mitglieder hatte. Jeder andere
(eigentlich London Matriculation Examination), eine seit
in Moshes Situation wäre ins Ausland gefahren (Zypern
1838 von der Universität in London ausgeschriebene Prü-
war und ist das beliebteste Ziel), hätte dort geheiratet und
fung, die an allen englischen Schulen – also selbst in den
156
157
entlegensten Kolonien – abgelegt werden kann und die zur
choanalytisch geneigten Leser zur Beurteilung überlassen,
Immatrikulation an der London University berechtigt. (Da
ob diese Situation bleibende Auswirkungen auf mein Le-
ich das nie versucht habe, weiß ich nicht, ob es wirklich
ben hatte – ich vermute nicht. Meine erste Verabredung,
funktioniert.)
die man als solche hätte bezeichnen können, hatte ich mit
Was ich aber außerhalb des Klassenzimmers lernte, war
einem liebenswürdigen Schweizer Mädchen an Bord jenes
von weit größerer Bedeutung. Am wichtigsten war wohl,
Schiffes, das uns von Frankreich nach Amerika brachte.
dass ich Freunde außerhalb des sektiererischen religiösen
Damals war ich siebzehn. Allerdings holte ich alles Ver-
Milieus fand, von dem meine Schulzeit am Karmel geprägt
säumte nach, sobald ich amerikanischen Boden betreten
war. Keiner meine Freunde an der St. Lukas Schule war
hatte.
besonders religiös, einer war, wie gesagt, sogar areligiös.
Mein Einblick in die beiden Welten, die im israelisch-ara-
Ich glaube, dass diese Freundschaften für eine gesunde so-
bischen Konflikt so augenscheinlich aufeinanderprallen,
ziale und persönliche Entwicklung in der Adoleszenz sehr
habe ich meinen Schuljahren in St. Lukas zu verdanken.
zuträglich waren. Es gab natürlich auch ein großes Manko:
Ich hatte enge Freunde in beiden Gruppen, besuchte sie
Wir hatten in der Schule keinen Umgang mit Mädchen. Ich
zu Hause und lernte ihre Familien kennen. Mr. King ver-
meine, dass uns dadurch allen etwas entgangen ist. Meine
mittelte mir ein beachtliches Wissen über die Geschichte
Lage war diesbezüglich aber besonders traurig, weil ich
des Islam, wie es wohl kein Lehrer in Europa oder Ame-
als Außenseiter in Bat Galim auch sonst nur schwer mit
rika könnte. Ich hörte mich in die arabische Sprache und
Mädchen in Kontakt kam. Klar, dass ich mich in Fantasien
Musik ein, bekam auch ein Gefühl für die arabische Kultur
flüchtete, aber meine ersten Erfahrungen waren auf sehn-
und es wurde mir bleibender Respekt für den Islam als
suchtsvolle Blicke, auf was immer ich zu sehen bekam,
Religion vermittelt. Viele Jahre später machte ich eine Vor-
beschränkt. Ich habe Rina schon erwähnt, die Hüterin der
lesungsreise durch Indien. Meine Gastgeber in Haiderabad
Bücher in der Pevsner Bibliothek, die weder von der Viel-
nahmen mich zuerst zu einem Hindufest mit, das bemer-
falt noch von der Anzahl der Bücher, die ich entlehnt habe,
kenswert war, mich aber nicht weiter berührte. Dann führ-
beeindruckt war. Sie hat mich nicht einmal ignoriert. Oder
ten sie mich in eine große Moschee. Als ich das Gebäude
Alisa, ein dralles Mädchen, das im Erdgeschoss unseres
betrat, fühlte ich mich sofort zu Hause. Ich mache ähnli-
Hauses wohnte. Ich beobachtete sie besonders dann gern
che Erfahrungen, wann immer ich Orte in der islamischen
von unserem Balkon aus, wenn sie in ihrem freizügigen
Welt besuche.
Badeanzug zum Strand unterwegs war. Es bleibt dem psy-
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Bedenkt man die Bedinungen, unter denen wir in Pa-
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lästina lebten, so ist mein Verhältnis zur israelischen Seite
Finnin, hinzugehen. Es war eine kurze Zeremonie, bei
naturgemäß vielschichtiger. Schließlich waren es Juden –
der die Unabhängigkeitserklärung Ben Gurions verlesen
nicht Araber – gewesen, die uns an den Rand gedrängt und
wurde und die wenigen Gemeindemitglieder, die den Text
mich immer wieder gering geschätzt hatten. Ich glaube
kannten, dann die »Hatikvah«, die zionistische Hymne, an-
trotzdem, dass ich mit Recht sagen kann, dass diese Er-
stimmten. Ich kannte zwar Teile des Textes, aber ich sang
fahrungen keinerlei Verbitterung hinterlassen hat. Ich mag
nicht mit. Und doch war ich bewegt und wünschte dem
es, wenn Hebräisch gesprochen wird, und verstehe auch
Staat Israel alles Gute (Es hat zwar nichts damit zu tun,
einiges. Und ich höre gerne israelische Musik. Was aber
aber als wir die Synagoge verließen, fragte ich meine finni-
vielleicht am wichtigsten bleibt: Ich bin zutiefst betroffen
sche Freundin, was sie von der Feier dachte. Ihre Antwort
von der Unlösbarkeit dieses Konflikts. Die Jahre in Paläs-
überraschte mich: »Ich finde, dass dieser ein sehr furcht-
tina bewahren mich aber sicherlich davor, mich mit den
einflößender Gott ist.«)
ideologischen Anliegen der einen oder der anderen Seite
zu identifizieren.
Was die Religion betraf, so hat man mich in der St. Lukas
Schule keinesfalls anglikanisch indoktriniert (auch wenn
Oft, wenn ich in Zeitungen oder im Fernsehen Bilder aus
Mr. King andeutungsweise ein paar Versuche in diese Rich-
den Konfliktregionen sah, versuchte ich herauszufinden,
tung unternahm). Aber ich erlebte das, was vermutlich
ob es da Gesichter gab, die mir bekannt vorkamen: Könnte
»normales« Christentum ist – nämlich Christ zu sein, ohne
der Araber, der gerade eine Handgranate auf ein Auto ge-
sich in einer sektiererischen Subkultur zu verpuppen. Teil
worfen hatte, der arabische Junge aus Mr. Balys Klasse
dieser meiner »Normalisierung« war, dass ich begann, in
sein? Oder der Fahrer des getroffenen Wagens – könnte er
die Kirche zu gehen – mit M., manchmal auch mit V. –, und
der jüdische Bursche sein, neben dem ich in Miss Robin-
zwar in verschiedene Kirchen: Eine Zeitlang besuchten wir
sons Klasse saß?
die neu gegründete presbyterianische Kirche (Church of
Selbstverständlich kann ich den Zionismus nicht kritik-
Scotland) in Haifa, dann die anglikanische.
los unterstützen. Ich erinnere mich immer noch an den
Vor dem Krieg hatte es eine deutsche lutherische Kir-
Tag, als im Jahr 1948 die Unabhängigkeit des Staates Israel
che in Haifa gegeben. Ihr Pfarrer, ein Pastor Berg, war ein
ausgerufen wurde. Ich besuchte gerade ein College im
engagierter Nazi-Gegner und Anhänger der so genannten
Mittleren Westen der USA. In der Synagoge der nahegele-
»Bekennenden Kirche« (jener Bewegung innerhalb des
genen Stadt gab es aus diesem Anlass einen Gottesdienst,
deutschen Protestantismus, die sich ihrer ideologischen
und ich beschloss, mit meiner damaligen Freundin, einer
Nazifizierung widersetzte). Doch knapp vor Kriegsaus-
160
161
bruch hatte er beschlossen, nach Deutschland zurückzu-
bis 1956), die später eine wichtige Rolle im ersten ara-
kehren. Die britische Verwaltung ließ die Kirche zuerst
bisch-israelischen Krieg spielte. Aus irgendeinem Grund
schließen, übergab sie aber später aus irgendeinem Grund
hatten sie khakifarbene Pickelhelme, die mich – Experte
der Church of Scotland. Der neue Pfarrer, Mr. Clark-Kerr,
für Uniformen, der ich schließlich war – an die der alten
war ein redegewandter ziemlich intellektueller Prediger. Er
Preußen erinnerten. Niemand hatte es mir ausdrücklich
begann sich für mich zu interessieren, was zu anregen-
gesagt, aber mir war klar, dass diese beiden nicht eingelas-
den Gesprächen über Religion und andere Themen führ-
sen werden sollten. Ich nahm sie trotzdem auf. Mr. Clark-
te. Das Wichtigste für mich aber war, dass Mr. Clark-Kerr,
Kerr ließ mich in sein Büro kommen und sagte, er schätze
der nicht Deutsch lesen konnte, mir erlaubte, Bücher aus
mein Gerechtigkeitsgefühl hoch, aber, gerecht oder unge-
der umfangreichen theologischen Bibliothek zu leihen,
recht – das sei hier nicht die Frage: Die Herberge sei nur
die Pastor Berg zurückgelassen hatte. Ich werde später er-
für Angehörige der britischen oder anderer europäischer
klären, warum diese Bücher eine so große Bedeutung für
Armeen. Als einige Zeit später drei sehr schwarze Senega-
mich hatten.
lesen der Free French Forces einchecken wollten, hielt ich
Die presbyterianischen Gemeinde war sehr klein, sie
mich an die Anweisungen und verwies sie an eine Adresse
bestand im Wesentlichen aus schottischen Mitgliedern der
für »eingeborene« Militärs, die ich für solche Fälle erhalten
britischen Verwaltung und Armee. Die Kirche unterhielt im
hatte. Aber ich fühlte mich nicht wohl dabei.
Zentrum von Haifa auch eine Herberge für durchreisende
Mr. Clark-Kerr wurde an die viel größere presbyteriani-
und urlaubende Soldaten. Einmal ließ mich Mr. Clark-Kerr
sche Kirche in Jerusalem berufen. Sein Nachfolger als Pre-
dort in den Sommerferien als Rezeptionist arbeiten. Es war
diger war ein Langweiler. Deshalb wechselten M. und ich
ein einfacher Job: Ich saß an der Rezeption, empfing ab
in die besser besuchte anglikanische Kirche. Der Pfarrer
und zu einen Gast und war die meiste Zeit mit meiner
dort war ein gewisser Mr. Moxton, ein recht angenehmer
Lektüre beschäftigt. Diese Arbeit bot mir auch die erste
Mann, der aber auch nicht gerade beeindruckend predigte.
Gelegenheit, Rassengerechtigkeit walten zu lassen (falls
Er freute sich, uns sozusagen als Anglikaner willkommen
man das so nennen kann). Zwei arabische Soldaten woll-
heißen zu können, was mir nicht wichtig war, sich aber
ten bei uns absteigen. Sie waren Mitglieder der Arabischen
später aus bürokratischen Gründen als nützlich erweisen
Legion, einer sehr erfolgreichen Militäreinheit, aufgebaut
sollte, worauf ich noch zurückkommen werde.
in Transjordanien vom legendären Glubb Pascha (Sir John
Meine Besuche von Mr. Moxtons Gottesdiensten hatten
Bagot Glubb, Kommandant der Arabischen Legion 1939
Folgendes zur Konsequenz: Einmal lernte ich die reine
162
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Schönheit des Book of Common Prayer, also der Agende
Wissenschaft nicht vereinbar ist. Ich las ein Traktat ge-
der anglikanischen Kirche, schätzen. (Das erklärt meine
gen das Christentum des amerikanischen Atheisten Ralph
Abneigung gegenüber der »Liturgiereform«, die deren Äs-
Ingersoll. Besonders beeindruckt hatte mich C.E.M. Joads
thetik durch die Sprache eines Versandhauskataloges er-
God and Evil (Gott und das Böse), in dem der Autor das
setzte, angeblich um den Glauben für heutige Menschen
Christentum hauptsächlich deshalb verwarf, weil es sei-
verständlicher zu machen). Zum Zweiten gab es eine ein-
ner Ansicht nach mit dem Problem der Theodizee nicht
fache, aber nützliche Erkenntnis: Dass es unwichtig ist,
zurechtkommt – also mit der Frage, wie ein allmächtiger
wie gut oder schlecht einer predigt, wenn die liturgische
und gütiger Gott das Leid und das Böse in der Welt zu-
Gestaltung des Gottesdienstes stimmt. An bedeutsame Ge-
lassen könne. (Joad, ein britischer Philosoph, der oft in
spräche mit Mr. Moxton kann ich mich nicht erinnern.
intellektuellen Sendungen im BBC Radio zu Wort kam, hat
später seine Meinung geändert und wurde praktizierender
Neumanns Lehrplan
Anglikaner).
Ich hatte niemanden, mit dem ich über solche Themen
Ich muss wohl 14 oder 15 gewesen sein, als Fritz Neu-
diskutieren konnte. Meine Schulfreunde interessierten sie
mann begann, ernsthaft auf mich aufmerksam zu werden.
nicht. Ich schrieb einige Aufsätze in Mr. Balys Religions-
So weit ich mich erinnere, geschah das, als ich mich an
unterricht, in denen ich meinen Zweifeln am Christentum
ihn wandte, um meine Zweifel am Christentum mit ihm
Ausdruck verlieh. Mr. Baly reagierte sehr tolerant darauf,
zu besprechen. Sie waren mir durch meine unersättliche
schrieb einige Kommentare an den Rand meiner Aufsätze,
Lektüre aufgekommen. Ich hatte Paul de Kruifs Mikro-
aber er suchte nie das Gespräch mit mir (er war wohl et-
benjäger über wichtige Neuerer der Medizin gelesen und
was irritiert von dem ziemlich aggressiven Ton, den ich
mich daraufhin entschlossen, Arzt zu werden (zum Glück
angeschlagen hatte). Ich las auch verschiedene Bücher
blieb ich nur kurz bei diesem Vorhaben; ich wäre wohl ein
über Mystizismus, der mich in seinen Bann zog. Ich kam
schrecklich schlechter Arzt geworden). Aber neben den
zu dem höchst unoriginellen Schluss, dass eher der Mys-
beruflichen Überlegungen entstand das Gefühl in mir, dass
tizismus als die offenbarte Religion mit Wissenschaft in
ich »wissenschaftlicher« denken sollte. Einige der Bücher,
Einklang zu bringen ist. Vielleicht, so dachte ich, sollte
die ich las (über Astronomie und die biologische Evolu-
ich mich selbst als »nicht-christlicher Theist« definieren,
tion) ließen mich jedoch glauben, dass das Christentum,
so wie Joad das in diesem Stadium seiner Laufbahn getan
zumindest so wie ich es bis dahin verstanden hatte, mit
hatte. Ich schrieb einen kleinen Essay darüber und gab ihm
164
165
den Titel »Eine Theorie des Egoismus« (die Wahl des Wor-
Es gab keinen festen Stundenplan, vielmehr besuchte
tes »Egoismus« spielt hier keine Rolle; es gab darin auch
ich Fritz alle zwei Wochen in seiner Wohnung, brachte
einige utilitaristische Ideen); darin formulierte ich einige
die ausgeborgten Bücher zurück und sprach mit ihm über
meiner diesbezüglichen Gedanken. Und ich beschloss, die-
das Gelesene. Jedes Mal ging ich mit anderen Büchern
ses Dokument Fritz zu zeigen.
wieder nach Hause. Ich kann die gesamte Leseliste nicht
Vom pädagogischen Standpunkt gesehen, war Fritz’ Re-
mehr rekonstruieren. In Philosophie ließ mich Fritz eini-
aktion bemerkenswert. Der Essay war natürlich eine sehr
ge Dialoge Platons lesen (beginnend mit Laches, der zu
unreife Übung, was Fritz sicherlich ebenso sah. Ich kann
den Frühdialogen des Philosophen gehört; er meinte, dass
mich noch gut an seine ersten Worte erinnern, als er ihn
mir die Beschäftigung mit Tapferkeit meinem jugendlichen
mir zurückgab: »Alles, was man in einem Fall wie diesem
Alter entsprechend gefallen würde; was sie jedoch nicht
tun kann, ist sich in den Gedankengang einlassen. Und
tat), dann Kants Prolegomena und vor allem seinen ge-
dann wird man sehen, wie weit man damit kommt.« Ge-
liebten Kierkegaard. Nacheinander las ich alle seine unter
nau das hat er getan. Er machte meine Anstrengungen
Pseudonym erschienenen Werke, zuletzt die Einübung im
nicht herunter, übte keinerlei direkte Kritik, er stellte nur
Christentum. Besonders faszinierte mich seine Kategorie
einige Fragen über meine Vermutungen – über die Natur
Sprung in den Glauben und auch seine Annahme, dass ein
des Menschen, über das Verhältnis von Vernunft und Glau-
derartiger »Sprung« die einzige Alternative zur Verzweif-
ben, über verschiedene Formen von Religion. Dann legte
lung sei. Fritz empfahl mir aus der theologischen Literatur
er mir nahe, mich mit grundlegenden Werken der Philoso-
Augustinus, Luther, Barth und einige andere Schriftsteller
phie zu beschäftigen und mehr oder weniger gleichzeitig
(an die ich mich weiter nicht erinnere). Das war sicher ein
einführende theologische Bücher zu lesen. Er bot mir an,
äußerst eigenwilliger Lehrplan, aber er trug enorm zu mei-
mich bei der Auswahl zu beraten und mir die Bücher zu
ner Bildung bei. Neben dem spezifischen Wissen, das ich
borgen. Voll Eifer nahm ich dieses Angebot an.
durch die Lektüre erhielt, verschaffte mir dieses Studium
Noch nie hatte irgendjemand meine Ideen so ernsthaft
einen starken Eindruck von der Heiterkeit systematischen,
aufgenommen, auch kannte ich niemand anderen, der
kritischen Denkens. Fritz hatte diese Bücher natürlich alle
über so viel Wissen verfügte, von dem ich profitieren
schon vor langer Zeit gelesen, aber sie begeisterten ihn
konnte. Daraus entstand eine sehr ungewöhnliche Form
von neuem, wenn wir darüber sprachen. Und seine Be-
von Unterricht, den ich zwei Jahre lang – bis zu unserer
geisterung war ansteckend.
Abreise aus Palästina – genoss.
166
Ich musste mich bei den Büchern, die er mir lieh, nicht
167
auf philosophische und theologische beschränken. Einmal,
Am Ende dieses Abschnitts sollte ich noch berichten, wie
als ich das Verhältnis der beiden Frauen an der Karmel-
das Leben der Neumanns weiterging. Edith war Chemike-
Schule beschrieb, merkte Edith Neumann an: »Das klingt
rin und arbeite einige Jahre in einer Ölraffinerie bei Haifa.
wie die Atmosphäre bei Dostojewski.« Ich musste geste-
Sie entging nur knapp einem Massaker der arabischen
hen, noch nie Dostojewski gelesen zu haben. Da meinte
Arbeiter an den jüdischen Angestellten (man glaubte of-
sie, es sei höchste Zeit, damit zu beginnen. Ich glaube, sie
fenbar, sie sei Jüdin). Die Neumanns folgten uns schon
gab mir zuerst Schuld und Sühne zu lesen, dann folgten
bald nach Amerika. Dadurch bekam Fritz als Kongregatio-
alle seine Romane, einer nach dem anderen. Fritz gab mir
nalist Arbeit. Er wurde Pastor einer kleinen, mehrheitlich
auch Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus zu
schwarzen kongregationalistischen Kirche (später: United
lesen. Fritz hatte Kraus in Wien kennen gelernt, war von
Church of Christ) in Brooklyn. Seine Gemeindemitglieder
ihm sehr begeistert gewesen und hatte – in meinen Augen
mochten ihn offensichtlich sehr. Während seiner letzten
zurecht – eine Nähe zu Kierkegaard festgestellt. Beide wa-
Lebensjahre war er Gastprofessor am theologischen Semi-
ren sie fast schon prophetische Gestalten, wenn auch mit
nar von Hartford, wo er Bibelwissenschaften unterrichtete.
sehr unterschiedlichen Botschaften, und beide schreckten
Edith überlebte ihn um einige Jahrzehnte und starb über
nicht davor zurück, bei ihren öffentlichen Auftritten be-
neunzigjährig im Jahr 2002. Eine Zeitlang gab sie auf ei-
fremdlich zu wirken. Ich glaube, Fritz hat seine Rolle als
gene Kosten Bücher mit Fritz’ unveröffentlichten Essays
Prediger in der Kapelle der Mission ebenso empfunden.
und Predigten heraus. Sie erschienen im Eigenverlag und
Am Ende der Unterweisungen durch Fritz gelangte ich
hatten keinen professionellen Vertrieb. Darum haben wohl
zu dem Schluss, dass ich mich selbst nur als Christ definie-
nur wenige seine Schriften gelesen. Mein Kontakt zu Fritz
ren konnte. Davor gab es zumindest zwei Zwischenspiele
ließ kurz nach seiner Übersiedlung nach Amerika nach,
– grob gesagt, ein katholisches und eines, das man am
zum Teil deshalb, weil ihm die Richtung, in die sich mein
besten als ein »pan-mystisches« beschreibt. Zuletzt stand
theologisches Denken entwickelte, nicht gefiel (für sei-
ich jedoch vor der Frage, welcher christlichen Lehre ich
nen Geschmack war es viel zu liberal geworden). Edith
mich zuwenden sollte. Und bei dieser Entscheidung war
versuchte dann, mich in ihr Publikationsprojekt einzube-
Fritz keine Hilfe. Ich hatte jedenfalls keinerlei Absicht, in
ziehen, und war wohl sehr enttäuscht, als ich Bedenken
seine Fußstapfen zu treten und Kongregationalist zu wer-
äußerte.
den (ganz abgesehen davon, dass das in meiner Situation
ein empirisch unmögliches Unterfangen gewesen wäre).
168
Wie war ich nun wirklich in diesen Jahren? Wenn ich
heute meinem damaligen Ich begegnete (in irgendeinem
169
metaphysischen Loch im Raum-Zeit-Gefüge), würde ich
dergründig auffiel. Hätte ich ihn also gemocht? Per saldo
mich mögen? Ich bin nicht sicher. Ganz objektiv betrachtet
hätte ich ihn wohl gemocht (oder würde ihn gemocht ha-
gibt es einige Aspekte an diesem Heranwachsenden von
ben – ich weiß nicht, welche grammatikalische Form hier
vor langer Zeit, die einen gewissen beinahe neurotischen
angebracht ist).
Charakterzug vermuten lassen: Ein Teenager, der sich
Es scheint mir heute, dass ich in dieser Phase meines
durch Kants Kritik der reinen Vernunft kämpft, der in sei-
Lebens, besonders nachdem ich an die St. Lukas-Schule
ner Schwärmerei für Kierkegaard zu dem Schluss kommt,
gekommen war, auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen
dass Glaube die einzige Alternative zur Verzweiflung ist
agiert habe. Auf der einen war ich ein ziemlich eigenarti-
– ein wunderlicher Kauz? Derselbe Teenager, der vom Bal-
ges Kind, das ganz für sich gegen Dämonen kämpfte und
kon aus auf das dralle Mädchen aus der Erdgeschosswoh-
dabei jede religiöse (und manchmal quasi okkulte) Unter-
nung wartet, es in Gedanken auszieht, kaum dass er ihrer
stützung suchte, die es nur bekommen konnte. Auf der
ansichtig wird und sonst nichts weiter unternimmt – ein
anderen war ich ein recht liebenwertes Kind, das gesunde
schüchterner Lüstling? Und was vielleicht am meisten be-
menschliche Beziehungen aufbauen und viel Spaß haben
unruhigt: Ein Teenager, der mit religiösen Fragen ringt, die
konnte. Freilich war ich auch ein sehr aufgewecktes Kind
aus einem unangenehm sektiererischen Untergrund auf-
und verfügte daher auch über eine beachtliche intellektu-
tauchen – vielleicht ein Frömmler?
elle Kapazität, meine Lage zu reflektieren und ihr einen
Und doch müssen mildernde Umstände geltend gemacht
Sinn abzugewinnen. Ich bin ziemlich sicher, dass meine
werden. Vor allem war er Opfer von Ereignissen, auf die
dunklen Obsessionen durch die ständig schützende Hand
er keinerlei Einfluss hatte, und er setzte sich, so gut es
von V. und M. in Schach gehalten wurden, auf die ich mich
ging, mit diesen Erfahrungen auseinander. Weiters muss
absolut verlassen konnte. Doch all die Jahre in Palästina
man berücksichtigen, wie andere auf ihn reagierten. Fast
lebte ich am Rande der Gesellschaft. Als sich diese Lage
immer fand er in diesen Jahren Menschen, die ihn moch-
bei unserer Ankunft in Amerika plötzlich und dramatisch
ten – und zwar sowohl Erwachsene als auch Gleichaltrige,
änderte, hatte ich endlich die Kraft, mich selbst und meine
die gern mit ihm beisammen waren und in einigen Fällen
Sicht auf die Welt neu zu bestimmen. Wenn man so will,
gute Freunde wurden. Also muss man doch eigentlich zu
wurde ich damals »gerade gebogen« (oder naturalisiert?).
dem Schluss kommen, dass all die negativen Eigenschaf-
Man könnte auch sagen, dass ich ein Musterbeispiel an
ten – der Sonderling, der schüchterne Lüstling, der heran-
amerikanischer Integration bin.
wachsende Fanatiker – nicht das waren, was an ihm vor-
170
171
Gespräche in Stella Maris
Auf dem Gipfel des Karmel erbauten die Unbeschuhten
Karmeliten (Orden der Brüder der allerseligsten Jungfrau
Maria vom Berge Karmel) im Jahr 1883 ein kleines, dem
Propheten Elija geweihtes Heiligtum, das sie Stella Maris
(Stern des Meeres) nannten. Es steht in der Nähe jener
Stelle, an der nach der Überlieferung ein Wettstreit mit den
dort ansässigen Baals-Propheten stattfand, bei dem Elija
die jüdische Lehre gegen jede Form von Synkretismus verteidigte. Während meiner Jahre in Palästina gab es dort in
der Nähe auch ein britisches Militärlager, sonst aber war
die Umgebung des Klosters unbesiedelt – nur felsige Wildnis. Von der Stadt aus führte eine gute, aber kaum befahrene Straße bergauf. Die Aussicht von Stella Maris aus ist
atemberaubend, ein Ort von großer Schönheit und Stille.
Eines Tages entschied ich, dass Stella Maris genau der Ort
war, den ich brauchte, um ungestört lesen und denken zu
können. Ich machte es mir zur Gewohnheit, gleich, nachdem mich am frühen Nachmittag der Bus aus der Schule
heimgebracht hatte, auf den steilen Weg von Bat Galim
zu Stella Maris hinaufzugehen. Meist hatte ich ein, zwei
Bücher bei mir. Ich brauchte eine knappe halbe Stunde für
den Aufstieg. Hinter dem Kloster fand ich einen Felsen,
den ich zu meinem Lieblingsplatz machte. Ich taufte ihn
»Kierkegaard Hügel«, bastelte sogar ein kleines Namensschild, das ich irgendwie an einem Busch neben dem Fel»Es ist ein Zufall der Geschichte, dass Haifa zum Weltzentrum der
Bahai wurde«: Der Schrein der Bahais auf dem Karmel in Haifa
172
sen anbrachte. Dort las ich eine Stunde lang oder saß auch
173
nur still da. Dann wanderte ich zum Kloster hinüber, wo
Ich muss als Klosterbesucher auffallend gewesen sein,
ich meistens jemanden traf, mit dem ich jene Gespräche
denn schon bald kam ich mit einigen Mönchen ins Ge-
führte, von denen ich hier erzählen will. Wenn ich Zeit
spräch. Die lingua franca dort war Französisch und in die-
dazu hatte, setzte ich mich in die Klosterkirche und hörte
ser Sprache unterhielt ich mich auch mit den Mönchen.
den Mönchen bei der Vesperliturgie zu. Ich konnte die
(Einige Jahre zuvor hatte V. entschieden, dass ich Franzö-
Mönche nicht sehen, sie saßen hinter einem Sichtschutz
sisch lernen sollte, und ich bekam Privatunterricht bei ei-
hinter dem Altar. Die Kirche war meist leer, ich saß dort al-
ner jüdischen Algerierin, die bei uns um die Ecke wohnte.
lein und genoss die Stille und die Gregorianischen Choräle.
Ich machte nur langsam Fortschritte, aber als meine Pil-
Wenn es dann dunkel wurde, stieg ich wieder hinunter
gergänge nach Stella Maris begannen, sprach ich schon
nach Bat Galim und war rechtzeitig zum Abendessen zu
ziemlich fließend.) Ich freundete mich besonders mit
Hause. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dieses tägliche
Bruder Stanislao an, einem jungen Italiener, der seine Ge-
Ritual durchgezogen habe, es muss so ungefähr ein Jahr
lübde noch nicht abgelegt hatte. Ich weiß nicht, ob diese
gewesen sein.
Begegnung zufällig zustande kam, oder ob Stanislao von
Mein erster Gesprächspartner war ein Araber, ein sehr
seinen Oberen dazu entsandt worden war. Wie dem auch
freundlicher Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Ich
gewesen sei, Stansilao kündigte an, dass er mich zum Ka-
nehme an, dass Anis irre war, aber sein Wahnsinn war voll-
tholizismus bekehren würde. Monate hindurch bemühte
kommen harmlos. Ich habe nie sehr viel über ihn heraus-
er sich auch sehr darum. Er empfahl mir Bücher, die ich
finden können. Er muss eine gute Bildung genossen haben
lesen sollte, verschaffte mir sogar die Erlaubnis, die sehr
und sprach fließend Englisch. Allem Anschein nach lebte
eindrucksvolle Klosterbibliothek zu benützen, die eine rie-
er bei seiner Familie. Er erzählte mir – und auch anderen,
sige Sammlung von Büchern beherbergte. Auch das war
die sich manchmal an unseren Gesprächen beteiligten –,
eine große Freude für mich: im Hauptlesesaal zu sitzen,
dass er nach Stella Maris käme, um zu meditieren und
still zu lesen, manchmal ganz allein, dann wieder mit ei-
seine prophetische Botschaft zur Rettung der Welt in ihre
nem oder zwei Mönchen gemeinsam.
endgültig Form zu bringen. Was er von dieser Erkenntnis
Ich muss wohl bereits die Hauptthemen des katholi-
preisgab, war nicht besonders schlüssig; im Grund war es
schen Katechismus hinter mich gebracht haben – und
ein Aufruf an die Menschheit, einander zu lieben und in
zwar sowohl durch meine Lektüre als auch durch die Ge-
Harmonie miteinander zu leben. Ich konnte mit Anis’ The-
spräche mit meinem vermeintlichen Lehrmeister. Natür-
orie nichts anfangen, aber wir mochten einander.
lich hob Stanislao besonders jene Glaubenssätze hervor,
174
175
die den Katholizismus vom Protestantismus unterschie-
die in Stella Maris angesprochen wurden, führte ich in den
den. Wir hatten lange Diskussionen über die päpstliche
Gesprächen mit Fritz weiter. Er hatte immer großen Re-
Unfehlbarkeit, über den Begriff heilig (Stanislao war be-
spekt vor dem Katholizismus, aber dann erklärte er mir
sonders beredt, wenn es um »heroische Keuschheit« ging),
doch, warum er ihn im Grunde für ein Missverständnis
über das Gebet zur Jungfrau Maria und zu den anderen
hielt. Fritz lieh mir ein Buch, das ich sehr aufmerksam
Heiligen. Ich glaube nicht, dass die missionarischen Be-
las und das mir weiterhalf – das Werk eines deutschen
mühungen Stanislaos mich jemals in Versuchung geführt
katholischen Theologen des 19. Jahrhunderts, Johann
haben. Einiges sprach mich ästhetisch an, was bei dem be-
Adam Möhler, erstveröffentlicht 1843. (Nach Fritz’ Tod
merkenswerten Ambiente dieser Gespräche unvermeidbar
ließ mich Edith einige Bücher aus dessen Bibliothek aus-
war. Auch die Sicherheit in Glaubensfragen, die Stanislao
suchen; unter anderen nahm ich dieses Buch mit, das ich
und die anderen Mönche zu haben schienen, beeindruckte
immer noch habe.) Sein Titel lautet Symbolik, aber der
mich. Aber ich hatte auch schon genügend bibelfeste Pro-
Begriff bedarf einer Erklärung: »Symbole« wurden seit der
testanten kennen gelernt, um zu wissen, dass Festigkeit im
Reformation für Glaubensbekenntnisse verwendet (etwa
Glauben kein katholisches Monopol war. Wäre es darum
für das Lutherische Augsburgische Bekenntnis oder die
gegangen, dann hätte ich außer dem Katholizismus noch
Lehrdokumente des katholischen Konzils von Trient). Der
einige andere Optionen gehabt – verschiedene Ausprägun-
Untertitel machte den Sinn des Buches deutlicher: Dar-
gen des Protestantismus, den Anglo-Katholizismus, den
stellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und
Zionismus, den Marxismus und, mit einigem Abstand, das
Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnißschriften.
orthodoxe Judentum. Weil mich meine frustrierten puber-
Möhler, Theologieprofessor in München, beteiligte sich an
tären Sehnsüchte quälten, sprach mich Stanislaos »hero-
keinerlei Polemik; vielmehr erklärte er systematisch die
ische Keuschheit« in gewisser Weise an, aber eigentlich
Hauptunterschiede zwischen den beiden christlichen Tra-
wünschte ich mir, von meinem Zustand völlig unheroisch
ditionen, auch wenn er immer zu dem Schluss kam, dass
aufgezwungener Keuschheit erlöst zu werden. Ich glaube,
der Katholizismus überlegen ist. Und wieder glaube ich,
dass Stanislao nie wirklich eine Chance bei mir hatte. Aber
dass Fritz pädagogisch sehr klug gehandelt hat, als er mir
ich genoss es, mit ihm zusammen zu sein und letztendlich
gerade dieses Buch als Führer durch die Theologie emp-
habe ich viel gelernt.
fahl. Ich erinnere mich noch, was er in diesem Zusammen-
Ich begann, meine römisch-katholischen Ausflüge in
hang gesagt hat: »Wenn Du einen Standpunkt verstehen
meinen »Neumann-Lehrplan« zu integrieren. Die Themen,
willst, mit dem Du nicht übereinstimmst, suche Dir immer
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den besten Vertreter dieses Standpunkts aus.« Möhler wäre
Und doch gab es neben Anis und den Karmeliten noch
wohl mit dem Ergebnis meiner Studien nicht glücklich ge-
einen weiteren Gesprächspartner in Stella Maris, der mich
wesen, genauso wenig wie Fritz, glaube ich.
sehr faszinierte. Es handelte sich um einen Mann, der als
Die Symbolik geht systematisch alle größeren protestan-
Riadh Effendi angesprochen wurde, der jüngere Bruder des
tischen Traditionen durch, im ersten Teil stellt der Autor
Oberhaupts der Bahai Bewegung (deren Zentrale in Haifa
den Katholizismus dem Luthertum und dem Calvinismus
war und ist). Diese Gespräche unterschieden sich grundle-
gegenüber. Der Katholizismus sprach mich nicht an, aber
gend von denen mit Stanislao und den anderen Mönchen,
alles, was ich über den Calvinismus las, ging mir gegen
und ich möchte noch gesondert davon berichten. Aller-
den Strich. Die lutherische Sicht der Hauptunterschiede
dings sollte ich hinzufügen, dass Anis, Stanislao und Riadh
jedoch – besonders alles, was die Apologie der Rechtferti-
miteinander bekannt waren (wenn ich mich richtig daran
gungslehre, der Sakramente und der Kirche betrifft –, kam
erinnere, war es sogar Anis, der mich mit Riadh bekannt
mir sehr entgegen. Ich bin in den Jahren seither dem Ka-
gemacht hat, der auch nach Stella Maris kam, um den Frie-
tholizismus sowohl intellektuell als auch im Gespräch mit
den und die Stille dort zu genießen); meine Gespräche mit
ergebenen Gläubigen oft wiederbegegnet. Ich habe auch
den Dreien haben sich sogar manchmal überschnitten.
einige Freunde und Bekannte römisch-katholisch werden
sehen. Mich hat er nie gereizt.
Persische Gärten
Stanislao verließ Palästina einige Monate vor mir. Er
ging nach Italien zurück, legte seine Gelübde ab und wur-
Es ist ein Zufall der Geschichte, dass Haifa zum Weltzent-
de Priester. Wir korrespondierten eine Zeitlang, verloren
rum der Bahai wurde. Der Bahaismus wurde im 19. Jahr-
uns dann aber aus den Augen. Sein »Nachfolger« als mein
hundert von zwei iranischen Religionsführern begründet,
Gesprächspartner im Kloster war ein Novize. Bruder Si-
die sich »Bab« und »Baha’u’llah« nannten. Der eigentliche
mon war bedeutend älter als Stanislao. Als Offizier der
Stifter ist aber Baha’u’llah. Der Bab wird von den Bahai
Königlich-Jugoslawischen Exil-Armee hatte er in Nordaf-
als dessen Wegbereiter – ähnlich wie Johannes der Täufer
rika gekämpft. Als die Alliierten beschlossen, Tito zu un-
im Christentum – betrachtet. Wie auch immer, Baha’u’llah
terstützen statt den König, verließ Simon die Armee und
musste aus dem Iran fliehen, als man dort begann, die
entschloss sich, dem Karmelitenorden beizutreten. Wir
Anhänger seiner Bewegung grausam zu verfolgen. Er fand
führten einige freundschaftliche Gespräche, aber im Grund
in Bagdad Zuflucht (das damals Teil des Osmanischen
war mein »katholisches Projekt« abgeschlossen.
Reiches war) und erklärte sich dort zum Propheten eines
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neuen Zeitalters, der eine Offenbarung von Gott erhalten
verursachen würde. Das Oberhaupt der Bahai ist der so
hatte. Die Bahai erkennen wie die Moslems alle Religions-
genannte Guardian of the Cause of God (Hüter der Sache
stifter als Propheten an, also Abraham, Moses, Jesus und
Gottes). Zur Zeit meines Aufenthalts in Palästina hatte die-
Mohammed: Baha’u’llah ist also nicht der einzige Prophet.
se Funktion Shoghi Effendi inne, der ältere Bruder meines
Die osmanischen Behörden befürchteten, dass der Religi-
Freundes Riadh. Seit 1963 führt das Haus der Gerechtigkeit
onsstreit aus dem Iran auf ihre eigene Provinz übergreifen
die internationale Gemeinde, die dem Hüter übergeordnet
könnte (den heutigen Irak, damals wie heute mehrheit-
ist. Diese nüchterne Aufzählung von Fakten kann der kom-
lich von Schiiten bewohnt, also von Anhängern derselben
plexen und wirklich faszinierenden Geschichte des Bahais-
Glaubensrichtung wie im Iran). Und so wurde Baha’u’llah
mus nicht gerecht werden, aber sie muss als Hintergrund
in die damals osmanische Provinz Palästina verbannt, weit
dieses Abschnitts meiner Erzählung genügen.
genug entfernt vom schiitischen Kerngebiet. Der Glaubens-
Es ist gut möglich, dass ich zu dem Zeitpunkt, als ich mit
gründer lebte bis zu seinem Tod in einem freundlichen
Riadh Bekanntschaft schloss, gerade einem jugendlichen
Haus in Bahji, einem Dorf in der Nähe von Acre am ande-
»Orientalismus« anhing, einer Bereitschaft, ex oriente gro-
ren Ende des Golfs von Haifa. Seinem Sohn, Abdul-Baha
ße Weisheit zu erfahren. Dabei spielte der Geschichtsun-
(der später um den Ersten Weltkrieg herum zwei Missi-
terricht von Mr. King eine Rolle, der uns das Goldene Zeit-
onsreisen nach Amerika unternahm) wurde gestattet, aus
alter der islamischen Zivilisation in leuchtenden Farben
Bahji nach Haifa zu ziehen.
geschildert hatte. Auch mein Einfühlungsvermögen in die
Zur Zeit meiner Gespräche auf dem Karmel war
Kultur des Nahen Ostens spielte dabei eine Rolle, das der
Baha’u’llah noch in Bahji begraben, während sich die
Umgang mit meinen arabischen Freunden ausgelöst hatte.
Grabstätten von Bab und Abdul-Baha in einem reizvol-
Ich glaube, es war Miss Robinson, die mir empfahl, Fitz-
len Anwesen auf den Hängen des Karmel befanden, das
geralds Übersetzung des Rubaiyat des persischen Dichters
man die »Persischen Gärten« nannte. Vor einigen Jahren
Omar Khayyam zu lesen. Übrigens haben Wissenschafter
ist es zum Weltzentrum der Religion geworden; die isra-
bewiesen, dass der Ausdruck »Übersetzung« in diesem
elische Regierung hat diese Entwicklung unterstützt, weil
Zusammenhang ein Euphemismus ist: Edward Fitzgerald
sie dem Gedanken, dass noch eine weitere Weltreligion
hat hauptsächlich eine Nachdichtung von Khayyams Werk
ihr Zentrum in Israel haben wollte, einiges abgewinnen
vorgelegt. Dieses kleine Buch wurde bei seinem Erschei-
konnte – noch dazu, wo abzusehen war, dass diese im
nen im England des 19. Jahrhunderts sehr populär. Und
Unterschied zu den anderen kaum politische Probleme
so gab es vielleicht eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen
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dem viktorianischen und meinem eigenen Orientalismus.
sie sich über mein Interesse freute. Als ich ihr erzählte,
Ich lernte einige der Fitzgerald/Khayyam-Vierzeiler aus-
dass ich bald nach Amerika gehen werde, sagte sie mir –
wendig und kann einige von ihnen bis heute – beispiels-
mit einiger Erleichterung, vermute ich –, dass ich dort mit
weise die wunderbaren Anfangsverse:
der wirklichen Bahai-Gemeinde in Verbindung werde treten können. In Haifa wäre das nämlich nicht möglich, und
Awake, for morning in the bowl of night
ich würde dadurch Gelegenheit bekommen, einen tieferen
Has thrown the stone that puts the stars to flight,
Glauben zu erfahren. Einmal fuhr Riadh mit mir auch nach
And the hunter of the east has caught
Bahji, das mich durch seine Schlichtheit und Stille sehr be-
The sultan’s turret in a noose of light.
eindruckte. Am Weg zurück aßen wir in einem arabischen
Café in Acre und machten einen Spaziergang entlang der
Riadh und ich führten lange Gespräche in Stella Maris.
Er war damals wohl Ende zwanzig, Anfang dreißig. Natür-
imposanten Befestigungsanlagen der ehemaligen Kreuzfahrerstadt, die früher übrigens St. Jean d’Acre hieß.
lich wollte ich einiges über die Bahai-Religion wissen, und
Neben dem »Orientalismus« faszinierte mich am Bahais-
Riadh gab diesem Wunsch nach, auch wenn klar war, dass
mus die Tatsache, dass es sich hier um ein konkretes Bei-
er nie die Absicht hatte, mich zu missionieren. Er gab mir
spiel für einen nichtchristlichen Theismus handelt, der of-
einige Bücher über die Bahai, als erstes eine Art Einfüh-
fensichtlich um vieles toleranter und rationaler als die ver-
rung, verfasst von einem britischen Konvertiten, J. E. Ess-
schiedenen Formen des Christentums ist, die ich kennen
lemont: Baha’u’llah und das neue Zeitalter. Riadh gab mir
gelernt hatte. Aber mein Flirt mit den Bahai dauerte nicht
auch Bücher über den Sufismus, zuerst, glaube ich, Rumi
lange. V. und M. haben ihn nie ernst genommen. M. war
(Dschalal ad-Din Muhammad Rumi war einer der bekann-
zwar damit nicht einverstanden, sagte aber wenig dazu.
testen persischen Mystiker des 13. Jahrhunderts). Ich war
Und V. fragte mich jedesmal, wenn ich von einem Treffen
sehr interessiert und fragte, ob ich Shoghi Effendi kennen
mit Riadh nach Hause kam, wann ich denn endlich ei-
lernen könnte. Das erwies sich als unmöglich, aber einmal
nen schönen Perserteppich mitbringen würde. Als ich aber
nahm mich Riadh in Shoghis ziemlich großartiges Haus
ziemlich zögerlich eingestand, dass ich den Bahaismus an-
in der – passenderweise – Persischen Straße mit, wo auch
ziehend fände, sprach sich V. gegen einen Austritt aus der
Riadh selbst wohnte. Dort empfing mich Shoghis Ehefrau,
anglikanischen Kirche aus. Natürlich habe ich all das auch
die Amerikanerin oder Kanadierin war. Sie wusste nicht
mit Fritz Neumann besprochen, der wenig über die Bahai
wirklich, was sie mit mir anfangen sollte, sagte aber, dass
wusste. Ich gab ihm Esslemonts Buch zu lesen. Er reagier-
182
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te darauf mit ungewöhnlicher Heftigkeit und sagte, dass es
zur Gewohnheit wurde); was aus ihm wurde, weiß ich al-
sich eindeutig um eine sehr seichte, triviale Spielart einer
lerdings nicht. Ich muss aber hinzufügen, dass ich wei-
mystischen Religion handelt. Er fügte noch hinzu, dass ich,
terhin eine gewisse Sympathie für den Bahaismus hege.
wenn ich wirklich etwas über Mystizismus wissen wollte,
Als ich das erste Mal nach Chicago reiste, besuchte ich
besser Meister Eckhart oder Teresa von Avila lesen sollte
den großen Bahai-Tempel in Wilmette, Illinois; in Amerika
(was ich zu gegebener Zeit auch getan habe), oder auch
schloss ich später auch Freundschaft mit einigen Bahai
die großen Sufi Meister (was mir natürlich Riadh schon
und ich bin über die Verfolgungen der Bahai durch die
längst empfohlen hatte).
Islamische Revolution im Iran sehr empört.
Eines der Gespräche mit Riadh aber beunruhigte mich
Aber es gibt noch ein Tüpfelchen auf dem I zu dieser Ge-
dann sehr. Er sagte, dass uns nur die großen Mystiker zu
schichte: Als ich in New York studierte, lernte ich einen al-
einer wahren Begegnung mit Gott führen könnten, dass
ten Iraner kennen, der, wie sich herausstellte, Abdul-Bahas
dies überhaupt nur sehr wenigen Menschen gelänge und
Dolmetscher auf einer seiner Missionsreisen durch Ame-
dass die so genannten Offenbarungsreligionen gerade gut
rika gewesen war. Ahmad Sohrab (der übrigens ebenfalls
genug wären für die Massen, denen ein tieferes religiöses
von Shoghi Effendi exkommuniziert wurde) hatte damals
Erlebnis ohnehin verschlossen bleibt. Ich fragte ihn, ob
ein Tagebuch geführt, in dem er auf Englisch alles aufge-
er zu Letzteren auch den Bahaismus zählen würde. Die-
zeichnet hatte, was auf der Reise geschah. Die Aufzeich-
se Frage gefiel ihm gar nicht, aber nach kurzem Zögern
nungen waren handschriftlich und füllten mehr als zwan-
nickte er. Ich fand das ziemlich schockierend angesichts
zig Hefte. Das war eine großartige Primärquelle. Ich war
der Tatsache, dass sein bequemes Leben von dieser »Mas-
gerade auf der Suche nach einem Dissertationsthema und
senreligion« gesichert wurde. Dadurch wurde mir aber
entschloss mich daher, über den Wandel des Bahaismus
auch klar, warum Riadh (im Gegensatz zu Stanislao und
von einer messianistischen revolutionären Idee im Iran
den anderen Karmeliten) nur widerstrebend meinem hart-
zu einer friedlichen Sekte in Amerika zu schreiben. (Die
näckigen Interesse an seiner Religion nachgegeben hatte,
Dissertation war eine etwas geistlose Auslegung des Ma-
die er eigentlich repräsentieren sollte.
terials in Anlehnung an Max Webers Die Veralltäglichung
Gegen Ende meines Aufenthalts in Haifa wurde mein
des Charisma. Obwohl diese Dissertation einen unwichti-
Kontakt zu Riadh spärlicher. Nach meiner Abreise riss er
gen Beitrag zur Religionssoziologie darstellt, habe ich viel
vollkommen ab. Einige Jahre später hörte ich, dass Riadh
gelernt, als ich sie schrieb, und zwar nicht nur über das
von seinem Bruder exkommuniziert worden war (dem das
von mir behandelte Thema aus der Religionsgeschichte,
184
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sondern über die kognitive und emotionale Dynamik von
Ganz besonders beeindruckte mich Karl Heims Das Wesen
charismatischen Bewegungen. Das aber ist eine ganz an-
des Evangelischen Christentums. Ich glaube, dass ich auch
dere Geschichte.) Letztendlich bin ich dann doch aus der
Karl Holls Essay-Band über Martin Luther und Auszüge
anglikanischen Kirche ausgetreten, aber weder um Perser-
aus Werner Elerts Morphologie des Luthertums gelesen
teppiche zu erwerben, noch den Mystizismus, der so oft
habe. Zwischen 1933 und 1935 sind die wichtigsten Doku-
mit ihnen einhergeht.
mente des Kirchenkampfs in einer Buchreihe mit dem Titel Bekenntnisse veröffentlicht worden. Darin wurden die
Pastor Bergs Bibliothek
wichtigsten Texte der so genannten »Deutschen Christen«
abgedruckt, die sich der nationalsozialistischen Ideologie
Mit ihr ist ein Abschnitt aus diesen Lebensjahren verbun-
verschrieben hatten, aber auch die Schriften ihrer Gegner,
den, der viel weniger exotisch anmutet als so manches,
der so genannten »Bekennenden Kirche«. Die einfluss-
worüber ich bisher geschrieben habe. Dennoch ist er
reichste Bekenntnisschrift der »Bekennenden Kirche« war
merkwürdig, wenn man bedenkt, wie ein paar herrenlose
die »Barmer Erklärung«, die vor allem der Gleichschaltung
Bücher einen derart wichtigen Einfluss auf mich hatten.
durch den nationalsozialistischen Staat massiv entgegen-
Ich habe schon erwähnt, dass ich nach der Übernahme
trat, darüber hinaus aber jedem totalen Staat und seinen
der Deutschen Kirche durch die Presbyterianer in Haifa die
Ansprüchen an eine Weltanschauung, die in Konkurrenz
Erlaubnis erhielt, mir jene Bücher auszuborgen, die Pastor
zum christlichen Bekenntnis tritt, eine Absage erteilte.
Berg zurückgelassen hatte. Ich tat das auch einige Monate
Weiters wurde das Alte Testament als integraler Bestand-
lang. Alle diese Bücher waren natürlich auf Deutsch. Ich
teil der christlichen Bibel festgeschrieben, weshalb der jü-
erinnere mich noch an die Schuldgefühle, die ich hatte,
dische Anteil am Christentum als Teil des Wortes Gottes
weil ich in der Bibliothek eines mir unbekannten Mannes
verstanden wird. »Rasse« (im nationalsozialistischen Sinn)
herumstöberte (bis heute weiß ich nicht, ob ich ihn jemals
ist weder Kriterium für eine Kirchenmitgliedschaft noch
gesehen habe).
für ein Kirchenamt. Kein Staat hat das Recht, sich in den
Alle Bücher, die ich mir lieh, befassten sich mit der luthe-
Auftrag der Kirche einzumischen.
rischen Theologie oder mit dem so genannten Deutschen
Als ich diese Texte las, waren meine Kenntnisse über
Kirchenkampf der 1930er Jahre, als die protestantischen
diese zeitgeschichtlichen Ereignisse gering. So habe ich
Kirchen durch die Einbeziehung nationalsozialistischen
auch nicht verstanden, dass die »Bekennende Kirche«
Gedankengutes in ihre Glaubenssätze entzweit wurden.
nicht gegen die Nazi-Politik als solche opponierte, sondern
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nur die Einmischung des Regimes in Glaubensinhalte und
sola gratia: »Allein durch Gnade«, sola fide: »Allein durch
Kirchenverfassung abzuwehren suchte. Ich wusste weiters
Glaube«, solus Christus: »Allein Jesus Christus«. Mir gab
nicht, dass die Geschichte der »Bekennenden Kirche« eine
sola fide ein Gefühl der Befreiung – genau das, was Luther
sehr kurze war. Die Nationalsozialisten gaben schon we-
mit seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen
nige Jahre später ihre Unterstützung für die »Deutschen
beabsichtigte. Ich glaube, dass ich damals zumindest in
Christen« auf, und die meisten kirchlichen Vertreter der
Ansätzen die »Lehre von den zwei Reichen« verstanden
verschiedenen protestantischen Landeskirchen arrangier-
habe, die im Wesentlichen als Forderung nach der deutli-
ten sich mit dem Regime (auch wenn sich einige Landes-
chen Trennung zwischen Religion und Politik zu verstehen
kirchen und eine beträchtliche Anzahl örtlicher Gemein-
sind. Schließlich wollte Luther durch die ausschließliche
den als Angehörige der Bekennerbewegung verstanden).
Orientierung an Jesus Christus als dem fleischgewordenen
Ich habe damals auch nicht gewusst, dass ein Teil dieser
Wort Gottes den Legalismus der katholischen Kirche ver-
Texte, darunter auch die »Barmer Erklärung«, die maßgeb-
werfen. Eines ist aber klar: die Bücher, die ich aus Pastor
lich vom evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth
Bergs Bibliothek entlieh, passten gut zu den Erkenntnis-
ausgearbeitet war, eher reformiert als lutherisch sind. Ich
sen, die ich aus Möhlers Symbolik bezogen hatte. Durch
erkannte aber durch meine Lektüre, wie sehr lutherisches
sie erhielt ich einen ersten rudimentären Anstoß, mich mit
Denken und Frömmigkeit Menschen zum Widerstand ge-
dem pietistischen und doch lutherischen Glauben zu be-
gen eine zersetzende Ideologie bringen kann. Darin we-
fassen, dem ich in der Schule am Karmel zuerst begegnet
nigstens irrte ich mich nicht, auch wenn ich von einem
war.
viel zu hohen Anteil an Personen im Widerstand ausging.
Was damals in mir vorging, ließe sich mit folgendem
Ich wusste damals auch noch nichts von jenen Mitgliedern
Paradoxon erklären: Ohne mit einem einzigen Lutheraner
der »Bekennenden Kirche«, die vom kirchlichen zum po-
Kontakt gehabt zu haben, dachte ich mir ein Luthertum
litischen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur wechselten
aus. Es war allerdings ein von der Vernunft geprägter Nach-
(Dietrich Bonhoeffer ist der bekannteste Vertreter dieser
bau und später verstand ich, dass er nicht dem Original
Gruppe).
entsprach. Aber ich würde sogar heute noch sagen, dass
Ich kann heute nicht mehr sagen, welche Seite des Lu-
ich gefühlsmäßig nicht weit daneben lag. Folglich konnte
thertums mich damals am meisten faszinierte. Kurz gefasst
ich, als sich mein Wissen über das Luthertum im Lauf der
wird Luthers Theologie oft mit dem vierfachen sola/solus
Jahre vertiefte, meine ursprünglichen Erkenntnisse verifi-
systematisiert: sola scriptura: »Allein die Heilige Schrift«,
zieren. Selbst als mein theologisches Verständnis viel li-
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beraler wurde und ich daher das Augsburger Bekenntnis
Kirche ausfindig und hatte dabei großes Glück, denn ich
nicht mehr voll unterschreiben kann, würde ich sagen,
hatte keine Ahnung vom amerikanischen Luthertum: Sie
dass ich trotz vieler Vorbehalte vielmehr lutherisch bin
gehörte der Vereinigten Lutherischen Kirche in Amerika,
als irgendetwas anderes Christliches. Vielleicht habe ich
»United Lutheran Church in America« (ULCA) und nicht
damals – möge Spinoza es mir verzeihen – meine anima
zu der ultrakonservativen »Missouri Synod«. Ich ging zu
naturaliter lutherana entdeckt.
ihrem Pfarrer, einem gewissen Pastor Hines. Ich glaube,
All das hatte Auswirkungen auf mein praktisches Leben.
auch er wusste nicht genau, was er mit diesem hochmo-
Ich wollte nicht anglikanisch konfirmiert werden, sondern
tivierten pubertären jungen Mann machen sollte (ich war
damit so lange zuwarten, bis ich in eine lutherische Kirche
gerade erst 17), aber nach einigen Gesprächen konnte ich
gehen konnte. Als ich mich entschloss, Pfarrer zu wer-
ihn davon überzeugen, dass ich nicht verrückt bin. Bei
den, war klar, dass ich ein lutherischer sein würde. Zwi-
einer kleinen Feier konfirmierte er mich in seiner Kirche in
schen unserer Abreise aus Palästina und unserer Ankunft
Washington Heights, Upper Manhattan, deren Mitglied ich
in Amerika verbrachten wir einige Monate in Frankreich.
dann wurde. Weder V. noch M. vollzogen diesen Schritt
Ich machte in Paris den lutherischen Bischof ausfindig, ei-
mit mir, aber sie hatten auch nichts dagegen.
nen Herrn mit dem merkwürdigen Namen Wheatcroft (zu
Wie es der Zufall wollte, gehörte Pastor Hines dem Komi-
Deutsch: Weizenfeld). Ich ließ mir einen Termin geben und
tee für die Bestellung des Pfarrernachwuchses der dama-
erzählte ihm von meinen Plänen. Er muss wohl einiger-
ligen New Yorker Synode der ULCA an. Aufgrund meiner
maßen verblüfft gewesen sein über diesen jungen Mann,
Anhörung und Pastor Hines Empfehlung wurde ich auf-
der sich in schlechtem Französisch als Lutheraner in spe
genommen. So war ich nur wenige Wochen nach meiner
vorstellte. Glücklicherweise sprach Wheatcroft, dessen Na-
Ankunft in Amerika offiziell beglaubigter Lutheraner und
men sehr wohl auf seine Herkunft verwies, ausgezeich-
werdender lutherischer Pastor. Die daraus resultierenden
net Englisch. Er war sehr liebenswürdig und wir trafen
Konsequenzen – mein Studienjahr am Lutherischen The-
einander noch mehrere Male. Ich nahm auch an ein paar
ologischen Seminar in Philadelphia, meine wachsenden
Gottesdiensten in seiner Kirche teil. Als ich endlich in New
Zweifel sowohl an der lutherischen Orthodoxie als auch an
York angekommen war, verfolgte ich mein lutherisches
meiner eigenen Berufung zum Seelsorger und mein end-
Projekt mit hartnäckiger Zielstrebigkeit (sehr zur Verwun-
gültiger Rückzug aus dem Projekt – gehören nicht hierher.
derung von V.s Verwandten, bei denen wir die erste Zeit
Aber ich möchte betonen, dass diese spätere Geschichte
über wohnten). Ich machte die nächstgelegene lutherische
keineswegs jene – sagen wir – lutherische Frömmigkeit
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und Denkweise entwertet, die ich mir damals in den
weis sind Englisch – was ungewöhnlich ist, denn für Re-
1940er Jahren im völlig unlutherischen Milieu von Haifa
gierungsdokumente benützte man normalerweise alle drei
angelesen hatte.
offiziellen Sprachen, Englisch, Arabisch und Hebräisch.
Ich habe nie herausgefunden, was mit Pastor Berg wäh-
(Mr. King hat einmal darauf hingewiesen, dass es auch zur
rend und nach dem Krieg geschehen ist. Ich wüsste nicht,
Zeit Jesu Christi drei offizielle Sprachen gab, aber Hebrä-
wie er von den Auswirkungen seiner hinterlassenen Bi-
isch ist die einzige, die es bis in heute geblieben ist.)
bliothek hätte erfahren können. Von dem Wenigen, das
Wahrscheinlich ist der einsprachige Identitätsausweis
ich über ihn weiß, nehme ich aber an, dass es ihn gefreut
hauptsächlich für die Sicherheitseinheiten bestimmt gewe-
hätte.
sen. Wenn man den Ausweis öffnet, gibt es links eine Fotografie, die mich mit feierlichem Blick in Hemd, Krawat-
Rasse: Österreichisch
te und Pullover zeigt. Darunter mein voller Name – Peter
Ludwig Berger. Neben dem Foto steht der eher besorgnis-
Die britischen Behörden verlangten von jedem Einwohner
erregende Eintrag: »Der Besitz dieses Ausweises gilt nicht
Palästinas über 16 einen Identitätsausweis. Wenn man aus
als Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts in Palästina.«
irgendeinem Grund von den Sicherheitskräften angehalten
Dieser Hinweis traf vollkommen auf mich zu, denn unsere
wurde und kein solches Dokument vorweisen konnte,
Touristenvisa, die uns die Einreise nach Palästina erlaub-
führte das zu erheblichen Schwierigkeiten. Als ich den be-
ten, waren damals schon längst abgelaufen. Auf der rech-
wussten Geburtstag erreichte, ging ich im August 1945 aus
ten Seite stehen die üblichen Personenangaben – Adresse,
diesem Grund auf die Polizeihauptwache von Haifa. Ich
Größe, Augenfarbe, Haarfarbe; der Körperbau wird mit
hatte einen Brief von Mr. Morton bei mir, dem Rektor der
»medium/mittel« angegeben. Bei »Beruf« steht »Student«.
anglikanischen Kirche, die ich sporadisch besuchte. Darin
Aber die im wörtlichen Sinn »pièce de résistance«, ist die
bestätigte er mir, dass ich Anglikaner und Gemeindemit-
Eintragung unter »Rasse«, womit die Briten einfach den
glied war. Ich füllte ein Antragsformular aus und erhielt
ethnischen Hintergrund des Ausweisbesitzers meinten.
ordnungsgemäß meinen Identitätsausweis.
Meistens stand dort »Araber« oder »Jude«. In meinem Fall
Während ich diese Zeilen schreibe, liegt dieses Doku-
wird meine »Rasse« – in der selbstbewussten Handschrift
ment vor mir. Es ist ein gelblich-braunes Stück Karton, in
des britischen Polizisten, der den Ausweis ausgestellt hat
der Mitte gefaltet. Auf der Vorderseite steht: »Government
– als »österreichisch« bezeichnet.
of Palestine – Identity Card«. Alle Einträge auf dem Aus-
192
Ich weiß nicht mehr, wann ich beschlossen hatte, mich
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so zu bezeichnen. Ich kann mich auch nicht erinnern,
1970er Jahren kam ich kurz in Haifa vorbei. Meinen Gast-
was V. und M. als »Rasse« in ihren Identitätsausweisen
gebern hatte ich über meine Beziehung zu dieser Stadt
eingetragen hatten, vermutlich »jüdisch«, um den Weg
nichts erzählt. Ich bat, mich nach Bat Galim zu fahren.
des geringsten Widerstands zu gehen. Meinen meisterli-
Ich hatte nicht viel Zeit, aber ich spazierte ein bisschen
chen Eintrag habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich weiß
herum und fand auch unser damaliges Wohnhaus in der
noch, dass der britische Polizist leicht verwundert war, als
Straße, die immer noch Blue Coast hieß. Es sah sehr schä-
er mein Antragsformular und Mr. Mortons Brief durchlas.
big aus. Bei einer anderen Gelegenheit sah ich von ferne
Er fragte mich: »Sind Sie Österreicher?« Mit fester Stimme
das Gebäude, in dem die St. Lukas Schule untergebracht
antwortete ich: »Ja.« Die britischen Polizisten in Palästina
war. Man sagte mir, dass es mittlerweile etwas wie ein
kamen nicht gerade aus den ersten Bildungsanstalten des
Erholungsheim für israelische Soldaten ist. Ich war nicht
Vereinigten Königreichs, und dieser spezielle war vielleicht
besonders beeindruckt von meinem Kurzbesuch in Haifa,
nicht einmal ganz sicher, was denn überhaupt ein Österrei-
bis auf eine einzige Ausnahme: Man fuhr mich zu einem
cher sein sollte. (Vielleicht eine Unterkategorie der Arme-
Termin am Highway zwischen Bat Galim und dem Fuß
nier, die ihm wahrscheinlich als Ethnie schon untergekom-
des Karmels. Plötzlich erkannte ich ein kleines Haus am
men war.) Er zuckte nur mit den Achseln und füllte den
Straßenrand wieder. Es war genau die Stelle, an der ich im-
Ausweis so aus, wie ich ihn beantragt hatte. (Ich versuche
mer auf den Bus gewartet habe, der mich in die St. Lukas
mir vorzustellen, was ihm dabei durch den Kopf ging: Da
Schule brachte. Für einige Augenblicke schien es mir, als
ist der Knabe, sogar mit Krawatte, spricht recht präzises
könnte ich den komplizierten jungen Menschen sehen, der
Englisch – Miss Robinson hatte ihre Sache gut gemacht –
vor vielen Jahren dort gestanden ist.
und der gibt also vor, dass er ein österreichisches Mitglied
Wie könnte man die Anerkennung nennen, die ein Mann
der Anglikanischen Kirche ist. Was zum Teufel geht mich
in seinen Vierzigern seinem ehemaligen pubertären Selbst
das an! Er schaut ja nicht gerade wie ein Terrorist aus.)
entgegenbringt? Auch wenn es gegen die Verwandtschafts-
Ich erinnere mich daran, dass ich die Polizeiwache mit ei-
verhältnisse verstößt, würde ich es eine brüderliche Geste
nem Hochgefühl der Überlegenheit verlassen habe. Und so
nennen. Was ich ohne erhobenen Zeigefinger meine: Ich
wurde mir in einer hinteren Provinz des britischen König-
sehe dich. Du warst in Ordnung. Du hast das Richtige ge-
reichs offiziell attestiert, dass ich zu einem Land gehörte,
macht.
das damals schon sieben Jahre lang nicht mehr existierte.
Anlässlich einiger Gastvorlesungen in Israel in den
194
195
Kurzer theoretischer Einschub
Ich gebe Goethe Recht: »Grau ist alle Theorie! Und grün
des Lebens goldner Baum!« Der hier von mir vorgelegte
Text beschäftigt sich mit dem Leben, nicht mit der Theorie.
Aber als Soziologe, der hoch in den Siebzigern ist, blicke
ich auf ein Berufsleben zurück, das sich großteils der Erarbeitung verschiedener Theorien in den Sozialwissenschaften gewidmet hat. Eines meiner bekanntesten Bücher, das
ich gemeinsam mit Thomas Luckmann geschrieben habe
und das 1966 erschienen ist, heißt Die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit. (Es ist sogar als »kleiner
Klassiker« bezeichnet worden.) Natürlich sind auch Theorien soziale Konstrukte; das heißt, dass sie unter den
gerade passenden gesellschaftlichen Umständen entstehen
und dadurch glaubhaft sind. Daraus folgt die Frage, wie
die Erfahrungen meiner Kindheit und Adoleszenz meine
Weltauffassung beeinflussten und folglich meinen persönlichen Zugang zur theoretischen Arbeit formten.
»Die individuellen Möglichkeiten der Selbstbestimmung im historischen und sozialen Kontext
sind beschränkt und dennoch gibt es sie.«.
Ich möchte hier nicht missverstanden werden. Ich bin in
keiner Weise Anhänger irgendeines psychologischen oder
soziologischen Determinismus, demzufolge alle Theorien
– auch die sozialwissenschaftlichen – nichts anderes sind
als intellektueller Ausfluss persönlicher Bedürfnisse oder
Interessen. In meinem Alter bin ich kein Verfechter mehr
von Orthodoxien, außer dem Weberianismus, dem ich
mich seit meiner Studentenzeit verschrieben habe. Das
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197
heißt, in absoluter Treue zu Max Weber glaube ich an die
einem Wandel unterworfen. Kollektive Sicherheiten sind
»wertfreie« Sozialwissenschaft. Wissenschaft hat ihre ei-
gefährlich, ja potenziell mörderisch. Die individuellen
genen, objektiven Gültigkeitskriterien, unabhängig vom
Möglichkeiten der Selbstbestimmung im historischen und
persönlichen Hintergrund des Wissenschafters. Deshalb
sozialen Kontext sind beschränkt und dennoch gibt es sie.
können Menschen mit unterschiedlichen Lebensgeschich-
Das sind Momente der Freiheit. Diese Augenblicke sind
ten auch Lehrsätzen zustimmen, die ich mache, und um-
süß wie Honig und ebenso kostbar. Eine Gesellschaft, die
gekehrt hätte ich zum selben Ergebnis kommen können,
solche Freiheit zulässt, ist einer solchen vorzuziehen, die
auch wenn mein Leben ganz anders verlaufen wäre. Für
sie verweigert.
mich ist mein alter Kollege und Freund Thomas Luckmann
Natürlich hätte ich mit 17 solche Aussagen nicht ma-
ein typisches Beispiel für das eben Gesagte. (Während ich
chen können. Trotzdem waren sie da, in einem embryona-
diese Zeilen schreibe, ist er gerade bei mir zu Gast und Zeu-
len Zustand zwar, aber, wenn man so will, als Vorform ei-
ge eines Schneesturms, der uns gerade unter einem halben
ner Theorie. Ich habe hier viel über die Ursprünge meiner
Meter Schnee begräbt.) Seine Herkunft und sein Lebens-
religiösen Überzeugungen geschrieben und muss daher
lauf unterscheiden sich wesentlich von dem meinen, und
nicht mehr darüber sagen. Ergänzend möchte ich nur kurz
dennoch gelang uns gemeinsam unser »kleiner Klassiker«
und bündig meine politische Einstellung als skeptischen
sowie einige andere Arbeiten. Wie dem auch sei, ich frage
Konservatismus bezeichnen. Für mich ist das eine Werte-
mich, ob es Erkenntnisse gibt, die sich aus meiner Biogra-
ordnung, die mit einer tiefen Skepsis gegenüber jeglicher
fie ergeben und die mich zur Sozialwissenschaft geführt
Ideologie gepaart ist. Das erklärt, warum ich mich in Ame-
haben. Ich werde versuchen sie zu beschreiben:
rika sofort zu Hause gefühlt habe – von dem Augenblick
Die Begrifflichkeit und die Wertigkeit in den menschli-
an, als ich meinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt
chen Gesellschaften sind vielfältig. Sprache ist ein wesent-
habe – und es erklärt auch, was ich seither für Amerika
licher Schlüssel zum Verständnis dieser Vielfalt. Und auch
empfinde.
Lebensgeschichte und Weltgeschichte sind fest ineinander
Ich bemerke gerade, dass ich ins Grau der Theorie ab-
verwoben. Das bedeutet, dass unsere kleinen Leben ent-
gleite. Ich muss diesen Einschub beenden, bevor ich zu
scheidend von unberechenbaren Mächten bestimmt wer-
sehr theoretisiere.
den – weit abseits unseres Einflussbereiches. Jede menschliche Ordnung ist zerbrechlich und deshalb umso kostbarer. Kollektive Identitätszuweisungen sind willkürlich und
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Befreiungen
Ein wichtiger Begriff im Zionismus ist die Alija (hebräisch:
Aufstieg, Aufruf, auch Pilger- oder Wallfahrt). Er bezieht
sich auf die Einwanderung von Juden in das Gelobte Land.
Trotz all der Unterdrückung und des Leids, das die jüdische Geschichte jahrhundertelang kennzeichnete und das
in den Jahren des Nationalsozialismus seinen schrecklichen Höhepunkt erfuhr, schwingt Hoffnung in dem Wort
mit. Trotz aller Kritik am Zionismus und seiner Umsetzung
heutzutage – besonders im Hinblick auf den Konflikt mit
den Palästinensern – sollte man gerade diesen Aspekt anerkennen. Bei allem Respekt muss ich aber sagen, dass
ich so etwas wie eine Gegen-Alija erfahren habe. Denn ich
verließ Israel, und mein Gelobtes Land war Amerika.
1924 wurde die Einwanderung in die USA zum ersten
Mal einer Quote unterworfen. Die beschlossenen Quoten
sollten die Einwanderung aus Süd- und Osteuropa zugunsten der Einwanderung aus Nord- und Westeuropa
eindämmen und ganz allgemein den »weißen« Charakter
der Bevölkerung sichern. Dazu wurde die Zahl der Neueinwanderer pro Land auf zwei Prozent des Anteils an der
Bevölkerung von 1890 begrenzt. Uns betraf das insofern,
als wir schon seit acht Jahren auf die Erlaubnis zur Einreise warteten. Im Sommer 1945 informierte uns das ame»Wieder kam es mir wie ein Wunder vor: Ich war in Amerika und
neue Abenteuer kamen auf mich zu«: Während des Dienstes in der
US-Armee, 1954 (stehend, 2.v.l.)
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rikanische Konsulat, dass uns Quoten-Nummern zugeteilt
wurden. Voraussetzung war ein »Affidavit«, also eine ei-
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desstattliche Unterstützungserklärung, in unserem Fall der
genstück zu jenem, den mir die Behörden Palästinas aus-
Schwestern V.s, die schon vor dem Krieg nach New York
gestellt hatten. Auf ein Stück Karton klebte ich das kleine
übersiedelt waren. Das Problem war allerdings, dass es kei-
Kreuz, das mir die freundliche Nonne auf der Via Dolorosa
ne Schiffskarten gab, Visa aber nur erteilt wurden, wenn
gegeben hatte und schrieb darauf: »Gott will es!« Zwar
man nachweisen konnte, dass man die Reise tatsächlich
handelte es sich dabei um den Schlachtruf, mit dem durch
antreten konnte. Die folgenden Monate wurden von einer
das Konzil von Clermont 1095 der Erste Kreuzzug seinen
Stimmung ungeduldigen Wartens beherrscht. Einmal sah
Anfang nahm – »Dieu le veult« (all diese Einzelheiten hatte
es so aus, als ob ich allein vorausfahren könnte. Der Vater
mir Mr. King beigebracht), ich war jedoch vom Ruf Gottes
eines amerikanischen Mitschülers an der St. Lukas-Schule
überzeugt und war bereit, genau das zu tun. Ich musste
hatte Beziehungen zu einem Schifffahrtsunternehmen und
nun unbedingt wissen, was sich im Luthertum damals tat
verschaffte mir eine Stelle als Deckhelfer auf einem Han-
– kein leichtes Unterfangen in den ersten Nachkriegsmo-
delsschiff. Ich wäre wohl kein sehr effizienter Hilfsarbeiter
naten in Haifa. Irgendwie gelang es mir, eine protestanti-
gewesen, aber ich fuhr nach Jerusalem (zum ersten Mal
sche Kirchenzeitung aus der Schweiz zu abonnieren, was
allein, meinen »österreichischen« Identitätsausweis eng an
wenig hilfreich war – sie war eher reformiert als lutherisch
mich gepresst, den man mir einige Monate vorher ausge-
und enthielt hauptsächlich Nachrichten aus der Schweiz.
stellt hatte). Es war umsonst: Am Konsulat teilte man mir
Hie und da gab es aber Artikel über die theologischen Ent-
mit, dass Familien gemeinsam reisen müssten und dass
wicklungen im deutschsprachigen Protestantismus.
mir allein kein Visum ausgestellt werden kann. Enttäuscht
fuhr ich nach Haifa zurück.
Vom amerikanischen Konsulat erfuhren wir Mitte 1946,
dass die uns zugewiesenen Quotennummern nur bis zu
Inmitten all dieser Hektik machte ich eine metaphysi-
einem gewissen Stichtag ihre Gültigkeit behalten würden.
sche Erfahrung. Als ich einmal bis spät in die Nacht las,
Inzwischen hatten wir Schiffskarten aus Palästina zu-
war ich plötzlich von der Überzeugung erfüllt, zum Dienst
mindest bis nach Europa bekommen (was dem Konsulat
an der christlichen Kirche berufen zu sein – wenig überra-
zu genügen schien), aber es gab nun eine neue Hürde:
schend nach der Beschäftigung mit theologischen Fragen
Man musste eine Bestätigung des Protektorats in Palästina
in all den Jahren davor. Damals verstand ich es als Ruf
vorweisen können, dass keinerlei strafrechtliche Untersu-
Gottes und war sehr glücklich. Nun hatte ich einen klar
chungen gegen einen von uns anhängig waren. Der Stich-
umrissenen Lebensplan. Ich bastelte mir meinen persön-
tag rückte immer näher, und wir hatten das Dokument
lichen theologischen Identitätsausweis als geheiligtes Ge-
noch nicht erhalten. Ich war ziemlich verzweifelt. Ich be-
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tete um ein Zeichen, dass uns die Ausreise gelingen möge.
ten wir den Gottesdienst in der presbyterianischen Kirche
Das Zeichen kam – zumindest habe ich das geglaubt. Ich
in Jerusalem, wo Mr. Clark-Kerr (derselbe, der mich die
hatte eine weitere angebliche Offenbarung, durch die ich
Bibliothek von Pastor Berg hatte benützen lassen) nun
zur Überzeugung kam, ich würde (gottgewollt) meine Aus-
Pfarrer war. Da kam es zu einem Zwischenfall. Die Kirche
bildung zum lutherischen Pfarrer in den USA machen kön-
war von Polizisten und Soldaten in Panzerwagen umstellt,
nen. Doch zunächst mussten wir aufgrund der steigenden
weil auch der britische Hochkommissar für Palästina den
Terrorgefahr in Israel befürchten, nicht einmal nach Jeru-
Gottesdienst besuchte. Plötzlich regnete es Handzettel,
salem fahren zu können, um unsere Visa abzuholen.
die eine jüdische Untergrundbewegung von einem Dach
Der Stichtag war verstrichen. Mit treffsicherer Erbar-
abgeworfen hatte. Nun schwärmten die Soldaten aus, um
mungslosigkeit traf das Dokument der palästinischen
die Übeltäter zu stellen. Da sahen wir zu unserer Überra-
Behörden am Tag danach bei uns ein. Wir nahmen an,
schung Fritz Neumann und seine Frau. Ich wusste zwar,
dass wir nun nicht ausreisen werden können. Obwohl
dass die beiden ihren Urlaub in Jerusalem verbrachten,
ich schrecklich enttäuscht war, entschloss ich mich, das
hatte aber nicht erwartet, sie hier zu sehen. Ich hatte Fritz
Beste aus dem sich dahinziehenden Aufenthalt in Paläs-
nicht nur von dem versäumten Stichtag geschrieben, son-
tina zu machen. Ich bewarb mich um ein Praktikum in
dern auch von meiner Berufung. Erst nach dem Gottes-
der Barclay’s Bank in Haifa. Zum Glück musste ich die
dienst konnte ich mit ihm sprechen. Er war natürlich auch
Stelle nie antreten, denn ein paar Tage später erhielten wir
sehr überrascht, uns zu sehen. Während M. sich mit Frau
ein Telegramm vom amerikanischen Konsulat, dass unsere
Neumann unterhielt, nahm Fritz mich zur Seite und schalt
Quotennummern noch einige Zeit über den Stichtag hin-
mich wegen der Geschichte mit dem Zeichen Gottes. Er
aus ihre Gültigkeit behielten und man unsere Visa doch
erinnerte mich an Kierkegaards Das Buch über Adler und
noch ausstellen würde. Für mich war all das die Bestäti-
dessen Kernaussage, dass eine geniale Begabung noch kei-
gung des Zeichens, das ich einige Tage zuvor glaubte er-
neswegs die Berufung zum Apostel Christi bedeutet. Fritz
halten zu haben .
wiederholte natürlich den klassischen protestantischen
Das Telegramm kam an einem Freitag. Da wir Terror-
Standpunkt, dass wir Gott nur in seinem Wort begegnen
anschläge befürchteten, fuhren M. und ich am nächsten
können – und nirgendwo anders. Daraus folgt, dass man
Tag nach Jerusalem, obwohl uns klar war, dass das Kon-
die Entscheidung, in den Dienst der Kirche zu treten, nur
sulat bis Montag geschlossen sein würde. Wir stiegen in
aus wohl überlegten Gründen treffen kann und nicht, weil
einer schäbigen Pension ab. Am Sonntagmorgen besuch-
man glaubt, irgend ein wunderliches Zeichen erhalten zu
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haben. Ich stimmte ihm zwar zu, wusste aber, dass ich
nicht an Land gehen, aber das Panaroma der libanesischen
auch rational zu derselben Entscheidung gekommen wäre.
Hauptstadt war schön. Am meisten freute ich mich über
Also sah ich keinerlei Veranlassung, meine Lebenspla-
den sichtbaren Beweis dafür, dass wir Palästina verlassen
nung zu ändern, die ich nun schon seit einem Jahr klar
hatten. Noch am selben Tag stach das Schiff wieder in See.
vor mir sah. Es war genauso wie beim Laufen: Hat man
Die Überfahrt nach Marseille dauerte fast zwei Tage. Wir
einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Und
passierten die Straße von Messina schon in der Dunkel-
so rannte ich in all den folgenden Monaten weiter, rannte
heit. Man konnte zwar fast nichts sehen, aber M. war ganz
bis hin zum Nachwuchskomitee der New Yorker Synode
aufgeregt, dass wir ihrem geliebten Italien so nahe waren.
der ULCA, und rannte auch noch einige Zeit danach immer weiter.
Die Ankunft in Marseille war geräuschvoll und verwirrend. Wir hatten französische Transitvisa, also gab es keine
Am Montag nach meiner Begegnung mit Fritz in Jeru-
Probleme, aber die Formalitäten bei Einreise und Zoll dau-
salem konnten wir schließlich unsere Visa vom amerika-
erten lang. Kaum an Land gingen wir sofort zu einem recht
nischen Konsulat abholen. Endlich stand unserer Abreise
schmierigen Reisebüro namens »Oceania«, das eigentlich
nichts mehr im Wege.
unsere Weiterreise nach Amerika hätte organisieren sollen.
Wir schifften uns im Herbst 1946 auf einem rumäni-
Dort teilte man uns aber mit, dass die Hafenarbeiter in
schen Handelsschiff nach Marseille ein. Soweit ich mich
Amerika streikten und daher alle Häfen an der Ostküste so
erinnern kann, waren nur wenige Passagiere mit uns an
gut wie geschlossen waren. Es gab deshalb keine Schiffe,
Bord. Das Schiff lief am frühen Abend aus. Ich blieb an
die von Marseille nach Amerika fuhren. Der Mann im
Deck und schaute zu, wie Haifa in der Entfernung immer
»Oceania« schlug uns vor, sofort nach Paris weiterzurei-
kleiner und kleiner wurde. Schließlich sah man nur mehr
sen und zu schauen, was ihre dortige Zentrale für uns tun
ihre Lichter. Ich war sicher, dass das letzte Licht, das ich
kann. Wir aßen früh in einem vietnamesischen Restaurant
noch erkennen konnte, jenes von der Spitze des Karmel
zu Abend (was ich recht exotisch fand) und nahmen dann
sein musste, wahrscheinlich jenes vom Marinestützpunkt
den Nachtzug nach Paris. Er war überfüllt und unbequem
neben dem Kloster Stella Maris. Ich fühlte mich ungeheuer
– aber das war mir gleichgültig: Nichts auf der Welt konnte
befreit. Meine ganz persönliche Alija hatte begonnen.
mein überschäumendes Glück trüben, dass wir in Europa
Ich schlief nur kurz. Als ich erwachte, bewegte sich das
und unterwegs waren.
Schiff nicht mehr. Ich ging wieder an Deck und sah, dass
Früh morgens kamen wir auf dem Pariser Gare de Lyon
wir im Hafen von Beirut vor Anker lagen. Wir durften
an. V. ließ uns von einem Gepäckträger zu einem nahe
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gelegenen Hotel bringen. Es war ein kleines, herunterge-
seinen Vorstellungen von Flüchtlingen nicht entsprachen
kommenes Etablissement. Für mich war es der spannen-
(wie sich herausstellte, arbeitete diese Agentur hauptsäch-
de Ausgangspunkt meiner beginnenden Erkundungen in
lich für Flüchtlinge aus dem Spanien Francos.) Er wusste
Europa. Dem Hotel gegenüber lag eine Volksschule. An
nichts über Schiffe nach Amerika, beglückte uns aber mit
ihrem Tor wehte die französische Fahne über der Inschrift
einer langen Rede über die angeblich progressive Bedeu-
»Liberté – Égalité – Fraternité« – man konnte deutlich
tung des amerikanischen Hafenarbeiterstreiks. Wir hatten
erkennen, dass die drei Begriffe nach der Befreiung von
sehr wenig Geld, aber V.s Schwestern in New York hal-
der Nazi-Herrschaft frisch angebracht worden waren. Wir
fen uns aus der Klemme. Auch hatten wir keine gröberen
mussten uns bei der Polizeistation des Viertels melden,
Schwierigkeiten, unsere Essensmarken einzutauschen.
dort bekamen wir Lebensmittelmarken, die in Geschäften
Jeden Morgen machte ich mich auf den Weg, um Pa-
und Restaurants für Waren galten, die es auch noch zwei
ris zu erforschen. Mein Französisch war viel besser als
Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung kaum zu
erwartet und wurde immer besser, je länger ich in Paris
kaufen gab.
unterwegs war. Wie schon erwähnt, nahm ich Kontakt
Wie blieben rund zwei Monate in Paris und warteten
mit dem lutherischen Bischof auf. Ich besuchte auch das
auf eine Möglichkeit, uns nach Amerika einzuschiffen. Ich
Reformationsmuseum, einen ziemlich düsteren Ort, wo
erinnere mich nicht daran, wie sich V. und M. die Zeit
mir ein Museumswärter mit offensichtlich sadistischer
vertrieben haben. V. ging regelmäßig ins Reisebüro »Ocea-
Freude Folterinstrumente zeigte, die während der Inqui-
nia«, das genauso schäbig wie in Marseille, aber nahe der
sition für die Verhöre von Ketzern verwendet wurden. Ich
Madeleine gelegen war, aber jedes Mal wurde ihm wieder
trug mich als Leser in der Hauptbibliothek der Sorbonne
mitgeteilt, dass es keine Schiffspassagen gibt. Wir kannten
ein und ging immer wieder hin, um Bücher über Theolo-
niemanden in Paris, aber unsere New Yorker Verwandten
gie und Philosophie zu lesen, womit ich meine in Haifa
gaben uns den Namen einer Amerikanerin bekannt, die für
begonnene außerschulische Bildung fortsetzte. (In diesem
die »Herald Tribune« arbeitete. Diese wiederum empfahl
Zusammenhang möchte ich noch eine etwas beschämende
uns an einen ihrer Bekannten weiter, einen angeblichen
Episode erwähnen: Ich hatte dort einen sehr eindrucks-
Helden der Résistance, der einer Agentur für Flüchtlings-
vollen Leseausweis mit Lichtbild erhalten, den ich jedes
hilfe vorstand und vielleicht wusste, wie man zu Schiffs-
Mal vorweisen musste, wenn ich die Bibliothek benütz-
passagen kommen könnte. Ich begleitete V. ins Büro dieses
te. Einige Monate später, als ich in Amerika gerade ans
Herrn. Er war etwas erstaunt über unseren Besuch, da wir
College gekommen war, behauptete ich, dass ich in der Pa-
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riser Bibliothek als Hilfskraft gearbeitet hatte und legte als
ich den Tanz. Und ein Mädchen lernte ich schon gar nicht
Beweis den Leseausweis vor – ich spekulierte damit, dass
kennen.
der amerikanische Bibliothekar nicht Französisch konnte.
Das Kalkül ging auf: Ich bekam den Teilzeitjob.)
Endlich informierten uns die Leute vom Reisebüro »Oceania«, dass sie ein Schiff für uns gefunden hatten. Es war
Ich liebte Paris. Ich eroberte mir die Metro und fuhr mit
die »Île de France«, die bis vor kurzem ausschließlich
ihr kreuz und quer von einem Ende der Stadt zum ande-
Truppen transportiert hatte. Wir fuhren mit dem Zug nach
ren. Ich besichtigte die wichtigsten Touristenattraktionen
Cherbourg. Aus dem Fenster sahen wir die Kriegsschäden
– den Louvre, den Dôme des Invalides – fast alles, was ich
in den Dörfern und Städten. Das Schiff war noch nicht für
sehen wollte, kostete keinen Eintritt. In Paris spürte ich die
den zivilen Gebrauch eingerichtet worden. Männer und
Freiheit kribbeln. Wahrscheinlich war ich manchmal ein-
Frauen waren in getrennten großen Schlafsälen unterge-
sam, aber ich erinnere mich nicht, darunter gelitten zu ha-
bracht, die Toiletten waren eher Latrinen und die Verpfle-
ben. Einmal fand ich einen Artikel in der Herald Tribune,
gung scheußlich. Ich war die meiste Zeit über seekrank.
der Volkstanzabende in einer Herberge der presbyteriansi-
Aber ich hatte meine erste Verabredung mit einem netten
chen Kirche ankündigte. Einmal ging ich hin – ich erwar-
Schweizer Mädchen, auch wenn es nicht besonders auf-
tete, dass ich dort endlich Mädchen kennen lernen würde.
regend war. Doch so unangenehm die Umstände dieser
Natürlich gab es dort Mädchen, aber sie interessierten sich
Seereise auch waren, so tangierte mich das nur wenig: Ich
nicht für mich – sie waren vollkommen hingerissen von
verspürte nur Glück und Vorfreude.
den uniformierten britischen Soldaten, die ihre Freizeit in
Die Überfahrt dauerte fünf Tage. An jedem Morgen for-
Paris genossen. Ich versuchte, die Grundschritte eines äu-
derte der Kapitän die Passagiere auf, ihre Uhren wieder um
ßerst komplizierten schottischen Tanzes im Viervierteltakt
eine Stunde vorzustellen. Daran konnten wir messen, dass
zu lernen, und war fasziniert, weil einige Soldaten doch
wir Amerika wieder ein Stück näher gekommen waren.
tatsächlich Kilts zu ihren Uniformjacken trugen. Ich erin-
Nebel lag über dem Hafen von New York, als wir einliefen.
nerte mich daran, dass V. einmal erwähnt hatte, dass echte
Die Passagiere – in der Mehrzahl Flüchtlinge, die noch nie
Schotten niemals Unterwäsche unter ihren Kilts tragen.
in Amerika gewesen waren – versammelten sich an Deck,
Und so versuchte ich, das zu überprüfen, wenn die tan-
doch wir konnten noch nichts wahrnehmen. Da tauchte
zenden Soldaten ihre Beine in die Höhe hoben. Schließlich
plötzlich ganz in unserer Nähe die Freiheitsstatue aus dem
konnte ich aber weder ausmachen, wie es um das Mysteri-
Nebel auf und kurz darauf die Skyline von Lower Man-
um der schottischen Unterwäsche bestellt war, noch lernte
hattan. Langsam fuhr das Schiff den Hudson aufwärts.
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Ehrfürchtiges Schweigen herrschte an Deck. Als wir das
bat sie, mitkommen zu dürfen. Wir mussten nur bis zur
Pier erreichten, hob sich der Nebel vollständig und das
nächsten Straßenecke gehen, aber ich sah die Häuser, die
Panorama New Yorks lag in gleißendem Sonnenschein vor
so ganz anders aussahen als alle Häuser, die ich je zuvor
uns. Es war die Zeit des Frühverkehrs, und auf dem West
gesehen hatte. Auch der Postkasten sah ganz anders aus.
Side Highway fuhren viele Fahrzeuge. Damals waren die
Wirklich und wahrhaftig: Ich war in Amerika! Ein paar
New Yorker Taxis noch nicht obligat gelb, sondern hatten
Tage später, als ich schon die engste Umgebung erkundet
alle Farben des Regenbogens. Ich wusste nicht, dass alle
hatte, ging ich über die George Washington Bridge, damit
diese bunten Autos Taxis waren; ich dachte, dass alle ame-
ich sagen konnte, schon in zwei Staaten gewesen zu sein.
rikanischen PKW so aussahen. Ich malte mir aus, eines
Die folgenden Monate verliefen sehr geschäftig. V. und
Tages auch ein rotes oder gelbes Auto zu fahren, mit dem
M. suchten beide Arbeit. V. hatte ein paar Jobs in Herren-
ich über den Highway zu einem wichtigen Termin fahren
ausstatter-Geschäften (erst viel später begann er für Knize
würde, vielleicht in Begleitung einer attraktiven Frau. Es
zu arbeiten, das exklusive Herrengeschäft, das von Wien
war ein erhebender Moment.
hierher verpflanzt worden war). M. fand Beschäftigung bei
Die Einreise- und Zollformalitäten dauerten einige Stun-
Modedesignern. Ein gutes Jahr nach unserer Ankunft mie-
den. Endlich traten wir hinaus auf das Pier, wo V.s Schwes-
teten wir endlich eine eigene Wohnung, in der 20. Straße
tern Nelly und Mitzi sowie Nellys Ehemann geduldig auf
in Chelsea – das war ein erster Erfolg.
uns gewartet hatten. Wir teilten uns auf zwei Taxis auf und
Ich hatte natürlich meine eigenen Pläne. Ich habe schon
fuhren in die Washington Heights, wo sie alle wohnten.
erwähnt, wie entschlossen ich meine Kandidatur als luthe-
Wir drei wurden in ein Zimmer der eher kleinen Wohnung
rischer Seelsorger betrieb. Als das Synodalkomitee mich
gesteckt (einige Zeit später mieteten V. und M. ein Zimmer
aufnahm, bekam ich ein Stipendium, um im folgenden
in der Nähe). Wir aßen miteinander zu Mittag und ver-
Frühlingssemester auf Staten Island am nur nominell lu-
brachten den Nachmittag damit, uns gegenseitig alles zu
therischen Wagner College mit dem Studium beginnen zu
erzählen, was wir seit der Abreise aus Wien erlebt hatten
können. (Mir war nicht klar gewesen, dass ich zuerst ein
(Mitzis Mann war während des Novemberpogroms, der
Bachelor-Diplom brauchte, wenn ich an einer theologi-
so genannten »Kristallnacht«, verhaftet worden und kurz
schen Fakultät studieren wollte.) Bis zum Collegebeginn
darauf in einem Konzentrationslager umgekommen.) Eva,
wollte ich einen Job annehmen.
Mitzis ältere Tochter, kam zu Besuch. Gegen Abend sagte
Auf eine Anzeige hin meldete ich mich als Bürobursche
Tante Nelly, sie wolle einen Brief aufgeben gehen, und ich
bei Dunhill und bekam die Stelle sofort. Damals hatte
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Dunhill ein Büro im Rockefeller Center und ein Geschäft
dem Büro. Es ärgerte sie auch, dass ich mit einer kecken
auf der Fifth Avenue. Meine Aufgabe war es, alles mögli-
jungen Französin flirtete, die im Büro als Schreibkraft ar-
che zwischen diesen beiden Orten hin und her zu tragen
beitete (was ohnehin eher unpassend war, denn sie war
und auch andere Botendienste in Manhattan zu erledigen.
auch Methodistin, die Tochter von Missionaren auf Haiti).
Während meiner Mittagspause aß ich zuerst Frankfurter
Als ich meinen Job aufgab, um meine Collegelaufbahn
an einem Straßenkiosk und saß dann gewöhnlich für zirka
anzutreten, begleitete mich Miss Zimmermann zur Tür
eine halbe Stunde in der St. Thomas Episcopal Church:
und schrie mir nach: »Bin ich froh, dass Du gehst!« (Et-
Meistens gab es dort Orgelmusik. Nach ein paar Wochen
was ist mir erst viele Jahre später zu Bewusstsein gekom-
bei Dunhill ging ich zum Manager, denn schließlich war
men: Fast alle Posten bei der Missionsbehörde waren mit
ich ja in Amerika, im Land der unbegrenzten Möglich-
Frauen besetzt, die meisten von ihnen Respekt einflößend
keiten. In meinem damals sehr präzisen Englisch sagte
wie Miss Zimmermann. Daran erinnerte ich mich, als die
ich ihm, dass ich angesichts all meiner Qualifikationen
Feministinnen zu klagen begannen, dass die Kirche eine
doch einen etwas verantwortungsvolleren Job bekommen
patriarchalische Institution sei: Mein erster Eindruck vom
müsste. Seine Antwort kam ohne Zögern und war lapidar:
amerikanischen Protestantismus war eindeutig matriar-
»Nicht hier. Du bist gefeuert.« Ich fand dann einen anderen
chalisch.)
Job, wieder als Bürobursche – und zwar ausgerechnet bei
Fritz Neumann hatte mir die Koordinaten von Frede-
der methodistischen Missionsbehörde an der unteren Fifth
rick Forell mitgegeben, einem deutschen Pastor, der aus
Avenue. Dort machte die Arbeit mehr Spaß als bei Dun-
der »Bekennenden Kirche« kam und in New York eine
hill. Ich hatte Botengänge in ganz Manhattan zu erledigen,
Organisation namens »Newcomers Christian Fellowship«
denn es ging um die Reisearrangements, Visa, Fahrkarten
managte. Ihre Aufgabe war es, soeben eingetroffene Euro-
etc. für die ausreisenden Missionare. Ich führte alle meine
päer zu betreuen und ihnen beizustehen, weil sie alle in
Aufgaben gewissenhaft aus – aber sehr langsam, denn auf
gewisser Weise Flüchtlinge waren. Es gab in dieser Institu-
meinen Wegen erkundete ich ganz New York, genauso wie
tion auch eine Jugendgruppe, die sich in der Sozialarbeit
ich es in Paris getan hatte. Besonders gern fuhr ich die
engagierte. Dort fand ich endlich wirklich und wahrhaftig
Fifth Avenue in den damals noch verkehrenden Doppel-
eine Freundin: Irene, langbeinig und feurig. Ursprünglich
decker-Bussen hinauf und hinunter. Meine Chefin, eine
war sie aus Deutschland, zuletzt aber aus England gekom-
eindrucksvolle Dame namens Miss Zimmermann, wurde
men (wo sie, wie sie mir stolz erzählte, einen aufsteigen-
immer verstimmter über meine langen Abwesenheiten aus
den Filmstar kennen lernte, Richard Attenborough, von
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dem ich natürlich noch nie gehört hatte). Sie hatte ein klei-
College zu studieren. Ich wohnte dort in einem Zweibett-
nes Zimmer in der Wohnung von Verwandten an der Up-
zimmer mit einem amerikanischen Studenten in einem
per West Side, wo wir schwitzend Experimente auf einem
neu errichteten Studentenheim, das den vielversprechen-
Gebiet unternahmen, auf dem wir beide noch unerfahren
den Namen »Luther Hall« trug. Ich musste mich für ein
waren. Ich brauche mich hier nicht in schlüpfrigen Details
Hauptfach entscheiden. Ich wählte Philosophie, weil ich
zu ergehen: Für mich stellte sich heraus, dass Sex genauso
dachte, das dieses Fach zu einem angehenden Theologen
wundervoll ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.
passte. Ich habe auch einiges über Philosophie gelernt und
Um von schicklicheren Erfahrungen zu sprechen: Ich
noch andere interessante Vorlesungen gehört (darunter
machte die Bekanntschaft eines der Söhne von Frederick
auch eine über amerikanische Literatur). Ich absolvierte
Forell, George Forell, der frisch ordiniert und frisch ver-
einen Kurs für klassisches Griechisch, ebenfalls um mich
heiratet war. Er war Pastor in einer Kirche in der Bronx.
aufs theologische Seminar vorzubereiten. Hauptsächlich
Wir führten einige lange theologische Diskussionen, und
aber ließ ich es mir gut gehen. Ich freundete mich mit
George wurde ein Freund fürs Leben (später publizierte er
zwei jungen Männern an, die ebenfalls gerade erst nach
erfolgreich über die Reformation und unterrichtete viele
Amerika gekommen waren: Ernie war ein deutscher Jude,
Jahre an der University of Iowa). Besonders eines dieser
der aus Australien eingewandert war (wohin ihn die Briten
Gespräche ist mir in Erinnerung geblieben. Ich erzählte
als »feindlichen Ausländer« deportiert hatten); er war ein
George von meinen Zweifeln an einigen Lehren des Chris-
glühender Anthroposoph und hatte einen ganzen Koffer
tentums. Er meinte, dass auch er natürlich die eine oder
voll Rudolf Steiner-Büchern. Der andere war Ferenc, der
andere Lehrmeinung angezweifelt hätte, dass er aber nie
zu Hause in Ungarn Jus studiert hatte. Ich legte mir auch
Bedenken gegenüber der essenziellen Wahrheit des christ-
eine zweite Freundin zu, Ruth, eine attraktive vollbusige
lichen Glaubens hatte. Und er fügte hinzu: »Ich habe ver-
junge Jüdin aus Brooklyn. Wie Alec Guiness in Der Schlüs-
sucht, Zweifel zu haben. Ich hatte das Gefühl, dass ein in-
sel zum Paradies hatte ich jetzt also eine Freundin in Man-
tellektuell ernstzunehmender Mensch welche haben sollte.
hattan und eine auf Staten Island, zwischen den beiden lag
Aber es ist mir nie gelungen.« Ich hatte keinen Anlass,
nur eine halbstündige Fahrt mit der Fähre.
seinen Standpunkt in Frage zu stellen (und ich tue es im-
Im Herbstsemester sollte ich an einer anderen lutheri-
mer noch nicht), aber es war mir auch klar, dass das nicht
schen Institution weiterstudieren, für die ich ein Stipen-
mein Fall war.
dium erhalten hatte, am Wittenberg College in Ohio. Das
Wie geplant begann ich im Frühling 1947 am Wagner
216
wurde mein erster Ausflug ins amerikanische Hinterland
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und sollte ein sehr lehrreiches Erlebnis werden. Den Sommer wollte ich in New York verbringen, wo ich einen
bezahlten Job bei Pastor Forells »Newcomers Christian
Fellowship« bekommen hatte. V. und M. hatten in ihrem
gemieteten Zimmer keinen Platz für mich; ich sollte in der
Jugendherberge in der 23. Straße wohnen. Viel Neues kam
auf mich zu.
Ein Kommilitone am Wagner College hatte einen ramponierten alten Jeep und wollte mich nach Manhattan mitnehmen. Der Jeep war auf der Staten Island Fähre abgestellt, und wieder einmal stand ich an Deck, während wir
an der Freiheitsstatue vorbei glitten und die Wolkenkratzer
von New York immer näher kamen. Dann fuhren wir den
Broadway hinauf (der damals noch keine Einbahn war).
Ich saß vorne neben dem Fahrer und hatte einen Koffer,
der alle meine Besitztümer barg, zwischen den Beinen. Es
war ein wunderschöner Frühlingstag, und ein angenehmes
Lüftchen wehte mir ins Gesicht. Wieder kam es mir wie
ein Wunder vor: Ich war in Amerika und neue Abenteuer
kamen auf mich zu. Ich wusste, in diesem Land konnte ich
machen, was immer ich machen wollte, konnte sein, was
immer ich sein wollte. Ich wusste, hier war alles möglich.
Mein Leben in Amerika hat diese Erwartung nicht ganz
und gar erfüllt. Aber es ist ihr doch sehr nahe gekommen.
218
219
Peter L. Berger heute
Ein Nachwort von Rudolf Bretschneider
Anlässlich der Verleihung des Wittgenstein-Preises 2000
an Peter L. Berger hielt der Pastoraltheologe und Religionssoziologe Paul Michael Zulehner die Laudatio; und er
fasste das Gesagte mit dem Hinweis zusammen: »Das gesamte wissenschaftliche Lebenswerk von Peter L. Berger
ist eine ständige Einladung; nicht nur zur Soziologie ganz
allgemein, sondern auch zur Religion, zur Familie, zum
Humor und in all dem eine Einladung zu dem, was jeden
wahren Menschen auszeichnet: zu einem aus hoher Liberalität geborenen wissenschaftlichen Nachdenken über
Gott und die Welt und zu einem Leben gerade unter den
Bedingungen der Moderne, das den Namen gutes Leben
verdient… Für Generationen wurde auf diese Weise Peter
L. Berger in ihrer Ausbildung eine Leitfigur.«
Tatsächlich hat Peter L. Berger viele Menschen, nicht
nur angehende Soziologen, erfolgreich zum Mit- und
Nachdenken »eingeladen«. Wenn Paul Michael Zulehner
in der gleichen Rede anmerkt, Peter L. Berger habe zum
Glück keine richtigen Memoiren geschrieben, »dabei hätte
er eine Voraussetzung, die seine Memoiren interessanter
machen würden als jene vieler anderer: Peter L. Berger
hat Humor«, so findet man im vorliegenden Buch die Ein»Ein großer Soziologe, der angetreten ist, die ›Gesellschaft zu verstehen‹«:
Peter L. Berger
220
schätzung bestätigt: Diese Erinnerungen an Kindheit und
Jugend sind nicht der Versuch, sich in ein gutes Licht zu
221
rücken und die eigene Bedeutung zu unterstreichen (was
Meine erste »Berger-Lektüre« war ein Buch, das ich wohl
wohl so manche Memoiren anschwellen lässt). Es ist ein
aufgrund seines eigenartigen Titels gekauft hatte: »Auf den
sehr persönliches Gedenken an die Zeit in Wien, an die
Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wie-
erzwungene Abreise aus einer Heimat, an die Zeiten in
derentdeckung der Transzendenz«, erstmals erschienen
Italien, an die Erfahrungen in Israel – bis zur Ankunft in
1969. Das klang – es war das Jahr nach der so genannten
den USA, wo aus Peter L. Berger das werden sollte und
68er-Revolution und dem Einmarsch der Sowjets in der
wo er aus sich das gemacht hat, wofür er berühmt ist: ein
CSSR – mehr als unzeitgemäß. Aber »unzeitgemäße Be-
großer Soziologe, der angetreten ist, die »Gesellschaft zu
trachtungen« hat Peter L. Berger nie gescheut. Und auch
verstehen«. Das Vertraute – die frühen Jahre – wird mit an-
nicht das Eingeständnis von »Fehlern« – so zum Beispiel,
teilnehmender Distanz betrachtet: soziologische Haltung
dass auch er lange die Auffassung einer geradezu gesetz-
ohne deren Jargon.
mäßigen Säkularisierung durch Modernisierung vertrat;
Hier ist nicht der Platz – und meinerseits auch nicht
bis er beobachtete, dass die einschlägigen europäischen
die Kapazität – sein wissenschaftliches Werk umfassend
Phänomene eher die Ausnahme, denn die Regel sind. Lan-
zu würdigen; umfasst es doch ein weites Feld, das von
ge war er damit ziemlich allein. Zurück zu den Engeln
der Wissenssoziologie, der Familiensoziologie, der Reli-
(was man darunter verstehen kann, ist ja für die verschie-
gionssoziologie, der Entwicklungssoziologie, der Analyse
densten Geister ein Faszinosum gewesen: vom Psychophy-
von Wirtschaftskulturen bis zu sehr persönlichen Büchern
siker Theodor Fechner bis zum ehemaligen rumänischen
über die Bedeutung des Komischen und des Witzes, bis zu
Kulturminister Andrei Plesu): In seinem Buch macht sich
solchen über die Möglichkeiten christlichen Glaubens in
Peter L. Berger auf die Suche nach »Zeichen des Jenseits«
der modernen Welt reicht.
im Alltag und fordert auch »die Theologen auf, sich in der
Dieses Nachwort bezieht sich auch nur sehr begrenzt
empirisch gegebenen Situation des Menschen nach etwas
auf die vorliegenden Kindheits- und Jugenderinnerun-
umzusehen, was man Zeichen der Transzendenz nennen
gen. Es ist vielmehr der – vielleicht etwas vermessene
könnte.« Und er behauptet, »dass es prototypisch mensch-
– Versuch, ein wenig darüber nachzudenken, wodurch der
liches Verhalten gibt, Gebaren, Gebärden, Gesten, die als
Mensch Peter L. Berger seine Studenten, seine Leserschaft,
solche Zeichen anzusehen sind«. Transzendenz ist für ihn
sein Auditorium beeindruckt und wohl auch oft fasziniert
ein Überschreiten beziehungsweise ein Heraustreten aus
hat. Dabei greife ich notwendigerweise auf Eigenerfahrung
der Alltagswelt – und ist beispielsweise im »Spiel« oder
zurück.
auch in Humor und Witz auffindbar. Das Komische ist
222
223
eine eigene Welt, bildet eine Art Insel – darin ähnlich der
sie zusätzlich – und oft ist es mir später passiert, dass ich
Religion, die in der modernen Welt ebenfalls in einer Art
ihn beim Lesen seiner Bücher sprechen zu hören glaubte.
Enklave existiert.
Nein, er spricht nicht »wie gedruckt« – er schreibt, wie
Den soziologischen Büchern im engeren Sinn begegnete
er denkt und lässt dabei zusehen. Dass die Persönlichkeit
ich später: der »Einladung zur Soziologie«, »Individuum
sowohl im gesprochenen wie im geschriebenen Wort glei-
& Co« (zusammen mit Brigitte Berger), der Theorie der
chermaßen spürbar wird, ist in der Welt der Intellektuellen
Wissenssoziologie (»Die gesellschaftliche Konstruktion der
kein allzu häufiges Phänomen.
Wirklichkeit«, zusammen mit Thomas Luckmann). Was
In jeder Gesellschaft gibt es das, was Paul Valéry als »Be-
mich – und vermutlich viele Berger-Leser – daran ange-
rufe des Wahns« bezeichnet hat; ihre Repräsentanten sind
zogen hat, ist der stets persönliche Stil, der weitgehende
»Verwalter der vagen Dinge«, die sich mit Ideen, Werten,
Verzicht auf gelehrten Jargon, wiewohl der häufige Bezug
Begriffen, Zeichen und Symbolen beschäftigen. Mit ihrer
auf religiöse, theologische, psychologische und kulturelle
Hilfe bestimmen wir Wirklichkeit. Manche fasst man unter
Themen eine gewisse Vertrautheit mit der jeweiligen
dem Begriff »Intellektuelle« zusammen und deckt mit die-
Sprachwelt erfordert. Und wenn er glaubt, abstrakt und
sem grauen Begriffsschleier die bunte Vielfalt der »Wort-
damit schwer verständlich zu werden, veranschaulichen
werker« zu. Manche genügen sich und anderen, indem sie
Beispiele den Gedanken – diese können, infolge des stän-
vorführen, wie man den Geist wortreich in der Schwebe
digen Rückbezugs zur Alltagswelt weniger leicht abheben
der Unentschiedenheit hält; andere sondern dunkle Wol-
und sich verselbstständigen.
ken schweren Wortschwalls ab; wieder andere führen
Einen ersten persönlichen Eindruck bekam ich anläss-
ein postmodernes Dandytum der geistigen Beliebigkeit
lich eines Vortragsabends, dem eine Diskussion in der
am Laufsteg der Begriffe spazieren, während andere, die
Wohnung Erhard Buseks folgte: Peter L. Berger auf dem
den großen und kleinen Weltlauf zum Davonlaufen fin-
Sofa, mit obligater Zigarre, die Worte vorsichtig abwägend,
den, über die geistfernen Zeiten klagen (das heißt über
skeptisch reflektierend (auch das von ihm Vorgebrachte),
die jeweilige Gegenwart) und nur durch »Privatisierung«
manchmal – nicht ungern – der Versuchung nachgebend,
das zu erreichen glauben, was Stefan Zweig im Essay über
eine Überlegung mit einem Witz zu veranschaulichen.
Montaigne »die höchste Kunst des Lebens« nennt: »rester
Und all das war im Einklang mit den Erwartungen, die
soi-même«.
man aufgrund der Lektüre seiner Bücher haben konnte,
Es gibt aber auch Intellektuelle, die ihre »Verwalterrolle«
ja stellte eine gewisse Steigerung derselben dar, erhellte
anders sehen; die den Versuch der Analyse ihres Gegen-
224
225
standes mit Engagement und mit der Frage nach der sub-
geschichtlicher Zeit, weil er sie bereits anderswo gefunden
jektiven Bedeutung der Ergebnisse verbinden; die Pragma-
hat. Diese Bescheidenheit mag freilich auch eine weltliche
tik und Utopie zusammendenken, Gegenwart und die Tie-
Form annehmen.«
fe der Zeiten bzw. der Seinsformen im Bewusstsein halten
Er ist – im besten Sinn – »unzeitgemäß« und hat das, was
und eben dadurch dem Montaigne’schen Ideal des »rester
Sperber »die Religion des guten Gedächtnisses« nennt, das
soi-même« in vorbildhafter Weise entsprechen.
Bewusstsein, dass »Vergesslichkeit bezüglich vergangener
Peter L. Berger ist zu den Letzteren zu zählen. In Order
Leistungen eines der wichtigsten sozialen Phänomene ist«.
and History von Eric Voegelin heißt es – unter Bezugnah-
Die Wahrheit, die wir für uns finden sollen, liegt nicht nur
me auf die ideologischen Gefährdungen und politischen
in einer Zeit, nicht nur in einer Disziplin, nicht nur in einer
Religionen jeder Gegenwart: »Der Mensch ist verpflichtet,
Fakultät. Der Geist muss über den Fakultäten schweben,
die Situation zu verstehen, in der er sich befindet«. Die
um wirklich zu begreifen.
Soziologie, wie sie Peter L. Berger versteht, die die reli-
Bei aller Skepsis gegenüber innerweltlichen Erlösungs-
giösen und die materiellen Dimensionen einer Kultur als
mythen und trotz des Bewusstseins, dass die Formen reli-
wesentlich begreift, kann eine Hilfe bei der Suche nach
giösen Denkens gesellschaftlich konstruiert sind, hält Ber-
einer klareren Sicht der Gegenwart sein. Bergers religi-
ger – im schwierigen Status einer Minderheit – an der Be-
onssoziologische Schriften beschreiben auch die säku-
deutung der religiösen Erfahrung für den Menschen fest.
larisierten modernen Lebenswelten, die am materiellen
Zwar ist »die Suche nach religiöser Sicherheit grundsätz-
Wohlstand, an rationaler Verwaltung und Technik ausge-
lich dazu verurteilt, in dieser Welt frustriert zu werden,
richtet sind, und er prüft vor diesem Hintergrund verschie-
mit Ausnahme flüchtiger Erlebnisse, die man nur mühsam
dene religiöse Optionen – die der Neo-Orthodoxie ebenso
in Erinnerung behalten kann«; aber es gilt, offen zu blei-
wie die des »Weghandelns der Mythologie« und die von
ben für Erscheinungsformen des Heiligen in der profanen
ihm präferierte induktive Möglichkeit, die dem »Gerücht
Welt, für Einschüsse des Unendlichen ins Endliche, für das
von den Engeln« nachgeht. Und in seinen Schriften zur
Jenseits im Diesseits, für »die dunklen Trommeln Gottes«.
Modernisierung und Entwicklungspolitik, ja selbst (oder
Hierzu bedarf es auch der Kenntnis der religiösen Tradition,
gerade?) in seinem Buch über die kapitalistische Revolu-
der Hierophanien, wie sie die Weltreligionen beschreiben.
tion spricht auch der »homo religiosus« Peter Berger; so
Man wird heute nicht mehr selbstverständlich in ein be-
zum Beispiel wenn er – antignostisch im Sinne Voegelins
stimmtes religiöses Milieu hineingeboren, vielfach muss
– schließt: »Der homo religiosus erwartet keine Erlösung in
man sich entscheiden, muss die Sphäre des Religiösen
226
227
erst entdecken (wobei Teile der Kirchen nicht immer eine
des Ernst-Komischen auf. Er versucht, mit Hilfe von »Vor-
Hilfe sind); aber ohne Verständnis für Chiffren der Trans-
läufern« (Alfred Schütz, Erasmus, Joachim Ritter, Charles
zendenz, die in der Alltagswelt der Konsumgesellschaft
Baudelaire) eine Bestimmung des Komischen. Er zeigt,
schwer genug wahrnehmbar sind, bleibt der Mensch be-
in welchen Phänomenen es sich manifestiert – in »Über-
schränkt – und das im mehrfachen Wortsinn.
schreitungen« und »Doppelbödigkeiten« und mitunter im
Seine »Entdeckungsversuche« hat Peter L. Berger immer
Entwurf einer »Gegenwelt«. Er vermutet, dass es in der
wieder in Buchform gebracht. Zwei davon tragen den Be-
modernen Welt mit ihren Widersprüchen und Inkongru-
griff »Erlösung« im Titel (Erlösendes Lachen. Das Komische
enzen viel (potenziell) Komisches gibt – man muss es nur
in der menschlichen Erfahrung,1988, und Erlösender Glau-
sehen lernen.
be? Fragen an das Christentum, 2006). In beiden Büchern
Es wäre nicht Peter L. Berger, verwiese er nicht (nach
nähert er sich seinem Gegenstand mit der heutzutage oft
einer literarischen Rundreise durch alle Musterexemplare
geschmähten Vernunft. Das Komische – so sein Ausgangs-
des Komischen) auf das Komische, das auch als Zeichen
punkt in Erlösendes Lachen – setze das rein Rationale vo-
der Transzendenz verstanden werden kann. Selbst wenn
raus.
manche christliche Kirchen und ihre Repräsentanten das
Es »entsteht« aus dem Erlebnis der Inkongruenz. Um
Lachen für weltlich gehalten haben – andere haben es
etwas als unzusammengehörig zu erkennen, muss man
sehr wohl geachtet und wurden (unter anderem eben des-
ein Konzept vom Richtigen haben. Um zu spüren, dass
halb) hoch geschätzt (wie beispielsweise Martin Luther
im Witz (einer Erscheinungsform des Komischen) etwas
oder auch Johannes XXIII). Lachen bringt die »Ganzheit«
auf den Kopf gestellt wird, muss man die richtige Position
zurück, es ist eine Form der Extase, es ist der Einbruch
kennen. Peter L. Berger gibt eine rationale Analyse des Ko-
einer anderen Welt, es bringt in einen »anderen Zustand«.
mischen – in höchst vergnüglicher Form. Er ist sich der
Es setzt Vernunft voraus – der Witz wäre sonst nicht ver-
Problematik bewusst, dass es komisch ist, sich mit dem
ständlich.
Thema todernst auseinanderzusetzen. Konsequenterweise
Paul Valéry schrieb Descartes die Auffassung zu, dass
erfindet er sich seine höchstpersönliche unverwechselbare
»das Leben des Verstandes ein unvergleichliches lyrisches
Form: den heiteren Ernst; in diesen springt er oft unver-
Universum darstellt, ein umfassendes Drama, in dem we-
mittelt und dann auch wieder zurück (durch Einstreuung
der Abenteuer noch Leidenschaft fehlt… und auch nicht
eines Witzes, wobei er aus nie versiegender Fülle schöpfen
das Komische«. Berger ist ein später Zeuge dieser Haltung:
kann) und lang und gern hält er sich im Zwischenreich
Durch die Beschäftigung mit den Erscheinungsformen des
228
229
Menschlichen (Vernunft und Komik) und durch die Art
ren uns selbstsicher, wie es heute steht und wie es, wenn
und Weise, wie er sich seinen Themen nähert: vernünftig,
man sie nur machen lässt, morgen sein wird. Doch in
höchstpersönlich, humorvoll.
Wirklichkeit wissen sie sehr wenig, diese zuversichtlichen
Das gilt auch für sein bisher letztes Buch Erlösender
Propheten des Gerichts und der Erlösung. Es tut Not, die
Glaube? – man beachte das Fragezeichen! Er weiß, dass er
gelassene Kunst des Zweifelns zu erlernen. Es tut Not, ge-
in einem Zeitalter des religiösen Pluralismus lebt, in dem
lassen und zweifelnd und aus dem Gefühl heraus zu han-
der Zwang zur Häresie – so ein anderer seiner Buchtitel
deln, dass das Mitleiden das einzig glaubwürdige Motiv
– besteht. Sein Versuch, ein Glaubensbekenntnis in einer
für jede Aktion zur Veränderung der Welt ist.
Epoche des Relativismus zu reflektieren, steht in der Tra-
Die Geschichte ist ein Strom von Blut, auf dem wir ange-
dition eines liberalen Protestantismus. Aber er sieht die
kommen sind, der uns trägt… Es gibt eine Pflicht zur Er-
Spannung zwischen Glauben und Skepsis auch in ande-
innerung, nicht in den Gedächtniszellen von Computern,
ren Traditionen. Folgerichtig beginnt sein Buch, dem er die
sondern in der Schwere des Herzens. Über dem Gedächtnis
Sätze des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zugrunde
des Schmerzes schwebt die einsame Gestalt der Jungfrau
legt, mit der Überlegung, warum jemand kein Interesse am
der Tröstungen, die den Don Quijotes dieser Welt immer
Thema des Glaubens haben sollte, und er fragt und über-
wieder die Stirn trocknet«.
legt, ob es gute Gründe gibt, einen Glauben zu haben.
Der »Pflicht zur Erinnerung« ist Peter L. Berger im vor-
Das apostolische Glaubensbekenntnis wählt er deshalb
liegenden Buch nachgekommen. Kenner seiner Schriften
als Ausgangspunkt und Struktur seiner tour d’horizon
werden darin vielleicht Keime seines späteren Werks zu ent-
des christlichen Glaubens, weil ihm darin der christliche
decken suchen – dabei sollte man freilich bedenken, dass es
Glaube am dichtesten zusammengefasst scheint.
sich um die Erinnerungsleistung eines professionellen Beob-
In seine – oft skeptischen – Reflexionen bezieht er Theo-
achters handelt, der wohl weiß, welchen (Wechsel-)Wirkun-
logen, Philosophen, Kirchenlehrer und Gläubige aus unter-
gen der Geschichte, der Institutionen, der engeren sozialen
schiedlichsten Zeiten ein – und verschweigt auch nicht die
Welt ein Kind/ein Jugendlicher ausgesetzt ist.
Schwierigkeiten, die er mit manchen Denkschritten (auch
Wahrscheinlich ist auch dieses Buch als eine »Einla-
den eigenen) hat. Seinem persönlichen, humorvollen und
dung« zu verstehen: zunächst in eine der zahlreichen
lebendigen Stil bleibt er auch in diesem religiös aufgelade-
Berger’schen Welten, auch in eine Welt, die ob in Wien,
nen Buch treu.
Italien oder Palästina endgültig dahingegangen ist, aber in
In einer seiner früheren Schriften heißt es: »Alle erklä-
230
jenen Menschen, die sie noch erlebt haben, Spuren hin-
231
terlassen hat; es ist aber auch eine Einladung zum Nach-
bei ihm größer als die Beunruhigung ob eines möglichen
denken über die jeweils eigene Kindheit/Jugend: über das,
Illusionsverlusts. Die Angst vor Unsicherheit muss man
was man »vorfand« und für selbstverständlich nahm, und
– so würde er wohl sagen – aushalten. Sie ist eine conditio
über das, was später die Erfahrung der eigenen Kinder mit-
humana. Anlässe für die Erfahrung der Unsicherheit gab
bestimmte und dauern wird – oder auch nicht.
es in seiner Kindheit und Jugend zur Genüge. Er hat wohl
Was in diesem sehr persönlichem Buch Peter L. Bergers
oft genug beobachten können, wie die Suche nach Sicher-
spürbar wird, ist die große Bedeutung der signifikanten
heit (»das Märchen von der Sicherheit« nannte es Ludwig
Anderen: zunächst die der Familie, der Freunde, der Leh-
Marcuse) zu Fanatismus und Fundamentalismus führt. Ein
rer (in einem sehr weiten Sinn). Sie spielen – so oder so
»skeptischer Glaube«, wie ihn Peter L. Berger gelernt hat
– eine tragende Rolle bei der Konstruktion der Wirklich-
und übt, ist ein gutes Gegengift (so er überhaupt Gift sein
keit, bei der Bestimmung dessen, was man für bedeutsam
kann).
oder unwichtig, gut oder schlecht hält. Später hat man zu-
Mögen diese Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend
nehmend die Chance, sich seine Gesprächspartner, seine
dazu anregen, nachzulesen, was später aus dem Kind ge-
Gedankenpartner selbst auszuwählen – aber auch das ist
worden ist.
keine Selbstverständlichkeit und erfordert Sorgfalt. Peter
L. Berger hat zu seiner eigenen Überraschung im fortgeschrittenem Alter festgestellt, dass er besser mit Menschen
kommunizieren kann, mit denen er nicht übereinstimmt,
die aber bezüglich ihres eigenen Standpunkts immer auch
Skepsis und Unsicherheit zeigen, als mit Personen, mit deren Auffassungen er zwar weitgehend übereinstimmt, die
aber in denselben unerschütterlich sicher schienen. Für die
Unsicheren und Skeptischen hat er mehr Sympathien. Vielleicht auch, weil ihn die Soziologie und sein Leben gelehrt
haben, hinter die Gewissheiten zu blicken und ihre relative Bedeutung zu erkennen. Der Alfred Polgar zugeschriebene Satz »Es gibt nur eine idée fixe – die idée flexible«
müsste ihm gefallen. Die Angst vor der Selbsttäuschung ist
232
233
Personenregister
C
Camus, Albert 77
Charlotte von Belgien 80
Churcher, Dr., Arzt in Haifa 117, 135
A
Clark-Kerr, Mr., presbyterianischer Pfarrer 162f, 205
Allenby, Lord Edmund 118
D
Anderson, Benedict 142
Anis, Gesprächspartner in Stella Maris 174, 179
Arendt, Hannah 87
Descartes, René 229
de Kruif, Paul 164
Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 168
Attenborough, Richard 215
Drucker, Peter 44
Augustinus 167
E
B
Edith, Fräulein, Lehrerin an der Schweizer Mission 127
Baly, Mr. 148ff, 160, 165
Elert, Werner 187
Barth, Karl 167, 188
Eliot, George 150
Baudelaire, Charles 229
Else, Schwester, Musiklehrerin an der Schweizer Mission 124, 126
Ben Gurion, David 161
Berg, Pastor der deutschenlutherischen Kirche in Haifa 161, 186,
189, 192, 205
Berger, Carl Hermann 38, 40, 45, 47
Berger, Georg (V.) 18ff, 25, 29ff, 33, 35f, 38, 40ff, 45, 47ff, 58ff, 65,
67f, 71, 77, 82, 99, 101ff, 107f, 111ff, 116, 118ff, 126, 130ff, 137f,
142, 146, 161, 171, 175, 183, 191, 194, 208, 210, 212f, 218
Berger, Ida 41
Berger, Jelka (M.) 18, 21f, 25, 29ff, 41, 47ff, 62, 75ff, 82, 84, 88ff,
92, 94,ff, 107, 109, 112f, 116, 119, 120ff, 126, 132, 137f, 142, 161,
163, 165, 171, 183, 191, 194, 204f, 207f, 212f, 218
Bonhoeffer, Dietrich 188
Erasmus Desiderius von Rotterdam 229
Esslemont, J. E. 182, 184
Estl, Frieda 41, 44f, 47
F
Fechner, Theodor 223
Fitzgerald, Edward 181
Forell, Frederick 215f, 218
Forell, George 216
Freud, Sigmund 44
Friedmann, Mr., Mathemaik- und Physiklehrer 151
G
Glubb Pascha (Sir John Bagot Glubb) 162
Breunig, Johann 36
Guiness, Alec 217
Breunig, Mascha 33, 38
H
Breunig, Robert 45
Breunig, Wolfgang (Wolfi) 21, 26, 31, 33, 36f, 45
Busek, Erhard 224
Haddad, Mr., Arabischlehrer 151
Hegedüs, András 69
Heim, Karl 187
Hines, Pastor der ULCA 191
234
235
Hitti, Philip 149
M
Holl, Karl 187
Machiavelli, Niccolò 12
Hooper, Mr., Direktor der St. Lukas Schule 148
Magris, Claudio 11, 105
I
Marcuse, Ludwig 233
Ingersoll, Ralph 165
Maximilian, Kaiser von Mexiko 80
J
Meister Eckhart 184
Joad, C.E.M. 165
Milli, Katharina (Tante Kitty) 36, 47
Johannes XXIII 229
Möhler, Johann Adam 177f, 189
Juarez, Benito 80
Montaigne, Michel de 225
K
Morton, Mr., Rektor der anglikanischen Kirche 192, 194
Kant, Immanuel 167, 170
Moxton, Mr., Pfarrer der anglikanischen Kirche 163f
Khamis, Mr., Mathematik- und Physiklehrer 151
Musil, Robert 10, 65
Khayyam, Omar 181
N
Khoury, Mr., Assistent bei Fulworth’s 119, 131
Neumann, Edith 138, 152, 168f, 177, 205
Kierkegaard, Soren 167f, 170, 205
Neumann, Fritz 15, 117, 138f, 164, 166ff, 177, 183, 205f, 215
King, Mr., Geschichte- und Lateinlehrer 148ff, 159, 161, 181, 193,
Newman, John Henry 150
203
P
Kraus, Karl 43, 168
Perasso, Battista 83
L
Platon 167
Labiush, Mr. 151, 152
Plesu, Andrei 223
Lippmann, Herr, Lehrer an der Schweizer Mission 126, 127f, 129
Plotke, Herr, Vorstand der »British Jews Society« 112, 115, 117f, 125,
Löw, Lodovico (Vico) 78, 83, 94, 102
139f
Löw, Ludwig/Lodovico 90ff, 94, 99ff, 104f
Polgar, Alfred 232
Löw, Maria 95
R
Löw, Marianne 90
Riadh Effendi 179, 181ff
Löw, Paola 95
Ritter, Joachim 229
Löw, Wilhelm (Onkel Willi) 76, 78, 80f, 83, 90, 95f, 101f
Robinson, Miss, Englischlehrerin 148, 150, 160, 181, 194
Löwenstein, Herr, Leiter der Schweizer Mission 124ff, 131, 133f,
Rohold, Frau, Leiterin der »British Jews Society« 117, 139
136f, 140
Roth, Joseph 20
Löwenstein, Ruth 124, 133, 135
S
Luckmann, Thomas 63, 112, 197, 198
Sartre, Jean-Paul 12
Luther, Martin 167, 187, 189, 229
Schuschnigg, Kurt 26, 27
Schütz, Alfred 8, 229
236
237
Semple, Mr., Direktor der St. Lukas Schule 147f, 151, 154
Shoghi Effendi 181f, 185
Bildnachweis
Simon, Bruder der Unbeschuhten Karmeliten 178
Sohrab, Ahmad 185
Archiv Berger: 57, 144, 200
Sperber, Manès 227
Spinney, Mr., Besitzer von Fulworth’s und Spenney’s 118
Archiv Breunig: 17, 24, 39
Spinoza, Baruch 190
Wirtschaftskammer Österreich, Abteilung Recht und
Stanislao, Bruder der Unbeschuhten Karmeliten 175, 178, 184
Organe/Archiv, Bestand: 46
Stark, Werner 16
Wiener Stadt- und Landesarchiv: 74, 85
Steiner, Rudolf 217
Shimon Lev: 106, 172
T
Jann Wilken: 220
Teresa von Avila 184
Michaela Seidler: 196
Torberg, Friedrich 9, 20, 23
Trollope, Anthony 150
Truman, Harry S. 41
V
Valéry, Paul 225, 229
Voegelin, Eric 226
W
Weber, Max 185, 198
Wheatcroft, anglikanischer Bischof 190
Wilde, Oscar 150
Wordsworth, William 150
Z
Zimmermann, Miss, Leiterin der methodistischen Missionsbehörde
214
Zulehner, Paul Michael 221
Zweig, Stefan 225
238
239
Auswahlbibliografie Peter L. Berger
Mit Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie.
Frankfurt/Main 1969
Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und
die Wiederentdeckung der Transzendenz. Frankfurt/Main
1970
Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer
soziologischen Theorie. Frankfurt/Main 1973
Mit Brigitte Berger: Individuum & Co. Soziologie beginnt
beim Nachbarn. Stuttgart 1974
Welt der Reichen, Welt der Armen. Politische Ethik und
sozialer Wandel. München 1976
Einladung zur Soziologie. Eine humanistischer Perspektive.
München 1979
Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen
Gesellschaft. Frankfurt/Main 1980
Mit Brigitte Berger: The war over the family. Capturing the
middle ground. New York 1983
Die kapitalistische Revolution. Fünfzig Leitsätze über Wohlstand, Gleichheit und Freiheit. Wien 1992
A Far Glory. The Quest für Faith in an Age of Credulity.
New York 1992
Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen
Erfahrung. Berlin 1998
Erlösender Glaube? Fragen an das Christentum. Berlin
2006
Manfred Prisching (Hg.): Gesellschaft verstehen. Peter
Berger und die Soziologie der Gegenwart. Wien 2001
240

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