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Schmerz-Anthropologie
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02.05.2012
Was schmerzt mich?
Skizzen zu einer Anthropologie
aus dem Schmerz
von
Klaus P. G. Gahl
anlässlich der Veranstaltung
Schmerz als Grenzerfahrung
der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem
Braunschweig, 20./21. April 2012
Schmerz ist – wer wollte das bezweifeln – eine Empfindung, ein mehr oder weniger
intensives Erlebnis. Wir nehmen ihn wahr, wir empfinden und erleben ihn. Schon zeigt sich
ein Problem: Ist Schmerz eine Wahrnehmung, wie wir mittels unserer Sinnesorgane
Gegenstände, Objekte wahrnehmen? Was ist das Objekt der Wahrnehmung? Und mit
welchem „Organ“ nehmen wir Schmerzen wahr? Vermitteln Schmerzrezeptoren, die durch
Hitze, Druck oder körpereigene Entzündungsstoffe gereizt werden, in ähnlicher Weise wie die
sog. Sinnesorgane zwischen einer „Außenwelt“ und einer „Innenwelt“? Oder ist der Schmerz
eine Empfindung, ein Gefühl, wie wir den Stich einer Biene, eine Haut- oder eine
Organverletzung oder eine Beleidigung, eine seelische Verletzung „bemerken“? Oder ist er
ein Erlebnis, wie wir eine Reizung peripherer Strukturen des Körpers – sei sie chemisch,
thermisch oder mechanisch ausgelöst – spüren, deuten und werten und insgesamt darauf
reagieren? Wahrnehmung, Gefühl oder Erlebnis? Oder gar Widerfahrnis? Vier unterschiedliche „Realisierungen“ eines Eindruckes, eines Einbruchs in meine Erlebniswelt, in meine
Existenz!
Doch was ereignet sich da? Ist es etwas Objektives oder etwas Subjektives? Wohl
keines von beiden isoliert: nicht ein Gegenständliches und nicht ein nur Erlebtes. Es ist
beides: objektiv und subjektiv zugleich, mit wechselnder Vordringlichkeit. Dem Schmerz bei
einer weit ausgedehnten Verbrennung liegt eine schwere „objektive“ Gewebsschädigung
zugrunde; die „objektiv“ harmlose, aber beleidigende Ohrfeige wird viel schmerzlicher
empfunden. Objektiv oder subjektiv? Eine Erklärung, das Eine sei ein organisch bedingter,
das Andere „nur“ ein psychischer Schmerz, greift zu kurz. Der französische Philosoph
Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) spricht von Ambiguität. Er meint damit nicht einfach
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ein Sowohl-als-auch, sondern ein Eines-im-Andern, Leibliches im Psychischen, Geistiges im
Physischen. Diese Zweideutigkeit oder besser Gegensatzeinheit in der leiblichen Existenz des
Menschen ist schon hier in der Analyse des Schmerzphänomens im Blick auf eine Lehre vom
Menschen deutlich. Eine solche Ambiguität wird uns im Folgenden öfter begegnen.
Was aber spüren, empfinden wir im Schmerz? Wir erleben unsere naturhafte
Leiblichkeit. Was heißt das? Ist der Leib das Gleiche wie der Körper? Glücklicherweise
können wir in unserer deutschen Sprache (anders als im Englischen oder im Französischen)
unterscheiden zwischen Körper und Leib. „Der menschliche Körper ist immer beseelte
Leiblichkeit einer Person“ – so der holländische Arzt und Philosoph Henrik J. J. Buytendijk.
Den Körper können wir als den von außen, quasi aus der 3.-Person-Perspektive sichtbaren,
objektiven Gegenstand sehen, ihn wahrnehmen. Der Leib dagegen ist quasi „Medium“ oder
„Organ“ unserer menschlichen Selbsterfahrung aus der Ich-Perspektive, der 1.-PersonPerspektive: ich fühle mich in meinem Leib als ich selbst in meinem Leibe. Wie ich meinen
Körper habe, auch hand-habe, so bin ich mein Leib. Und zwar in unterschiedlichen
„Schichten“. Die „vegetativen“ Leibgefühle wie Hunger oder Durst, Sättigung oder
Müdigkeit (ich bin hungrig, durstig, müde – nicht mein Magen, meine Kehle oder mein
Körper etc.). Auch das ist quasi eine Grenzerfahrung. Die genannten Leibgefühle werden
erweitert durch primär seelische Emotionen und Affekte (Freude, Wut etc.), die wiederum
leiblich realisiert werden in dem Sinne, dass sie wirklich und dass sie wahrgenommen
werden. „Nichts Seelisches hat keinen Leib“ – sagt Viktor von Weizsäcker, der Begründer der
Psychosomatischen, genauer: der Anthropologischen Medizin. Auch die Freude, das
Glücklichsein wie die Trauer oder die Angst werden im Leibe erlebt. Der durch eine äußere
Verletzung verursachte Schmerz wird seelisch empfunden, wie der seelische Schmerz leiblich
empfunden wird als Niedergeschlagenheit, Schwäche oder als ein vermeintlich organbezogener Schmerz. Der Leib ermöglicht die Erfahrung „selbstreferentieller Eigenständigkeit“ (Paul Christian), d. h. das Sich-selbst-Erleben. Auch das Schmerzerleben wird im
Leib ermöglicht – dank der körperlichen, organismischen Organisation, Anatomie und
Funktion. Diese ist jedoch nur Ermöglichungsgrundlage und Funktionsbereitschaft, nicht
kausal für das Schmerzerleben. Der Leib ist es auch, der den praktischen und
erkenntnismäßigen Umgang des Ich mit seiner Umwelt und Mitwelt ermöglicht kraft der
sinnlichen Wahrnehmung mit Augen, Ohren, Geruchssinn etc. in emotionaler und rationaler,
intentionaler und motivationaler Beziehung, auch kraft meiner Bewegung, Gestik, Mimik etc.
Der Leib ist auch Kommunikationsorgan.
Eine kleine Anmerkung für unseren ärztlichen Umgang mit kranken Menschen: wie wenig ist
uns bewusst, dass wir bei der körperlichen Untersuchung den Untersuchten in seiner möglichen
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Selbstempfindung berühren. Wir untersuchen doch dabei ein „Objekt“, das selbst ein Subjekt
ist – in der beschriebenen Ambiguität!
Auch im Schmerzerleben fühlen wir uns selbst. Es ist stets ein Ich, das den Schmerz
erlebt, das geplagt, verletzt ist, das leidet: als Leibsubjekt, als Schmerzsubjekt. Wie sich
unsere Person, unsere Identität in der Mimik, der Gestik, Haltung und Bewegung – nach
außen gerichtet – ausdrückt, so empfindet und erlebt sich die Person selbst – nach innen
gerichtet – auch in ihrer Leiblichkeit. Auch in der Anfälligkeit, der Verletzbarkeit, der
leiblichen und seelischen Vulnerabilität. Wir sind darin Subjekt – in dem doppelten Sinne des
Akteurs eigener Handlungen, eigener Absichten, Gedanken, Empfindungen einschließlich
seiner Schmerzen – und in dem Sinne, dass das Subjekt seinen Widerfahrnissen wie seinen
Krankheiten unterworfen, sub-jectus ist. Der Mensch ist als Subjekt zugleich aktiv und passiv.
Die zweite Ambiguität, die uns die Schmerzerfahrung im Hinblick auf eine Anthropologie
lehrt.
Aber was heißt hier schon aktiv und passiv zugleich? Wo ist hier eine Grenze zu ziehen
zwischen Aktivität und Passivität? Sind nicht viele unserer menschlichen Existenzvollzüge
aktiv und passiv zugleich? Was ist leibliches Empfangen und liebende Hingabe, Vertrauen
und Verantwortung, Reue und Glaube? Sind sie je nur aktiv oder je nur passiv? Werden sie
erlitten oder werden sie gelebt? Diese Untrennbarkeit von Aktivität und Passivität gilt auch im
Schmerz, im Schmerzerleben. Eine dritte Ambiguität!
Zurück zum Anfang! Ich habe gesagt, Schmerz sei eine Wahrnehmung, eine
Empfindung und ein Erlebnis zugleich, ja Widerfahrnis, und ich habe gefragt, was denn erlebt
werde und ob es nur subjektiv oder auch objektiv sei, was wir im Schmerz erleben. Erleben
wir den Schmerz „gegenständlich“, objektiv? Oder erleben wir uns selbst im Schmerz als
Schmerzsubjekt? Der Schmerz ist ein Erleben unserer Leiblichkeit – und das im doppelten
Sinne des genetivus subjectivus et objectivus. In meinem Leib empfinde ich mich selbst aus
der Ich-Perspektive. Die Leiblichkeit ermöglicht mit ihrer peripheren und zentralen
neuronalen Ausstattung der Schmerzleitung von der Peripherie des Körpers und den inneren
Organen über das Rückenmark (im Tractus spinothalamicus) bzw. über das vegetative
Nervensystem zum Gehirn (über die Formatio reticularis im Hirnstamm und Mittelhirn, zum
Thalamus und Pallidum und letztlich zur Großhirnrinde) – die Leiblichkeit ermöglicht die
Schmerzempfindung, die durch sog. zentrifugale, d. h. vom Gehirn absteigende Nervenbahnen zum Rückenmark moduliert wird. Über diesen Weg ist auch die psychische
Einflussnahme auf das Erleben der Schmerzintensität und Dauer, der Bedeutung, die wir dem
Schmerz zuschreiben, möglich. Darauf ist zurückzukommen!
„Erlebnis der Leiblichkeit“ hatte ich gesagt: auch als genetivus objectivus. Wir erleben,
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empfinden im Schmerz unseren Leib. Wir gewinnen ein Verhältnis zum Leib. Wir können
das, was wir im Schmerz als schmerzend empfinden, quasi objektivieren und meist auch
lokalisieren: mein Fuß, meine Hand, mein Bauch schmerzt. D. h. wir können ihn zugleich mit
dem vielleicht leidvollen Erleben aus der Ich-Perspektive und aus der 3.-Person-Perspektive
quasi „beobachten“, ihn wahrnehmen. Wir rücken damit sozusagen aus der Mitte unseres
Leibes heraus, gewinnen eine „exzentrische Positionalität“ zu ihm, zu uns selbst, wie der
Soziologe und Philosoph Helmuth Plessner (1892 – 1985) es genannt hat.
Diese Möglichkeiten der doppelten Perspektivität, der 1.- und der 3.-Person-Perspektive
und die exzentrische Positionalität gelten nicht nur für das Schmerzerleben. Sie sind
konstitutiv für den Menschen in seinem kognitiv-rationalen wie im emotional-affektiven
Selbstverhältnis. Und doch ist diese Möglichkeit der „Objektivierung“ des Schmerzes –
abgesehen von ihrer konstitutiven Unmöglichkeit – nicht unproblematisch. Öffnet sie doch
dem Gedanken, man könne den Schmerz völlig abstrahieren, bis er uns gar nichts mehr
angeht, das gedankliche Erwartungstor. Die Illusion gänzlicher Schmerzfreiheit hat hier ihre
fragwürdige Wurzel.
Halt, noch etwas zum Verhältnis von Körper und Leib! Gerade im extremen Schmerz
sind (wie der Heidelberger Internist Herbert Plügge, 1906 – 1972, sagt) Leiblichkeit und
Körperlichkeit so sehr miteinander verschränkt, dass der Kranke selbst der Schmerz wird; er
hat nicht nur sondern ist zugleich ganz Schmerz. Wilhelm Busch hat das auf den Punkt
gebracht:
Das Zahnweh, subjektiv genommen, ist ohne Zweifel unwillkommen;
Doch hat’s die gute Eigenschaft, dass sich dabei die Lebenskraft,
die man nach außen oft verschwendet, auf einen Punkt nach innen wendet
und hier energisch konzentriert. Kaum wird der erste Stich verspürt,
kaum fühlt man das bekannte Bohren, das Rucken, Zucken und Rumoren –
und aus ist’s mit der Weltgeschichte, vergessen sind die Kursberichte,
die Steuern und das Einmaleins, kurz, jede Form gewohnten Seins,
die sonst real erscheint und wichtig, wird plötzlich wesenlos und nichtig.
Ja, selbst die alte Liebe rostet – man weiß nicht, was die Butter kostet –
denn einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele,
und unter Tosen und Gesaus reift der Entschluss: Er muss heraus!!
(Wilhelm Busch)
So hat doch der Schmerz schon mancherlei hinsichtlich einer allgemeinen
Anthropologie zu Tage gefördert. Ich knüpfe andere Aspekte an.
Indem der Leib als Erlebnis- und Ausdrucksfeld – nicht nur für die „normale“, gesunde
Mimik und Gestik sondern auch für das schmerzverzerrte Gesicht, die zusammengebissenen
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Zähne, den verkrampften Bauch – Ausdrucksfeld ist, wird das alte Leib-Seele-Problem oder
die Körper-Geist-Zweiheit, der psycho-physische Parallelismus zu einem Aspekt- oder
Erlebnis-Dualismus, sozusagen wie zwei Seiten einer Medaille, nein besser zu einer
Gegensatzeinheit überwunden. Wir erleben uns auch im Schmerz als Leibsubjekt. Und wir
erleben das, was uns schmerzt, „beobachtend“ als zu uns gehörend.
Trotz der oder gerade wegen der eben genannten Doppelperspektivität aus der Sicht der
1. Person und der 3. Person, erleben wir uns auch im Schmerz als uns selbst. So kann das
Schmerzerlebnis zur Identitätserfahrung werden. Psychiater kennen diese u. U. bis ins
Extreme gesteigerte Suche nach Selbstvergewisserung bei depressiven Personen, die den
Selbstbezug verloren haben und durch intensive, manchmal geradezu autodestruktive
Schmerzreize sich selber wieder zu finden suchen. In schwachen Abschattungen solcher
Selbstvergewisserung kennen wir wahrscheinlich alle dieses Phänomen – ob als Haareraufen
oder Hautkneifen.
Ein weiterer Aspekt: Der Schmerz, den ich spüre, ist nicht der Schmerz eines anderen,
sondern ist jeweils mein Schmerz, dein Schmerz, der Schmerz des Kranken. Diese
„Meinigkeit“ macht es unmöglich, dass ein Anderer dem Schmerzgeplagten den Schmerz
nimmt. Ja schon die Vorstellung des Schmerzes eines Anderen ist kaum möglich. Es ist der
Schmerz eines Ichs, es ist mein Schmerz oder der Schmerz des Kranken, des Leidenden.
Und wie oft sind wir Ärzte schnellfertig mit vermeintlich tröstenden Worten wie „das kann ich
gut nachfühlen, das kann ich mir gut vorstellen!“
Und doch ist etwas anderes zu bedenken: Ja, ich spüre den Schmerz – sei es der
Schnitt in den Finger, die Nierenkolik, der Schmerz des Herzinfarktes oder der Schmerz über
eine verlorene Liebe, die Trauer über einen persönlichen Verlust. Sie hören die immer
zentralere Nähe der Schmerzen zum Personkern: von dem peripher blutenden Finger bis zur
existenziellen Bedrohung und Erschütterung. Je „zentraler“ desto mehr wird es mein
Schmerz, den mir niemand abnehmen kann. Der Schmerz wird unterschiedlich erlebt je nach
seiner Ich-Nähe, je nach seiner ihm rational oder emotional-affektiv zuerteilten Bedeutung.
Diese Bedeutungszuweisung, Bedeutungsattribution hat etwas zu tun mit unserer Biographie,
unserm Schmerzgedächtnis. „Gebranntes Kind scheut das Feuer“. Wir lernen aus der
Schmerzerfahrung, aus dem Widerfahrnis. (Auf das Schmerzgedächtnis will ich hier in der
Kürze der Zeit nicht näher eingehen)
So sehr mein Schmerz mein Schmerz ist, so gibt es dennoch das Phänomen der
empathischen Schmerzlinderung. Wer kennt nicht den lindernden Trost, das Mitleid, das uns
den Schmerz erleichtert? Schon der Anblick, das Angeschaut-werden oder das Anschauen des
den Schmerz erleidenden Kindes oder auch des Erwachsenen mindert den Schmerz.
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Neurowissenschaftler haben für dieses Empathie-Phänomen sogar das anatomische und
funktionelle Substrat, das System der Spiegelneuronen im Gehirn, der „mirror neurons“
(Rizzolati & Gallese 1998) entdeckt: zunächst bei Makakus-Affen, später auch im
menschlichen Gehirn, im sog. prämotorischen Großhirnareal, das für die Organisation und
Regulation von Bewegungen „zuständig“ ist. Dieses inzwischen mit bildgebenden Verfahren
der funktionellen Kernspin-Tomographie oder der Positronen-Emissionstomographie als viel
weiter ausgedehnt erkannte System verknüpft intermodal zwischenmenschliche, intersubjektive oder interpersonale Wahrnehmung mit Eigenbewegung, sei sie Zuwendung oder
Flucht. Diese Resonanz ist also sensomotorisch gekoppelt. Es ist dabei nicht nur die auf ein
Objekt gerichtete Bewegung, es ist auch der wahrgenommene Affekt, der eine „Gefühlsresonanz“, ein Mitschwingen, ein Mitleiden auslöst. Das Spiegelneuronensystem ist quasi der
oder mindestens ein neuronaler Ermöglichungsgrund von Intersubjektivität, Interpersonalität
oder Interaffektivität, die im eigenen Schmerzerleben oder in der Wahrnehmung des Schmerz
leidenden Mitmenschen mitschwingen. Der Schmerz ist also doch nicht nur mein Schmerz, er
ist auch der Schmerz der Mutter, der Liebenden, des sich dem Leidenden zuwendenden
Mitmenschen. Wir erleben die Intersubjektivität eben auch leiblich als „Zwischenleiblichkeit“, intercorporéité (M. Merleau-Ponty), wie wir sie ja auch in der Liebe erleben.
Damit komme ich zu einem weiteren Aspekt. Schmerz hat auch eine soziale Dimension:
über das empathische Mitgefühl hinaus. Zunächst ist da der Appell an den möglichen Helfer:
ob es die kleine Schwester in Viktor von Weizsäckers Aufsatz „Über die Schmerzen“ (1928)
ist, oder der zufällig anwesende Mitmensch oder der konsultierte Arzt. Der Schmerz
veranlasst uns zur Hilfesuche bzw. zur Hilfeleistung.
Unsere Schmerzempfindung ist (2.) sehr stark mitgeprägt von unserm Selbstanspruch,
der qua Erziehung und Sozialisation unsere Haltung dem eigenen Schmerz gegenüber, unsern
Umgang mit ihm prägt. Das gilt für unseren soziokulturellen Raum der Familie, der Kultur
einer Gruppe, einer Ethnie in unterschiedlichem Maße. „Ein Junge weint nicht!“ „Ein
Indianer kennt keinen Schmerz!“
Ein weiterer Aspekt wurde vorhin zu schnell überblendet: im Zusammenhang mit dem
im Schmerzerlebnis bewusst werdenden Aspekt des Subjekt-Seins des Menschen, seiner
Subjekthaftigkeit. Der Mensch ist seinem Schmerz unterworfen, sub-jectus. Das trifft wohl
zu. Doch dürfen wir das nicht allein passivisch sehen, als könne das Schmerzsubjekt nicht
auch das Schmerzerleben aktiv beeinflussen: die Intensität wie auch die Bedeutungszuschreibung. Wir können den Schmerz lindern, indem wir die Zähne aufeinander beißen,
indem wir unsere Aufmerksamkeit von ihm ablenken, indem wir z. B. durch Atem- oder
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Entspannungsübungen bis hin zu Yoga oder anderen Praktiken ihn „unterdrücken“. Wir
können ihm auch einen positiven Wert beilegen: ob als Initiations- oder Deflorations- oder
Lustschmerz, als physiologischen „normalen“ Geburtsschmerz oder als „Geburt der Person
aus dem Schmerz“. Der Schmerz gewinnt damit u. U. eine erleichternde Bedeutung.
Natürlich (das sage ich bewusst) – natürlich hat der Schmerz neben den positiven auch
negative Seiten: in seiner Intensität oder Dauer, in der vermeintlichen oder objektiven
Sinnlosigkeit, seinem die Lebensqualität beeinträchtigenden, quälenden und die Existenz
destruierenden Charakter. „Der Schmerz ist (u. U.) – wie Helmuth Plessner sagt – wehrloses
Zurückgeworfensein auf den eigenen Körper … der Schmerz wirkt als Einbruch, als
Zerstörung, als Desorientierung, als eine in bodenlose Tiefe einstrudelnde Gewalt“.1 So weit
das Zitat. Diese leidvollen, quälenden, u. U. zerstörerischen Seiten des Schmerzes sollen hier
nicht beschönigt werden, schon gar nicht mit einem moralischen Appell an Tapferkeit oder
Duldsamkeit oder an christlich-religiöse Demut. Auch will ich die psychopathologische
Schmerzlust des Masochisten nicht gut, nicht gesund heißen. Aber es gibt den beherrschenden
Umgang mit dem Schmerz. Der Schmerz hat neben der genannten positiven Qualität des
Werdeschmerzes die ambivalente Qualität der Vernichtung. Die Bodenlosigkeit, die u. U.
tiefgreifende existenzielle Erschütterung kann als schier ausweglose Todesnähe, als
unausweichliche Grenze erlebt werden.
Der Arzt sieht den Schmerz meist in seiner „Funktion“ als Warnsignal für etwas
Abnormes, Krankhaftes, möglicherweise Destruktives. Indem der Schmerz uns unsere
Leiblichkeit in ihrer Anfälligkeit und natürlichen, naturhaften Ungesichertheit, unserer
existenziellen Kontingenz bewusst werden lässt, kann er uns auch auf unsere Verantwortlichkeit für die Gesunderhaltung aufmerksam machen. Wer kennt nicht den Rat: „Jetzt geh’ doch
zum Arzt!“ So bekommt der Schmerz auch normativen, wertorientiert das Verhalten
bestimmenden Charakter. Er gewinnt tatsächlich eine ethische Dimension: nicht erst oder
nicht nur appellativ, den Schmerz zu ertragen, sondern auch für die eigene Sorge für den uns
anvertrauten Leib, um unser selbst und unserer Nächsten willen, auch für die Gemeinschaft.
Ich will damit nicht einer absoluten Schmerzbekämpfung, einem Hedonismus der Schmerzfreiheit das Wort reden. Es gibt kein schmerzfreies Menschsein, kann es aufgrund unserer
Naturgebundenheit nicht geben. Der Schmerz kann uns aber an die Grenze der Sinnhaftigkeit
bzw. der Sinnlosigkeit bringen. Das Schmerzerleben verlangt quasi eine Entscheidung: eine
praktische: muss ich etwas dagegen tun? – und eine moralische: wie soll ich mich verhalten?
1
Plessner, Helmuth (1941, 1960, 1961): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen
Verhaltens. In: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard & Elisabeth Stroeker;
Frankfurt am Main: Suhrkamp (1982) Bd. VII, S. 201 – 387, hier S. 352.
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Darin wird die Doppelnatur des Menschen als Natur- und Freiheitswesen deutlich. Der
Mensch ist gebunden, verhaftet in seine Anatomie und Physiologie einschließlich ihrer
krankhaften, pathologischen Veränderungen, denen gegenüber der Mensch nicht absolut frei
ist, und doch ist er mit der Freiheit der Bedeutungszuweisung dem Schmerz gegenübergestellt. Der Mensch zwischen Freiheit und Notwendigkeit! Die Bindung des Schmerzes an
die naturhafte Körperlichkeit als die „Ermöglichungsgrundlage“ macht wieder eine
„Doppelsinnigkeit“ deutlich: der Mensch erfährt im Schmerz seine Einbindung in die Natur,
seine eigene organismische Natur, und zugleich nach außen sein Verhältnis zu der ihn
umgebenden Natur. Auch das ist eine Grenzerfahrung im Schmerz.
Meine Damen und Herren, ich habe bisher ganz überwiegend vom Schmerz und
Schmerzerleben gesprochen, ohne seine Intensität oder Dauer zu berücksichtigen. Es ist
selbstverständlich und uns allen aus eigener Erfahrung geläufig, dass beide Dimensionen das
Erleben mitprägen. Das prinzipiell dissoziative Moment der Schmerzen, der Nominativ Ich,
das den Schmerz erlebt, und der Akkusativ Mich, das ich als das Schmerzende erlebe, erfährt
eine Umgewichtung: von der möglichen Distanzierung von dem blutenden Finger zu dem den
ganzen Leib, die ganze Person ergreifenden Schmerz.
Ein Zweites habe ich bisher ausgelassen: die Begleitphänomene des Schmerzerlebens:
die vegetativen Reaktionen von Übelkeit, Kreislaufreaktionen mit Blutdruckanstieg oder abfall, Herzklopfen etc. und das psychische Erleben, das den Schmerz begleitet: von der
banalen Verstimmung bis zur erschütternden Angst existenzieller Bedrohung, dem
Identitätsverlust bis zum Todeswunsch, der besonders den Dauerschmerz-Patienten überfallen
kann. So ist Schmerz immer ein multimodales Ereignis. Eine Isolierung nur des einen,
zugegeben vordringlichen Aspektes ist reduktionistisch im Blick auf die menschliche leibseelische oder bio-psycho-soziale Konstitution.
So will ich auch nicht die Leiblichkeit als ein konstitutives Element menschlicher
Existenz isolieren, sondern wenigstens ein weiteres Konstitutivum einer Anthropologie
benennen, das mit der Schmerzdimension zusammenhängt: die Zeitlichkeit. Der Mensch lebt
in unterschiedlicher Weise in der Zeit, die Zeit in ihm: physikalisch, biologisch, psychologisch, im Daseinsentwurf sich selbst voraus, qua Gedächtnis in der Vergangenheit
verwurzelt. Beide Zeitrichtungen ragen in die Aktualität der Gegenwart herein: Erinnerung
und Reue bzw. Hoffnung und Erwartung vergegenwärtigen unsere Zeit in der Aktualität des
Jetzt. Dieses Zeiterleben – hier nur angedeutet – kann im Schmerzerleben völlig verändert
oder zerstört sein: von der Fehleinschätzung der Schmerzdauer bis zur Hoffnungslosigkeit des
Schmerzpatienten, der keine Zukunft mehr sieht.
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Meine Damen und Herren, ich fasse die vorgetragenen Beiträge zu einer Skizze einer
Anthropologie aus dem Schmerz zusammen – wohl wissend, dass es nur Bruchstücke dieser
fundamentalen Ich- und Selbsterfahrung in der Welt sind:
1. Der Leib mit seiner organismischen, körperlichen Organisation, d. h. der Anatomie,
Physiologie und Funktion, ist Ermöglichungsgrundlage und Funktionsbereitschaft für
Selbst- und Fremderfahrung wie für die Beziehung des Menschen zu seiner Mit- und
Umwelt. So auch Ermöglichungsgrundlage für das Schmerzerleben. Der Schmerz ist
darin kein nur körperliches, vielmehr ein multimodales Phänomen.
2. Schmerz ist grundsätzlich mehr oder weniger ein dissoziatives Erlebnis: eines Ichs (im
Nominativ), das sich erlebt (im Akkusativ). Der den Schmerz leidende Mensch ist
darin Subjekt und Objekt zugleich. Er erlebt sich in der 1.-Person-Perspektive und
„sieht“ sich aus der 3.-Person-Perspektive. Er sieht seine Hand und setzt sie
instrumentell ein, handhabt sie.
3. Im Schmerzerlebnis wird auch die menschliche Ambivalenz oder Gegensatzeinheit
von Natur- und Freiheitswesen deutlich. Es bringt uns unsere naturhaft gebundene
Leiblichkeit zu Bewusstsein, der gegenüber wir bedingt frei sind.
4. Das Schmerzerleben ist in doppelter Weise eine existenzielle Erfahrung, indem es uns
der eigenen Identität vergewissern und auch die Vulnerabilität und Ungesichertheit
unseres Daseins bewusst machen kann.
5. Das Schmerzerleben ist oder kann mindestens ein intersubjektives, interaffektives
Erleben sein, das empathisch erfahren, auch „zwischenleiblich“ miterlebt werden
kann. (Stw. Spiegelneuronen).
6. Das Schmerzerleben ist auch ein kommunikatives, soziales und soziokulturell
geprägtes Phänomen.
7. Das Schmerzerleben hat schließlich auch eine ethische Dimension mit seinem Appell
an Hilfeersuchen und Hilfeleistung bzw. der Mitverantwortung für die mögliche
Gesunderhaltung.
8. Schmerz ist in mehrfacher Hinsicht Grenzerfahrung: kraft seiner Naturhaftigkeit und
körperlich-organismischen Gebundenheit macht er uns die Grenzen der psychischen,
willentlichen oder affektiven Einflussnahme, u. U. die Grenze der physischen und
psychischen Tolerabilität und der zwischen Sinnhaftigkeit und destruktiver
Sinnlosigkeit ebenso deutlich, wie er uns die Nähe des Todes kognitiv-rational und
existenziell vergegenwärtigt.
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