Buchrezension „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm

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Buchrezension „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm
Buchrezension „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm
Wir schreiben das Jahr 1945: Der Zweite Weltkrieg befindet sich in seiner Endphase, Adolf Hitler bringt
sich um und eine Frau, Lena Brücker, nimmt in Hamburg einen Deserteur bei sich auf.
Im Jahre 1993 wurde die erste Ausgabe der Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ gedruckt.
Geschrieben wurde sie vom Autoren Uwe Timm und produziert wird sie von der dtv Verlagsgesellschaft.
Ein nicht mehr ganz so junger Ich-Erzähler reist in seine Heimatstadt,
um die alt gewordene Lena Brücker zu befragen, die die Currywurst
entdeckt zu haben scheint. Diese erzählt ihm äußert umfassend von
ihren besten Jahren, ihrer Stadt Hamburg und dem Ende des Krieges,
während ein junger Mann namens Hermann Bremer eine besondere
Rolle in ihrem Leben zu spielen scheint.
Kurz bevor der ehemalige Bootsmann in die Lüneburger Heide versetzt
werden soll, möchte er sich in einem bereits sehr zerstörten Hamburg
einen Kinofilm ansehen. Scheinbar schicksalshaft stößt ihn eine Frau
an, die ihm von Beginn an gefällt. Ein nur kurzer Kinobesuch, der von
einem Bombenalarm unterbrochen wird, soll der Anfang zu „eine[r]
Liebesgeschichte zeitlicher Gleichniskraft“ (Walter Hinck) werden, denn
Bremer beschließt, der Armee den Rücken zuzuwenden und bei Lena
zu bleiben, die sich ihm ohne weiteres mental und sexuell hingibt.
Schon bald beginnt ein Konflikt, der durch moralische Fragen nach
richtig und falsch und „ethische Grauzonen“ geprägt wird.
Wunderbar wird die Novelle in Rahmen- und Binnenhandlung erklärt,
die jeweils durch eine alte, blinde Lena und durch eine geprägt wird, die willensstark, gutaussehend und
klug ist. Übergänge zwischen diesen sind kaum spürbar, da so geschickt erzählt wird, dass man
stellenweise nicht weiß, ob der Ich-Erzähler oder die junge Lena Brücker berichtet. Timm setzt in seiner
Novelle keine Anführungszeichen, was die Geschichte noch mehr wie eine Erzählung wirken lässt. Mit
zunehmendem Alter verstärkt sich Lenas Dialekt, in dem sie dann mit dem Autor redet, was genau so
wiedergegeben wird. Was am Anfang lästig und unsinnig wirkt, erscheint später großartig und sorgt dafür,
dass man sich immer mehr in die Lektüre vertieft und sich der Erzählung hingibt. Geprägt wird das Buch
durch zahlreiche Genüsse, die als Motive des Buches dienen. Diese beginnen beim visuellen Genuss,
führen über gustatorische Genüsse, bis hin zum Genuss des Erzählens. Vor allem Lena wird eine große
Genussfähigkeit zugeschrieben.
Obwohl der Ich-Erzähler im Grunde nur an der Pointe der Geschichte- die Entdeckung der Currywurstinteressiert war, setzt sich Lena durch und erzählt die Geschichte rund um ihre Beziehung zu Bremer. Sie
erzählt dies unstrukturiert, aber auch emotional und detailverliebt. Dies ist ein Grund dafür, weshalb der
Erzähler selbst schreibt, er müsse Lenas Erzählung abkürzen. Er unterbricht die dominante Brücker jedoch
nicht und lässt sie im gesamten Buch stets positiv wirken. Hier wird dem Leser deutlich, welch große Rolle
der Ich-Erzähler in der Novelle spielt. Anfangs nur ein Interviewer, der dann aber zum „Meister“ über die
Novelle wird, da er entscheidet, was und wieviel der Leser weiß und wie er empfindet. Interessant ist
ebenfalls, dass er zwischen der Rolle eines personalen und der eines auktorialen Erzählers spielerisch
wechselt.
Der Autor schafft es, Leser und Leserinnen von der Authentizität seiner Geschichte zu überzeugen, indem
er eine alte Lena Brücker mit in sein Werk schreibt, die ihre Geschichte erzählt. Außerdem finden sich
beachtlich viele historische Geschehnisse in der Novelle wieder, die auch in Lenas Erzählung eine große
Rolle spielen.
Das Buch lässt durch viele Überschneidungen zwischen dem Leben Uwe Timms und dem des Ich-Erzählers
manch einen glauben, es handle sich bei ihm um Timm selbst, der ebenfalls während der Kriegszeit in
Hamburg gelebt hat und nun mit Frau und Kindern in München wohnt. Auch Lena Brücker spielt eine
tragende Rolle, wie es so viele Frauen zu dieser Zeit getan haben.
Dem Autor gelingt ein sehr tiefgründiges Buch, das in der Tat raffiniert erzählt, sodass der Leser gefangen
wird und während der meisten Zeit des Lesens sehr interessiert ist. Leider ziehen sich durch die sonst
hervorragende Novelle auch etwas unspektakuläre Episoden, die jedoch nicht sehr lange andauern.
Wer also etwas Zeit hat und bereit ist, anfänglich erscheinende Seltsamkeiten der Erzählweise
hinzunehmen, die man später lieben lernt, der sollte sich dieser wunderbaren Lektüre widmen. Fragen Sie
sich während des Lesens doch auch mal, wie Lena Brücker den Ich-Erzähler: Können Sie noch den Horizont
sehen?
Leseprobe, S. 7-9:
Vor gut zwölf Jahren habe ich zum letzten Mal eine Currywurst an der Bude von Frau Brücker gegessen. Die
Imbißbude stand auf dem Großneumarkt - ein Platz im Hafenviertel: windig, schmutzig,
kopfsteingepflastert. Ein paar borstige Bäume stehen auf dem Platz, ein Pissoir und drei Verkaufsbuden, an
denen sich die Penner treffen und aus Plastikkanistern algerischen Rotwein trinken. Im Westen graugrün
die verglaste Fassade einer Versicherungsgesellschaft und dahinter die Michaeliskirche; deren Turm
nachmittags einen Schatten auf den Platz wirft: Das Viertel war während des Krieges durch Bomben stark
zerstört worden. Nur einige Straßen blieben verschont, und in einer, der Brüderstraße, wohnte eine Tante
von mir, die ich als Kind oft besuchte, allerdings heimlich. Mein Vater hatte es mir verboten. Klein-Moskau
wurde die Gegend genannt, und der Kiez war nicht weit.
Später, wenn ich auf Besuch nach Hamburg kam, bin ich jedesmal in dieses Viertel gefahren; durch die
Straßen gegangen, vorbei an dem Haus meiner Tante, die schon vor Jahren gestorben war, um schließlich und das war der eigentliche Grund - an der Imbißbude von Frau Brücker eine Currywurst zu essen.
Hallo, sagte Frau Brücker, als sei ich erst gestern dagewesen. Einmal wie immer?
Sie hantierte an einer großen gußeisernen Pfanne. Hin und wieder drückte eine Bö den Sprühregen unter
das schmale Vordach: eine Feldplane, graugrün gesprenkelt, aber derartig löchrig, daß sie nochmals mit
einer Plastikbahn abgedeckt worden war.
Hier geht nix mehr, sagte Frau Brücker, während sie das Sieb mit den Pommes frites aus dem siedenden Öl
nahm, und sie erzählte, wer inzwischen alles aus dem Viertel weggezogen und wer gestorben sei. Namen,
die mir nichts sagten, hatten Schlaganfälle, Gürtelrosen, Alterszucker bekommen oder lagen jetzt auf dem
Ohlsdorfer Friedhof. Frau Brücker wohnte noch immer in demselben Haus, in dem früher auch meine Tante
gewohnt hatte.
Da! Sie streckte mir die Hände entgegen, drehte sie langsam um. Die Fingergelenke waren dick verknotet.
Is die Gicht. Die Augen wollen auch nicht mehr. Nächstes Jahr, sagte sie, wie jedes Jahr, geb ich den Stand
auf, endgültig. Sie nahm die Holzzange und griff damit eine der selbst eingelegten Gurken aus dem Glas.
Die haste schon als Kind gern gemocht: Die Gurke bekam ich jedesmal gratis. Wie hältste das nur in
München aus?
Imbißstände gibts dort auch.
Darauf wartete sie. Denn dann, und das gehörte mit zu unserem Ritual, sagte sie: Jaa, aber gibts da auch
Currywurst?
Nein, jedenfalls keine gute.
Siehste, sagte sie, schüttete etwas Curry in die heiße Pfanne, schnitt dann mit dem Messer eine Kalbswurst
in Scheiben hinein, sagte Weißwurst, grausam, und dann noch süßer Senf. Das veddelt einen doch. Sie
schüttelte sich demonstrativ: Brrr, klackste Ketchup in die Pfanne; rührte; gab noch etwas schwarzen
Pfeffer darüber und schob dann die Wurstscheiben auf den gefältelten Pappteller: Das is reell. Hat was
mitm Wind zu tun. Glaub mir: Scharfer Wind braucht scharfe Sachen.
Von Dominik Schrage, 10. Jahrgang