Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener

Transcrição

Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener
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OKTOBER
NEUE R ÄUME
INTELLEKTUELLEN UND KULTURELLEN
LEBENS
IN
RUSSLAND
ed it or ials
Das Projekt kultura
Wolfgang Eichwede / Isabelle de Keghel / Hartmute Trepper
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a n alyse
Die Erben des underground oder: Worauf sich die russische Kultur stützt
Irina Prochorowa (Moskau)
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sk i z ze
Neue „Moskauer Küche“ oder das System OGI
Dmitri Izkowitsch (Moskau)
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a n alyse
Vom Klub zum Massenmedium? Das russische Internet als Ort intellektueller
Debatten und politischen Engagements
Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener (Bochum-Münster)
10
i nt e r v iew
Russian-cyberspace.org interviewt Grani.ru
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kultura. Russland-Kulturanalysen
Herausgeber: Prof. Wolfgang Eichwede, Direktor der Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen.
Redaktion: Dr. Isabelle de Keghel, Hartmute Trepper M.A.
Technische Redaktion: Matthias Neumann
Die Meinungen, die in den Russland-Kulturanalysen geäußert werden, geben ausschließlich
die Auffassung der AutorInnen wieder.
Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet.
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OKTOBER
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D A S P RO J E K T k ult u ra
ed it or ials
P ROF. WOLFGANG EICHWEDE (H ERAUSGEBER)
einzelnen Ausgaben von kultura ziehen werden:
Selten zuvor haben wir von Russlands Kultur
Fragen nach neuen Räumen intellektuellen und
so wenig gewusst wie in diesen Jahren, kaum
kulturellen Lebens, nach neuen Öffentlichkeits-
jemals das Land so wenig mit den Namen von
formen und Institutionen, nach dem Wandel von
Autoren und Künstlern verbunden. Früher, in
Normen, Werten und Symbolen, nach neuen Vor-
sowjetischer Zeit, wurde die Kultur oft genug
bildern der Lebensgestaltung.
als Gegengewicht zur Politik wahrgenommen,
Diese erste Ausgabe von kultura gibt zwei
als das „Andere“, das faszinierte. Pasternak und
Antworten auf die Frage, wo heute in Russland
Solschenizyn waren in unseren Medien präsent,
intellektuelles Leben pulsiert, wo Ideen und Mei-
„Doktor Schiwago“ ein Bestseller. Russlands
nungen konfrontiert werden und Gleichgesinnte
Bild in der Gegenwart wird durch politische
sich zusammenfinden können. In den Moskauer
Inszenierungen, durch Pipelines und Oligarchen
intellektuellen Klubs sehen die AutorInnen der
geprägt. Das Land ist längst nicht mehr im freien
ersten Beiträge eine Art öffentliche Variante der
Fall, doch trägt die Stabilisierung autoritäre Züge
legendären Moskauer Küchen der Sowjetzeit, wo
in sich.
unzensiert diskutiert wurde, was in der kontrol-
Politik und Wirtschaft bestimmen die öffentliche
lierten Öffentlichkeit tabuisiert war. Klubatmo-
Wahrnehmung des Landes. Die Russland-Kultur-
sphäre charakterisierte auch die Anfänge des
analysen wollen hier eine Korrektur. Einerseits
Internet in Russland. Heute hat dieses Medium
gehen sie in den Alltag der Kultur und fragen,
das Potenzial, zwischen den entfernten Winkeln
wie sich das Land über sich selbst verständigt,
des Landes die kulturellen Verbindungen wieder
andererseits wollen sie Alternativen aufdecken,
herzustellen, die mit dem Ende des zentralisier-
den Blick auf Unerwartetes lenken. Ihr Ziel ist es,
ten Systems von Kulturorganisationen und Me-
der Kultur in unserem Bild von Russland wieder
dien schwierig geworden waren. Die derzeitige
den Stellenwert zu geben, den sie einst hatte. Der
weitgehende Freiheit von staatlicher Kontrolle
Nachbar im Osten ist ein großer Kontinent, der
macht das Internet zum bevorzugten Medium für
in seinem Eigensinn und seinen verschlungenen
politische und weltanschauliche Debatten und
Wegen immer neu entdeckt werden will.
Plattformen.
ISABELLE DE K EGHEL , H ARTMUTE TREPPER
(R EDAKTION)
ZUR ERSCHEINUNGSWEISE
kultura berichtet über kulturelle Trends und
kultura wird 1x monatlich kostenlos im pdf-
öffentliche Diskurse in Russland, über die Ent-
Format per eMail versandt und kann abonniert
wicklung einzelner Kulturgattungen und der Me-
werden, wahlweise in deutscher und engli-
dien, über den Kulturbetrieb im Spannungsfeld
scher Sprache. Außerdem kann sie auf der
zwischen staatlicher Einflussnahme und Autono-
Homepage
Forschungsstelle
Osteuropa
mie. Der Begriff „Kultur“ wird weit gefasst, das
www.forschungsstelle-osteuropa.de
angewählt
Untersuchungsfeld reicht von der Hoch- bis zur
werden.
Alltagskultur.
Eine Ausgabe von kultura enthält in der Regel
Die Themenauswahl für das erste Jahr folgt
zwei Analysen und 2 ihnen zugeordnete kürzere
einer Reihe von Leitfragen, die sich durch die
Artikel.
der
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D I E E R B E N D E S U N D E RG RO U N D O D E R : WO R AU F S I C H D I E K U LT U R
I N R U S S L A N D S T Ü T Z T. A U F Z E I C H N U N G E N E I N E R A U G E N Z E U G I N
a n alyse
Irina Prochorowa
Das kulturelle Leben in Russland ist traditionell stark von einzelnen Personen und von informellen Strukturen bestimmt. Die spezifische Kulturlandschaft der 1990er Jahre hatte ihre Ursprünge im underground
der späten Sowjetzeit. Das Spektrum der neu gegründeten Institutionen reicht von NGOs über Verlage
und Buchläden bis hin zu Webseiten. Ab 1998 kam es im Zuge restaurativer Tendenzen in der Politik
auch im kulturellen Bereich zu Rückschlägen. Seit Ende der 1990er Jahre lassen sich Verschiebungen des
kulturellen Lebens beobachten, wobei multimedial agierende Kulturinstitutionen, Lifestyle-Zeitschriften
und Klubs neue Akzente setzen.
Anfang der 1990er Jahre rief ein deutscher Kol-
ground, den man auch als russische Nachkriegs-
lege aus dem Goethe-Institut, der sich in Moskau
avantgarde bezeichnen kann, zwischen dem
um kulturelle Kontakte bemühte, einmal zornig
Ende der 1950er und dem Ende der 1980er Jahre.
aus: „Es ist unmöglich, in Russland zu arbeiten:
Dieses einzigartige Phänomen wird gewöhnlich
so viele brillante Persönlichkeiten – und über-
unter dem Gesichtspunkt einer ideologischen
haupt keine Institutionen!“ Ohne es zu beabsich-
Opposition gegen den sowjetischen Totalitaris-
tigen, ist er damit dem Verständnis einer Beson-
mus betrachtet, wobei besonders Dissens und
derheit des gesellschaftlichen Lebens in Russland
Samisdat in den Blick genommen werden. Leider
sehr nahe gekommen. Genauer gesagt besteht
wird der underground aber kaum als ein alter-
diese Eigentümlichkeit nicht so sehr im Fehlen
natives soziales Universum erforscht, das seine
von Institutionen überhaupt als in einem Miss-
eigenen Künstlervereinigungen und -zirkel, seine
verhältnis zwischen diesen und den Zwecken, zu
eigenen Meinungsmacher und ästhetischen Maß-
denen sie gegründet wurden. Die äußere, schein-
stäbe, seine eigenen Presseorgane, ein effektives
bare Ähnlichkeit der staatlichen bürokratischen
System der Verbreitung politischer und künst-
Strukturen mit ihren westeuropäischen Pendants
lerischer Publikationen, einen Literaturpreis,
führt nicht nur Ausländer immer wieder in die
eigene Auslandskontakte sowie ein eigenes Ge-
Irre, sondern auch die Menschen in Russland.
sellschaftsleben mit den dazugehörigen Ritualen
hatte. Dabei wurzeln viele charakteristische Züge
DIE TRADITION INFORMELLER STRUKTUREN
IM RUSSISCHEN
KULTURLEBEN
Wichtigstes Ergebnis dieser Deformation war je-
des intellektuellen und künstlerischen Lebens im
heutigen Russland eben in der Tradition des
underground.
denfalls eine spontane Entwicklung informeller,
paralleler Strukturen soziokulturellen Lebens,
DIE ERBEN
die in der Öffentlichkeit gewöhnlich wenig Be-
Interessanterweise entwickelten sich Ende der
achtung finden und sich Außenstehenden schwer
1980er Jahre diejenigen Bereiche des kulturellen
erschließen.
Lebens am schnellsten, die bereits durch den un-
Eines der bekanntesten Beispiele dieser seltsa-
derground erschlossen waren und in denen sich
men kulturellen Doppelwelt ist die russische
folglich die bedeutendsten intellektuellen und
Literatur als gesellschaftliche Institution. Lange
personellen Ressourcen konzentrierten. In erster
Zeit erfüllte sie in erhöhtem Maße politische und
Linie handelt es sich dabei um die Menschen-
soziale Aufgaben, worunter oft ihre eigentliche
rechtsorganisationen und andere Vereinigungen,
ästhetische Funktion litt. Ein weiteres Beispiel
die Anfang der 1990er Jahre ihre Blütezeit erleb-
ist die Entstehung eines russländischen under-
ten; zu besonderer Bekanntheit gelangte die Ge-
DES
UNDERGROUND
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sellschaft Memorial, die sich mit der Geschichte
Diese neue informelle Zunft erweiterte sich
der politischen Repressionen in der Sowjetunion
alsbald um zahlreiche private Kunstgalerien,
auseinandersetzt.
später um Dichterclubs, gefolgt von einem In-
Ein weiteres Beispiel ist der verlegerische Boom,
ternet-Boom, der unzählige „virtuelle Projekte“
das Aufblühen neuer anspruchsvoller Zeitschrif-
ins Leben rief, unter denen Anfang der 1990er
ten und eines auf kulturelle Themen ausgerich-
zweifellos die Bibliothek von Maxim Moschkow
teten Verlagswesens. Angesichts des totalen
und die Poesie-Webseite Wawilon (Babylon) des
Wirtschaftschaos und der Handlungsunfähigkeit
jungen Dichters Dmitri Kusmin die wichtigsten
staatlicher Institutionen entstand der Markt für
waren.
hochgeistige Literatur buchstäblich aus dem
Nichts. Ein paar Dutzend neuer unabhängiger
KULTUR
Verlage, die auf hochklassige geisteswissen-
Natürlich hätten diese institutionell fragilen
schaftliche Literatur und Belletristik spezialisiert
Initiativen kaum den wirtschaftlichen Erschüt-
sind, haben bedeutende intellektuelle Marken-
terungen standhalten können, denen die Gesell-
zeichen geschaffen und die Kulturlandschaft
schaft Russlands während der gesamten 1990er
radikal restrukturiert. So hat etwa der Verlag
Jahre regelmäßig ausgesetzt war, wenn um sie
Nowoje Literaturnoje Obosrenije (Neue Litera-
herum nicht kontinuierlich größere und stabilere
turrundschau, kurz NLO) die führenden Köpfe
gesellschaftliche Institutionen entstanden wären,
im Bereich der slawistischen Forschung um sich
die die intellektuellen Projekte unterstützten und
geschart; der Verlag Nesavissimaja gaseta (Un-
somit ihr Überleben sicherten. Zum ersten wäre
abhängige Zeitung) hat sich in der kulturellen Es-
hier die stürmische Entwicklung der Massenme-
sayistik einen Namen gemacht; Text spezialisiert
dien Anfang der 1990er Jahre zu nennen, unter
sich auf ausländische Belletristik; Aletheia hat
deren Mitarbeitern sich auch viele Intellektuelle
den Markt für Werke der Antike monopolisiert;
aus dem undergroundmilieu fanden. Dies trug
Slovo (Das Wort) veröffentlicht Kunstbildbände;
dazu bei, dass private Initiativen, die bis dahin
ad marginem hat das Land mit französischen
vor allem vom Enthusiasmus ihrer Gründer ge-
Philosophen der Postmoderne überschwemmt.
lebt hatten, hohe gesellschaftliche Anerkennung
Gleichzeitig mit dem Aufschwung des Verlags-
und Bekanntheit erlangten. Zum zweiten kamen
wesens sind auch sogenannte intellektuelle Buch-
ausländische Stiftungen nach Russland, die die
läden entstanden, wo man die besten Zeitschrif-
Entstehung eines neuen kulturellen Establish-
ten und Bücher des neuen Russlands einsehen
ments förderten. Vor allem die Soros-Stiftung
und kaufen kann. Den Anfang machte der Dich-
wurde für die gesamte intellektuelle Gemein-
ter und Übersetzer Mark Frejdkin, der im Herbst
schaft zu einem wahren Wohltäter.
1992 in einem kleinen Holzbau einen Buchladen
Zur selben Zeit vollzog sich in der Schulbildung
mit dem symbolischen Namen „19. Oktober“
eine stille Revolution. In den großen Städten
1
IN DEN
1990 ER JAHREN: NEUE I MPULSE
eröffnete . Diese für einen engen Kreis von
entstanden zahlreiche Lyzeen, Gymnasien sowie
Gleichgesinnten stehende Metapher, die für die
spezialisierte Schulen, jeweils mit hohem Niveau,
Ethik des underground so charakteristisch ist,
einem erweiterten Angebot an Fächern und ex-
bestimmte auch den Verhaltens- und Arbeitsstil
perimentellen Unterrichtsmethoden. Auch in der
der Intellektuellen in den 1990er Jahren und
Hochschulbildung fanden positive Veränderungen
bleibt bis heute in vielerlei Hinsicht gültig.
statt. Es entstanden nichtstaatliche Universitäten
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Am 19. Oktober trafen sich traditionell die ehemaligen Schüler Lyzeums von Zarskoje selo, zu denen auch Alexander Puschkin gehörte; er widmete seinen Freunden aus dem Lyzeum eine ganze Reihe von Gedichten.
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sowie einzigartige private Einrichtungen, etwa
Verschlechterung des Zustands von Bibliotheken
die Moskauer Schule für politische Studien unter
und Archiven, die Einschränkung des Zugangs
Leitung der Philosophin Jelena Nemirowskaja, die
zu Informationen, die Vertreibung des bekannten
vom britischen Soziologen Teodor Shanin gegrün-
Soziologen Juri Lewada aus seinem Allrusslän-
dete Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschafts-
dischen Zentrum für Meinungsforschung, der
wissenschaften oder die Europäische Universität
wachsende steuerliche Druck auf die Verlage
in St. Petersburg.
und schließlich die gescheiterte Modernisierung
Im staatlichen Hochschulsystem gab es ebenfalls
des Hochschulsystems. Aufschlussreich ist das
Fortschritte, verkörpert durch die Hochschule
Schicksal der RGGU; dort triumphierte das so-
für Wirtschaft und die Russländische Staatliche
wjetische akademische Establishment am Ende
Universität für Geisteswissenschaften (RGGU).
über alle Versuche, neue Fakultäten und Unter-
Eine revolutionäre Welle brachte Reformer und
richtsgrundsätze in das alte System einzubauen.
Verwaltungsmodernisierer in die staatliche Bürokratie, und gegen Ende des Jahrzehnts kam
EIN NEUES KULTURELLES PARALLELUNIVERSUM
die Hoffnung auf, diese verschiedenen Ströme
ENTSTEHT
kreativer Energie könnten sich vereinigen, um
Um zu überleben, musste sich das gesamte Sys-
ein neues, leistungsfähiges System von Kultur
tem kultureller Initiativen neu strukturieren. Der
und Bildung zu schaffen.
Gemeinschaft der Intellektuellen ist dies gelungen, und zwar auf ziemlich interessante Weise.
RÜCKSCHLÄGE
Zuallererst erlebte gegen Ende der 1990er Jah-
Diese Hoffnungen waren jedoch zum Scheitern
re das Internet eine neue Blüte. Die rührenden
verurteilt. Die Wirtschaftskrise von 1998 provo-
Eigenbau-Webseiten
zierte einen Wechsel der politischen Prioritäten
Gründerzeit der elektronischen Massenmedien
und eine Ablösung der politischen Elite; zudem
wichen bedeutenden virtuellen Zeitschriften zu
setzte eine partielle Resowjetisierung ein. Die
sozialen und künstlerischen Themen, die seitdem
ideologische Restauration äußerte sich in erster
den eigentlichen Mittelpunkt politischer Aus-
Linie in einer konsequenten Offensive gegen die
einandersetzungen und literarischer Debatten
gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen,
bilden, allen voran Polit.ru, Russkij zhurnal (Das
die gerade erst entstanden waren. Es wurde ver-
russische Journal), Grani.ru [siehe das Interview
sucht, alle meinungswirksamen Mittel erneut in
mit Nikolaj Rudenskij in dieser Ausgabe] und
staatlichen Händen zu vereinen.
Gazeta.ru (Die Zeitung).
Verschiedene bedauerliche Prozesse brachten frei
Gleichzeitig begannen sich die unabhängigen
denkende Intellektuelle in eine äußerst schwieri-
kulturellen Institutionen in multifunktionale
ge Lage: die Zerschlagung des regierungskriti-
intellektuelle Multimedia-Korporationen umzu-
schen Senders NTW und die faktische Wieder-
wandeln. Zum Beispiel führt das unabhängige
verstaatlichung des Fernsehens, das Erlöschen
Messeunternehmen Expo-Park, das mit einer
öffentlicher Diskussionen und der Fortgang
Ausstellung antiquarischer Kunstwerke (dem
führender Journalisten aus den Printmedien, die
Russländischen Antiquitätensalon) begann, ge-
Schließung der Soros-Stiftung und der Untergang
genwärtig alljährlich 14 spezialisierte Ausstellun-
des Chodorkowski-Imperiums, die zunehmende
gen durch, unter anderem eine Architektur- und
Kontrolle von Schulbuchinhalten, die radikale
Designschau (Arch-Moskwa), eine Ausstellung
aus
der
heldenhaften
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von Gegenwartskunst (Art-Moskwa) sowie eine
„Gegenwartskunst in traditionellen Museen“ und
Messe für Produktdesign und Werbung. 1998
eine Kunstbuchreihe.
initiierte Expo-Park als Alternative zur großen
Moskauer Buchmesse eine jährliche internationale
KULTUR
Buchmesse, auf der alle Verleger anspruchsvoller
Gleichzeitig zeichnete sich ein ungeahnter Auf-
Literatur vereinigt sind. Das 1994 gegründete
schwung des „Glamour“-Journalismus sowie der
Theaterfestival Solotaja maska (Die goldene
Freizeit- und Unterhaltungsindustrie ab. Es mag
Maske) hat sich zu einer mächtigen Institution
seltsam anmuten, aber auch diese Phänomene
entwickelt, die Gastspiele in der Provinz, Meis-
stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit
terklassen, Workshops, Theaterausstellungen und
der Neustrukturierung der Kulturlandschaft in
Pressekonferenzen durchführt, einen jährlichen
Russland. Viele professionelle Journalisten, die
Theaterpreis in einer Vielzahl von Sparten vergibt
gezwungen waren, die im Niedergang befindli-
und als eigenständiger Verlag fungiert.
che gesellschaftspolitisch orientierte Presse zu
Um die erste unabhängige, 1992 gegründete
verlassen, fanden in Hochglanzzeitschriften Un-
Neue
terschlupf, wodurch das Niveau dieser Publikati-
Literaturrundschau (NLO) entstand der gleich-
onen merklich stieg. Ein Vergleich der russischen
namige
der
Ausgaben von Vogue, Men’s Health, Elle, Madame
jährlich zwei internationale wissenschaftliche
Figaro, Esquire und anderen mit ihren westlichen
Konferenzen durchführt und 1998 eine zweite
Vorbildern zeigt, wie viel häufiger, niveauvoller
Zeitschrift gründete: Neprikosnovennyj Sapas.
und interessanter in den russischen Versionen
Debaty o politike i kulture (Die Eiserne Ration:
kulturelle Themen verhandelt werden und was für
Debatten über Politik und Kultur, kurz NZ). Im
ausgezeichnete Rezensionsteile sie haben.
Jahr 2002 entstand die Fernsehversion NZ na
Es entsteht der Eindruck, dass sich in der Zeit der
TV (NZ im Fernsehen). Die zahlreichen wissen-
Stagnation des sozialen und politischen Denkens
schaftlichen, künstlerischen und gesellschaftspo-
und des Fehlens einer klaren staatlichen Ideologie
litischen Veranstaltungen, die NLO durchführt,
wider Erwarten nicht die Literatur, sondern die
machen aus dem Verlag praktisch eine Art „freier
Hochglanzzeitschriften der Propagierung eines
Universität“.
zeitgemäßen Lebensstils verschrieben haben.
Die St. Petersburger Stiftung für Kultur und Kunst
Interessanterweise zeigt ein Vergleich der in mo-
Pro Arte, die zur Erforschung künstlerischer Phä-
dischen Zeitschriften behandelten Themen mit
nomene des 20. Jahrhunderts gegründet wurde
den tonangebenden Tendenzen der kultur- und
und von ausländischen Kulturstiftungen sowie
geisteswissenschaftlichen Forschung, dass diese
vom Museum der Geschichte St. Petersburgs un-
sich thematisch überlappen. Die akademischen
terstützt wird, ist an unzähligen kulturellen Veran-
Disziplinen erforschen Mode, Speisen, Getränke,
staltungen federführend beteiligt. Hierzu gehören
Alltagsgegenstände, Sport, städtische Milieus
beispielsweise ein Ausbildungsprogramm für Kul-
sowie die Luxus- und Unterhaltungsindustrie als
turjournalisten, ein Fortbildungsprogramm für
kulturelle Phänomene und bedeutende Triebkräfte
junge Künstler, Vorlesungen über Gegenwartsar-
von Zivilisationsprozessen.
chitektur, ein Wettbewerb für Interpreten und
Es verwundert daher nicht, dass sich in der letz-
Komponisten aktueller Musik (Die Pythischen
ten Zeit immer häufiger intellektuelle Veranstal-
Spiele), ein alljährliches Festival mit dem Titel
tungen wie Buchpräsentationen, Konferenzen,
literaturwissenschaftliche
Zeitschrift
geisteswissenschaftliche
Verlag,
UND
LIFESTYLE
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Preisverleihungen,
Diskussionsveranstaltungen,
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ren und in dem verschiedene ästhetische Richtungen
künstlerische Aktionen auf Bühnen, in Kinosäle,
friedlich koexistieren.
Kaffeehäuser und Nachtclubs verlagern. Dieser
Das Interessanteste an diesem Projekt besteht darin,
Hang zu informeller Umgebung hat im Übrigen
dass seine Urheber klassische Prinzipien des künst-
auch kulturelle Wurzeln, denn in eben solch einer
lerischen Lebens im underground reproduziert und
Atmosphäre lebte und wirkte der russische kulturel-
im öffentlichen Bewusstsein verankert haben. Sie
le underground – mehr noch, der Alltag in seiner
schufen im Geiste eines Ilja Kabakow eine totale In-
sowjetischen Ausprägung war Nährboden und Ma-
stallation der berühmten Moskauer und Petersburger
terial für seine Werke.
Küchen mit ihren langen Nächten und der unaufhörlichen Flut von Gästen. An solchen Abenden ließen
DIE MOSKAUER K LUBSZENE
die Beteiligten ihren Gefühlen freien Lauf. Hier
Besondere Aufmerksamkeit verdient der Restaurant-
wurden im Kreis von Gleichgesinnten wichtigste
Boom vom Ende der 1990er Jahre, als in den großen
politische und kulturelle Probleme erörtert, Gedichte
Städten praktisch über Nacht ein Netz von Cafés,
und verbotene Prosa vorgelesen und stolz gerade erst
Imbissen, Bistros, preiswerten Restaurants, Bier- und
erschaffene Meisterwerke vorgeführt, wobei aus
Teestuben sowie Kaffeehäusern entstand. Einige
dem Publikum Rufe wie „Alter, du bist ein Genie!“
dieser Cafés und Klubs wurden eigens als neue Räu-
zu hören waren. Nicht ohne Grund sitzen heute in
me für intellektuelle Aktivitäten gegründet. Daher
den OGI-Klubs Veteranen der Nachkriegsavantgar-
bieten viele von ihnen eigene, sorgfältig ausgearbei-
de und ihre erwachsenen Kinder ganz ungezwungen
tete Veranstaltungsprogramme an, die per e-mail an
nebeneinander.
Stammgäste und Kunstliebhaber verschickt werden.
Anders gesagt: In den 2000ern besann sich die neue
Einen besonderen Platz nimmt das sogenannte
russländische Kultur als Antwort auf die versuchte
„Projekt OGI“ ein. Ende der 1990er Jahre schufen
Wiederherstellung einer Machtvertikale auf die insti-
drei junge Intellektuelle – Dmitri Izkowitsch, Dmitri
tutionelle Tradition des underground und schuf prak-
Borisow und Alexander Kabanow – in Moskau eine
tisch ein alternatives infrastrukturelles Universum.
einzigartige kulturelle Plattform, indem sie einen
Während regimetreue Ideologen hektisch nach einer
Verlag (OGI: Verlag für Gesellschafts- und Geistes-
nationalen Idee suchen und die ratlose Bürokratie mit
wissenschaften; www.ogi.ru), die Net-Zeitung
Geistigkeit und Machtstaatlichkeit beschäftigt ist,
Polit.ru, einen Poesieklub, eine Kunstgalerie, ein
arbeiten Intellektuelle auf der Grundlage einer neuen
Forum für politische Diskussionen, einen 24 Stun-
Alltagskultur beharrlich an einer Modernisierung
den am Tag geöffneten Buchladen und ein ebenfalls
des Bewusstseins weiter und setzen sich für einen
rund um die Uhr funktionierendes Café miteinan-
neuen Lebensstil ein.
der verbanden. Dieses eigentümliche synthetische
Gebilde erwies sich als außerordentlich erfolgreich
Aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch
und populär; es wurde in den letzten Jahren zum
Mittelpunkt des Moskauer Kulturlebens der jungen
Generation, wurde vielfach nachgeahmt und geklont.
ÜBER DIE AUTORIN
Im Grunde genommen hatte man damit ein neues
Irina Prochorowa leitet die literatur- und kulturwis-
Funktionsmodell für die zeitgenössische städtische
senschaftliche Fachzeitschrift „Neue Literaturrund-
Kultur gefunden, in dem verschiedene Spielarten
schau“ (NLO) und den gleichnamigen Verlag in
intellektueller Kreativität in einem Raum interagie-
Moskau.
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N E U E „ M O S K AU E R K Ü C H E “
O D E R DA S
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S Y S T E M OGI
Dmitri Izkowitsch
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Das Moskauer Klub-„Projekt OGI“, wie es Ende
komplexeren Wahrnehmung eben dieser Wirk-
der 1990er Jahre entstand, knüpft weniger an die
lichkeit vor. Das ist im derzeitigen intellektuellen
vornehmen englischen Clubs an als an die Tra-
Klima in Russland durchaus nichts Banales und
dition gesellschaftlich-kollektiven Handelns in
wichtiger Teil der Konzeption. Die öffentlichen
privater Form – an die berühmten Küchentreffen
Vorlesungen finden jeden Donnerstag um 19 Uhr
der städtischen Intelligenzija in der Sowjetunion
statt, zwischen Muße und Geschäft, zwischen
der 1970er Jahre. Kann aber eine Einrichtung, in
Arbeit und Freizeit.
der das Geld zu 70% mit gediegenem „Essen und
Mindestens zweimal in der Woche werden Bü-
Trinken“ verdient wird, sich dennoch vorrangig
cher vorgestellt, entweder abends im Stil der
als Ort aktiven zivilgesellschaftlichen Engage-
öffentlichen Vorlesungen oder am Tag in eher
ments und praktischer Toleranz verstehen?
„geschäftlicher“ Form, im Stil einer Pressekon-
Ein solcher Klub (hier das Beispiel „Bilingua“)
ferenz. Gelegentlich nutzen Interessenten von
bietet verschiedenen Menschen verschiedene
dritter Seite diese Veranstaltungen als PR-Anläs-
Möglichkeiten. Es gibt einen Buchladen mit
se, z.B. durch den Ausschank eines bestimmten
Café, ein Restaurant mit Bar, einen Aufführungs-
Getränks, und beteiligen sich an den Kosten.
raum mit Bühne und einen Laden „der kleinen
In größeren Abständen organisiert das Kaukasus-
Freuden“ („Galanteriewaren“) mit Szene-Outfits,
Forum Gespräche am runden Tisch zum Thema
Accessoires und Geschenken. Für etwa 220 Per-
„Tschetschenien wieder aufbauen“ (www.kavkaz-
sonen sind Sitzplätze vorgesehen; bei Konzerten
forum.ru). Interessierte Zuhörer sind eingeladen,
oder populären Veranstaltungen finden bis zu
sich an der Diskussion zu beteiligen. Ähnliches
400 Personen Platz. Täglich kommen zwischen
gilt für Seminare zu geistes- und sozialwissen-
400 und 1000 Besucher in den rund um die Uhr
schaftlichen Themen, bei denen der Akzent auf
geöffneten Klub.
Information und Praxisbezug liegt.
Das Monatsprogramm umfasst 40 oder auch
Nicht selten werden die Räume eines Klubs von
mehr Veranstaltungen, manche von ihnen regel-
Partnereinrichtungen genutzt, etwa von der Zeit-
mäßige. Das größte Echo haben die „Öffentlichen
schrift Neue Literaturrundschau für ihre jährli-
Vorlesungen“ der Internet-Zeitung Polit.ru, eine
chen mehrtägigen Konferenzen. Außerdem gibt
Art kostenloser „Show“ mit bekannten und
es bis zu 5 Mal in der Woche Veranstaltungen,
hochgeachteten Persönlichkeiten (z.B. Politikern,
für die Eintritt erhoben wird, meistens Konzerte,
Experten, Vertretern verschiedener gesellschaft-
aber auch Literatur- oder Theaterabende. Die
licher Gruppen). In einem Vortrag von jeweils 40
Preise liegen zwischen 100 und 600 Rubel [ca.
Minuten, gefolgt von 60–90 Minuten einer recht
3 – 18 Euro]. Zweimal wöchentlich kann das Pu-
aggressiv moderierten Diskussion, erläutern sie
blikum – als Geschenk oder auch als kulturellen
in der Öffentlichkeit ihre Position. Der Konzep-
„Appetithappen“ – kostenlos gute Künstler erle-
tion entsprechend treten sie hier nicht als Profis
ben. Einmal in der Woche haben die Kinder ihre
oder Experten auf, sondern als Bürger schlecht-
eigene Vormittagsveranstaltung.
hin. Gemeinsam suchen Vortragende, Organisatoren, Zuhörer und die Leser von Polit.ru die
Ein Blick in ein einzelnes Wochenprogramm
zivilgesellschaftlichen Ansätze in der Wirklich-
(hier: Klub „Bilingua“, 1.–7. April 2005) mag das
keit und arbeiten sich auf diese Weise zu einer
Bild vervollständigen.
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Freitag, 1. April
•
Konzert der äußerst amüsanten Gruppe „Pakava It“, passend zum 1. April
•
Zweiter Tag der internationalen Konferenz „Bannye Tschtenija“ („Badehauslesungen“1) durchgeführt vom Verlag NLO
•
20.00: Vernissage: Einzelausstellung eines Gegenwartskünstlers, in Kooperation mit dem SwerewZentrum für Gegenwartskunst
Samstag, 2. April
•
Fortsetzung der Bannye Tschtenija. Aus diesem Grund wird die Kindermatinee (eine Vorstellung
mit interaktiven Spielen für Kinder von 3 bis 10, konkret: Modellieren und Malen) aus dem großen
Saal mit Bühne in den Buchladen verlegt.
•
21.00: Konzert der Gruppe „Jeff i karmany“ („Jeff und die Hosentaschen“), ehemals „Kradennoje
solnze“ („Die gestohlene Sonne“)
•
Nachts Diskothek – früher „Tänze im Bilingua“, jetzt umbenannt in „Tänze mit Onkel Fjodor“, nur
eben auf Englisch: „mit dj-dj Fjodor“ [russ.: Onkel = djadja].
Sonntag, 3. April
•
13.00: Meisterklassen und Seminare im Rahmen des LearnMusic-Projekts zur Förderung musikalischer Bildung
•
16.00: Diashow. 16.30: Kino für Kenner (nur für Gäste des Bilingua) – alte, aber unvergessene Filme,
Eintritt frei, es kommen Ehe- und andere Paare, Einzelgänger und größere Gruppen. Heute: „Koyaanisqatsi“ und „Anima Mundi“ von Godfrey Reggio
•
Gleichzeitig im Buchladen: Lesung skandinavischer Schriftsteller: ziemlich gut besucht und laut,
eine ganz eigene Atmosphäre.
•
22.00: Konzert der Gruppe „Pani Walewska“
Montag, 4. April
• Atempause, abgesehen von einem Podiumsgespräch im Buchladen
Dienstag, 5. April
•
19.00 im Buchladen: Lesung des Dichters Oleg Tschuchonzew
•
22.00: Konzert von Wiktor Luferow, Eintritt frei. Als Musikinstrumente nutzt Luferov neben seiner
Gitarre Metallketten, Töpfe und (Bau)Werkzeug
Mittwoch, 6. April
•
22.00 Uhr Konzert der Gruppe „Miss is Big“ (verrückter Funk). Eintritt frei; mit farbenprächtiger
gewaltiger Sängerin. Die Besucher reißen beinahe den Tresen um.
Donnerstag, 7. April
•
19.00: Öffentliche Vorlesung von Polit.ru: Michail Dmitrijew, „Reformperspektiven in Russland“
•
23.00: Die Künstlervereinigung Cantaloop stellt ihr originelles Programm „Die Entmenschlichung
des stereotypen Denkens“ vor. Eintritt frei.
Übersetzung des Programms aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch
Dmitri Izkowitsch ist Verleger (OGI) und Literaturwissenschaftler, Gründer des ersten OGI-Klubs und der
Internetseite Polit.ru, zur Zeit am Wiederaufbau des kürzlich abgebrannten Klubs Bilingua beteiligt
www.bilinguaclub.ru
Moskau, Krivokolenny pereulok 10 Gebäude 5, Metro: Lubjanka, Turgenewskaja , Tel. 923-96-60
1
Nach einer ehemaligen Adresse des Verlags im Bannyj pereulok, also der „Badehausgasse“. – Anm.d.Ü.
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VO M K L U B Z U M M A S S E N M E D I U M ? D A S RU S S I S C H E I N T E R N E T A L S
O RT I N T E L L E K T U E L L E R D E B AT T E N U N D P O L I T I S C H E N E N G AG E M E N T S
a n alyse
Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener
Das russische Internet hat sich in nur 10 Jahren zielstrebig vom informellen Kommunikationsmedium
kleiner intellektueller Zirkel zum weit genutzten Informationsmedium entwickelt. Wesentliche
Entwicklungsschübe sind den großen Krisen im Lande geschuldet. Noch ist das Gefälle in der Nutzung
zwischen Stadt und Land sowie zwischen den verschiedenen Bildungsschichten erheblich. Ungeachtet
der inzwischen zahlreichen direkt und indirekt vom Staat geförderten Webseiten ist das Internet auch
aus technologischen Gründen bisher das am wenigsten kontrollierbare Kommunikationsmedium des
Landes. Hier konzentriert sich die radikalste Kritik an der derzeitigen Politik der Führung Russlands,
hier werden die Tabuthemen offen diskutiert.
MODELLE UND M ETAPHERN
Geburtstag des RuNet, also des russischen
In seinen „Anmerkungen zur Geschichte des
Internets, obwohl bereits 1991 die Domain
russischen Internet“ entwickelt der Journalist
.su eingeführt worden war. Die politischen
Sergei Kuznetzow eine Typologie der Modelle,
und wirtschaftlichen Turbulenzen der ersten
mit denen das Internet in Russland beschrieben
Hälfte der 1990er Jahre führten dazu, dass eine
werden könne. Klub, Samisdat oder Archiv,
schnelle und massenhafte Implementierung
Müllhalde, Marktplatz oder Massenmedium sind
des Mediums in Russland nicht möglich war.
einige der bildlichen Umschreibungen dessen,
In der Konsequenz entwickelte sich das RuNet
was in der nüchternen Sprache der Technologie
in der Frühphase zu einer exterritorialen
als „ein weltweites Netzwerk voneinander
Enklave,
unabhängiger
Technikbegeisterter,
Netzwerke“
(Wikipedia)
bevölkert
von
einer
Handvoll
Naturwissenschaftler,
daherkommt. Die bunte Reihung dieser teilweise
Emigranten und neugieriger Kulturschaffender
inkompatiblen Interpretationsmodelle ist nicht
– im übrigen überwiegend Männer.
zufällig: Das Internet hat wie jedes „neue“
Irina Prochorowa weist in ihrem Artikel für
Medium in der Geschichte der Kommunikations-
diese Ausgabe von kultura auf die Bedeutung
technologien die Phantasie seiner NutzerInnen
des kleinen Kreises enger Freunde für die Ethik
herausgefordert.
des underground hin, die auch in den 1990er
Jahren die intellektuelle Szene präge. Hier nimmt
VIRTUELLER K LUB
Unter
den
von
gleichfalls das Modell vom ‚Klub RuNet’ seinen
Kuznetzow
genannten
Ursprung. „Tusowka“, das russische Äquivalent
Beschreibungsmodellen nimmt die Klubmetapher
zu Klub oder Clique, unterstreicht als durchaus
eine prominente und historisch bedingte Stellung
übliche
ein. Klub ist dabei nicht im Sinne der exklusiven
diesen lustvollen und hedonistischen Charakter
englischen Herrenklubs zu verstehen, die im
der Netzkultur noch zusätzlich. Kuznetzow
Hinterzimmer politische Ränke schmieden,
lässt die Atmosphäre dieser Zeit in seinen
sondern als eine zwanglose Zusammenkunft
‚Memoiren’ wieder aufleben: „wer mit wem
Gleichgesinnter, die gemeinsam diskutieren,
getrunken hat, welche Drogen die Gründerväter
experimentieren, ‚phantasieren’. Ein Moment der
konsumierten (oder nicht konsumierten), ob es
Exklusivität ist hier jedoch gleichfalls gegeben,
stimmt, dass im Top-Management des RuNet
und zwar dasjenige des technischen Zugangs.
der Männer-Striptease zu den populärsten
Im Frühjahr 1994 wurde die Domain .ru
Beschäftigungen zählte“, sind deshalb keinesfalls
registriert. Dieses Datum gilt als der offizielle
Nebensächlichkeiten, sondern geben in der Tat
Bezeichnung
der
RuNet-Pioniere
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den Geist des frühen RuNet wieder, der sich mit
diese im positiven Sinne verstandene Laien-
den Schlagworten vom virtuellen „Sex, Drugs
Kultur prägend. Ihre vielleicht erfolgreichste
and Rock’n Roll“ beschreiben ließe.
Errungenschaft ist die Bibliothek Lib.ru des
Programmierers Maxim Moschkow, die bis heute
DIE R ESSOURCE K REATIVITÄT
über ungebrochene Popularität verfügt.
Für die Webpioniere war die Entdeckung des
so genannten Cyberspace eng verbunden mit
K RISENMEDIUM
der Erfahrung von Weltoffenheit, persönlicher
Das Internet ist – wie viele der modernen
Freiheit und kreativer Selbstverwirklichung.
Kommunikationsmittel
Zentrale Bedingung für die ‚Klubzugehörigkeit‘
Krisenmedium. Seine wachsende Bedeutung
stellte die ‚Ressource Kreativität‘ dar – Phantasie,
in Russland wurde von Katastrophen begleitet.
Entdeckergeist, Neugier. Nicht von ungefähr
Den ersten nennenswerten Popularitätszuwachs
waren
Netz-Projekte
rief die Finanzkrise des Jahres 1998 hervor, als
literarischen und kulturellen Charakters, wie
allein die Online-Medien die rasante Talfahrt
beispielsweise das kollektive Reimspiel Burima
des Rubels in Echtzeit nachvollziehen konnten.
(von frz. „bout rime“, Endreim), der Internet-
Das Internet wurde gerade im Bewusstsein
Literaturwettbewerb Tenjota (Fangnetz) oder die
der
Sammlung von Witzen aus Russland Anekdot.ru.
Instrument
Scheinbar ohne Nutzen und getragen von der
nächsten Katastrophen-Schübe sind eng mit dem
Euphorie des Neuen entwickelten sich die
internationalen Terror verbunden und tragen die
Grundlagen des heutigen russischen Internet im
traurigen Namen 9/11, Nord Ost und Beslan.
‚zweckfreien‘ ästhetischen Raum.
Die wachsende wirtschaftliche und politische
Dieses Klubleben der RuNet-Pioniere hatte dabei
Bedeutung des Internet im Lande blieb auch
einen konkret benennbaren geographischen
den staatlichen Institutionen nicht verborgen.
Ursprung: eine Wohnung im Zentrum Moskaus, in
Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist der
der mittlerweile legendären Kalaschny-Gasse, wo
Staat aktiv geworden, durch Förderprogramme
der Literaturwissenschaftler und Verleger Dmitri
ebenso wie durch Kontroll- und Abhörmaßnah-
Izkowitsch ein Grüppchen von Enthusiasten und
men. Letztere sind in der Praxis bisher kaum
Phantasten um sich versammelte. Hier wurde die
eingesetzt worden, was ihrer Bedrohlichkeit in
erste russische Netzzeitschrift kulturellen Profils,
der Wahrnehmung der Netzöffentlichkeit jedoch
der „Bote der Netzkultur“ Zhurnal.ru, gegründet;
keinen Abbruch tut. Aufgrund der sich verstär-
hier wurden die ersten interaktiven Online-
kenden autoritativen Tendenzen der russischen
Interviews geführt, beispielsweise mit dem
Medienpolitik insbesondere im TV-Bereich ge-
Cyberpunk-Schriftsteller Wiktor Pelewin. Zu
wann das Internet gleichzeitig als unabhängige
den aktivsten Klubmitgliedern gehörten übrigens
Informationsquelle an Bedeutung.
die
ersten
populären
UND POLITISCHE
Wirtschaftselite
–
zu
operativer
BEDEUTUNG
wesentlich
einem
ein
wichtigen
Information.
Die
EmigrantInnen in Amerika, Israel oder Lettland
– dank der grenzüberschreitenden Funktionalität
Z AHLEN
des Internet. ‚Professionelle’ Literaten oder
Im Frühjahr 2005 waren nach Angaben der
Journalisten im Sinne etablierter Vertreter des
Stiftung für öffentliche Meinungsforschung
Berufsstandes waren hingegen kaum vertreten.
FOM 17% der russischen Bevölkerung online
Bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre blieb
(zum
UND
DATEN – RUNET 2005
Vergleich:
die
Internet-Nutzung
in
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Deutschland wird auf 55% geschätzt). Das
Denkmal der frühen Netzkultur im WWW zu
Gefälle zwischen der Metropole Moskau und den
besichtigen, überlebte in einer Reihe von höchst
russischen Regionen reproduziert sich auch im
erfolgreichen virtuellen Abspaltungen.
virtuellen Raum. Während in Moskau 44% der
Das „Laboratorium für Netzsprachkunst Se-
Bevölkerung regelmäßig online sind, variiert der
tewaja slowesnost“ publiziert zeitgenössische
Prozentsatz in den Regionen zwischen 13% und
Literatur und widmet sich dabei besonders
23%.
dem medialen Experiment. Der „Politische
Der Anteil der AkademikerInnen und gebildeten
Informationskanal Polit.ru“, ursprünglich eine
Schichten an der russischen Online-Community
Rubrik des Zhurnal.ru, ist heute ein offiziell
ist erwartungsgemäß sehr hoch, gleiches gilt
registriertes Massenmedium und bietet nach ei-
für das Einkommen der UserInnen, das weit
genen Aussagen ein „authentisches“ und „echtes
über dem Durchschnitt liegt. Die Altersstruktur
Informationsprodukt an“, das sich von den „se-
weicht tendenziell nicht von derjenigen der
kundären“ und oftmals „verlogenen“ staatlichen
westlichen Netzwerke ab, die größte Gruppe
Informationsangeboten signifikant unterscheide.
stellen die 18–24 Jährigen, gefolgt von den 30–40
Interessant ist dabei die Gesamtphilosophie der
Jährigen. Alte Menschen sind fast nicht präsent.
Ressource: Politik wird analysiert durch die
Die Zahl der weiblichen Userinnen ist hingegen
Brille der Kultur, die somit zum Maß der Dinge
– auch im Vergleich mit den westeuropäischen
avanciert. Mit einer durchschnittlichen Leser-
Netzen – hoch. Die Zugriffszahlen der großen
schaft von 30.000 UserInnen gehört die Site zu
Suchmaschinen wie Yandex.ru oder Rambler.ru
den populärsten Online-Medien. Vorsitzender
geben Aufschluss darüber, dass zwischen 30
des Direktoriums von Polit.ru ist der bereits
– 40% der NutzerInnen des RuNet im nahen
bekannte Dmitri Izkowitsch. Erweiterter Redak-
und fernen Ausland leben. Ihre geographische
tionssitz ist allerdings nicht länger die Küche sei-
Verteilung reproduziert in etwa die Struktur der
ner Privatwohnung, sondern der Klub Bilingua,
russischsprachigen Diaspora (Amerika, Kanada,
der nur ein paar Schritte entfernt in demselben
Israel, Deutschland, baltische Staaten).
Hinterhof liegt.
Das Internet ist damit lediglich ein – allerdings
DAS RUNET ALS M ASSENMEDIUM?
wichtiger – Bestandteil eines alternativen Kom-
Mit der Exklusivität des virtuellen Klublebens ist
munikationsraumes.
es damit vorbei, auch wenn eine breite Nutzung
des Mediums in allen Bevölkerungsschichten
TEUFEL
und Landesteilen noch in weiter Ferne liegt. Das
STAAT IM I NTERNET
RuNet ist auf dem Weg, zum Massenmedium zu
In den Jahren 1999–2000 entstanden weitere pro-
werden. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich
fessionelle Netzmedien, die bis heute Standards
– mit einem gewissen Maß an Vereinfachung
setzen: Lenta.ru, Gazeta.ru, Utro.ru, SMI.ru. An
– datieren. Im Jahr 1999 stellt der von Dmitri
ihrer Erfolgsgeschichte sind die RuNet-Pioniere
Izkowitsch mitbegründete „Bote der Netzkultur“,
in hohem Maße beteiligt. Der Erfolg hat jedoch
das Zhurnal.ru, sein Wirken ein. Dies ist nicht
seinen Preis: Persönliche, professionelle und po-
zuletzt eine Folge der Professionalisierung des
litische Interessen differenzieren sich und führen
russischen Netzes und des persönlichen Erfolgs
zu Konflikten.
seiner Protagonisten. Zhurnal.ru, noch heute als
Exemplarisch lässt sich die Kontroverse anhand
UND
BEELZEBUB – O LIGARCHEN
UND
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der Stiftung für effektive Politik FEP unter der
sesaal, der elektronische Kopien wichtiger Litera-
Leitung des umstrittenen Polittechnologen Gleb
tur- und Kulturzeitschriften anbietet – ein Projekt
Pawlowski illustrieren, die zahlreiche der ge-
von Vorbildcharakter, auch für die ‚westliche’
nannten Online-Medien konzipierte und dazu
(Literatur)Wissenschaft, der es nach wie vor
neben Geldern der so genannten Oligarchen
schwer fällt, das Internet als seriöses Publikati-
intensiv staatliche Finanzmittel nutzte. Seit dem
onsmedium zu akzeptieren.
Jahr 2003 sind die meisten der von FEP ins Leben
Der erst jüngst erfolgte Relaunch der Site, die
gerufenen Medien auch offiziell in staatlichen
bereits 1997 gegründet wurde, spielt ungeachtet
Besitz übergegangen. Mit einer signifikanten
der Registrierung als Massenmedium mit dem
Ausnahme: dem gerade in kulturellen Kreisen
Charme des Häuslichen und Familiären; der
besonders populären Russischen Journal, als des-
Bildschirm-Hintergrund zeigt eine altmodische
sen Chefredakteur Pawlowski bis heute figuriert.
Tapete. Das erst jüngst ins Leben gerufene,
Neben politischen Kommentaren und Kolumnen
assoziierte Projekt mit dem programmatischen
zeichnet sich die Ressource durch ihr Interesse
Titel „Russische Nächte“ ist sogar gänzlich im
für kulturelle ‚Exotika’ wie beispielsweise die
Stil der Klubs gehalten, von deren kulturellem
russische Provinzkultur aus.
und politischem Nachtleben es berichtet. Doch
Hier findet sich jedoch auch der Zeitschriftenle-
auch das gemütliche Erscheinungsbild des ‚Klub
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RuNet’ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Das Wort „GRAN’“ hat im russischen die Be-
das Web zu einem medialen Schlachtfeld der ver-
deutung von „Grenze“, „Kante“ oder „Rand“
schiedenen Interessensgruppen geworden ist; fast
und kann im übertragenen Sinne für die Viel-
scheint es so, als wolle man mit dem ästhetischen
seitigkeit der inhaltlichen Aspekte und Betrach-
Rückgriff auf alte Zeiten die Anonymität der
tungswinkel stehen. Bereits ein erster Blick auf
Masse vergessen machen. Ungeachtet der hohen
die Themenschwerpunkte des E-Journals macht
Politisierung bekennen sich jedoch nur wenige
deutlich, wie diese Metaphorik zu verstehen ist:
der als Massenmedien registrierten Ressourcen
Die journalistische Arbeit bewegt sich stark an
eindeutig zu ihrem ideologischen Anliegen und
der Grenze der in Russland aktuell gewährten
kämpfen mit derart offenem Visier, wie die von
Pressefreiheit. Das Logo der Onlinezeitung,
dem Oligarchen Boris Beresowski finanzierte
ein quadratischer Globus, visualisiert zudem die
Ressource Grani.ru, die im folgenden Porträt
Ecken und Kanten der globalen Welt, die vielfäl-
mit Interview ausführlicher dargestellt wird.
tigen Grenzen und Interessenskonflikte, die auch
Die Bedeutung der politisch gegen Wladimir
das Internet nicht zu überwinden vermag; oder
Putins Politik engagierten Magnaten für die
die es im Gegenteil sogar zu akzentuieren hilft.
Entwicklung des russischen Web wird dabei
Grani.ru ist stark an politischen Themen ausge-
sehr unterschiedlich eingeschätzt. Sehen die
richtet. Die Site enthält u.a. die Rubriken Meinun-
Einen darin eine zwar parteiische, aber dennoch
gen, Politik, Krieg, Gesellschaft, Protestaktionen,
wertvolle Konkurrenz zum staatlichen Informa-
Ereignisse, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur.
tionsangebot, wird für die Anderen der Teufel
Die Texte zeichnen sich durch schonungslose,
mit dem Beelzebub ausgetrieben. Die russischen
an Sarkasmus grenzende Darstellungen aus, die
Online-Medien werden damit unverhofft – und
dem Leser viel Hintergrundwissen abverlangen.
zum Bedauern vieler ihrer frühen Protagonisten
Die Kommentare wenden sich vom offiziellen
– von einem Ort der politischen Debatten zu
Schreibstil ab und verwenden regelmäßig Jargon,
ihrem Thema. Prekärerweise sind es dennoch
Wortspiele und Fremdwörter.
gerade die ‚Kulturträger’ des Klub RuNet, die
Das privat finanzierte Nachrichten-Projekt ist
mit ihren Talenten zu diesem Prozess beitragen.
im Dezember 2000 entstanden. Seit Juli 2005
Die Ressource Kreativität wird zum politischen
erscheint die Site in ihrem aktuellen Format.
Instrument.
Grani.ru sind als Massenmedium beim zustän-
Nicht unerwähnt bleiben darf angesichts der poli-
digen Ministerium registriert und existieren
tischen Verstrickungen der großen Sites und Mei-
ausschließlich als Onlineausgabe. Redaktionsa-
nungsführer die besondere Popularität der Weblogs
dresse ist Moskau. Neben der Direktorin Julija
(engl.: „Netztagebuch“) im russischen Internet, die
Beresowskaja (nicht mit Boris Beresowski ver-
einen halb privaten, halb öffentlichen Medienraum
wandt) und Chefredakteur Wladimir Korsunski,
schaffen. Weniger abhängig von politischem Geld
der früher als Moskauer Korrespondent für die
haben sie sich als dezentrales gesellschaftlich-poli-
Deutsche Welle tätig war, sind hier weitere zehn
tisches Diskussionsforum etabliert.
Journalisten beschäftigt, die in der Rubrik „Meinungen“ jeweils eine eigene Kolumne haben.
GRANI.RU
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Es ist kein Geheimnis, dass das Projekt Grani.ru
Nachrichtenprojektes unterstreicht. In der Jukos-
von dem aus Russland geflohenen und im Aus-
Affäre vertritt Grani.ru einen klaren Pro-Chodor-
land lebenden russischen „Oligarchen“ Boris Be-
kowski-Kurs. Das Projekt Politzeki.ru ruft zum
resowski finanziert wird. Offizielle Angaben dazu
Freispruch für Michail Chodorkowski und andere
finden sich im Impressum der Website jedoch nicht.
politische Gefangene auf.
Anfang Mai 2005 rief eine unbestätigte Meldung
Darüber hinaus initiierte Grani.ru weitere thema-
des russischen Internet-Magazins Webplaneta.ru
tische Ressourcen zu Themen der Menschenrechte
Gerüchte hervor, dass Grani.ru von dem ebenfalls
und des Terrors in Russland, die als separate
in Ungnade gefallenen und in Israel lebenden Oli-
Websites im Internet aufrufbar sind.
garchen Leonid Newslin aufgekauft worden sei.
Eine von der MASMI Research Group durchge-
Newslin, ein Mitstreiter Michail Chodorkowskis,
führte Online-Umfrage liefert das Profil eines
der u.a. auch den Kauf der Onlinezeitung Lenta.ru
typischen Grani.ru-Lesers. 83% der Leser sind
plane, wolle damit eine Informationsfront gegen
männlich. Die meisten Besucher der Site haben
Wladimir Putin bei den Präsidentschaftswahlen
eine abgeschlossene Hochschulausbildung und
2008 aufbauen. Der viel diskutierte Besitzerwechsel
verdienen über 800 US-Dollar im Monat. Mehr
wird von den betroffenen Seiten bestritten.
als ein Drittel aller Besucher kommt aus Moskau,
In der Tat beschäftigt sich die Site Grani.ru mit
jeder Vierte lebt außerhalb Russlands. 60% der
Vorliebe mit den heiklen Themen der russischen
Leser schätzen die Redaktion für ihre politische
Innenpolitik, was den oppositionellen Charakter des
Ausrichtung. Grani.ru pflegt ein breites Netz-
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werk, was vermuten lässt, dass die Zielsetzungen
Georg Butwilowski, Mitarbeiter des Projekts
über die Festigung der eigenen Markt-Position
Russian-cyberspace.org am Institut für Soziolo-
hinaus auf die Bildung eines alternativen Me-
gie der Universität Münster, studiert Ostslawis-
dienraums abzielen.
tik, Westslawistik und Politikwissenschaft mit
den Schwerpunkten Literaturwissenschaft und
DIE AUTORINNEN:
Internationale Politik.
Henrike Schmidt, Leiterin des Projekts Russiancyberspace.org am Lotman-Institut für russische
und sowjetische Kultur der Ruhr-Universität Bochum, widmet sich schwerpunktmäßig zeitgenös-
WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND LINKS:
sischer russischer Kultur und Literatur, insbeson-
•
dere moderner Lyrik und russischer Internetkultur.
Brunmeier, Viktoria (2005): Das Internet
in Russland. Eine Untersuchung zum spannungsreichen Verhältnis von Politik und
Katy Teubener, Leiterin des Projekts Russiancyberspace.org am Institut für Soziologie der
•
Kuznecov, Sergej (2004): Oščupyvaja slona
Universität Münster, beschäftigt sich neben
[Zametki po istorii russkogo Interneta],
Fragestellungen zum Strukturwandel der Öf-
Moskva.
fentlichkeit durch Neue Medien mit innovativen
•
Russian-cyberspace.org (Forschungsprojekt
Formen computergestützter Kommunikation und
zur kulturellen Identitätsbildung im russi-
Kooperation in nationaler sowie internationaler
schen Internet): URL: http://www.russian-
Forschung und Lehre.
cyberspace.org
R U S S I A N - C Y B E R S PAC E . O RG
i nt e r v iew
Runet, München.
I N T E RV I E W T
G R A N I . RU
Interviewpartner: Nikolai Rudenski, stellvertretender Herausgeber und stellvertretender Chefredakteur
Das Gespräch wurde zwischen April und September 2005 in Moskau geführt. Die Fragen stellten Julia
Heckmann, Jekaterina Kratasjuk, Katy Teubener und Henrike Schmidt.
Die vollständige Fassung des Interviews in russischer Sprache ist auf der Homepage von Russiancyberspace.org, einem Forschungsprojekt zur kulturellen Identitätsbildung im russischen Internet
(gefördert von der VolkswagenStiftung), veröffentlicht .
Russian-cyberspace.org: Herr Rudenski, können Sie uns kurz das Profil von Grani.ru skizzieren, unter
Berücksichtigung der Spezifik der russischen Medienlandschaft?
Grani.ru ist eine Onlinezeitung, die seit über vier Jahren besteht. Gemessen am Internet-Standard ist das eine
lange Zeit. Das Internet in Russland ist noch nicht wirtschaftlich „lebensfähig“, dennoch ist es in manchen Bereichen wie den unabhängigen elektronischen Medien sehr fortschrittlich.
Das Internet in Russland ist bisher frei von staatlicher Einmischung. Das Fernsehen hingegen steht direkt unter
der effektiven Kontrolle der Regierung. Die Printmedien sind gleichfalls nur zum Teil frei – der Regierungseinfluss ist auch hier sichtbar. Das Radio bietet immer wieder objektive Berichterstattung, doch ist es bei weitem
nicht mehr ein so erfolgreiches Medium wie zu Sowjet-Zeiten. Der Reklameslogan für das russische Internet
ließe sich wohl so formulieren: „Wahrheit, die Sie nicht im Fernsehen finden“ („truth you never find on TV“).
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Woher nehmen Sie Ihren Optimismus hinsichtlich der Freiheit des Internet von Zensur?
„It‘s hard to make predictions – especially about the future“. Vor einem Jahr vermutete man, dass der
Druck auf die Medien in Russland wachsen würde, im Zuge der verstärkten autoritativen Tendenzen.
Doch seitdem ist die wachsende Instabilität der undemokratischen Regime im postsowjetischen Raum
offenbar geworden. Die Popularität des russischen Präsidenten ist gleichfalls nicht so stabil wie noch
vor einigen Jahren, das steht fest. In der Konsequenz ist sowohl eine Verschärfung des Drucks möglich
als auch seine Abschwächung im Rahmen von mehr Demokratie und Meinungsfreiheit. Bezüglich des
Internet selbst gibt es bisher keinen oder fast keinen Druck vom Staat. Die politische Führung beschäftigt sich viel mehr mit dem Fernsehen als einem effektiveren Massen- und Propagandamedium. Darüber
hinaus ist die Technologie des Internet so angelegt, dass es gar nicht so leicht ist, die Online-Medien zu
regulieren – juristisch wie technisch.
Wie erklärt sich die spezifische thematische Ausrichtung Ihrer Ressource, die beispielsweise dem Thema
„Krieg“ eine eigene Rubrik widmet?
Der Krieg in Tschetschenien war, ist und bleibt ein Hauptinteresse von Grani.ru. Diese Rubrik wird
inhaltlich betreut von einem ehemaligen Offizier, der heute als Militärjournalist tätig ist. Aber nicht nur
der Krieg in Tschetschenien ist unser Thema, sondern die militärische Thematik im Allgemeinen. Das
sind solche schwierigen Fragen wie Wehrpflicht, Korruption und Gewalt in der Armee, internationaler
Waffenhandel usw.
Welches ist die Zielgruppe von Grani.ru?
Heute können es sich immer mehr Menschen in Russland leisten online zu sein, sodass die Online-Medien weniger elitär werden und einen „massenhafteren“ Charakter annehmen. Zu beobachten ist ein erhöhtes Interesse am Internet als Informationsquelle. Dies kann an einem konkreten Ereignis festgemacht
werden: dem 11. September, als sich die Zahl derjenigen, die schnelle Informationen im Netz suchten,
verzehnfachte. Zu Beginn unserer Arbeit verzeichnete Grani.ru ca. 5.000–6.000 Zugriffe pro Tag. Heute sind 20.000 gerade einmal „OK“, 40.000 exzellent.
Als Ressource mit einer offen artikulierten gesellschaftlich-politischen Position gehen wir davon aus,
dass das Publikum von Grani.ru grundsätzlich unsere Weltanschauung teilt. Allerdings wissen wir, dass
uns auch unsere Opponenten lesen.
Sie nutzen die Interaktivität des Mediums wenig, um mit Ihrer Leserschaft in Kontakt zu treten. Warum?
Unsere Seite besaß einmal ein Forum. Dieses mussten wir jedoch nach einiger Zeit aufgegeben, da
zunehmend extremistische, nationalistische, anti-westliche und anti-semitische Äußerungen das Forum
okkupierten. Aber vielleicht starten wir irgendwann einen neuen Versuch, ein Forum einzurichten.
Wie kommt es, dass Grani.ru derartige Reaktionen provoziert?
Zum Teil liegt dies am Image unseres Sponsors Boris Beresowski, der von vielen als die Verkörperung des „universellen Bösen“ gesehen wird. Das ist besonders für Menschen mit einer anti-liberalen
Denkweise und antisemitischen Vorurteilen der Fall, von denen es leider nicht wenige gibt. Leider zeigt
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unsere Erfahrung, dass gerade diese Personen einen starken Hang zu ausführlichen Kommentaren im
interaktiven Raum haben.
Würden Sie sagen, dass Grani.ru unabhängige Information anbietet – im Sinne von oppositionellen
Ansichten?
Grundsätzlich gesehen gibt es keine staatliche und keine oppositionelle Information, sondern Information ist entweder objektiv oder verzerrt. Die Presse muss ihre professionelle Pflicht erfüllen und die
Gesellschaft informieren, verschiedene Sichtweisen aufzeigen. Leider ist die Mediengemeinschaft in
Russland selbst viel zu empfänglich für Druck von Seiten des Staates, sie hat nicht genug Standfestigkeit
und Unabhängigkeit bewiesen. In dieser Hinsicht hat der Fall NTV – eines sehr einflussreichen Fernsehsenders, der das erste Opfer der staatlichen Verfolgung direkt nach dem Machtantritt von Wladimir
Putin wurde – eine sehr negative Rolle gespielt. NTV war ein erfolgreiches, auffälliges Projekt, und
viele Kollegen mochten es nicht, aus den verschiedensten Gründen, oft aus Neid. Als der Staat mit all
seiner Macht auf NTV einschlug, da haben kaum Journalisten den Sender unterstützt. Und danach entwickelte sich die instinktive Furcht vor Unannehmlichkeiten, wie zu Sowjetzeiten. Daher rührt auch das
vorsichtige Verhalten, das heute den Großteil der russischen Medien kennzeichnet.
Fühlt sich Grani.ru in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt?
Nein. Hier muss man Putin Gerechtigkeit widerfahren lassen – uns hat er bisher nicht verfolgt. Der
Grund dafür ist jedoch wahrscheinlich, dass wir sehr klein sind – im Gegensatz zu NTV oder sogar dem
kleineren Ren-TV. Aber alles kann sich ändern.
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