Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener
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Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener
1/20 05 OKTOBER NEUE R ÄUME INTELLEKTUELLEN UND KULTURELLEN LEBENS IN RUSSLAND ed it or ials Das Projekt kultura Wolfgang Eichwede / Isabelle de Keghel / Hartmute Trepper 2 a n alyse Die Erben des underground oder: Worauf sich die russische Kultur stützt Irina Prochorowa (Moskau) 3 sk i z ze Neue „Moskauer Küche“ oder das System OGI Dmitri Izkowitsch (Moskau) 8 a n alyse Vom Klub zum Massenmedium? Das russische Internet als Ort intellektueller Debatten und politischen Engagements Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener (Bochum-Münster) 10 i nt e r v iew Russian-cyberspace.org interviewt Grani.ru 16 kultura. Russland-Kulturanalysen Herausgeber: Prof. Wolfgang Eichwede, Direktor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Redaktion: Dr. Isabelle de Keghel, Hartmute Trepper M.A. Technische Redaktion: Matthias Neumann Die Meinungen, die in den Russland-Kulturanalysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der AutorInnen wieder. Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet. © 2005 by Forschungsstelle Osteuropa, Bremen Forschungsstelle Osteuropa | Publikationsreferat | Klagenfurter Str. 3 | 28359 Bremen fon +49 421 218-3302 oder -3257 | fax 49 421 218-3269 eMail: [email protected] | internet: www.forschungsstelle-osteuropa.de 1 OKTOBER 1/20 05 D A S P RO J E K T k ult u ra ed it or ials P ROF. WOLFGANG EICHWEDE (H ERAUSGEBER) einzelnen Ausgaben von kultura ziehen werden: Selten zuvor haben wir von Russlands Kultur Fragen nach neuen Räumen intellektuellen und so wenig gewusst wie in diesen Jahren, kaum kulturellen Lebens, nach neuen Öffentlichkeits- jemals das Land so wenig mit den Namen von formen und Institutionen, nach dem Wandel von Autoren und Künstlern verbunden. Früher, in Normen, Werten und Symbolen, nach neuen Vor- sowjetischer Zeit, wurde die Kultur oft genug bildern der Lebensgestaltung. als Gegengewicht zur Politik wahrgenommen, Diese erste Ausgabe von kultura gibt zwei als das „Andere“, das faszinierte. Pasternak und Antworten auf die Frage, wo heute in Russland Solschenizyn waren in unseren Medien präsent, intellektuelles Leben pulsiert, wo Ideen und Mei- „Doktor Schiwago“ ein Bestseller. Russlands nungen konfrontiert werden und Gleichgesinnte Bild in der Gegenwart wird durch politische sich zusammenfinden können. In den Moskauer Inszenierungen, durch Pipelines und Oligarchen intellektuellen Klubs sehen die AutorInnen der geprägt. Das Land ist längst nicht mehr im freien ersten Beiträge eine Art öffentliche Variante der Fall, doch trägt die Stabilisierung autoritäre Züge legendären Moskauer Küchen der Sowjetzeit, wo in sich. unzensiert diskutiert wurde, was in der kontrol- Politik und Wirtschaft bestimmen die öffentliche lierten Öffentlichkeit tabuisiert war. Klubatmo- Wahrnehmung des Landes. Die Russland-Kultur- sphäre charakterisierte auch die Anfänge des analysen wollen hier eine Korrektur. Einerseits Internet in Russland. Heute hat dieses Medium gehen sie in den Alltag der Kultur und fragen, das Potenzial, zwischen den entfernten Winkeln wie sich das Land über sich selbst verständigt, des Landes die kulturellen Verbindungen wieder andererseits wollen sie Alternativen aufdecken, herzustellen, die mit dem Ende des zentralisier- den Blick auf Unerwartetes lenken. Ihr Ziel ist es, ten Systems von Kulturorganisationen und Me- der Kultur in unserem Bild von Russland wieder dien schwierig geworden waren. Die derzeitige den Stellenwert zu geben, den sie einst hatte. Der weitgehende Freiheit von staatlicher Kontrolle Nachbar im Osten ist ein großer Kontinent, der macht das Internet zum bevorzugten Medium für in seinem Eigensinn und seinen verschlungenen politische und weltanschauliche Debatten und Wegen immer neu entdeckt werden will. Plattformen. ISABELLE DE K EGHEL , H ARTMUTE TREPPER (R EDAKTION) ZUR ERSCHEINUNGSWEISE kultura berichtet über kulturelle Trends und kultura wird 1x monatlich kostenlos im pdf- öffentliche Diskurse in Russland, über die Ent- Format per eMail versandt und kann abonniert wicklung einzelner Kulturgattungen und der Me- werden, wahlweise in deutscher und engli- dien, über den Kulturbetrieb im Spannungsfeld scher Sprache. Außerdem kann sie auf der zwischen staatlicher Einflussnahme und Autono- Homepage Forschungsstelle Osteuropa mie. Der Begriff „Kultur“ wird weit gefasst, das www.forschungsstelle-osteuropa.de angewählt Untersuchungsfeld reicht von der Hoch- bis zur werden. Alltagskultur. Eine Ausgabe von kultura enthält in der Regel Die Themenauswahl für das erste Jahr folgt zwei Analysen und 2 ihnen zugeordnete kürzere einer Reihe von Leitfragen, die sich durch die Artikel. der 2 OKTOBER 1/20 05 D I E E R B E N D E S U N D E RG RO U N D O D E R : WO R AU F S I C H D I E K U LT U R I N R U S S L A N D S T Ü T Z T. A U F Z E I C H N U N G E N E I N E R A U G E N Z E U G I N a n alyse Irina Prochorowa Das kulturelle Leben in Russland ist traditionell stark von einzelnen Personen und von informellen Strukturen bestimmt. Die spezifische Kulturlandschaft der 1990er Jahre hatte ihre Ursprünge im underground der späten Sowjetzeit. Das Spektrum der neu gegründeten Institutionen reicht von NGOs über Verlage und Buchläden bis hin zu Webseiten. Ab 1998 kam es im Zuge restaurativer Tendenzen in der Politik auch im kulturellen Bereich zu Rückschlägen. Seit Ende der 1990er Jahre lassen sich Verschiebungen des kulturellen Lebens beobachten, wobei multimedial agierende Kulturinstitutionen, Lifestyle-Zeitschriften und Klubs neue Akzente setzen. Anfang der 1990er Jahre rief ein deutscher Kol- ground, den man auch als russische Nachkriegs- lege aus dem Goethe-Institut, der sich in Moskau avantgarde bezeichnen kann, zwischen dem um kulturelle Kontakte bemühte, einmal zornig Ende der 1950er und dem Ende der 1980er Jahre. aus: „Es ist unmöglich, in Russland zu arbeiten: Dieses einzigartige Phänomen wird gewöhnlich so viele brillante Persönlichkeiten – und über- unter dem Gesichtspunkt einer ideologischen haupt keine Institutionen!“ Ohne es zu beabsich- Opposition gegen den sowjetischen Totalitaris- tigen, ist er damit dem Verständnis einer Beson- mus betrachtet, wobei besonders Dissens und derheit des gesellschaftlichen Lebens in Russland Samisdat in den Blick genommen werden. Leider sehr nahe gekommen. Genauer gesagt besteht wird der underground aber kaum als ein alter- diese Eigentümlichkeit nicht so sehr im Fehlen natives soziales Universum erforscht, das seine von Institutionen überhaupt als in einem Miss- eigenen Künstlervereinigungen und -zirkel, seine verhältnis zwischen diesen und den Zwecken, zu eigenen Meinungsmacher und ästhetischen Maß- denen sie gegründet wurden. Die äußere, schein- stäbe, seine eigenen Presseorgane, ein effektives bare Ähnlichkeit der staatlichen bürokratischen System der Verbreitung politischer und künst- Strukturen mit ihren westeuropäischen Pendants lerischer Publikationen, einen Literaturpreis, führt nicht nur Ausländer immer wieder in die eigene Auslandskontakte sowie ein eigenes Ge- Irre, sondern auch die Menschen in Russland. sellschaftsleben mit den dazugehörigen Ritualen hatte. Dabei wurzeln viele charakteristische Züge DIE TRADITION INFORMELLER STRUKTUREN IM RUSSISCHEN KULTURLEBEN Wichtigstes Ergebnis dieser Deformation war je- des intellektuellen und künstlerischen Lebens im heutigen Russland eben in der Tradition des underground. denfalls eine spontane Entwicklung informeller, paralleler Strukturen soziokulturellen Lebens, DIE ERBEN die in der Öffentlichkeit gewöhnlich wenig Be- Interessanterweise entwickelten sich Ende der achtung finden und sich Außenstehenden schwer 1980er Jahre diejenigen Bereiche des kulturellen erschließen. Lebens am schnellsten, die bereits durch den un- Eines der bekanntesten Beispiele dieser seltsa- derground erschlossen waren und in denen sich men kulturellen Doppelwelt ist die russische folglich die bedeutendsten intellektuellen und Literatur als gesellschaftliche Institution. Lange personellen Ressourcen konzentrierten. In erster Zeit erfüllte sie in erhöhtem Maße politische und Linie handelt es sich dabei um die Menschen- soziale Aufgaben, worunter oft ihre eigentliche rechtsorganisationen und andere Vereinigungen, ästhetische Funktion litt. Ein weiteres Beispiel die Anfang der 1990er Jahre ihre Blütezeit erleb- ist die Entstehung eines russländischen under- ten; zu besonderer Bekanntheit gelangte die Ge- DES UNDERGROUND 3 OKTOBER a n alyse 1/20 05 sellschaft Memorial, die sich mit der Geschichte Diese neue informelle Zunft erweiterte sich der politischen Repressionen in der Sowjetunion alsbald um zahlreiche private Kunstgalerien, auseinandersetzt. später um Dichterclubs, gefolgt von einem In- Ein weiteres Beispiel ist der verlegerische Boom, ternet-Boom, der unzählige „virtuelle Projekte“ das Aufblühen neuer anspruchsvoller Zeitschrif- ins Leben rief, unter denen Anfang der 1990er ten und eines auf kulturelle Themen ausgerich- zweifellos die Bibliothek von Maxim Moschkow teten Verlagswesens. Angesichts des totalen und die Poesie-Webseite Wawilon (Babylon) des Wirtschaftschaos und der Handlungsunfähigkeit jungen Dichters Dmitri Kusmin die wichtigsten staatlicher Institutionen entstand der Markt für waren. hochgeistige Literatur buchstäblich aus dem Nichts. Ein paar Dutzend neuer unabhängiger KULTUR Verlage, die auf hochklassige geisteswissen- Natürlich hätten diese institutionell fragilen schaftliche Literatur und Belletristik spezialisiert Initiativen kaum den wirtschaftlichen Erschüt- sind, haben bedeutende intellektuelle Marken- terungen standhalten können, denen die Gesell- zeichen geschaffen und die Kulturlandschaft schaft Russlands während der gesamten 1990er radikal restrukturiert. So hat etwa der Verlag Jahre regelmäßig ausgesetzt war, wenn um sie Nowoje Literaturnoje Obosrenije (Neue Litera- herum nicht kontinuierlich größere und stabilere turrundschau, kurz NLO) die führenden Köpfe gesellschaftliche Institutionen entstanden wären, im Bereich der slawistischen Forschung um sich die die intellektuellen Projekte unterstützten und geschart; der Verlag Nesavissimaja gaseta (Un- somit ihr Überleben sicherten. Zum ersten wäre abhängige Zeitung) hat sich in der kulturellen Es- hier die stürmische Entwicklung der Massenme- sayistik einen Namen gemacht; Text spezialisiert dien Anfang der 1990er Jahre zu nennen, unter sich auf ausländische Belletristik; Aletheia hat deren Mitarbeitern sich auch viele Intellektuelle den Markt für Werke der Antike monopolisiert; aus dem undergroundmilieu fanden. Dies trug Slovo (Das Wort) veröffentlicht Kunstbildbände; dazu bei, dass private Initiativen, die bis dahin ad marginem hat das Land mit französischen vor allem vom Enthusiasmus ihrer Gründer ge- Philosophen der Postmoderne überschwemmt. lebt hatten, hohe gesellschaftliche Anerkennung Gleichzeitig mit dem Aufschwung des Verlags- und Bekanntheit erlangten. Zum zweiten kamen wesens sind auch sogenannte intellektuelle Buch- ausländische Stiftungen nach Russland, die die läden entstanden, wo man die besten Zeitschrif- Entstehung eines neuen kulturellen Establish- ten und Bücher des neuen Russlands einsehen ments förderten. Vor allem die Soros-Stiftung und kaufen kann. Den Anfang machte der Dich- wurde für die gesamte intellektuelle Gemein- ter und Übersetzer Mark Frejdkin, der im Herbst schaft zu einem wahren Wohltäter. 1992 in einem kleinen Holzbau einen Buchladen Zur selben Zeit vollzog sich in der Schulbildung mit dem symbolischen Namen „19. Oktober“ eine stille Revolution. In den großen Städten 1 IN DEN 1990 ER JAHREN: NEUE I MPULSE eröffnete . Diese für einen engen Kreis von entstanden zahlreiche Lyzeen, Gymnasien sowie Gleichgesinnten stehende Metapher, die für die spezialisierte Schulen, jeweils mit hohem Niveau, Ethik des underground so charakteristisch ist, einem erweiterten Angebot an Fächern und ex- bestimmte auch den Verhaltens- und Arbeitsstil perimentellen Unterrichtsmethoden. Auch in der der Intellektuellen in den 1990er Jahren und Hochschulbildung fanden positive Veränderungen bleibt bis heute in vielerlei Hinsicht gültig. statt. Es entstanden nichtstaatliche Universitäten 1 Am 19. Oktober trafen sich traditionell die ehemaligen Schüler Lyzeums von Zarskoje selo, zu denen auch Alexander Puschkin gehörte; er widmete seinen Freunden aus dem Lyzeum eine ganze Reihe von Gedichten. 4 1/20 05 OKTOBER a n alyse sowie einzigartige private Einrichtungen, etwa Verschlechterung des Zustands von Bibliotheken die Moskauer Schule für politische Studien unter und Archiven, die Einschränkung des Zugangs Leitung der Philosophin Jelena Nemirowskaja, die zu Informationen, die Vertreibung des bekannten vom britischen Soziologen Teodor Shanin gegrün- Soziologen Juri Lewada aus seinem Allrusslän- dete Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschafts- dischen Zentrum für Meinungsforschung, der wissenschaften oder die Europäische Universität wachsende steuerliche Druck auf die Verlage in St. Petersburg. und schließlich die gescheiterte Modernisierung Im staatlichen Hochschulsystem gab es ebenfalls des Hochschulsystems. Aufschlussreich ist das Fortschritte, verkörpert durch die Hochschule Schicksal der RGGU; dort triumphierte das so- für Wirtschaft und die Russländische Staatliche wjetische akademische Establishment am Ende Universität für Geisteswissenschaften (RGGU). über alle Versuche, neue Fakultäten und Unter- Eine revolutionäre Welle brachte Reformer und richtsgrundsätze in das alte System einzubauen. Verwaltungsmodernisierer in die staatliche Bürokratie, und gegen Ende des Jahrzehnts kam EIN NEUES KULTURELLES PARALLELUNIVERSUM die Hoffnung auf, diese verschiedenen Ströme ENTSTEHT kreativer Energie könnten sich vereinigen, um Um zu überleben, musste sich das gesamte Sys- ein neues, leistungsfähiges System von Kultur tem kultureller Initiativen neu strukturieren. Der und Bildung zu schaffen. Gemeinschaft der Intellektuellen ist dies gelungen, und zwar auf ziemlich interessante Weise. RÜCKSCHLÄGE Zuallererst erlebte gegen Ende der 1990er Jah- Diese Hoffnungen waren jedoch zum Scheitern re das Internet eine neue Blüte. Die rührenden verurteilt. Die Wirtschaftskrise von 1998 provo- Eigenbau-Webseiten zierte einen Wechsel der politischen Prioritäten Gründerzeit der elektronischen Massenmedien und eine Ablösung der politischen Elite; zudem wichen bedeutenden virtuellen Zeitschriften zu setzte eine partielle Resowjetisierung ein. Die sozialen und künstlerischen Themen, die seitdem ideologische Restauration äußerte sich in erster den eigentlichen Mittelpunkt politischer Aus- Linie in einer konsequenten Offensive gegen die einandersetzungen und literarischer Debatten gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen, bilden, allen voran Polit.ru, Russkij zhurnal (Das die gerade erst entstanden waren. Es wurde ver- russische Journal), Grani.ru [siehe das Interview sucht, alle meinungswirksamen Mittel erneut in mit Nikolaj Rudenskij in dieser Ausgabe] und staatlichen Händen zu vereinen. Gazeta.ru (Die Zeitung). Verschiedene bedauerliche Prozesse brachten frei Gleichzeitig begannen sich die unabhängigen denkende Intellektuelle in eine äußerst schwieri- kulturellen Institutionen in multifunktionale ge Lage: die Zerschlagung des regierungskriti- intellektuelle Multimedia-Korporationen umzu- schen Senders NTW und die faktische Wieder- wandeln. Zum Beispiel führt das unabhängige verstaatlichung des Fernsehens, das Erlöschen Messeunternehmen Expo-Park, das mit einer öffentlicher Diskussionen und der Fortgang Ausstellung antiquarischer Kunstwerke (dem führender Journalisten aus den Printmedien, die Russländischen Antiquitätensalon) begann, ge- Schließung der Soros-Stiftung und der Untergang genwärtig alljährlich 14 spezialisierte Ausstellun- des Chodorkowski-Imperiums, die zunehmende gen durch, unter anderem eine Architektur- und Kontrolle von Schulbuchinhalten, die radikale Designschau (Arch-Moskwa), eine Ausstellung aus der heldenhaften 5 OKTOBER a n alyse 1/20 05 von Gegenwartskunst (Art-Moskwa) sowie eine „Gegenwartskunst in traditionellen Museen“ und Messe für Produktdesign und Werbung. 1998 eine Kunstbuchreihe. initiierte Expo-Park als Alternative zur großen Moskauer Buchmesse eine jährliche internationale KULTUR Buchmesse, auf der alle Verleger anspruchsvoller Gleichzeitig zeichnete sich ein ungeahnter Auf- Literatur vereinigt sind. Das 1994 gegründete schwung des „Glamour“-Journalismus sowie der Theaterfestival Solotaja maska (Die goldene Freizeit- und Unterhaltungsindustrie ab. Es mag Maske) hat sich zu einer mächtigen Institution seltsam anmuten, aber auch diese Phänomene entwickelt, die Gastspiele in der Provinz, Meis- stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit terklassen, Workshops, Theaterausstellungen und der Neustrukturierung der Kulturlandschaft in Pressekonferenzen durchführt, einen jährlichen Russland. Viele professionelle Journalisten, die Theaterpreis in einer Vielzahl von Sparten vergibt gezwungen waren, die im Niedergang befindli- und als eigenständiger Verlag fungiert. che gesellschaftspolitisch orientierte Presse zu Um die erste unabhängige, 1992 gegründete verlassen, fanden in Hochglanzzeitschriften Un- Neue terschlupf, wodurch das Niveau dieser Publikati- Literaturrundschau (NLO) entstand der gleich- onen merklich stieg. Ein Vergleich der russischen namige der Ausgaben von Vogue, Men’s Health, Elle, Madame jährlich zwei internationale wissenschaftliche Figaro, Esquire und anderen mit ihren westlichen Konferenzen durchführt und 1998 eine zweite Vorbildern zeigt, wie viel häufiger, niveauvoller Zeitschrift gründete: Neprikosnovennyj Sapas. und interessanter in den russischen Versionen Debaty o politike i kulture (Die Eiserne Ration: kulturelle Themen verhandelt werden und was für Debatten über Politik und Kultur, kurz NZ). Im ausgezeichnete Rezensionsteile sie haben. Jahr 2002 entstand die Fernsehversion NZ na Es entsteht der Eindruck, dass sich in der Zeit der TV (NZ im Fernsehen). Die zahlreichen wissen- Stagnation des sozialen und politischen Denkens schaftlichen, künstlerischen und gesellschaftspo- und des Fehlens einer klaren staatlichen Ideologie litischen Veranstaltungen, die NLO durchführt, wider Erwarten nicht die Literatur, sondern die machen aus dem Verlag praktisch eine Art „freier Hochglanzzeitschriften der Propagierung eines Universität“. zeitgemäßen Lebensstils verschrieben haben. Die St. Petersburger Stiftung für Kultur und Kunst Interessanterweise zeigt ein Vergleich der in mo- Pro Arte, die zur Erforschung künstlerischer Phä- dischen Zeitschriften behandelten Themen mit nomene des 20. Jahrhunderts gegründet wurde den tonangebenden Tendenzen der kultur- und und von ausländischen Kulturstiftungen sowie geisteswissenschaftlichen Forschung, dass diese vom Museum der Geschichte St. Petersburgs un- sich thematisch überlappen. Die akademischen terstützt wird, ist an unzähligen kulturellen Veran- Disziplinen erforschen Mode, Speisen, Getränke, staltungen federführend beteiligt. Hierzu gehören Alltagsgegenstände, Sport, städtische Milieus beispielsweise ein Ausbildungsprogramm für Kul- sowie die Luxus- und Unterhaltungsindustrie als turjournalisten, ein Fortbildungsprogramm für kulturelle Phänomene und bedeutende Triebkräfte junge Künstler, Vorlesungen über Gegenwartsar- von Zivilisationsprozessen. chitektur, ein Wettbewerb für Interpreten und Es verwundert daher nicht, dass sich in der letz- Komponisten aktueller Musik (Die Pythischen ten Zeit immer häufiger intellektuelle Veranstal- Spiele), ein alljährliches Festival mit dem Titel tungen wie Buchpräsentationen, Konferenzen, literaturwissenschaftliche Zeitschrift geisteswissenschaftliche Verlag, UND LIFESTYLE 6 OKTOBER a n alyse Preisverleihungen, Diskussionsveranstaltungen, 1/20 05 ren und in dem verschiedene ästhetische Richtungen künstlerische Aktionen auf Bühnen, in Kinosäle, friedlich koexistieren. Kaffeehäuser und Nachtclubs verlagern. Dieser Das Interessanteste an diesem Projekt besteht darin, Hang zu informeller Umgebung hat im Übrigen dass seine Urheber klassische Prinzipien des künst- auch kulturelle Wurzeln, denn in eben solch einer lerischen Lebens im underground reproduziert und Atmosphäre lebte und wirkte der russische kulturel- im öffentlichen Bewusstsein verankert haben. Sie le underground – mehr noch, der Alltag in seiner schufen im Geiste eines Ilja Kabakow eine totale In- sowjetischen Ausprägung war Nährboden und Ma- stallation der berühmten Moskauer und Petersburger terial für seine Werke. Küchen mit ihren langen Nächten und der unaufhörlichen Flut von Gästen. An solchen Abenden ließen DIE MOSKAUER K LUBSZENE die Beteiligten ihren Gefühlen freien Lauf. Hier Besondere Aufmerksamkeit verdient der Restaurant- wurden im Kreis von Gleichgesinnten wichtigste Boom vom Ende der 1990er Jahre, als in den großen politische und kulturelle Probleme erörtert, Gedichte Städten praktisch über Nacht ein Netz von Cafés, und verbotene Prosa vorgelesen und stolz gerade erst Imbissen, Bistros, preiswerten Restaurants, Bier- und erschaffene Meisterwerke vorgeführt, wobei aus Teestuben sowie Kaffeehäusern entstand. Einige dem Publikum Rufe wie „Alter, du bist ein Genie!“ dieser Cafés und Klubs wurden eigens als neue Räu- zu hören waren. Nicht ohne Grund sitzen heute in me für intellektuelle Aktivitäten gegründet. Daher den OGI-Klubs Veteranen der Nachkriegsavantgar- bieten viele von ihnen eigene, sorgfältig ausgearbei- de und ihre erwachsenen Kinder ganz ungezwungen tete Veranstaltungsprogramme an, die per e-mail an nebeneinander. Stammgäste und Kunstliebhaber verschickt werden. Anders gesagt: In den 2000ern besann sich die neue Einen besonderen Platz nimmt das sogenannte russländische Kultur als Antwort auf die versuchte „Projekt OGI“ ein. Ende der 1990er Jahre schufen Wiederherstellung einer Machtvertikale auf die insti- drei junge Intellektuelle – Dmitri Izkowitsch, Dmitri tutionelle Tradition des underground und schuf prak- Borisow und Alexander Kabanow – in Moskau eine tisch ein alternatives infrastrukturelles Universum. einzigartige kulturelle Plattform, indem sie einen Während regimetreue Ideologen hektisch nach einer Verlag (OGI: Verlag für Gesellschafts- und Geistes- nationalen Idee suchen und die ratlose Bürokratie mit wissenschaften; www.ogi.ru), die Net-Zeitung Geistigkeit und Machtstaatlichkeit beschäftigt ist, Polit.ru, einen Poesieklub, eine Kunstgalerie, ein arbeiten Intellektuelle auf der Grundlage einer neuen Forum für politische Diskussionen, einen 24 Stun- Alltagskultur beharrlich an einer Modernisierung den am Tag geöffneten Buchladen und ein ebenfalls des Bewusstseins weiter und setzen sich für einen rund um die Uhr funktionierendes Café miteinan- neuen Lebensstil ein. der verbanden. Dieses eigentümliche synthetische Gebilde erwies sich als außerordentlich erfolgreich Aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch und populär; es wurde in den letzten Jahren zum Mittelpunkt des Moskauer Kulturlebens der jungen Generation, wurde vielfach nachgeahmt und geklont. ÜBER DIE AUTORIN Im Grunde genommen hatte man damit ein neues Irina Prochorowa leitet die literatur- und kulturwis- Funktionsmodell für die zeitgenössische städtische senschaftliche Fachzeitschrift „Neue Literaturrund- Kultur gefunden, in dem verschiedene Spielarten schau“ (NLO) und den gleichnamigen Verlag in intellektueller Kreativität in einem Raum interagie- Moskau. 7 OKTOBER N E U E „ M O S K AU E R K Ü C H E “ O D E R DA S 1/20 05 S Y S T E M OGI Dmitri Izkowitsch sk i z ze Das Moskauer Klub-„Projekt OGI“, wie es Ende komplexeren Wahrnehmung eben dieser Wirk- der 1990er Jahre entstand, knüpft weniger an die lichkeit vor. Das ist im derzeitigen intellektuellen vornehmen englischen Clubs an als an die Tra- Klima in Russland durchaus nichts Banales und dition gesellschaftlich-kollektiven Handelns in wichtiger Teil der Konzeption. Die öffentlichen privater Form – an die berühmten Küchentreffen Vorlesungen finden jeden Donnerstag um 19 Uhr der städtischen Intelligenzija in der Sowjetunion statt, zwischen Muße und Geschäft, zwischen der 1970er Jahre. Kann aber eine Einrichtung, in Arbeit und Freizeit. der das Geld zu 70% mit gediegenem „Essen und Mindestens zweimal in der Woche werden Bü- Trinken“ verdient wird, sich dennoch vorrangig cher vorgestellt, entweder abends im Stil der als Ort aktiven zivilgesellschaftlichen Engage- öffentlichen Vorlesungen oder am Tag in eher ments und praktischer Toleranz verstehen? „geschäftlicher“ Form, im Stil einer Pressekon- Ein solcher Klub (hier das Beispiel „Bilingua“) ferenz. Gelegentlich nutzen Interessenten von bietet verschiedenen Menschen verschiedene dritter Seite diese Veranstaltungen als PR-Anläs- Möglichkeiten. Es gibt einen Buchladen mit se, z.B. durch den Ausschank eines bestimmten Café, ein Restaurant mit Bar, einen Aufführungs- Getränks, und beteiligen sich an den Kosten. raum mit Bühne und einen Laden „der kleinen In größeren Abständen organisiert das Kaukasus- Freuden“ („Galanteriewaren“) mit Szene-Outfits, Forum Gespräche am runden Tisch zum Thema Accessoires und Geschenken. Für etwa 220 Per- „Tschetschenien wieder aufbauen“ (www.kavkaz- sonen sind Sitzplätze vorgesehen; bei Konzerten forum.ru). Interessierte Zuhörer sind eingeladen, oder populären Veranstaltungen finden bis zu sich an der Diskussion zu beteiligen. Ähnliches 400 Personen Platz. Täglich kommen zwischen gilt für Seminare zu geistes- und sozialwissen- 400 und 1000 Besucher in den rund um die Uhr schaftlichen Themen, bei denen der Akzent auf geöffneten Klub. Information und Praxisbezug liegt. Das Monatsprogramm umfasst 40 oder auch Nicht selten werden die Räume eines Klubs von mehr Veranstaltungen, manche von ihnen regel- Partnereinrichtungen genutzt, etwa von der Zeit- mäßige. Das größte Echo haben die „Öffentlichen schrift Neue Literaturrundschau für ihre jährli- Vorlesungen“ der Internet-Zeitung Polit.ru, eine chen mehrtägigen Konferenzen. Außerdem gibt Art kostenloser „Show“ mit bekannten und es bis zu 5 Mal in der Woche Veranstaltungen, hochgeachteten Persönlichkeiten (z.B. Politikern, für die Eintritt erhoben wird, meistens Konzerte, Experten, Vertretern verschiedener gesellschaft- aber auch Literatur- oder Theaterabende. Die licher Gruppen). In einem Vortrag von jeweils 40 Preise liegen zwischen 100 und 600 Rubel [ca. Minuten, gefolgt von 60–90 Minuten einer recht 3 – 18 Euro]. Zweimal wöchentlich kann das Pu- aggressiv moderierten Diskussion, erläutern sie blikum – als Geschenk oder auch als kulturellen in der Öffentlichkeit ihre Position. Der Konzep- „Appetithappen“ – kostenlos gute Künstler erle- tion entsprechend treten sie hier nicht als Profis ben. Einmal in der Woche haben die Kinder ihre oder Experten auf, sondern als Bürger schlecht- eigene Vormittagsveranstaltung. hin. Gemeinsam suchen Vortragende, Organisatoren, Zuhörer und die Leser von Polit.ru die Ein Blick in ein einzelnes Wochenprogramm zivilgesellschaftlichen Ansätze in der Wirklich- (hier: Klub „Bilingua“, 1.–7. April 2005) mag das keit und arbeiten sich auf diese Weise zu einer Bild vervollständigen. 8 OKTOBER sk i z ze 1/20 05 Freitag, 1. April • Konzert der äußerst amüsanten Gruppe „Pakava It“, passend zum 1. April • Zweiter Tag der internationalen Konferenz „Bannye Tschtenija“ („Badehauslesungen“1) durchgeführt vom Verlag NLO • 20.00: Vernissage: Einzelausstellung eines Gegenwartskünstlers, in Kooperation mit dem SwerewZentrum für Gegenwartskunst Samstag, 2. April • Fortsetzung der Bannye Tschtenija. Aus diesem Grund wird die Kindermatinee (eine Vorstellung mit interaktiven Spielen für Kinder von 3 bis 10, konkret: Modellieren und Malen) aus dem großen Saal mit Bühne in den Buchladen verlegt. • 21.00: Konzert der Gruppe „Jeff i karmany“ („Jeff und die Hosentaschen“), ehemals „Kradennoje solnze“ („Die gestohlene Sonne“) • Nachts Diskothek – früher „Tänze im Bilingua“, jetzt umbenannt in „Tänze mit Onkel Fjodor“, nur eben auf Englisch: „mit dj-dj Fjodor“ [russ.: Onkel = djadja]. Sonntag, 3. April • 13.00: Meisterklassen und Seminare im Rahmen des LearnMusic-Projekts zur Förderung musikalischer Bildung • 16.00: Diashow. 16.30: Kino für Kenner (nur für Gäste des Bilingua) – alte, aber unvergessene Filme, Eintritt frei, es kommen Ehe- und andere Paare, Einzelgänger und größere Gruppen. Heute: „Koyaanisqatsi“ und „Anima Mundi“ von Godfrey Reggio • Gleichzeitig im Buchladen: Lesung skandinavischer Schriftsteller: ziemlich gut besucht und laut, eine ganz eigene Atmosphäre. • 22.00: Konzert der Gruppe „Pani Walewska“ Montag, 4. April • Atempause, abgesehen von einem Podiumsgespräch im Buchladen Dienstag, 5. April • 19.00 im Buchladen: Lesung des Dichters Oleg Tschuchonzew • 22.00: Konzert von Wiktor Luferow, Eintritt frei. Als Musikinstrumente nutzt Luferov neben seiner Gitarre Metallketten, Töpfe und (Bau)Werkzeug Mittwoch, 6. April • 22.00 Uhr Konzert der Gruppe „Miss is Big“ (verrückter Funk). Eintritt frei; mit farbenprächtiger gewaltiger Sängerin. Die Besucher reißen beinahe den Tresen um. Donnerstag, 7. April • 19.00: Öffentliche Vorlesung von Polit.ru: Michail Dmitrijew, „Reformperspektiven in Russland“ • 23.00: Die Künstlervereinigung Cantaloop stellt ihr originelles Programm „Die Entmenschlichung des stereotypen Denkens“ vor. Eintritt frei. Übersetzung des Programms aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch Dmitri Izkowitsch ist Verleger (OGI) und Literaturwissenschaftler, Gründer des ersten OGI-Klubs und der Internetseite Polit.ru, zur Zeit am Wiederaufbau des kürzlich abgebrannten Klubs Bilingua beteiligt www.bilinguaclub.ru Moskau, Krivokolenny pereulok 10 Gebäude 5, Metro: Lubjanka, Turgenewskaja , Tel. 923-96-60 1 Nach einer ehemaligen Adresse des Verlags im Bannyj pereulok, also der „Badehausgasse“. – Anm.d.Ü. 9 OKTOBER 1/20 05 VO M K L U B Z U M M A S S E N M E D I U M ? D A S RU S S I S C H E I N T E R N E T A L S O RT I N T E L L E K T U E L L E R D E B AT T E N U N D P O L I T I S C H E N E N G AG E M E N T S a n alyse Henrike Schmidt, Georg Butwilowski, Katy Teubener Das russische Internet hat sich in nur 10 Jahren zielstrebig vom informellen Kommunikationsmedium kleiner intellektueller Zirkel zum weit genutzten Informationsmedium entwickelt. Wesentliche Entwicklungsschübe sind den großen Krisen im Lande geschuldet. Noch ist das Gefälle in der Nutzung zwischen Stadt und Land sowie zwischen den verschiedenen Bildungsschichten erheblich. Ungeachtet der inzwischen zahlreichen direkt und indirekt vom Staat geförderten Webseiten ist das Internet auch aus technologischen Gründen bisher das am wenigsten kontrollierbare Kommunikationsmedium des Landes. Hier konzentriert sich die radikalste Kritik an der derzeitigen Politik der Führung Russlands, hier werden die Tabuthemen offen diskutiert. MODELLE UND M ETAPHERN Geburtstag des RuNet, also des russischen In seinen „Anmerkungen zur Geschichte des Internets, obwohl bereits 1991 die Domain russischen Internet“ entwickelt der Journalist .su eingeführt worden war. Die politischen Sergei Kuznetzow eine Typologie der Modelle, und wirtschaftlichen Turbulenzen der ersten mit denen das Internet in Russland beschrieben Hälfte der 1990er Jahre führten dazu, dass eine werden könne. Klub, Samisdat oder Archiv, schnelle und massenhafte Implementierung Müllhalde, Marktplatz oder Massenmedium sind des Mediums in Russland nicht möglich war. einige der bildlichen Umschreibungen dessen, In der Konsequenz entwickelte sich das RuNet was in der nüchternen Sprache der Technologie in der Frühphase zu einer exterritorialen als „ein weltweites Netzwerk voneinander Enklave, unabhängiger Technikbegeisterter, Netzwerke“ (Wikipedia) bevölkert von einer Handvoll Naturwissenschaftler, daherkommt. Die bunte Reihung dieser teilweise Emigranten und neugieriger Kulturschaffender inkompatiblen Interpretationsmodelle ist nicht – im übrigen überwiegend Männer. zufällig: Das Internet hat wie jedes „neue“ Irina Prochorowa weist in ihrem Artikel für Medium in der Geschichte der Kommunikations- diese Ausgabe von kultura auf die Bedeutung technologien die Phantasie seiner NutzerInnen des kleinen Kreises enger Freunde für die Ethik herausgefordert. des underground hin, die auch in den 1990er Jahren die intellektuelle Szene präge. Hier nimmt VIRTUELLER K LUB Unter den von gleichfalls das Modell vom ‚Klub RuNet’ seinen Kuznetzow genannten Ursprung. „Tusowka“, das russische Äquivalent Beschreibungsmodellen nimmt die Klubmetapher zu Klub oder Clique, unterstreicht als durchaus eine prominente und historisch bedingte Stellung übliche ein. Klub ist dabei nicht im Sinne der exklusiven diesen lustvollen und hedonistischen Charakter englischen Herrenklubs zu verstehen, die im der Netzkultur noch zusätzlich. Kuznetzow Hinterzimmer politische Ränke schmieden, lässt die Atmosphäre dieser Zeit in seinen sondern als eine zwanglose Zusammenkunft ‚Memoiren’ wieder aufleben: „wer mit wem Gleichgesinnter, die gemeinsam diskutieren, getrunken hat, welche Drogen die Gründerväter experimentieren, ‚phantasieren’. Ein Moment der konsumierten (oder nicht konsumierten), ob es Exklusivität ist hier jedoch gleichfalls gegeben, stimmt, dass im Top-Management des RuNet und zwar dasjenige des technischen Zugangs. der Männer-Striptease zu den populärsten Im Frühjahr 1994 wurde die Domain .ru Beschäftigungen zählte“, sind deshalb keinesfalls registriert. Dieses Datum gilt als der offizielle Nebensächlichkeiten, sondern geben in der Tat Bezeichnung der RuNet-Pioniere 10 1/20 05 OKTOBER a n alyse den Geist des frühen RuNet wieder, der sich mit diese im positiven Sinne verstandene Laien- den Schlagworten vom virtuellen „Sex, Drugs Kultur prägend. Ihre vielleicht erfolgreichste and Rock’n Roll“ beschreiben ließe. Errungenschaft ist die Bibliothek Lib.ru des Programmierers Maxim Moschkow, die bis heute DIE R ESSOURCE K REATIVITÄT über ungebrochene Popularität verfügt. Für die Webpioniere war die Entdeckung des so genannten Cyberspace eng verbunden mit K RISENMEDIUM der Erfahrung von Weltoffenheit, persönlicher Das Internet ist – wie viele der modernen Freiheit und kreativer Selbstverwirklichung. Kommunikationsmittel Zentrale Bedingung für die ‚Klubzugehörigkeit‘ Krisenmedium. Seine wachsende Bedeutung stellte die ‚Ressource Kreativität‘ dar – Phantasie, in Russland wurde von Katastrophen begleitet. Entdeckergeist, Neugier. Nicht von ungefähr Den ersten nennenswerten Popularitätszuwachs waren Netz-Projekte rief die Finanzkrise des Jahres 1998 hervor, als literarischen und kulturellen Charakters, wie allein die Online-Medien die rasante Talfahrt beispielsweise das kollektive Reimspiel Burima des Rubels in Echtzeit nachvollziehen konnten. (von frz. „bout rime“, Endreim), der Internet- Das Internet wurde gerade im Bewusstsein Literaturwettbewerb Tenjota (Fangnetz) oder die der Sammlung von Witzen aus Russland Anekdot.ru. Instrument Scheinbar ohne Nutzen und getragen von der nächsten Katastrophen-Schübe sind eng mit dem Euphorie des Neuen entwickelten sich die internationalen Terror verbunden und tragen die Grundlagen des heutigen russischen Internet im traurigen Namen 9/11, Nord Ost und Beslan. ‚zweckfreien‘ ästhetischen Raum. Die wachsende wirtschaftliche und politische Dieses Klubleben der RuNet-Pioniere hatte dabei Bedeutung des Internet im Lande blieb auch einen konkret benennbaren geographischen den staatlichen Institutionen nicht verborgen. Ursprung: eine Wohnung im Zentrum Moskaus, in Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist der der mittlerweile legendären Kalaschny-Gasse, wo Staat aktiv geworden, durch Förderprogramme der Literaturwissenschaftler und Verleger Dmitri ebenso wie durch Kontroll- und Abhörmaßnah- Izkowitsch ein Grüppchen von Enthusiasten und men. Letztere sind in der Praxis bisher kaum Phantasten um sich versammelte. Hier wurde die eingesetzt worden, was ihrer Bedrohlichkeit in erste russische Netzzeitschrift kulturellen Profils, der Wahrnehmung der Netzöffentlichkeit jedoch der „Bote der Netzkultur“ Zhurnal.ru, gegründet; keinen Abbruch tut. Aufgrund der sich verstär- hier wurden die ersten interaktiven Online- kenden autoritativen Tendenzen der russischen Interviews geführt, beispielsweise mit dem Medienpolitik insbesondere im TV-Bereich ge- Cyberpunk-Schriftsteller Wiktor Pelewin. Zu wann das Internet gleichzeitig als unabhängige den aktivsten Klubmitgliedern gehörten übrigens Informationsquelle an Bedeutung. die ersten populären UND POLITISCHE Wirtschaftselite – zu operativer BEDEUTUNG wesentlich einem ein wichtigen Information. Die EmigrantInnen in Amerika, Israel oder Lettland – dank der grenzüberschreitenden Funktionalität Z AHLEN des Internet. ‚Professionelle’ Literaten oder Im Frühjahr 2005 waren nach Angaben der Journalisten im Sinne etablierter Vertreter des Stiftung für öffentliche Meinungsforschung Berufsstandes waren hingegen kaum vertreten. FOM 17% der russischen Bevölkerung online Bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre blieb (zum UND DATEN – RUNET 2005 Vergleich: die Internet-Nutzung in 11 OKTOBER a n alyse 1/20 05 Deutschland wird auf 55% geschätzt). Das Denkmal der frühen Netzkultur im WWW zu Gefälle zwischen der Metropole Moskau und den besichtigen, überlebte in einer Reihe von höchst russischen Regionen reproduziert sich auch im erfolgreichen virtuellen Abspaltungen. virtuellen Raum. Während in Moskau 44% der Das „Laboratorium für Netzsprachkunst Se- Bevölkerung regelmäßig online sind, variiert der tewaja slowesnost“ publiziert zeitgenössische Prozentsatz in den Regionen zwischen 13% und Literatur und widmet sich dabei besonders 23%. dem medialen Experiment. Der „Politische Der Anteil der AkademikerInnen und gebildeten Informationskanal Polit.ru“, ursprünglich eine Schichten an der russischen Online-Community Rubrik des Zhurnal.ru, ist heute ein offiziell ist erwartungsgemäß sehr hoch, gleiches gilt registriertes Massenmedium und bietet nach ei- für das Einkommen der UserInnen, das weit genen Aussagen ein „authentisches“ und „echtes über dem Durchschnitt liegt. Die Altersstruktur Informationsprodukt an“, das sich von den „se- weicht tendenziell nicht von derjenigen der kundären“ und oftmals „verlogenen“ staatlichen westlichen Netzwerke ab, die größte Gruppe Informationsangeboten signifikant unterscheide. stellen die 18–24 Jährigen, gefolgt von den 30–40 Interessant ist dabei die Gesamtphilosophie der Jährigen. Alte Menschen sind fast nicht präsent. Ressource: Politik wird analysiert durch die Die Zahl der weiblichen Userinnen ist hingegen Brille der Kultur, die somit zum Maß der Dinge – auch im Vergleich mit den westeuropäischen avanciert. Mit einer durchschnittlichen Leser- Netzen – hoch. Die Zugriffszahlen der großen schaft von 30.000 UserInnen gehört die Site zu Suchmaschinen wie Yandex.ru oder Rambler.ru den populärsten Online-Medien. Vorsitzender geben Aufschluss darüber, dass zwischen 30 des Direktoriums von Polit.ru ist der bereits – 40% der NutzerInnen des RuNet im nahen bekannte Dmitri Izkowitsch. Erweiterter Redak- und fernen Ausland leben. Ihre geographische tionssitz ist allerdings nicht länger die Küche sei- Verteilung reproduziert in etwa die Struktur der ner Privatwohnung, sondern der Klub Bilingua, russischsprachigen Diaspora (Amerika, Kanada, der nur ein paar Schritte entfernt in demselben Israel, Deutschland, baltische Staaten). Hinterhof liegt. Das Internet ist damit lediglich ein – allerdings DAS RUNET ALS M ASSENMEDIUM? wichtiger – Bestandteil eines alternativen Kom- Mit der Exklusivität des virtuellen Klublebens ist munikationsraumes. es damit vorbei, auch wenn eine breite Nutzung des Mediums in allen Bevölkerungsschichten TEUFEL und Landesteilen noch in weiter Ferne liegt. Das STAAT IM I NTERNET RuNet ist auf dem Weg, zum Massenmedium zu In den Jahren 1999–2000 entstanden weitere pro- werden. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich fessionelle Netzmedien, die bis heute Standards – mit einem gewissen Maß an Vereinfachung setzen: Lenta.ru, Gazeta.ru, Utro.ru, SMI.ru. An – datieren. Im Jahr 1999 stellt der von Dmitri ihrer Erfolgsgeschichte sind die RuNet-Pioniere Izkowitsch mitbegründete „Bote der Netzkultur“, in hohem Maße beteiligt. Der Erfolg hat jedoch das Zhurnal.ru, sein Wirken ein. Dies ist nicht seinen Preis: Persönliche, professionelle und po- zuletzt eine Folge der Professionalisierung des litische Interessen differenzieren sich und führen russischen Netzes und des persönlichen Erfolgs zu Konflikten. seiner Protagonisten. Zhurnal.ru, noch heute als Exemplarisch lässt sich die Kontroverse anhand UND BEELZEBUB – O LIGARCHEN UND 12 OKTOBER a n alyse 1/20 05 der Stiftung für effektive Politik FEP unter der sesaal, der elektronische Kopien wichtiger Litera- Leitung des umstrittenen Polittechnologen Gleb tur- und Kulturzeitschriften anbietet – ein Projekt Pawlowski illustrieren, die zahlreiche der ge- von Vorbildcharakter, auch für die ‚westliche’ nannten Online-Medien konzipierte und dazu (Literatur)Wissenschaft, der es nach wie vor neben Geldern der so genannten Oligarchen schwer fällt, das Internet als seriöses Publikati- intensiv staatliche Finanzmittel nutzte. Seit dem onsmedium zu akzeptieren. Jahr 2003 sind die meisten der von FEP ins Leben Der erst jüngst erfolgte Relaunch der Site, die gerufenen Medien auch offiziell in staatlichen bereits 1997 gegründet wurde, spielt ungeachtet Besitz übergegangen. Mit einer signifikanten der Registrierung als Massenmedium mit dem Ausnahme: dem gerade in kulturellen Kreisen Charme des Häuslichen und Familiären; der besonders populären Russischen Journal, als des- Bildschirm-Hintergrund zeigt eine altmodische sen Chefredakteur Pawlowski bis heute figuriert. Tapete. Das erst jüngst ins Leben gerufene, Neben politischen Kommentaren und Kolumnen assoziierte Projekt mit dem programmatischen zeichnet sich die Ressource durch ihr Interesse Titel „Russische Nächte“ ist sogar gänzlich im für kulturelle ‚Exotika’ wie beispielsweise die Stil der Klubs gehalten, von deren kulturellem russische Provinzkultur aus. und politischem Nachtleben es berichtet. Doch Hier findet sich jedoch auch der Zeitschriftenle- auch das gemütliche Erscheinungsbild des ‚Klub 13 OKTOBER a n alyse 1/20 05 RuNet’ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Das Wort „GRAN’“ hat im russischen die Be- das Web zu einem medialen Schlachtfeld der ver- deutung von „Grenze“, „Kante“ oder „Rand“ schiedenen Interessensgruppen geworden ist; fast und kann im übertragenen Sinne für die Viel- scheint es so, als wolle man mit dem ästhetischen seitigkeit der inhaltlichen Aspekte und Betrach- Rückgriff auf alte Zeiten die Anonymität der tungswinkel stehen. Bereits ein erster Blick auf Masse vergessen machen. Ungeachtet der hohen die Themenschwerpunkte des E-Journals macht Politisierung bekennen sich jedoch nur wenige deutlich, wie diese Metaphorik zu verstehen ist: der als Massenmedien registrierten Ressourcen Die journalistische Arbeit bewegt sich stark an eindeutig zu ihrem ideologischen Anliegen und der Grenze der in Russland aktuell gewährten kämpfen mit derart offenem Visier, wie die von Pressefreiheit. Das Logo der Onlinezeitung, dem Oligarchen Boris Beresowski finanzierte ein quadratischer Globus, visualisiert zudem die Ressource Grani.ru, die im folgenden Porträt Ecken und Kanten der globalen Welt, die vielfäl- mit Interview ausführlicher dargestellt wird. tigen Grenzen und Interessenskonflikte, die auch Die Bedeutung der politisch gegen Wladimir das Internet nicht zu überwinden vermag; oder Putins Politik engagierten Magnaten für die die es im Gegenteil sogar zu akzentuieren hilft. Entwicklung des russischen Web wird dabei Grani.ru ist stark an politischen Themen ausge- sehr unterschiedlich eingeschätzt. Sehen die richtet. Die Site enthält u.a. die Rubriken Meinun- Einen darin eine zwar parteiische, aber dennoch gen, Politik, Krieg, Gesellschaft, Protestaktionen, wertvolle Konkurrenz zum staatlichen Informa- Ereignisse, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur. tionsangebot, wird für die Anderen der Teufel Die Texte zeichnen sich durch schonungslose, mit dem Beelzebub ausgetrieben. Die russischen an Sarkasmus grenzende Darstellungen aus, die Online-Medien werden damit unverhofft – und dem Leser viel Hintergrundwissen abverlangen. zum Bedauern vieler ihrer frühen Protagonisten Die Kommentare wenden sich vom offiziellen – von einem Ort der politischen Debatten zu Schreibstil ab und verwenden regelmäßig Jargon, ihrem Thema. Prekärerweise sind es dennoch Wortspiele und Fremdwörter. gerade die ‚Kulturträger’ des Klub RuNet, die Das privat finanzierte Nachrichten-Projekt ist mit ihren Talenten zu diesem Prozess beitragen. im Dezember 2000 entstanden. Seit Juli 2005 Die Ressource Kreativität wird zum politischen erscheint die Site in ihrem aktuellen Format. Instrument. Grani.ru sind als Massenmedium beim zustän- Nicht unerwähnt bleiben darf angesichts der poli- digen Ministerium registriert und existieren tischen Verstrickungen der großen Sites und Mei- ausschließlich als Onlineausgabe. Redaktionsa- nungsführer die besondere Popularität der Weblogs dresse ist Moskau. Neben der Direktorin Julija (engl.: „Netztagebuch“) im russischen Internet, die Beresowskaja (nicht mit Boris Beresowski ver- einen halb privaten, halb öffentlichen Medienraum wandt) und Chefredakteur Wladimir Korsunski, schaffen. Weniger abhängig von politischem Geld der früher als Moskauer Korrespondent für die haben sie sich als dezentrales gesellschaftlich-poli- Deutsche Welle tätig war, sind hier weitere zehn tisches Diskussionsforum etabliert. Journalisten beschäftigt, die in der Rubrik „Meinungen“ jeweils eine eigene Kolumne haben. GRANI.RU 14 OKTOBER 1/20 05 a n alyse Es ist kein Geheimnis, dass das Projekt Grani.ru Nachrichtenprojektes unterstreicht. In der Jukos- von dem aus Russland geflohenen und im Aus- Affäre vertritt Grani.ru einen klaren Pro-Chodor- land lebenden russischen „Oligarchen“ Boris Be- kowski-Kurs. Das Projekt Politzeki.ru ruft zum resowski finanziert wird. Offizielle Angaben dazu Freispruch für Michail Chodorkowski und andere finden sich im Impressum der Website jedoch nicht. politische Gefangene auf. Anfang Mai 2005 rief eine unbestätigte Meldung Darüber hinaus initiierte Grani.ru weitere thema- des russischen Internet-Magazins Webplaneta.ru tische Ressourcen zu Themen der Menschenrechte Gerüchte hervor, dass Grani.ru von dem ebenfalls und des Terrors in Russland, die als separate in Ungnade gefallenen und in Israel lebenden Oli- Websites im Internet aufrufbar sind. garchen Leonid Newslin aufgekauft worden sei. Eine von der MASMI Research Group durchge- Newslin, ein Mitstreiter Michail Chodorkowskis, führte Online-Umfrage liefert das Profil eines der u.a. auch den Kauf der Onlinezeitung Lenta.ru typischen Grani.ru-Lesers. 83% der Leser sind plane, wolle damit eine Informationsfront gegen männlich. Die meisten Besucher der Site haben Wladimir Putin bei den Präsidentschaftswahlen eine abgeschlossene Hochschulausbildung und 2008 aufbauen. Der viel diskutierte Besitzerwechsel verdienen über 800 US-Dollar im Monat. Mehr wird von den betroffenen Seiten bestritten. als ein Drittel aller Besucher kommt aus Moskau, In der Tat beschäftigt sich die Site Grani.ru mit jeder Vierte lebt außerhalb Russlands. 60% der Vorliebe mit den heiklen Themen der russischen Leser schätzen die Redaktion für ihre politische Innenpolitik, was den oppositionellen Charakter des Ausrichtung. Grani.ru pflegt ein breites Netz- 15 OKTOBER a n alyse 1/20 05 werk, was vermuten lässt, dass die Zielsetzungen Georg Butwilowski, Mitarbeiter des Projekts über die Festigung der eigenen Markt-Position Russian-cyberspace.org am Institut für Soziolo- hinaus auf die Bildung eines alternativen Me- gie der Universität Münster, studiert Ostslawis- dienraums abzielen. tik, Westslawistik und Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Literaturwissenschaft und DIE AUTORINNEN: Internationale Politik. Henrike Schmidt, Leiterin des Projekts Russiancyberspace.org am Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universität Bochum, widmet sich schwerpunktmäßig zeitgenös- WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND LINKS: sischer russischer Kultur und Literatur, insbeson- • dere moderner Lyrik und russischer Internetkultur. Brunmeier, Viktoria (2005): Das Internet in Russland. Eine Untersuchung zum spannungsreichen Verhältnis von Politik und Katy Teubener, Leiterin des Projekts Russiancyberspace.org am Institut für Soziologie der • Kuznecov, Sergej (2004): Oščupyvaja slona Universität Münster, beschäftigt sich neben [Zametki po istorii russkogo Interneta], Fragestellungen zum Strukturwandel der Öf- Moskva. fentlichkeit durch Neue Medien mit innovativen • Russian-cyberspace.org (Forschungsprojekt Formen computergestützter Kommunikation und zur kulturellen Identitätsbildung im russi- Kooperation in nationaler sowie internationaler schen Internet): URL: http://www.russian- Forschung und Lehre. cyberspace.org R U S S I A N - C Y B E R S PAC E . O RG i nt e r v iew Runet, München. I N T E RV I E W T G R A N I . RU Interviewpartner: Nikolai Rudenski, stellvertretender Herausgeber und stellvertretender Chefredakteur Das Gespräch wurde zwischen April und September 2005 in Moskau geführt. Die Fragen stellten Julia Heckmann, Jekaterina Kratasjuk, Katy Teubener und Henrike Schmidt. Die vollständige Fassung des Interviews in russischer Sprache ist auf der Homepage von Russiancyberspace.org, einem Forschungsprojekt zur kulturellen Identitätsbildung im russischen Internet (gefördert von der VolkswagenStiftung), veröffentlicht . Russian-cyberspace.org: Herr Rudenski, können Sie uns kurz das Profil von Grani.ru skizzieren, unter Berücksichtigung der Spezifik der russischen Medienlandschaft? Grani.ru ist eine Onlinezeitung, die seit über vier Jahren besteht. Gemessen am Internet-Standard ist das eine lange Zeit. Das Internet in Russland ist noch nicht wirtschaftlich „lebensfähig“, dennoch ist es in manchen Bereichen wie den unabhängigen elektronischen Medien sehr fortschrittlich. Das Internet in Russland ist bisher frei von staatlicher Einmischung. Das Fernsehen hingegen steht direkt unter der effektiven Kontrolle der Regierung. Die Printmedien sind gleichfalls nur zum Teil frei – der Regierungseinfluss ist auch hier sichtbar. Das Radio bietet immer wieder objektive Berichterstattung, doch ist es bei weitem nicht mehr ein so erfolgreiches Medium wie zu Sowjet-Zeiten. Der Reklameslogan für das russische Internet ließe sich wohl so formulieren: „Wahrheit, die Sie nicht im Fernsehen finden“ („truth you never find on TV“). 16 OKTOBER 1/20 05 Woher nehmen Sie Ihren Optimismus hinsichtlich der Freiheit des Internet von Zensur? „It‘s hard to make predictions – especially about the future“. Vor einem Jahr vermutete man, dass der Druck auf die Medien in Russland wachsen würde, im Zuge der verstärkten autoritativen Tendenzen. Doch seitdem ist die wachsende Instabilität der undemokratischen Regime im postsowjetischen Raum offenbar geworden. Die Popularität des russischen Präsidenten ist gleichfalls nicht so stabil wie noch vor einigen Jahren, das steht fest. In der Konsequenz ist sowohl eine Verschärfung des Drucks möglich als auch seine Abschwächung im Rahmen von mehr Demokratie und Meinungsfreiheit. Bezüglich des Internet selbst gibt es bisher keinen oder fast keinen Druck vom Staat. Die politische Führung beschäftigt sich viel mehr mit dem Fernsehen als einem effektiveren Massen- und Propagandamedium. Darüber hinaus ist die Technologie des Internet so angelegt, dass es gar nicht so leicht ist, die Online-Medien zu regulieren – juristisch wie technisch. Wie erklärt sich die spezifische thematische Ausrichtung Ihrer Ressource, die beispielsweise dem Thema „Krieg“ eine eigene Rubrik widmet? Der Krieg in Tschetschenien war, ist und bleibt ein Hauptinteresse von Grani.ru. Diese Rubrik wird inhaltlich betreut von einem ehemaligen Offizier, der heute als Militärjournalist tätig ist. Aber nicht nur der Krieg in Tschetschenien ist unser Thema, sondern die militärische Thematik im Allgemeinen. Das sind solche schwierigen Fragen wie Wehrpflicht, Korruption und Gewalt in der Armee, internationaler Waffenhandel usw. Welches ist die Zielgruppe von Grani.ru? Heute können es sich immer mehr Menschen in Russland leisten online zu sein, sodass die Online-Medien weniger elitär werden und einen „massenhafteren“ Charakter annehmen. Zu beobachten ist ein erhöhtes Interesse am Internet als Informationsquelle. Dies kann an einem konkreten Ereignis festgemacht werden: dem 11. September, als sich die Zahl derjenigen, die schnelle Informationen im Netz suchten, verzehnfachte. Zu Beginn unserer Arbeit verzeichnete Grani.ru ca. 5.000–6.000 Zugriffe pro Tag. Heute sind 20.000 gerade einmal „OK“, 40.000 exzellent. Als Ressource mit einer offen artikulierten gesellschaftlich-politischen Position gehen wir davon aus, dass das Publikum von Grani.ru grundsätzlich unsere Weltanschauung teilt. Allerdings wissen wir, dass uns auch unsere Opponenten lesen. Sie nutzen die Interaktivität des Mediums wenig, um mit Ihrer Leserschaft in Kontakt zu treten. Warum? Unsere Seite besaß einmal ein Forum. Dieses mussten wir jedoch nach einiger Zeit aufgegeben, da zunehmend extremistische, nationalistische, anti-westliche und anti-semitische Äußerungen das Forum okkupierten. Aber vielleicht starten wir irgendwann einen neuen Versuch, ein Forum einzurichten. Wie kommt es, dass Grani.ru derartige Reaktionen provoziert? Zum Teil liegt dies am Image unseres Sponsors Boris Beresowski, der von vielen als die Verkörperung des „universellen Bösen“ gesehen wird. Das ist besonders für Menschen mit einer anti-liberalen Denkweise und antisemitischen Vorurteilen der Fall, von denen es leider nicht wenige gibt. Leider zeigt 17 OKTOBER 1/20 05 unsere Erfahrung, dass gerade diese Personen einen starken Hang zu ausführlichen Kommentaren im interaktiven Raum haben. Würden Sie sagen, dass Grani.ru unabhängige Information anbietet – im Sinne von oppositionellen Ansichten? Grundsätzlich gesehen gibt es keine staatliche und keine oppositionelle Information, sondern Information ist entweder objektiv oder verzerrt. Die Presse muss ihre professionelle Pflicht erfüllen und die Gesellschaft informieren, verschiedene Sichtweisen aufzeigen. Leider ist die Mediengemeinschaft in Russland selbst viel zu empfänglich für Druck von Seiten des Staates, sie hat nicht genug Standfestigkeit und Unabhängigkeit bewiesen. In dieser Hinsicht hat der Fall NTV – eines sehr einflussreichen Fernsehsenders, der das erste Opfer der staatlichen Verfolgung direkt nach dem Machtantritt von Wladimir Putin wurde – eine sehr negative Rolle gespielt. NTV war ein erfolgreiches, auffälliges Projekt, und viele Kollegen mochten es nicht, aus den verschiedensten Gründen, oft aus Neid. Als der Staat mit all seiner Macht auf NTV einschlug, da haben kaum Journalisten den Sender unterstützt. Und danach entwickelte sich die instinktive Furcht vor Unannehmlichkeiten, wie zu Sowjetzeiten. Daher rührt auch das vorsichtige Verhalten, das heute den Großteil der russischen Medien kennzeichnet. Fühlt sich Grani.ru in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt? Nein. Hier muss man Putin Gerechtigkeit widerfahren lassen – uns hat er bisher nicht verfolgt. Der Grund dafür ist jedoch wahrscheinlich, dass wir sehr klein sind – im Gegensatz zu NTV oder sogar dem kleineren Ren-TV. Aber alles kann sich ändern. 18