- Fanarbeit Schweiz

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Diplomarbeit
Fachhochschule Zürich
Hochschule für Soziale Arbeit
Vollzeitausbildung VSA
Diplomarbeit
Jugendgewalt
im Kontext von Subkulturen
Sabina Schaerer
Tatjana Meillaud
VSA 04 / 07
Berg, Stettbach, Zürich
13. April 2007
Vorwort
2
Vorwort
Im Frühling und Sommer 2006 wurde in den Medien vermehrt über Gewalt im
Zusammenhang mit sportlichen oder politischen Anlässen berichtet. Das Ende
der nationalen Fussballmeisterschaft und die Fussballweltmeisterschaft in
Deutschland liessen den Fussball im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses stehen. Dies zog ebenfalls die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die gewalttätigen Akteure, welche durch ihre Gewalttaten zunehmend als negative Begleiterscheinung zum freudigen Volksfest die Titelseiten und Berichterstattungen
der Medien füllten.
Der 1. Mai in Zürich, das WEF in Davos oder der G-8-Gipfel zogen ebenfalls das
mediale und gesellschaftliche Augenmerk auf sich. Dies weniger durch seine
Inhalte und Ziele, sondern durch vermummte und schwarz gekleidete Demonstranten, welche sich immer wieder Strassenschlachten mit der Polizei lieferten.
Auffallend bei der Hooligangewalt und der Gewalt von Linksautonomen ist die
Tatsache, dass es sich bei den Akteuren in den meisten Fällen um Jugendliche
im Alter zwischen 15 bis 25 Jahre handelt.
In unseren Praktika haben wir beide Erfahrungen mit der Zielgruppe Jugend- und
daher auch mit Jugendgewalt gemacht. Durch das vermehrte Auftreten des
Themas in den Medien haben wir uns gefragt:
„Wie kommt es zu dieser Ausübung von Jugendgewalt an öffentlichen Anlässen?“ und „Wo ist denn eigentlich die Soziale Arbeit?“
Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir uns entschlossen, uns in der Diplomarbeit mit den Subkulturen der Hooligans, bzw. den Linksautonomen zu beschäftigen.
Anmerkung 1:
Da wir uns in dieser Diplomarbeit ausschliesslich auf männliche Individuen beschränken, haben wir uns entschieden nur die männliche Form zu verwenden.
Bei genannten Personengruppen, welche sich nicht auf männliche Jugendliche
beschränken, sind beiderlei Geschlechter gemeint.
Anmerkung 2:
Wir beschränken uns in dieser Diplomarbeit auf Individuen aus dem Grossraum
Zürich.
Anmerkung 3:
Die Arbeit umfasst 198`492 Zeichen, einschliesslich Leerzeichen, jedoch ohne
Kopf- und Fusszeilen sowie dem Vorwort, Dank, Abstract und allen Anhängen.
Vorwort
3
Dank
Sabina Schaerer dankt:
Hugo für seine Unterstützung und Geduld während der Schreibphase und
Tatjana für die unkomplizierte und tolle Zusammenarbeit.
Tatjana Meillaud dankt:
Deme für die Unterstützung während der Schreibphase, meiner Familie für die
Unterstützung während der ganzen Ausbildung, Sabina für die durchwegs
erfreuliche und kooperative Zusammenarbeit.
Beide Autorinnen danken:
M. Wolfer für die Begleitung unserer Diplomarbeit, L. Ruckstuhl für die grosse
Hilfe bei der Formatierung, der Stadtpolizei Zürich (namentlich A. Widmer vom
Sicherheitsdienst und C. Nef von der Abteilung für Hooliganismus), David
Zimmermann von der Fanarbeit Schweiz und Ueli Wildberger vom Forum für
Friedenserziehung, welche sich viel Zeit genommen haben unsere Fragen zu
beantworten.
Abstract
Diese Diplomarbeit ist eine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema Jugendgewalt in Subkulturen. Anhand verschiedener Theorien, wie Sozialisationstheorien, Theorie menschlicher Bedürfnisse, Risikotheorien und der Theorie struktureller und anomischer Spannungen werden die Subkulturen der Hooligans und
der militanten Linskautonomen, bzw. ihre Akteure, von verschiedenen Seiten her
beleuchtet. Aus den jeweiligen Resultaten werden Schlüsse über die Gründe
gezogen, weshalb sich Individuen gewaltbereiten Subkulturen anschliessen. Die
Arbeit zeigt auf, wie vielschichtig das Problem der Jugendgewalt in Subkulturen
ist und dass in diesem Bereich der Sozialen Arbeit noch ein grosser Handlungsbedarf besteht. Als Schlussfazit wurde eine Verständnisgrundlage für Professionelle der Sozialen Arbeit erarbeitet, welche durch ihren Beruf mit Akteuren gewaltbereiter Subkulturen in Kontakt stehen. Aufbauend auf diese Diplomarbeit
könnte ein konkretes Hilfsangebot für Akteure gewalttätiger Jugendsubkulturen
erarbeitet werden.
Einleitung
4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..................................................................................................... 2
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................. 4
1. Einleitung ........................................................................................... 6
1.1. Problemstellung ..................................................................................... 6
1.2. Hauptfragestellung ................................................................................ 8
1.2.1. Fragestellungen Theoretischer Teil................................................. 8
1.2.2. Fragestellungen praktischer Teil ..................................................... 9
1.3. Zielsetzung ............................................................................................ 9
1.4. Aufbau und Struktur ............................................................................. 10
2. Definitionen...................................................................................... 11
2.1. Definition Jugendliche.......................................................................... 11
2.2. Definition Macht ................................................................................... 12
2.3. Definition Gewalt ................................................................................. 13
2.4. Definition Kultur ................................................................................... 13
2.5. Definition Subkultur ............................................................................. 14
2.5.1. Jugendkulturen und (Jugend)Subkulturen .................................... 14
2.5.1.1.
Jugendsubkulturen und Inszenierung .................................... 15
2.5.1.2.
Jugendsubkultur und abweichendes Verhalten...................... 15
3. Die Systemische Denkfigur (SDF) .................................................. 17
3.1. Situationsanalyse ................................................................................ 17
3.1.1. Die Subkultur der Hooligans ......................................................... 19
3.1.1.1.
Beschreibung der Hooligans (B-Fans) anhand der SDF ........ 21
3.1.2. Die Subkultur der militanten Linksautonomen ............................... 22
3.1.2.1.
Beschreibung der Linkautonomen anhand der SDF .............. 26
3.2. Fazit .................................................................................................... 28
4. Sozialisationstheorien .................................................................... 31
4.1. Einführung ........................................................................................... 31
4.1.1. Die allgemeinen Entwicklungsaufgaben in der Jugend ................. 32
4.1.1.1.
Biologische Entwicklung ........................................................ 33
4.1.2. Identitätsentwicklung .................................................................... 34
4.1.3. Einfluss der Familie und der Peer Group ...................................... 35
4.2. Anwendung ......................................................................................... 38
4.2.1. Subkultur der Hooligans ............................................................... 38
4.2.2. Subkultur der militanten Linksautonomen ..................................... 39
4.2.3. Fazit ............................................................................................. 40
5. Biopsychosoziale Bedürfnistheorie............................................... 43
5.1. Einführung ........................................................................................... 43
5.2. Anwendung ......................................................................................... 44
5.2.1. Subkultur der Hooligans ............................................................... 45
5.2.2. Subkultur der militanten Linksautonomen ..................................... 46
5.2.3. Fazit ............................................................................................. 48
6. Theorie anomischer Spannungen .................................................. 49
6.1. Einführung ........................................................................................... 49
6.2. Anwendung ......................................................................................... 51
6.2.1. Subkultur der Hooligans ............................................................... 51
6.2.2. Subkultur der militanten Linksautonomen ..................................... 52
6.2.3. Fazit ............................................................................................. 53
Einleitung
5
7. Risikotheorien ................................................................................. 55
7.1. Einführung in die Theorie des Sensation Seeking ................................ 56
7.1.1. Anwendung der Theorie des Sensation Seeking .......................... 57
7.1.1.1.
Subkultur der Hooligans ........................................................ 57
7.1.1.2.
Subkultur der militanten Linksautonomen .............................. 58
7.1.2. Fazit ............................................................................................. 60
7.2. Einführung in die Theorie des gewaltaffinen Risikoverhalten ............... 61
7.2.1. Anwendung der Theorie des gewaltaffinen Risikoverhalten .......... 62
7.2.1.1.
Subkultur der Hooligans ........................................................ 62
7.2.1.2.
Subkultur der militanten Linksautonomen .............................. 64
7.2.2. Fazit ............................................................................................. 65
7.3. Zusammenfassung Ergebnisse Risikotheorien .................................... 66
8. Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................... 67
8.1. Hauptfragestellung .............................................................................. 67
8.1.1. Fragestellungen Theoretischer Teil............................................... 67
9. Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit .............................. 70
9.1.
9.2.
9.3.
10.
Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit für Hooligans ................. 70
Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit für Linksautonome ......... 71
Fazit .................................................................................................... 74
Schlussteil .................................................................................... 77
10.1.
10.2.
10.3.
11.
Zielerreichung .................................................................................. 77
Schlussplädoyer ............................................................................... 77
Offene Fragen .................................................................................. 78
Quellenverzeichnis ...................................................................... 79
Einleitung
6
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
Zürich, 13. Mai 2006: Nach dem entscheidenden Meisterschaftsspiel zwischen
dem FC Basel und dem FC Zürich schaffte es der schweizer Spitzenfussball seit
langem wieder einmal auf die internationalen Titelblätter: Nach dem Spiel kam es
zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen durch junge Fussballhooligans, welche nach dem Schlusspfiff das Spielfeld stürmten und durch ihre Gewaltbereitschaft die Zuschauer im Stadion und vor den Bildschirmen schockierten.
Den Medienberichten zufolge waren
unter den Hooligans viele Jugendliche
- einige von ihnen jünger als 16 Jahre.
Mit Glatze, Kampfstiefeln und vermummten Gesichtern provozierten sie
inmitten ihrer Fangruppen andere
Firms1, die Sicherheitskräfte und die
Polizei. Regelmässig kommt es zu
Verletzten und zu dutzenden von
Festnahmen.
Zürich, 1. Mai 2006: „Die Ausschreitungen im Anschluss an die unbewilligte
Nachdemonstration zeichneten sich durch ein enormes Aggressionspotential
aus. (…) An einzelnen Gebäuden entstand beträchtlicher Sachschaden. Insgesamt kam es zu 48 Festnahmen durch die Polizei. (…) Immer wieder schwärmten
kleinere Gruppen von zumeist vermummten Personen vom Festareal aus und
gingen gewaltsam gegen die polizeilichen Einsatzkräfte vor. Da sich die gewaltsamen Aktionen stets in unmittelbarer Nähe zu den verschiedenen
Festanlässen abspielten, gestaltete sich das Eingreifen für die Polizeikräfte
enorm schwierig. (…) Bei den
Verhafteten handelt es sich um 40
Männer und 8 Frauen im Alter zwischen 16 und 39 Jahren. (…) Sie wurden wegen Strafbeständen wie Teilnahme an einer unbewilligten Demo,
Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Körperverletzung, Diebstahl und Sachbeschädigung festgenommen.
(Polizeibericht der KaPo Zürich)
Solche und ähnliche Szenen spielen sich oft nach sportlichen oder politischen
Grossanlässen im öffentlichen Raum ab und irritieren die Bevölkerung und die
Polizei. Auffallend ist die überwiegende Beteiligung jugendlicher Akteure im
1
Firms: harter Kern einer Hooligangruppe (ca. 30-50 Männer), welche, angeführt von 2-3
Szeneexponenten, Gewaltaktionen gegen die gegnerische Firm planen. Firms sind
während dem Fussballspiel nicht zwingend im Stadion anzutreffen, oft werden die Spiele
in einer stadionnahen Kneipe verfolgt.
Einleitung
7
Kontext von subkulturellen2 Gruppierungen, welche sich an Sachbeschädigungen, Gewalt gegen einen Gegner oder Ausschreitungen gegen die Polizei, beteiligen. Hier sind im Raum Zürich vor allem Hooligans und militante Linksautonome
des Schwarzen Blocks auffallend oft an der Ausübung von Gewalt beteiligt.
So nimmt beispielsweise die Gewalt an
Sportanlässen in der Schweiz zu. Im Verlauf der
Eishockey- und Fussballsaison 2004/2005
wurden rund 570 Personen festgenommen, rund
90 Personen, darunter auch Polizisten und Unbeteiligte, wurden verletzt. Der Kern von Individuen, die gezielt Gewalt bei Sportveranstaltungen suchten, umfassten im vergangenen Jahr
rund 400 Personen. Weitere 600 Personen waren an Ausschreitungen und Sachbeschädigungen beteiligt. Vielen Fussballfans ist es an
wichtigen Fussballspielen in der Schweiz nicht
mehr wohl, weil sie Angst davor haben, in eine
Schlägerei verwickelt oder von einer Leuchtpetarde getroffen zu werden.
Auch der 1. Mai in Zürich verkommt jedes Jahr an unbewilligten
Nachdemonstrationen
zu einer regelrechten Schlacht
zwischen jugendlichen Linksextremen und der Polizei.
Sachbeschädigungen im Wert
von mehreren hunderttausend
Franken erzürnen die Steuerzahler, Anwohner und Gewerbetreibende, welche eingeschlagene Schaufenster und
angezündete Autos in Kauf
nehmen müssen.
Aus persönlichen Erfahrungen wissen wir, dass Jugendliche sich vereinsmässig
organisieren, sei es im Fussballclub, in der Jugendriege oder in der Pfadi. Es gibt
Jugendliche, welche sich überhaupt nicht organisieren, sie spielen vielleicht ein
Instrument, üben in einer Band oder verbringen die Freizeit mit ihren besten
Freunden.
Viele Jugendliche jedoch schliessen sich im Verlaufe des Ablösungsprozesses
von der Primärgruppe Familie einer Subkultur an und erfahren innerhalb dieser
Gruppe wichtige Sozialisationsprozesse. Gemäss eigener Erlebnisse, Medienberichten und Statistiken zur Jugendgewalt3, weisen einige dieser Jugendsubkulturen deutliche Tendenzen zur Gewalt auf.
In unseren Praktika in der offenen Jugendarbeit und einer Sonderschule haben wir auf Grund diverser Gewaltvorfälle Erfahrungen über die Gewaltproblematik in Jugendsubkulturen gemacht. Die Texte von Rap-Songs beispielsweise
verherrlichen Gewalt und in Medienberichten liest man immer wieder über die
Gewaltbereitschaft in Form von Sachbeschädigung und Vandalismus im öffentli2
3
Zu einer Subkultur gehörend, sie betreffend (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
Vgl. dazu Statistiken im Anhang auf Seite I und II.
Einleitung
8
chen Raum. Jugendgewalt im Kontext von Subkulturen als soziales Problem ist
vielschichtig und zeigt sich auf mehreren Ebenen:
beim Individuum als Angriff auf die physische und psychische Integrität
Integrationsprobleme, z.B. durch das Bestehen eines Vorstrafenregisters
(Schulausschluss oder Verwehrung des beruflichen Einstiegs)
Verletzung gesellschaftlicher Werte und Normen durch Gewaltakte in der
Familie, Schule, im Quartier, in Jugendtreffs, an Bahnhöfen, an Fussballspielen und an öffentlichen politischen Anlässen.
Auf Grund dieser Zahlen und Fakten leitet sich spezifischer Handlungsbedarf für
die Soziale Arbeit ab. Jugendgewalt im Kontext von Subkulturen ist ein Problemfeld, wo die Soziale Arbeit ansetzen kann und muss. Sie tut dies schon, beispielsweise in der Schulsozialarbeit, in der offenen4 und aufsuchenden5
Jugendarbeit oder bei freiwilligen oder gesetzlichen Beratungen an Jugendsekretariaten.
Zur Erlangung eines integrierten Bildes über die Problematik braucht es
Kenntnisse über die verschiedenen gewaltbereiten Subkulturen sowie die
Gründe, warum sich Jugendliche gewaltbereiten Gruppierungen anschliessen.
Als angehende Sozialarbeiterinnen sind wir der Meinung, dass die Soziale Arbeit
im Bereich der Jugendarbeit nur dann am richtigen Punkt ansetzen kann, wenn
genügend Wissen über die Problematik von gewaltbereiten Jugendsubkulturen
vorhanden ist.
In der folgenden Arbeit möchten wir aufzeigen, warum Jugendliche sich gewaltbereiten Gruppierungen anschliessen und der Frage nachgehen, wo Handlungsbedarf für die Soziale Arbeit besteht.
Dazu konzentrieren wir uns im Rahmen unserer Diplomarbeit auf die Subkulturen der Hooligans und der militanten Linksautonomen des Schwarzen Blocks.
Bereits bestehende Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit werden aufgeführt und Wissen in Bezug auf Jugendgewalt in Subkulturen wird erarbeitet, welches für das professionelle Handeln in der Arbeit mit Jugendlichen bei gezogen
werden kann (Hintergrundwissen).
Zur Bearbeitung der an dieser Stelle aufgeführten Problemstellung werden wir
demnach folgende Fragestellungen in dieser Diplomarbeit beantworten.
1.2. Hauptfragestellung
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die an Ausschreitungen beteiligten
Akteure der Hooligans und der militanten Linksautonomen? Gibt es
Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede bezüglich ihrer Motive zur
Ausübung von Gewalt?
1.2.1. Fragestellungen Theoretischer Teil
Was bedeutet die Lebensphase Jugend?
4
Freiwilligkeit der Teilnahme, Mitbestimmung, Mitgestaltung, Selbstorganisation
(Partizipation), Lebenswelt- und Alltagsorientierung, Bedarfsorientierung an Kinder und
Jugendliche (vgl. www.wikipedia.org).
5
Psychosoziale und gesundheitsbezogene Dienstleistung für Jugendliche mit Arbeitsfeld
im alltäglichen Lebensmilieu der jeweiligen Zielgruppe in halböffentlichen, öffentlichen
und privaten Lebensfeldern (vgl. www.wikipedia.org).
Einleitung
9
Was sind Subkulturen?
Welche Formen von Gewalt gibt es?
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die Hooligans?
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die militanten Linksautonomen?
Nach welchen Kriterien und Merkmalen unterscheiden sich die beiden Subkulturen?
Welche Absichten haben Hooligans und welche Motive veranlassen sie zu
Krawallen bei und/oder nach Fussballspielen?
Welche Absichten haben militante Linksautonome und welche Motive veranlassen sie zu einer Teilname an Nachdemonstrationen?
Gibt es Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten in den Gründen, warum
sich Jugendliche der ausserparlamentarischen Linken oder den Hooligans
anschliessen?
1.2.2. Fragestellungen praktischer Teil
Welche Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit gibt es für Hooligans?
Welche Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit gibt es für die
linksautonome Szene?
Inwiefern kann das in dieser Diplomarbeit erarbeitete Wissen im Rahmen der
professionellen Jugendarbeit beigezogen werden?
1.3. Zielsetzung
Grundsätzliches Ziel dieser Arbeit ist es, die formulierten Fragestellungen anhand
von Literatur und theoretischem Wissen zu beantworten.
Im theoretischen Teil wird nach Gründen gesucht, warum sich Jugendliche
gewaltbereiten Jugendsubkulturen anschliessen. Motive dazu werden am Beispiel der Subkulturen der Hooligans und den militanten Linksautonomen des
Schwarzen Blocks aufgezeigt.
Im praktischen Teil werden Unterstützungsangebote für die oben genannten
Zielgruppen aufgeführt und eine theoretische Verständnisgrundlage für Sozialarbeitende im Jugendbereich erarbeitet, welche bei der Ausübung ihrer Profession
mit gewaltbereiten Subkulturen in Berührung kommen.
Einleitung
10
1.4. Aufbau und Struktur
Die Diplomarbeit ist in 5 Teile gegliedert:
Einleitungsteil
Im Einleitungsteil wird ein Bezug zwischen Problemstellung und Fragestellung
hergestellt und die Zielsetzung der Diplomarbeit wird erläutert.
Definitionsteil
Im Definitionsteil werden für diese Diplomarbeit relevante Begriffe eingeführt und
Anhand von Literatur erklärt und definiert.
Theoretischer Teil
Im theoretischen Teil wird die Systemische Denkfigur als Mittel zur Situationsanalyse, sowie vier verschiedene Erklärungstheorien (Sozialisationstheorien,
biopsychosoziale Theorie menschlicher Bedürfnisse, Theorie struktureller und
anomischer Spannungen und Risikotheorien) eingeführt. Als Erstes werden die
Theorien jeweils eingeführt und dann auf die Subkulturen der Hooligans, bzw.
der militanten Linkautonomen angewendet. Aus den beiden Anwendungen wird
zum Schluss ein Fazit zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden
Subkulturen, bezüglich der jeweiligen Theorie, gezogen.
Praktischer Teil
Im praktischen Teil werden Unterstützungsangebote für Hooligans und die militanten Linksautonomen beschrieben und eine theoretische Verständnisgrundlage
für Sozialarbeitende im Jugendbereich erarbeitet.
Schlussteil
Im Schlussteil wird die Zielerreichung überprüft und nach einem Schlussplädoyer
werden offene Fragen aufgeführt, welche in dieser Diplomarbeit nicht bearbeitet
werden konnten.
Definitionen
11
2. Definitionen
An dieser Stelle werden für die Arbeit relevante Begriffe eingeführt, definiert und
erklärt.
2.1. Definition Jugendliche
Es existieren viele verschiedene Ansätze, wie das Jugendalter definiert wird.
Strafrechtlich gesehen ist jugendlich, wer sich im Alter zwischen dem vollendeten
10.- und dem vollendeten 18. Lebensjahr befindet. Wer in dieser Altersspanne
eine Straftat begeht, untersteht dem Jugendstrafgesetz (vgl. JStG, Ausgabe vom
20. Juni 2003).
Entwicklungspsychologen, wie beispielsweise Erik H. Erikson mit seiner Theorie der Lebensspanne6 oder Robert Havighurst mit seiner Theorie der Entwicklungsaufgaben (vgl. Schenk-Danzinger, 1999), betonen die verschiedenen Aufgaben, welche Jugendliche zu bewältigen haben. Sie grenzen die verschiedenen
Altersspannen nicht (nur) zeitlich ein, sondern in verschiedene Phasen, welche
jeder Mensch durchlaufen muss. Diese Phasen sind durch einschneidende Veränderungen biologischer und psychosozialer Art geprägt.
Auch Soziologen, wie beispielsweise Klaus Hurrelmann, beschäftigen sich mit
dem Jugendalter. Für ihn ist die Jugendphase dann beendet, „wenn in allen relevanten Handlungsbereichen ein vollständiger oder zumindest weit reichender
Grad von Autonomie und Eigenverantwortung erreicht ist“ (vgl. Hurrelmann,
1999).
Das Jugendalter wird auch als Adoleszenz bezeichnet, womit die Altersphase
zwischen Kindsein und dem Erwachsenalter gemeint ist. Die Adoleszenz kann in
verschiedene Lebensphasen unterteilt werden, wobei diese Unterteilung nicht als
klare Abgrenzung betrachtet werden darf. Sie dient lediglich der ungefähren
Einteilung. In Kapitel 5 werden wir anhand von Sozialisationstheorien noch ausführlicher auf die Lebensphase Jugend eingehen7.
Tabelle 1, Lebensphasen der Adoleszenz
Vorpupertät
Präadoleszenz
Pubertät
Frühadoleszenz
mittlere
Adoleszenz
späte
Adoleszenz
Postadoleszenz
10 – 12 J.
13 – 15 J.
15 – 17 J.
18 – 20 J.
21 – 25 J.
Laut Statistiken8 hat die Jugendgewalt in der Schweiz in den letzten Jahren stetig
zugenommen und das Alter der Jugendlichen, welche durch Gewalt auffallen, hat
sich nach unten verschoben. So werden beispielsweise an Demonstrationen und
sportlichen Grossanlässen immer jüngere Jugendliche von der Polizei aufgegriffen und kommen auf diese Weise erstmals mit dem Strafrecht in Berührung.
Deshalb werden wir uns in dieser Diplomarbeit nicht nur auf Jugendliche, welche
sich in der Phase der späten Adoleszenz, bzw. der Postadoleszenz befinden,
6
Vgl. www.dr-mueck.de
Vgl. www.socioweb.de
8
Vgl. Statistiken zur Jugendgewalt im Anhang auf Seite I und II.
7
Definitionen
12
sondern auf Jugendliche in allen Adoleszenzphasen konzentrieren. Wir beschränken uns auf männliche Jugendliche, da vor allem die Subkultur der Hooligans, aber auch diejenige der Linksautonomen, eine Männerdomäne ist. Wenn in
dieser Arbeit also von Jugendlichen gesprochen wird, sind damit männliche Jugendliche im Alter zwischen 13 und 25 Jahren gemeint.
2.2. Definition Macht
Bevor genauer auf den Begriff der Gewalt eingegangen wird, ist es an dieser
Stelle sinnvoll, zuerst den Begriff der Macht zu betrachten, denn nur wenn ein
Individuum in irgendeiner Form eine Machtposition innehat, kann es auch Gewalt
ausüben.
Nach Popitz (1992) ist jede Machtanwendung eine Freiheitsbegrenzung und
muss daher gerechtfertigt werden. Er sieht die Macht als das Vermögen, sich
gegen fremde Kräfte durchzusetzen.
Popitz spricht von vier verschiedenen Machtformen:
Instrumentelle Macht (Menschen haben Macht über andere Menschen, weil
sie anderen etwas nehmen und geben können. Basis dieser Macht ist
Haben).
Autoritative Macht (Diese Machtform hängt an unserem Bestreben nach
Bestätigung. An solchen Bestätigungen hängt unser Selbstwertgefühl).
Datensetzende Macht (Macht haben Menschen über andere aufgrund ihrer
technischen Handlungsfähigkeit, ihrer herstellenden Intelligenz).
Aktionsmacht (Menschen haben Macht über andere Menschen, weil einer
den anderen verletzen kann, indem er seine Gegenkräfte durchbricht).
In Einbezug des Themas dieser Arbeit interessiert hier vor allem die Aktionsmacht. Der Mensch hat Verletzungskraft oder verletzende Aktionsmacht gegenüber allen Organismen, auch gegenüber anderen Menschen. Diese Macht ist in
der Regel ungleich verteilt aufgrund angeborener Begabung, Schnelligkeit, Muskelkraft etc.
Geiser (2004) definiert Macht als „die Kontrolle über knappe Güter im Sinne von
Ressourcen für das Erreichen von Zielen“.
In Geisers Ausführungen stehen die Machtquellen im Zentrum. Er erwähnt dessen vier:
Artikulationsmacht (Wissen als knappes Gut)
Positions- Organisationsmacht (eine hohe Position als knappes Gut)
Körpermacht (Kraft, Aussehen und Gesundheit als knappes Gut)
Ressourcenmacht (Macht durch Kontrolle als knappes Gut)
Hier interessiert besonders die Körpermacht. Eine Person hat gegenüber einer
anderen Person eine Machtposition, weil sie ihr körperlich überlegen ist. Die Körpermacht als Machtquelle ist daher zu vergleichen mit der Aktionsmacht von Popitz. Dies ist die direkteste Form von Macht. Jemand hat die Macht einer anderen
Definitionen
13
Person mit einer gegen sie gerichteten Aktion Schaden zuzufügen. Aktionsmacht
ist Verletzungsmacht, der Aktionsmächtige der Verletzungsmächtige.
2.3. Definition Gewalt
Nach Hurrelmann (1995) wird unter Gewalt „die körperliche und auf Verletzung
des Anderen ausgerichtete Aggression“ verstanden. Gewalttätig ist ein Verhalten
also dann, wenn es mit Absicht ausgeführt wird um jemandem zu schaden. Um
die Begriffe von Geiser und Popitz zu verwenden, ist Gewalt die Ausübung von
Körpermacht bzw. Aktionsmacht.
Geiser unterscheidet vier Formen von Gewalt:
Die angedrohte und/oder reale, gezielte, direkte (Faustschlag, Messer) oder
indirekte (Schusswaffe) Aktion gegenüber anderen Körpern Zwecks
Schädigung der Gesundheit bzw. Bedrohung des Lebens oder Zwecks
Aneignung von deren Gütern.
Der unkontrollierte Einsatz gegenüber anderen Körpern (Affekthandlungen).
Der Gebrauch des körperlichen Einsatzes als Selbstverteidigung / Notwehr.
Der Einsatz von Gewaltmitteln aufgrund des Gewaltmonopols durch Polizei /
Militär.
Wichtig an dieser Stelle zu erwähnen ist, dass die Gewaltformen einerseits nach
legal oder illegal unterschieden werden können, andererseits nach legitim oder
illegitim. Nicht jede Gewaltausübung, die legal ist, muss auch zwingend legitim
sein. Als Beispiel hierzu können Polizeieinsätze an Demonstrationen genannt
werden, deren Legitimität immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt.
2.4. Definition Kultur
Um den Begriff Subkultur zu definieren und zu verstehen, bedarf es zuerst einer
Definition von Kultur. Nach Obrecht (1998) ist Kultur etwas leicht Erlebbares,
jedoch etwas sehr schwer Verstehbares (Erklärbares).
Er unterscheidet im Zusammenhang mit Kultur die vier Aspekte a) Sprache, b)
begriffliche oder kulturelle Codes, c) Bilder im Sinne von Faktenwissen über Realitätsausschnitte und d) Werte.
Die Sprache ist die Technik der Verständigung. In dem wir Zeichen geben
und kennen, können wir uns verständigen. Sprache kann verbal sein oder
in Schriftform vorliegen.
Begriffe sind Elemente von Gedanken. Es ist uns also möglich, wahrgenommene Aspekte verschiedener Dinge bewusst wahrzunehmen und zu
verstehen. Begriffe sind die Kernelemente von Kultur. Da Begriffe in der
Regel nicht einzeln sondern in Aussagen verwendet werden, sind sie
nach Obrecht Komponenten von Aussagen. Unter begrifflichen (kulturellen) Codes wird allgemein ein Aussagensystem verstanden. Ein Code ist
ein Produkt der Menschheit, einer Kultur, einer sozialen Schicht oder eines Individuums.
Bilder sind Vorstellungen über Zustände. Ein Bild ist all das, wovon wir glauben, es sei der Fall. Bilder sind kulturabhängig und sind kein Abbild der
Definitionen
14
Wirklichkeit. Demnach ist ein Bild die Menge von Faktizitätsaussagen, die
ein Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein konkretes Ding
für wahr hält.
Werte sind jene Klassen von Zuständen, auf deren Erreichung oder Erhaltung
eine bestimmte Art von Organismen hin tendieren. Ein Wert ist ein SollZustand und beantwortet die „Was-ist-gut-Frage“ (vgl. Obrecht, 2003).
Arrationale Werte sind Biowerte und bewusste Werte sind Werturteile.
Werturteile sind von Kultur zu Kultur verschieden.
2.5. Definition Subkultur
Nachdem der Kulturbegriff erläutert ist, wenden wir uns dem Begriff der Subkultur
zu.
Gemäss Ferchhoff (1990) nimmt im Rahmen der sozialwissenschaftlichen und
pädagogischen Theoriediskussion über Jugend die These von einer (eigenständigen) „Jugend- bzw. Subkultur der Heranwachsenden“ seit der Jahrhundertwende einen wichtigen und gleichsam auch zu kontroversen Interpretationen und
Auseinandersetzungen führenden Stellenwert ein. Der Begriff und die Idee der
(jugendlichen) Subkultur entstammen vornehmlich der angloamerikanischen Soziologie und Kulturanthropologie und wurden in den 20er, 30er und 40er Jahren
in die entsprechende wissenschaftliche Diskussion und Literatur eingeführt.
2.5.1. Jugendkulturen und (Jugend)Subkulturen
In den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Spannungsfeld von Jugend und Kultur, wurde im Regelfall von „Jugendkultur“ geschrieben. Damals herrschte noch die Vorstellung einer einheitlichen Jugend vor.
Wichtige Differenzierungen wie klassen- und schichten- sowie milieu- und geschlechtsspezifische Unterschiede wurden weitgehend ignoriert. In den 70er und
80er Jahren trat jedoch eine Vielfalt von Jugendkulturen auf den Plan und ihre
Verschiedenheit erlaubte nicht länger, sie unter dem vereinheitlichenden Label
der Jugendkulturen zusammenzufassen.
Subkultur beschreibt mehr als Jugendkultur einfach nur ein Subsystem einer
gesellschaftlichen Gesamtkultur. Der Begriff Subkultur bringt auch die vom
Mainstream abgewandten, alternativen, auf bestimmte Milieus eingegrenzten,
gegenkulturellen Momente von Stilbildungen zur Sprache. Der Begriff thematisiert Abseitiges, gleichsam eine Perspektive von unten („sub“latein= unter), etwas Aufbegehrendes und Subversives9.
Nach Rohmann (1999) wird Subkultur wie folgt definiert:
„Subkulturen bestehen aus kulturellen Gruppen unterschiedlicher Anzahl und
Grösse und werden durch einen Normen-, Verhaltens- oder Regelkatalog als
System generiert. In einer Subkultur bildet sich ein für diese Subkultur
spezifscher, wenn auch in diese Subkultur nicht einzig verwendeter Diskurs
9
Subversion ist eine meist im Verborgenen betriebene, auf Umsturz der bestehenden
staatlichen Ordnung zielende Tätigkeit. Subversiv heisst Subversion betreibend,
umstürzlerisch (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
Definitionen
15
heraus. Eine Subkultur besteht in Abgrenzung zu anderen Subkulturen und zur
übergeordneten Einzelkultur.“
Unter www.wikipedia.org ist folgende Definition zu finden:
„Der Begriff der Subkultur (Unterkultur) ist ein ursprünglich in der Soziologie
verwendeter Terminus, mit dem eine bestimmte Untergruppe (Teilmenge) der
sozialen Akteure einer Kultur beschrieben wird, die sich insbesondere im Hinblick
auf gültige Normen deutlich von der „herrschenden“ Kultur abgrenzen“.
2.5.1.1. Jugendsubkulturen und Inszenierung
Jugendsubkulturen können als Bedeutungszusammenhang, der über Lebensstile10, Stilisierungen und Inszenierungen von Jugendlichen aktiv hergestellt wird,
beschrieben werden. Im Vordergrund stehen Themen von Form und Gestalt der
eigenen Lebensführung. Die Inszenierungen gewinnen ihre Attraktivität vor allem
dadurch, dass sie mit Lebensgenuss verbunden sind und dadurch Spass machen. Der gewählte Weg über den Spass ist dabei nach Raithel (2004) nicht zufällig, sondern eröffnet Zugänge zu einer bestimmter Weise körperlichen Erlebens. In zahlreichen Jugendsubkulturen herrscht dabei die Orientierung an Action oder körperlichem Styling vor. Unabdingbar ist dabei immer das Zusammensein mit Gleichgesinnten, denn jugendsubkulturelles Erleben wird durch den
Gleichklang der Gruppe erst richtig schön.
2.5.1.2. Jugendsubkultur und abweichendes Verhalten
Da in unserer Arbeit das Augenmerk auf zwei gewaltaffinen Jugendsubkulturen
liegt, wird an dieser Stelle der Aspekt von abweichendem Verhalten und Subkulturen kurz beleuchtet.
Die Basisannahme des subkulturellen Ansatzes von Ferchhoff (1990) betrachtet
abweichendes Verhalten als Konformität zu bestimmten Verhaltensstandards
eines Subsystems der Gesellschaft, die von der Gesamtgesellschaft nicht anerkannt werden. So gesehen wird die dominante Kultur, welche die so genannte
„Normalität“ darstellt, von der Subkultur, die eine Abweichung von der „Normalität“ darstellt, in Frage gestellt. Abweichendes Verhalten von subkulturellen Gruppen ist somit eine beinahe unwillkürliche Begleiterscheinung, wenn sich
Subkulturen bilden. Durch die Individualisierung, die Pluralisierung der sozialen
Lebenswelten und des sozialstrukturellen Wandels gerät auch die kulturelle
Balance in Unordnung. Wenn die „dominante“ Kultur diese Wandlungen nicht
mehr verarbeiten kann, gibt es laut Ferchhoff eine Vielzahl von Gegenkulturen, in
denen gewissermassen experimentell, oftmals in den Extremen von Aggression
und Gewalt, alternative Ordnungen durchprobiert werden.
Unabhängig davon, welche gesellschaftliche Funktion man den verschiedenen
Jugendsubkulturen insgesamt zuweist, geht die soziawissenschaftliche und pädagogische Debatte davon aus, das Entstehen von Jugendsubkulturen aus den
Veränderungen des gesamtgesellschaftlichen Gefüges erklären zu können. Jugendsubkultur ist kein zeitübergreifendes Phänomen, also kein Wert an sich,
sondern stets ein zeittypisch definierter Begriff mit einem sich ändernden Inhalt
(vgl. Ferchhoff, 1990).
10
Unter Lebensstil wird ein regelmässig wiederkehrender Gesamtzusammenhang der
Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbeständen und bewertenden
Einstellungen eines Menschen verstanden (vgl. Raithel, 2004).
Definitionen
16
Die Systemische Denkfigur
17
3. Die Systemische Denkfigur (SDF)
Die Systemische Denkfigur (im Folgenden mit SDF abgekürzt) wird als Mittel zur
Beschreibung von Individuen eingeführt. An dieser Stelle der Arbeit wird die SDF
als Instrument einer Situationsanalyse verwendet, anhand dessen eine Beschreibung der Subkulturen der Hooligans, bzw. der militanten Linksautonomen
gemacht wird.
Die theoretischen Beschreibungen der Denkfigur beziehen sich auf das von Geiser verfasste Buch „Problem- und Ressourcenananlyse in der Sozialen Arbeit“
(vgl. Geiser, 2000, 2004).
Auf dem Hintergrund des Systemischen Paradigmas Sozialer Arbeit (SPSA)
wurde ein Instrument zur Situationsbeschreibung entwickelt. Dieses Instrument
wird als systemische Denkfigur (SDF) bezeichnet. Die SDF ist ein kognitives Instrument zur Bewältigung professioneller Aufgaben von Sozialarbeitenden. Sie
ermöglicht systemische und systematische Erfassung, Strukturierung, Beschreibung und Bewertung von Informationen aus dem Gegenstandsbereich Sozialer
Arbeit. Aufgrund der Beschreibung von Individuen und ihrer sozialen Situation
mittels SDF kann eine Bewertung im Sinne einer Problembestimmung vorgenommen werden. Die Problembestimmung bildet ihrerseits die Grundlage zur
Erfassung der für die Problembearbeitung vorhandenen Ressourcen des analysierten Objekts (vgl. Geiser, 2004, S. 4). Nach Geiser ist mit Hilfe der SDF folgendes möglich:
„Die Situation von Individuen als Komponenten sozialer Systeme erfassen
und beschreiben: Das Ergebnis ist ein Bild über ihre Ausstattung (….);
dieses Bild kann bewertet werden, das Ergebnis der Bewertung besteht in
der Problembestimmung und wenn möglich auch in der Bestimmung von
Ressourcen der Adressaten, die zu Bearbeitung dieser Probleme genutzt
werden.“
„Beziehungen bzw. soziale Systeme erfassen und beschreiben“. Die sozialen
Systeme werden vorerst ihren „idealen“ formalen Positionsstrukturen11
nach unterschieden, nämlich als horizontal und strukturierte
(Austauschbeziehungen) einerseits und als vertikal strukturierte (Machtbeziehungen) andererseits. Das Ergebnis ist ein Bild über die Interaktionsstruktur12. Dieses kann im Verlauf der weiteren Analyse, im Sinne von
Austauschproblemen und/oder Machtproblemen, bewertet werden. Die
normative Begründung für Ausstattungs-, Austausch- und Machtprobleme
erfolgt auf Grund der jeweils verletzten gesellschaftlichen Werte bzw.
dauerhaft nicht befriedigter Bedürfnisse.“
3.1. Situationsanalyse
11
Die Positionsstruktur ist das verfestigte Ergebnis der Interaktionsstruktur: sie bildet sich
ab in Form von Rollen mit Rechten und Pflichten, die sie in Form von Interaktionen mit
anderen Komponenten ausdrücken (Prozesse) (vgl. Geiser, 2004).
12
Das Gesamt an sozialen Interaktionen (Gefühle, moralische Verpflichtungen, Ansprüche
in Form sozialer Normen) zwischen Individuen wird als Interaktionsstruktur bezeichnet
(vgl. Geiser, 2004).
Die Systemische Denkfigur
18
In diesem Teil der Situationsanalyse folgt nun die systematische Bearbeitung der
individuellen Ausstattung eines Individuums. Sie soll gewährleisten, dass alle
Aspekte der Thematik bearbeitet werden und die vorhandenen Informationen
nicht verschiedenen „Verzerrungsquellen“ unterliegen.
Für die Darstellung der oben erwähnten Eigenschaften wählte Geiser (basierend
auf Staub-Bernasconi) die nachstehende Abbildung. Die Eckpunkte bilden dabei
folgende Bereiche: Rezeptoren (R), Erkennen/Erleben und Modell (E/M), Aktivitäten (A), Umwelt intern (Ui), Umwelt extern (Ue).
Mittels dieses Modells werden die Ausstattungsmerkmale der Hooligans und der
militanten Linksautonomen erarbeitet.
E/M
R
A
Ui
Ue
Abbildung 1, Systemische Denkfigur
Ui (Umwelt intern)
Damit ist der menschliche Organismus gemeint, d.h. die biologische Ausstattung
eines Individuums (vgl. Geiser, 2004, S. 23).
Ue (Umwelt extern)
Damit wird die soziale Ausstattung des Individuums bezeichnet, nämlich a) sozioökonomische Güter verschiedenster Art (Bildung, Beruf, Einkommen, Besitz,
Arbeitsplatz, Wohnung usw.), b) Teilhabe an den soziökologischen Bedingungen
seiner Umwelt (Luft, Wasser, Infrastruktur), c) soziokulturelle Zuschreibungen
(z.B. ethnische und konfessionelle Zugehörigkeit) und d) Mitgliedschaften (vgl.
Geiser, 2004, S. 23).
R (Rezeptoren)
Damit sind die Komponenten des peripheren Nervensystems gemeint, die der
Informationsaufnahme dienen (Aufnahme von Reizen von ausserhalb des Organismus durch die Sinnesorgane, aber auch aus dem Inneren des Organismus
selbst).
E/M (Erkennen/Erleben bzw. Modell)
Dieses Aussattungsmerkmal beinhaltet die biopsychische Grundfunktion und
höhere Funktionen des Zentralnervensystems im Sinne der Informationsverarbeitung, also biopsychische Prozesse und Zustände, die mit den Begriffen Lernen bzw. Wissen zusammengefasst werden können (vgl. Geiser, 2004, S. 23).
Dabei wird unterschieden zwischen psychischen Prozessen (E), damit sind Emo-
Die Systemische Denkfigur
19
tionen oder das Lernen gemeint und psychischen Zuständen (M), diese beziehen
sich auf das vorhandene Wissen einer Person.
A (Aktivität)
Mit Aktivitäten beschreiben wir das äussere Verhalten des Organismus und insbesondere das Handeln des Individuums als psychomotorischer Ausdruck (vgl.
Geiser, 2004, S. 23-24). Das Handeln ist als Teilmenge des Verhaltens gemeint,
welches eine sichtbare Veränderung / Bewegung eines Organismus bezeichnet.
Handeln meint „den motivierten, gezielten, sichtbaren Ausdruck eine mehr oder
weniger bewussten und gesteuerten Versuches, ein Problem oder eine Spannung zu lösen“.
Durch diese anhand der Denkfigur erhobenen Eigenschaften erhalten wir ein Bild
über die Ausstattungsmerkmale von Hooligans und militanten Linksautonomen.
Es können Eigenschaften, die zu individuellen und/oder sozialen Vor- und
Nachteilen führen, besser erkannt- und Ressourcen als Mittel der Veränderung
der Situation deutlicher gemacht werden.
3.1.1. Die Subkultur der Hooligans13
Das Wort Hooligan ist in der heutigen Presse zum Schlagwort geworden und wird
als Synonym für die Verursacher jeglicher Gewaltvorkommnisse verwendet. Wer
aber sind überhaupt die Hooligans und wie hat sich die Fan-Szene in der
Schweiz in den letzten Jahrzehnten verändert?
Fans können in drei verschiedene Kategorien eingeteilt werden:
A-Fan: Zu den A-Fans gehören die friedlichen Fans. Sie gelten nicht als gewaltbereit und gehen ins Stadion um ein Fussball- (oder Eishockey-) Spiel
zu schauen. Ca. 90% der Stadionbesucher gehören zu dieser Fankategorie.
B-Fans: Zu den B-Fans gehören die „modernen Hooligans oder die „richtigen
Fans“. Sie sind in den Farben ihres Clubs gekleidet und sind im Stadion in
grösseren Gruppen anzutreffen. Während dem Spiel fallen sie durch ihre
lauten Fangesänge auf. Sie gelten als unberechenbar, denn je nach
Situation oder Vorkommnis auf dem Spielfeld geraten sie ausser sich und
werden gewalttätig. Zu den B-Fans gehören fast ausschliesslich
männliche Jugendliche auf der Suche nach „Action“ und „Fun“. In der
Schweiz stehen pro Mannschaft ca. 300 – 600 B-Fans in der Fankurve, in
wichtigen Spielen manchmal auch mehr.
C-Fans: Zu dieser Fangruppe gehören die klassischen Hooligans. Sie wollen
sich klar von den anderen Fans abgrenzen, in dem sie körperliche
Auseinandersetzungen mit den Hooligans der gegnerischen Mannschaft
planen. „Wir kämpfen nur gegen Gleichgesinnte und das nach bestimmten Regeln“. Die Hooligans halten sich an eine Art Ehrencodex, der beispielsweise den Einsatz von Waffen oder die Gewalt gegen Unbeteiligte
verbietet. In der Schweiz gehören zu den grösseren Clubs ca. 20 – 40
Hooligans.
Tabelle 2, Übersicht der Fangruppierungen
13
Vgl. zu diesem Kapitel das Interview mit der Kantonspolizei im Anhang auf Seite III und
IV.
Die Systemische Denkfigur
20
Kategorie
Kurzbeschrieb
A-Fans
Friedliche Fussballfans,
Fussball steht im Zentrum
B-Fans
C-Fans
Aktive Fans, emotional
und vereinsorientiert,
bestehen aus
verschiedenen
Untergruppierungen,
grosse Masse
Hooligans, Fans welche
Gewalttätigkeiten gegen
andere Hooligans planen,
30-40 Personen
Verhalten
Besuchen das
Spiel und gehen
danach wieder
nach Hause
Vor-, währendund nach dem
Spiel aktiv,
Sprechchöre.
Stehen in der
Fankurve
Besuchen das
Spiel nicht
immer, warten
auf die „3.
Halbzeit“
Gewalt
Nicht gewaltbereit,
gehen der Gewalt
aus dem Weg
Situativ gewaltbereit,
Sachbeschädigungen
und Pöbeleien, oft
auch gegen
Schwächere
Gewaltbereit,
Gewaltausübung
steht im Mittelpunkt
In dieser Arbeit werden die B-Fans im
Zentrum stehen, weil die Gewaltbereitschaft
ihrer jugendlichen Mitglieder in der Schweiz
in den letzten Jahren zugenommen hat.
Wenn in dieser Arbeit das Wort Hooligans
benutzt wird, sind nicht die klassischen Hooligans (C-Fans) gemeint, sondern die „modernen Hooligans“ (B-Fans), welche auch
gewalttätig sind, aber in einer anderen Form.
Die B-Fans suchen über eine grosse Gruppe Gleichgesinnter den Kick durch
Grenzerfahrungen und die Gelegenheit ihr „männliches Gehabe“ durch Pöbeleien und Gewalt gegen Schwächere auszuleben. In der Gruppe fühlen sie sich
stark und begehen Straftaten (Gewalt oder Sachbeschädigungen), die sie alleine
nicht begehen würden. Sie sind für die Polizei sehr schwer greifbar, weil sie im
Stadion den Schutz der Masse suchen und sich nach dem Spiel in kleineren
Gruppen vom Stadion wegbewegen. Oft kommt es nach Fussballspielen zu
Sachbeschädigungen in grossem Ausmass. Nicht selten werden Cars der gegnerischen Mannschaft zerstört, Autoscheiben eingeschlagen oder Gebäude beschädigt. Als Gegner bezeichnen die B-Fans einerseits gegnerische Fans, andererseits aber auch die Leute von der Polizei, welche sie immer wieder angreifen
oder mit Steinen bewerfen.
Wegen dem tiefen Niveau ihrer Sprechchöre („alle Basler sind schwul“ oder
„GC, GC, die Scheisse vom See“) und ihrer Gespräche (gut zu beobachten im
Tram vor einem Spiel), kann man schlussfolgern, dass sie ein eher tieferes
kognitives Niveau haben oder zumindest im Bezug auf die Fussballspiele nicht
viel überlegen. Sie konsumieren vor und an den Fussballspielen sehr viel Alkohol
(Bier), was ihre Stimmung beträchtlich beeinflusst.
Die Systemische Denkfigur
21
3.1.1.1. Beschreibung der Hooligans (B-Fans) anhand der SDF
Die folgend Analyse bezieht sich auf fiktive Individuen, die eine idealtypische
Identität der Hooligans verkörpern und an Fussballspielen Gewalt ausüben. Da
die SDF kein Mittel zur Beschreibung von Personengruppen ist, ist sie in dieser
Arbeit als ein Prototyp14 einer ganzen Gruppierung zu verstehen. Es erfolgt also
keine Personenbeschreibung, sondern es wird vom Einzelfall abstrahiert und auf
einer höheren Abstraktionsebene empirisch vorfindbare Regelmässigkeiten und
Sinneszusammenhänge beschrieben.
Umwelt intern
Hooligans sind äusserlich unauffällig (ausser der Fanbekleidung an den Fussballspielen). Sie sind fast ausschliesslich männlich und zwischen 13- und 25
Jahre alt. Körperlich sind sie gesund.
Umwelt extern
Die sozioökonomische Ausstattung der Hooligans ist eher gering. Die meisten
haben eine schlechte Bildung (Real- oder Oberschule), machen eine Berufslehre
oder sind arbeitslos. Viele wohnen noch zu Hause, wobei sie aus verschiedenen
sozialen Schichten stammen. Ursprünglich gehörten die Hooligans klar der Unterschicht an, heute ist die Schichtzugehörigkeit durchmischt. Unter den Hooligans sind auch Ausländer verschiedener Herkunft vertreten, wobei Schweizer in
der Überzahl sind. Die Hooligans wohnen im Kanton Zürich, wobei die meisten
aus städtischem Gebiet kommen. Konfessionelle und ethische Zugehörigkeit hat
in der Subkultur der Hooligans keine relevante Bedeutung. Einige von ihnen sind
der Polizei wegen verschiedenen kleinen und mittelgrossen Delikten bekannt.
Eine Eintragung ins Vorstrafenregister könnte eine Berufsausbildung gefährden.
Rezeptoren
Alkohol ist bei den Hooligans ein grosses Thema. Im alkoholisierten Zustand
haben sie eine verzerrte Wahrnehmung der Realität.
Erkennen,Erleben / Modell
Hooligans fühlen sich in der Gruppe am wohlsten, denn der Schutz der Gruppe
verleiht ihnen Sicherheit. Sie fühlen sich stark und „heizen“ sich gegenseitig an.
Hooligans haben keine einheitlich konfessionelle oder politische Einstellung, wobei die meisten eher zum rechten Lager tendieren. Bei Fussballspielen steht jedoch allein der Sport im Vordergrund. Durch die Ausübung von Gewalt (sei dies
gegenüber anderen Individuen oder Dingen) gehen sie an die Grenzen um den
„Kick“ zu spüren. Sie sind auf der Suche nach „Fun“ und „Action“, wobei sie immer wieder mit der Polizei in Berührung kommen.
Folgende Zitate von Hooligans sind im Internet15 zu finden:
„Hei Ihr verblödeten Baselfans was geht bei euch, ausser scheisse sein und verdammt schwul auszusehen?? O mein Gott seid Ihr beschissen... geben wir doch
alle zusammen einmal einen grossen Schiss auf euer drecks Stadion und eure
drecks Fressen“.
14
15
Urbild, Muster, Inbegriff (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
Vgl. www.fcbforum.ch.
Die Systemische Denkfigur
22
„Uff unsere Site muesi sage, absolut geili Stimmig! Wobi me säge muess, dass
es immer no gnueg git, wo eifach ihri Schnurre nid uffbeköme! E Schand isch das
- und usgrächnet gege e Zürcher Mannschaft, wo me eigentlig gnueg "heiss" söt
si !!! Mi ka nur immer wieder hoffe, dass alli endlig mol Stimmig mache und ihri
Schnurre zum singe und schreie uffbeköme...!!!“
Interview mit einem Hooligan:
„Bloss, das ist es auch, was irgendwo den Reiz ausmacht: Diese Angst zu überwinden. Sicher zittern einem vorher die Knie. Man ist aufgeregt und geht in einer
Viertelstunde drei Mal pinkeln. Da kannst du gar nichts dagegen machen. (…)
Man weiss ja nie was kommt. Bis zu dem Augenblick, wo es abgeht, bist du unheimlich aufgeregt. Wenn es abgeht, dann bist du ruhig, dann weißt du ja, was
dich erwartet. (…) Aber wenn du vollkommen ungewiss durch eine andere Stadt
läufst, hast du schon mal die Hosen voll“ (vgl. Farin, 1993, S. 180).
Aktivitäten
Hooligans kleiden sich in den Farben ihres Vereins. Sie versammeln sich vor den
Spielen vor dem Stadion oder treffen sich in der jeweiligen Fankurve. Während
des Spiels fallen sie durch laute Fangesänge oder Sprechchöre auf. Nach dem
Spiel verlassen sie das Stadion in kleineren Gruppen. Oft treffen sie dabei auf
gegnerische Fangruppen, provozieren diese oder pöbeln sie an. Manchmal
kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Die Fangruppen ziehen
durch die Stadt und begehen immer wieder Sachbeschädigungen. Autoscheiben
werden eingeschlagen, ganze Cars zerstört, wodurch beträchtliche Schäden
entstehen. Immer wieder liefern sich die B-Fans Schlachten mit der Polizei.
3.1.2. Die Subkultur der militanten Linksautonomen
Bevor nun die Beschreibung der linksautonomen Szene16 anhand der SDF erfolgt, bedarf es einem kurzen Überblick über die Linksextreme Szene in der
Schweiz sowie einige Begriffserklärungen und Zusammenhänge, welche für den
weiteren Verlauf der Arbeit relevant sind.
Linksextremismus
Linksextreme Gruppierungen werden auch als Linksautonome oder ausserparlamentarische Linke bezeichnet. Sie sind nicht in der Regierung vertreten, sondern positionieren sich mit ihrer politischen Einstellung noch weiter aussen links
als die linken Parteien wie beispielsweise die SP oder die PdA (kommunistische
Partei der Arbeit). Unter die Sammelbezeichnung des Linksextremismus fallen
Anarchisten17, welche die zentralen Organisationsformen generell ablehnen und
autonome Gruppierungen18, welche sich nicht an Autoritäten ausrichten.
Linksextremisten sind erklärte Gegner der von ihnen als kapitalistisch, imperialistisch19 und rassistisch diffamierten20 rechtlichen und gesellschaftlichen Ordnung
16
Szene wird hier synonym mit dem Begriff Subkultur verwendet.
Anarchismus ist die Lehre, die eine Gesellschaftsformation ohne Staatsgewalt und
gesetzlichen Zwang propagiert. (vgl. Fremdwörterduden, 1997)
18
Zum Beispiel Revolutionärer Aufbau Schweiz, Revolutionärer Aufbau Zürich, Antifa,
Revolutionäres Aktionsbündnis Zürich, Antiglobalisierungsbewegung (Bündnisse).
19
Bestrebung einer Grossmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen
Macht- und Einflussbereich ständig auszudehnen (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
20
Jemanden in seinem Ansehen, etwas in seinem Wert herabsetzen, verunglimpfen (vgl.
Fremdwörterduden, 1997).
17
Die Systemische Denkfigur
23
und streben die revolutionäre, d.h. grundlegende Umwälzung dieser Ordnung an.
Alle Linksextremen bekennen sich dabei grundsätzlich zur revolutionären Gewalt.
Ihre Aktivitäten zielen je nach ideologischer Ausrichtung- revolutionärmarxistisch- oder anarchistisch orientiert- auf die Errichtung eines sozialistisch/kommunistischen Systems bzw. einer „herrschaftsfreien“ Gesellschaft.
In der Schweiz umfasst die gewaltbereite linksextreme Bewegung bis zu 1500
Personen, wobei Personen aller Alterklassen vertreten sind. Viele vordergründig
Aktive sind jedoch zwischen 16 und 20 Jahre alt (vgl. Extremismusbericht, 2004).
Typische Parolen der Linksextremen sind beispielsweise „1. Mai – Strasse frei!“,
„Kapital zerschlagen, den Kampf auf die Strasse tragen!“ oder „Gerechtigkeit ist
keine Utopie!“
Revolutionärer Aufbau Schweiz und Revolutionärer Aufbau Zürich
Der marxistisch- leninistisch orientierte Revolutionäre Aufbau Schweiz (RAS) gibt
es seit 1992. Er ist mit grossem Abstand die wichtigste und zugleich gewalttätigste linksextremistische Organisation der Schweiz. Der RAS ist mit seinen
Strukturen gut organisiert und weist das grösste Potential gewaltbereiter Personen auf. Auch ideologisch nimmt der RAS eine extreme Haltung ein; beispielsweise wird ein Dialog mit Regierungen und Behörden strikte abgelehnt und Einsatz von Gewalt als Durchsetzungsmittel zur Erreichung der eigenen Werte und
Normen wird als legitim betrachtet. Der revolutionäre Aufbau kämpft für eine revolutionäre Veränderung des gegenwärtigen politischen und ökonomischen
Systems. Auf der offiziellen Homepage des RAS heisst es:
„Wir kämpfen gegen den Kapitalismus21 im Allgemeinen, gegen Entlassungen,
Lohndrückerei im Betrieb und gegen die Diskriminierung der Frauen. Ebenso
kämpfen wir gegen die staatliche Repression, gegen die Zerstörung der ökologischen Grundlagen, gegen die Faschos22 und gegen die imperialistischen Kriege
(…). Wir leisten nicht nur Widerstand gegen die herrschenden Zustände, sondern
orientieren unseren Kampf gleichzeitig an einer gesellschaftlichen
Alternative zum Kapitalismus.“23
Bei der RAS spielen die Alt- Militanten, wie beispielsweise Andrea
Stauffacher, in den Führungsstrukturen nach wie vor eine wichtige Rolle. Sie organisieren und
stellen den ideologischen Hintergrund bereit. Das junge Fussvolk
wird dadurch nach wie vor von der
alten Garde gesteuert.
Der RAS wird eindeutig vom RAZ (Revolutionärer Aufbau Zürich) dominiert, hat
aber auch Ableger in Bern (RABe) und Basel (RABa). Aus den Grossräumen
Zürich, Bern und Basel stammen mehrheitlich auch die Mitglieder. Besonders
präsent ist der RAZ jeweils an den 1. Mai- Nachdemonstrationen in Zürich, aber
auch an anderen von Gewalt überschatteten Anlässen, an denen der von ihm
instruierte Schwarze Block auftritt.
21
Wirtschaftssystem, das auf dem freien Unternehmertum basiert und dessen Kraft das
Gewinnstreben einzelner ist, während die Arbeiter keinen Besitzanteil an den
Produktionsmittel haben (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
22
Abkürzung für Faschisten (Rechtsextreme)
23
Vgl. www.aufbau.org
Die Systemische Denkfigur
24
Schwarzer Block
Das Instrument oder die „Waffe“
auf der Strasse des RevolutionäRevolutionä
ren Aufbaus ist der Schwarze
Block. Der Schwarze Block selbst
ist keine eigenständige OrganisaOrganisa
tion, sondern eine heterogene,
het
anlass- und kundgebungsbezokundgebungs
gene Aktionsplattform. Er ist eine
unstrukturierte,
unberechenbare
Ansammlung verschiedener, zuzu
meist
autonom
autonom-anarchistischer
Gruppierungen24 vor Ort und weist eine sehr hohe Gewaltbereitschaft auf. Individuen,, die dem Schwarzen Block angehören, sind schwarz gekleidet, vermummt
und haben durch ihr militärisches Auftreten eine beabsichtigte starke psychologipsychologi
sche Wirkung auf die Öffentlichkeit und eine grosse Medientauglichkeit.
Medient
Der
Schwarze Block wird von einer kleinen Gruppe von Exponenten des RAS / RAZ
gesteuert. Grundsätzlich erfolgt die Steuerung ebenso wie die Wahl der anvianvi
sierten Ziele durch überzeugte politische Aktivisten. Aber auch apolitische ChaCha
oten spielen der Steuerungsgruppe des RAZ in die Hände. Der Schwarze Block
zählt rund 850 Aktivisten, ihr Durchschnittsalter liegt bei 16 bis 20 Jahren und
zwei Drittel davon sind Männer. Sie stammen aus allen sozialen Schichten und
aus der ganzen Schweiz, mit Schwergewicht aber aus den Grossräumen Zürich
und Bern.
Legt man dem Schwarzen Block ein Vierkreisemodell zu Grunde, so setzt sich
der innerste Kern, die Steuerung, aus rund fünfzig Exponenten der linksextremen
Bewegung zusammen, während dem zweiten
zweiten Kreis (C) mindestens hundert AktiAkti
visten zuzuordnen sind, die verschiedenen Gruppierungen vorab autonomautonom anarchistischer Ausrichtung angehören. Ein dritter Kreis (B)
B) umfasst mehr als 700
militante Aktivisten mit mutmasslicher nur noch teilweiser politischer
politis
Motivation
und zum vierten Kreis (A) werden mehrere hundert PersonenPersonen primär spontane,
ereignisorientierte, gewaltbereite und mehrheitlich apolitische MitläuferMitläufer gezählt.
Diese werden auch „Event-Chaoten“
„Event
genannt.
Der Schwarze Block richtet sich gegen
gegen Staat und Gesellschaft und kämpft gegen
die „Unterdrückung“
kung“ durch den Staatsapparat. Dementsprechend geht er insbeinsbe
sondere gegen die Polizei und andere Behörden vor und Akteure nehmen dabei
Straftaten bewusst in Kauf.
Kauf. Die Motivation der Akteure ist unterschiedlich.
unter
Je
nach dem geht es ihnen um die Machtfrage, um das Gemeinwohl, um die DurchDurch
setzung eigener Interessen bis hin zum Ausleben rein privater Motive, wie zum
Beispiel Plünderungen.
Da der Schwarze Block eine heterogene Gruppe von Individuen ist und wie im
Vierkreismodell dargestellt aus unterschiedlichen Gruppen mit verschiedenen
Funktionen besteht, müssen wir uns aus Platzgründen und inhaltstechnischen
Überlegungen auf eine Zielgruppe innerhalb der Subkultur fixieren.
24
Zum Beispiel Revolutionärer Aufbau, Globalisierungsgegner,
Globalisierungsgegner, politisch engagierte
Jungsozialisten, Solidaritätskommitees für Drittwelt-Bewegungen,
Drittwelt Bewegungen, radikalfeministische
Organisationen, anarchistische Häuserbesetzer, Autogegner, 80er Nostalgiker, Secondos
(vgl. www.ethlife.ethz.ch).
Die Systemische Denkfigur
25
Abbildung 2, Vierkreismodell Schwarzer Block
Da im weiteren Teil der Arbeit eine Beschreibung anhand eines Prototyps der
SDF erfolgt und ein Vergleich zu den Hooligans der Fangruppe B hergestellt
wird, müssen beide Subkulturen bis zu einem gewissen Grad im Alter, in der Anzahl / Menge, in der Bereitschaft zur Gewaltausübung und den strafrechtlichen
Straftatbeständen übereinstimmen. Vom Vierkreismodell des Schwarzen Blocks
(vgl. Abb. 2) ausgehend, treffen diese Eigenschaften auf die Gruppe (B), militante
Aktivisten und Gruppe (A), Eventchaoten oder Mitläufer zu. In der Arbeit wird der
Vergleich zwischen den B-Fans der Hooligans und den militanten Aktivisten
(Gruppe B) der Linksautonomen gemacht.
Erster Mai (Tag der Arbeit)
Da die in der Arbeit beschriebenen jugendlichen Akteuren vor allem im Zusammenhang mit dem 1. Mai Gewalt ausüben, wird im Folgenden ein kurzer
Überblick zum 1. Mai in Zürich gegeben.
Der Erste Mai ist ein gesetzlicher Feiertag in Deutschland, Österreich, der
Schweiz und vielen weiteren Staaten. Er wird auch als Kampftag der
Arbeiterbewegung, Tag der Arbeit oder Maifeiertag bezeichnet. Der 1. Mai in
Zürich bildet schon seit mehreren Jahren Anlass für Nachdemonstrationen, in
deren Folge es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen
meist jugendlichen Akteuren und der Polizei kommt. Gemäss Anderegg (1999, in
Fatke & Fontanellaz, 2003) ist der Ausgangspunkt für die Nachdemonstrationen
das Jahr 1951. Entscheidende Impulse gingen zu Beginn von spanischen
Gastarbeitern, ab 1968 von Studenten und der Neuen Linken25 und in den
25
Sammelbegriff für verschiedene Einzelpersonen, Gruppen, politische Bewegungen und
Parteien,
die
seit
Ende
der
1960er
Jahre
teilweise
unterschiedliche
Die Systemische Denkfigur
26
1980er Jahren von der Jugendbewegung aus. Ab 1990 kam es zu einer Radikalisierung der Protestmittel und die Auseinandersetzungen mit der Polizei mehrten
sich. Im Zentrum standen immer Kritik an sozialen Verhältnissen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Der 1. Mai kann auch als Gelegenheitsstruktur
bezeichnet werden, die es den unterschiedlichen Akteuren erlaubt, ihre Interessen und Anliegen zu artikulieren (vgl. Fatke & Fontanellaz, 2003).
3.1.2.1. Beschreibung der Linkautonomen anhand der SDF
Die folgend Analyse bezieht sich auf fiktive Individuen, die eine idealtypische
linksautonome Identität verkörpern und an Nachdemonstrationen am 1. Mai in
Zürich unter dem Deckmantel des Schwarzen Blocks (Gruppe B, militante Aktivisten) Gewalt ausüben. Da die SDF kein Mittel zur Beschreibung von Personengruppen ist, ist sie in dieser Arbeit als ein Prototyp einer ganzen Gruppierung zu
verstehen. Es erfolgt also keine Personenbeschreibung, sondern es wird vom
Einzelfall abstrahiert und auf einer höheren Abstraktionsebene empirisch vorfindbare Regelmässigkeiten und Sinneszusammenhänge beschrieben.
Umwelt intern
Militante Linksautonome im Schwarzen Block weisen eine auffällige äussere Erscheinung auf, die zwar keine körperlichen Eigenschaften sind, die sie aber bewusst verändern wollen, da sie dadurch eine hohe soziale und mediale Aufmerksamkeit erlangen. An Demonstrationen sind die Akteure schwarz gekleidet und
meist vermummt. Das männliche Geschlecht ist mit über 2/3 Mehrheit deutlich
übervertreten und das Alter liegt zwischen 15 bis 25 Jahren. Militante Linksautonome verfügen über einen gesunden Körper, den sie als Mittel zur Gewalt gegen
Polizisten, Rechtsextreme und bei Sachbeschädigungen gezielt einsetzen.
Umwelt extern
Die sozioökonomische Ausstattung von militanten linksautonomen Aktivisten ist
durchschnittlich bis gut. Besser als auch weniger gut gebildete Personen sind an
den Nachdemonstrationen beteiligt, Real- und Sekundarschüler sind jedoch
übervertreten. Die meisten haben einen Ausbildungsplatz oder gehen einer beruflichen Tätigkeit nach. Daher verfügen sie über eigenen Wohnraum in Form
einer Mietwohnung oder leben wegen ihres jungen Alters noch bei den Eltern.
Sie wohnen im Kanton Zürich (Stadt im Verhältnis zum Land leicht übervertreten) und kommen aus dem mittleren / oberen Mittelstand. Viele gehören der
schweizerischen Nationalität an, wobei es an Nachdemonstrationen auch Ausländer aus unterschiedlichen Ländern gibt (vgl. Fatke & Fontanellaz, 2003). Ursprüngliche konfessionelle und ethische Zugehörigkeiten verlieren in der Gruppe
ihre Bedeutung. Militante Linksautonome verfügen über ein durchschnittliches
eigenes Besitztum und können hinsichtlich des Erbwerbstatus als gesellschaftlich
integriert bezeichnet werden. Durch ihre militanten Aktivitäten (Sachbeschädigungen, Vandalismus, Gewalt gegen Polizisten und Rechtsextreme) an der 1.
Mai Nachdemonstration haben viele von ihnen ein Vorstrafenregister und waren
im Konflikt mit den Gesetzeshütern. Untersuchungshaften oder Strafen können
eine Gefährdung für die berufliche Integration darstellen.
Rezeptoren
Im alkoholisierten Zustand haben Linksautonome eine verzerrte Wahrnehmung
der Realität.
Sozialismusvorstellungen oder auch anarchistische, sowie andere politisch links
ausgerichtete Konzepte vertreten (vgl. www.wikipedia.org).
Die Systemische Denkfigur
27
Erkennen, Erleben & Modell
Militante Linksautonome besitzen an Demonstrationen einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, legen aber gleichzeitig viel Wert auf Individualität. Jeder hat
seine eigene Philosophie und Weltanschauung. Allgemein richtet sich der
Schwarze Block gegen den Staat, die Gesellschaft und die „Unterdrückung des
Staatsapparats“, gegen den Kapitalismus im Allgemeinen und das politische,
ökonomische System, gegen Entlassungen, Lohndrückerei im Betrieb und gegen
die Diskriminierung der Frauen, gegen die Rechtsextremen (Faschisten), die
Zerstörung der ökologischen Grundlagen und gegen den imperialistischen Krieg.
Sie glauben nicht daran, dass das kapitalistische System reformiert oder verbessert werden kann. Sie denken, das System sei der Fehler und muss durch eine
freie, gerechte und basisdemokratische Gesellschaftsform ersetzt werden. Diese
Gesellschaftsform ist in ihren Augen der Sozialismus26, basierend auf dem
Kommunismus. Wobei diese konkreten Ansichten vor allem die der Steuerung
(siehe Grafik Aufbau des Schwarzen Blocks) und der Kerngruppe des Schwarzen
Blocks entspringen. Die militanten Aktivisten (Gruppe B, Grafik) sympathisieren
teils mit dieser Ideologie und bekennen sich zum anarchistischen Gedankengut,
nehmen aber nicht ausschliesslich ihrer politischen Meinung willen an Demonstrationen teil. Sie nehmen Anlässe wie beispielsweise der 1. Mai als Gelegenheit,
unter dem Deckmantel politischer Anliegen Nervenkitzel und Abenteuer auf der
Strasse zu erleben.
Ein 1. Mai Demonstrant:
„…vielmehr bietet der Strassenkampf einen spannenden Nervenkitzel. Wie an
einer guten Party. Allerdings stimmt es schon, dass bei der Nachdemo politisch
nicht allzu viel dahinter steckt. Es ist primär ein Kampf gegen Polizisten und
Schaufenster.“27
Die militanten Aktivisten handeln zu einem grossen Teil aus Selbstbezogenheit
und um Spass und Abwechslung zu erfahren, dennoch verbunden mit einem
Engagement, sich in ihren Augen politisch zu Betätigen. Das Interesse an Politik
oder zumindest politische Sensibilität, tragen neben der Lust an der Ausübung
von Gewalt mit dazu bei, sich an einer Nachdemonstration zu beteiligen. Politische Aktivität schliesst für diese Jugendlichen nicht aus, Spass zu haben. Gemeinsam ist den militanten Linksautonomen die Ablehnung rechtsextremen Gedankenguts und einhergehende Hassgefühle gegen Faschisten und Skinheads28.
Im Hinblick auf die Zukunft haben die militanten Linksautonomen eine indifferente
bis pessimistische Zukunftsvorstellung. Am meisten Verunsicherung bringen die
gewalttätigen Konflikte wie Kriege und am meisten macht ihnen die Arbeitslosigkeit zu schaffen (vgl. Fatke & Fontanellaz, 2003).
Aktivitäten
Militante Linksautonome des Schwarzen Blocks kleiden sich schwarz und vermummen sich bewusst. Sie versammeln sich zu bewilligten Demonstrationen
oder vor allem unbewilligten Nachdemonstrationen und demonstrieren für ihre
Ansichten und Ideologien. Dabei gehen sie gewalttätig gegen Polizisten als Ver26
Nach Karl Marx die dem Kommunismus vorausgehende Entwicklungsstufe, die auf
gesellschaftlichen oder staatlichen Besitz der Produktionsmittel und eine gerechte
Verteilung der Güter an alle Mitglieder der Gemeinschaft hinzielt oder politische Richtung,
welche den gesellschaftlichen Besitz der Produktionsmittel und die Kontrolle der
Warenproduktion und –Verteilung verficht (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
27
Interview unter www.ethlife.ethz.ch.
28
Synonym für Neonazi (vgl. www.wikipedia.org).
Die Systemische Denkfigur
28
treter der staatlichen Macht vor oder beschädigen Gebäude wie Banken, Botschaften oder teure Kleider- oder Schmuckgeschäfte. Die Sachbeschädigungen
können durch Pflastersteine, Baseballschläger oder Farbbeutel verübt werden.
Einige von ihnen gehen an Versammlungen und Veranstaltungen des Revolutionären Aufbaus Zürich, andere schliessen sich den Demonstrationen und Krawallen aus Abenteuer- und Risikolust an und nehmen ohne „gezielte politische
Mobilisierung“ teil. Sie verstossen gegen allgemeingültige Gesetze (legale, das
heisst von der Stadt bewilligte Demonstrationen, Sachbeschädigung, Körperverletzung usw.) und gehen dadurch Konflikte mit der Polizei ein. Auf Gewalt reagieren sie mit Gegengewalt und sie skandieren an Demonstrationen lautstark ihre
Parolen.
Während Demonstrationen wird individuell Alkohol getrunken, was eine niedere
Hemmschwelle für Gewalt und Vandalenakte zur Folge hat. Im alkoholisierten
Zustand richtet sich die Aggression viel schneller gegen Polizisten, welche für die
militanten Linksautonomen das Staatsmonopol verkörpern. Schon während
Demonstrationen werden Flyers für nachfolgende Partys in Kulturtreffs oder besetzten Liegenschaften verteilt, wo weiter getrunken und gefeiert wird.
3.2. Fazit
Anhand eines Vergleichs beider subkulturellen Gruppierungen werden im folgenden Teil Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hooligans und militanten
Linksautonomen herausgearbeitet. Vergleichspunkte sind die Ausstattungsmerkmale (vgl. Kapitel 3, SDF) der Akteure. Durch diesen Vergleich erhoffen wir
uns einen ersten Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der
beiden Subkulturen im Allgemeinen. Im Folgenden erklärungstheoretischen Teil
werden weitere Vergleiche anhand der angewendeten Theorien erfolgen.
Umwelt intern
Die Akteure beider Subkulturen sind zwischen 13 und 25 Jahre alt und verfügen
über einen gesunden Körper. Hooligans sind ausschliesslich männlichen Geschlechts, bei den militanten Linksautonomen hat es einen zu vernachlässigenden Frauenanteil. An der effektiven Ausübung von Gewalt an politischen Anlässen sind jedoch nur männliche Jugendliche beteiligt.
Unterschiede zwischen den Subkulturen bestehen in der Bekleidungsform.
Hooligans sind äusserlich unauffällig gekleidet oder sie tragen die Fanbekleidung
in den Mannschaftsfarben. Dies macht es auch schwierig, sie an Fussballspielen
zu identifizieren. Militante Linksautonome hingegen kleiden sich an politischen
Anlässen provokativ in schwarz und vermummen sich. Dadurch erlangen sie eine
hohe mediale und soziale Aufmerksamkeit.
Die Systemische Denkfigur
29
Umwelt extern
In der soziökonomischen Ausstattung bestehen deutliche Unterschiede bezüglich
des Bildungsniveaus und der sozialen Schichtzugehörigkeit. Hooligans weisen
ein geringeres Bildungsniveau (Real- oder Oberschule) auf, militante Linksautonome hingegen verfügen mindestens über einen Realschulabschluss. Einige
unter ihnen sind am Gymnasium oder studieren. Hinsichtlich der sozialen Schicht
sind in beiden Subkulturen alle Schichten vertreten. Der Tendenz nach stammen
Hooligans eher aus Unter- oder Mittelschichtsverhältnissen wogegen militante
Linksautonome eher aus der Mittel- bis Oberschicht kommen. Akteure beider
Subkulturen leben auf Grund ihres jungen Alters noch bei den Eltern oder verfügen über eine Mietwohnung. Hooligans und militante Linksautonome leben im
Kanton Zürich, wobei bei beiden Subkulturen die Stadt als Wohnort leicht übervertreten ist. In beiden Subkulturen verkehren auch Ausländer, wobei bei den
Hooligans und den militanten Linksautonomen Jugendliche schweizerischer Nationalität übervertreten sind. Akteure beider Subkulturen haben oftmals ein Vorstrafenregister und haben bereits Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Für Akteure beider Gruppierungen können oben genannte Einträge ins Vorstrafenregister problematisch sein, wenn es um Lehre oder Beruf geht.
Rezeptoren
In beiden Subkulturen spielt das Konsumieren von Alkohol eine grosse Rolle.
Hooligans und militante Linksautonome trinken an sportlichen oder politischen
Anlässen übermässig Bier, was eine Verzerrung der Wahrnehmung zur Folge
hat. Auf die Art des Konsums wird unter „Aktivität“ näher eingegangen.
Erkennen, Erleben / Modell
Akteure von Hooligans und militanten Linksautonomen fühlen sich vor allem im
Schutz der Gruppe wohl und sind geprägt durch einen grossen Gemeinschaftssinn. Beiden Subkulturen verleiht der Schutz der Gruppe Sicherheit, wodurch sie
sich stark fühlen. Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit beider Gruppierungen ist
die Suche nach Abenteuer, „Action“, Nervenkitzel und Spass. Akteure beider
Subkulturen suchen aktiv Grenzen und Risiken, um den „Kick“ zu erfahren. Der
eigentliche Anlass (Fussballspiel oder politischer Anlass wie der 1. Mai) wird als
Plattform genutzt und rückt in den Hintergrund, wenn es darum geht, Bedürfnisse
nach „Fun“ und „Action“ zu befriedigen. Dazu nehmen Hooligans und militante
Linksautonome Probleme mit Polizei und Justiz gleichermassen in Kauf.
Obwohl es in beiden Subkulturen primär um das Erleben von Spass und
Abenteuer durch Gewaltausübung geht, bestehen Unterschiede zwischen Hooligans und militanten Linksautonomen. Diese Unterschiede stehen im Zusammenhang mit der Art und Form des Anlasses. An Fussballspielen geht es primär um
den Sport Fussball. Die politische Einstellung der Hooligans rückt dabei in den
Hintergrund oder hat keine Bedeutung. Hooligans beschäftigen sich mit den Fragen, welcher Verein gewinnt, wer die Goals für die eigene Mannschaft schiesst
und welche Spieler an diese Tag besonders gut spielen. Fussball wird als Volksfest betrachtet wobei keine politischen Ideologien dahinter stecken.
Der 1. Mai hingegen ist der „Tag der Arbeit“ und hat eine lange geschichtliche
und politische Bedeutung. Im Gegensatz zu den Hooligans, welchen das Fussballspiel als Ausgangspunkt für ihre Krawalle dient, dient den militanten Linksautonomen ein politischer Anlass als Ausgangspunkt für Ausschreitungen. Diese
unterschiedliche Ausgangslage lässt Aussagen über die Akteure der militanten
Linksautonomen des Schwarzen Blocks zu. Allgemein richtet sich der Schwarze
Die Systemische Denkfigur
30
Block gegen den Staat, die Gesellschaft und den Kapitalismus im Allgemeinen.
Der schwarze Block wird durch den Kern, bestehend aus Intellektuellen aus dem
RAS oder RAZ, gesteuert und trägt dessen Ideologien auf die Strasse. Aus der
quantitativen und qualitativen Untersuchung zum 1. Mai (2003) geht hervor, dass
die militanten Linksautonomen zumindest mit diesen Ideologien sympathisieren
und eine Sensibilität für Politik und politisch/gesellschaftliche Themen aufweisen.
Hier dienen Anlässe wie der 1. Mai zwar dazu, unter dem Deckmantel politischer
Anliegen Nervenkitzel und Abenteuer über Gewaltausübung zu erfahren, dennoch besteht eine gewisse Affinität zur Politik. Militante Linksautonome können
also, im Gegensatz zu den Hooligans, nicht als gänzlich apolitisch bezeichnet
werden.
Dieser Unterschied zeigt sich auch in den Parolen. Beide Subkulturen skandieren an den jeweiligen Anlässen Parolen, welche sich in ihrem Inhalt jedoch
deutlich unterscheiden. Sprechgesänge der Hooligans sind um einiges primitiver
und niveauloser („Scheiss FC Kosovo“, „alle Basler sind schwul“) wie diejenigen
der militanten Linksautonomen („Kampf dem Kapital“, „1. Mai- Strasse frei“).
Aktivitäten
Den grössten gemeinsamen Nenner weisen die Hooligans und militanten Linksautonomen in ihrer Gewaltbereitschaft auf. Beide Subkulturen weisen ein hohes
Fremd- und Selbstgefährdendes Gewaltpotenzial auf, welches an öffentlichen
Anlässen zum Ausdruck kommt. Die Gewalt von militanten Linksautonomen
richtet sich vor allem gegen Dinge (Sachbeschädigungen) und Polizisten.
Manchmal kommt es zu Schlägereien gegen Rechtsextreme, welche durch ihre
gegenteilige politische Besinnung einen guten Gegner darstellen. Bei den
Hooligans geht es in der Ausübung von Gewalt in erster Linie darum, Frust
abzubauen und einen Nervenkitzel zu erleben.
Im Trinkverhalten gibt es Unterschiede zwischen den beiden Subkulturen.
Hooligans trinken Bier in Form eines kollektiven Trinkgelages. Der Alkoholkonsum gehört zum festen Bestandteil eines Fussballspiels und wird einem Ritual
gleich unter den Akteuren getrunken. Bei den militanten Linksautonomen erfolgt
der Alkoholkonsum individueller und wird nicht in Form eines Rituals zelebriert,
was nicht heissen muss, dass weniger Alkohol getrunken wird.
Sozialisationstheorien
31
4. Sozialisationstheorien
Eingangs wird kurz auf allgemeine Kernvorstellungen zum Thema Sozialisation
eingegangen. Diese basiert auf der Unterrichtsunterlage „Allgemeine Soziologie“
von Obrecht (1998). Danach werden die Begriffe Sozialisation und Persönlichkeit
nach Hurellmann (2005) eingeführt.
Da die meisten Individuen der Hooligans und der militanten Linksautonomen
im Alter zwischen 13 und 25 Jahren sind, wird das Augenmerk auf das Lebensalter von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerichtet. Da die Jugendphase
bereits unter 2.1. dieser Arbeit eingeführt wurde, werden hier erstens die allgemeinen Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen beschrieben und zweitens in
einen Bezug zu den Hooligans und den Linksautonomen gesetzt.
4.1. Einführung
Soziologie ist die Wissenschaft von sozialen Systemen mit (vollständig) selbstwissensfähigen Biosystemen als Komponenten (vgl. Obrecht, 1998).
„Das Verhalten von Individuen wird nicht nur zu jedem Zeitpunkt durch soziale
Normen mitbestimmt (…). Die für die Steuerung des Verhaltens eines Individuums relevanten Normen verändern sich im Laufe seines Lebens, nicht zuletzt
in Abhängigkeit der Phasen des in der betreffenden Gesellschaft institutionalisierten Lebenslaufs. Jede Phase ist durch eine andere Rollenstatuskonfiguration29 gekennzeichnet und die Zahl der Phasen der institutionalisierten Lebensläufe oder Normalbiographien hat im Verlaufe der sozialen Evolution zugenommen, insbesondere aber seit der Industrialisierung. Der minimalsten Differenzierung entsprechen die drei Phasen der Jugend, des Erwachsenenalters und des
Alters“ (Zit. nach Obrecht, 1998).
Menschen werden, von psychisch oder sozial bedingten Einzelfällen abgesehen,
in menschliche Gemeinschaften hineingeboren. Unter primärer Sozialisation versteht man den Prozess ihres sukzessiven Hineinwachsens in die sie umgebende
Gesellschaft. Dieser Vorgang umfasst die erste Phase innerhalb des Lebenslaufs
eines Menschen, die „Kindheit und Jugend“.
In diesem Prozess kommen Kinder mit einer Reihe von genetisch disponierten
prosozialen Verhaltenstendenzen auf die Welt, die im Rahmen ihres Aufwachsens innerhalb einer bestimmten soziokulturellen Umwelt verstärkt, oder aber
abgeschwächt werden.
Nach Hurrelmann (2005) wird unter Sozialisation der Prozess der Entwicklung
der Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit den inneren und äusseren
Anforderungen verstanden. Körper und Psyche bilden die „innere Realität“,
soziale und physische Umwelt die „äussere Realität“ des Entwicklungsprozesses.
Durch die ständige produktive Auseinandersetzung mit der körperlichen
Konstitution und der psychischen Grundstruktur auf der einen und den sozialen
und physischen Umweltimpulsen auf der andere Seite wird ein Jugendlicher zu
einem sozial handlungsfähigen Subjekt.
29
Ein Mensch ist in der Regel Mitglied mehrerer sozialer Systeme und vereinigt damit in
sich mehrere Rollenstatus (Genaue Definition im Kapitel 6, Theorie struktureller und
anomischer Spannungen).
Sozialisationstheorien
32
4.1.1. Die allgemeinen Entwicklungsaufgaben in der Jugend
Eine „Entwicklungsaufgabe“ ist eine Aufgabe, die ungefähr zu einem bestimmten
Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu
dessen Glück und Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während ein Misslingen zu
Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten
mit späteren Aufgaben führt. Die Entwicklungsaufgaben einer bestimmten
Gruppe haben ihren Ursprung in drei Quellen: (1) körperliche Entwicklung, (2)
kultureller Druck (die Erwartung der Gesellschaft) und (3) individuelle Wünsche
und Werte (vgl. Havinghurst, 1956, aus der Übersetzung von Dreher & Dreher,
1985a, S.30).
Katalog
Da sich sowohl die körperliche Entwicklung, als auch individuelle Wünsche,
Werte und die Erwartungen der Gesellschaft über die Zeit verändern, wird deutlich, dass sich Entwicklungsaufgaben auch ändern können. So wurde in den 40er
Jahren die „Vorbereitung auf Heirat und Familie“ als Entwicklungsaufgabe im
Jugendalter angesehen. Diese ist heute nicht mehr ganz aktuell. Dafür kommen
neue Entwicklungsaufgaben wie „Aufbau einer Zukunftsperspektive“ oder „Entwicklung einer Identität“ in den Katalog. Aktuell werden nach Untersuchungen
von Dreher (vgl. Dreher, 1985b) folgende Entwicklungsaufgaben als die Wichtigsten der Jugendphase angesehen:
Aufnahme und Aufbau intimer Beziehungen
Entwicklung einer Identität, von Selbständigkeit, Selbstsicherheit und
Selbstkontrolle
Aufbau einer Zukunftsperspektive
Aufbau sozialer Kompetenzen, besonders Toleranz, Abbau von Vorurteilen,
Konfliktlösungskompetenzen
Kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft, besonders in den Bereichen
Umweltschutz und Friedenssicherung
Verständnis für komplexe Zusammenhänge in Politik und Wirtschaft
Die Wichtigkeit der unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben wird einerseits
durch die kulturellen Werte mitbestimmt und ist anderseits abhängig von Alter
und Geschlecht.
Normative Entwicklungsaufgaben
Es gibt Entwicklungsaufgaben, die von der Gesellschaft gefordert bzw. erwartet
werden, oftmals zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben eines Menschen, wie
zum Beispiel der Schulabschluss. Solche Entwicklungsaufgaben werden normativ genannt. Am höchsten geschätzt wird hierbei, wenn Entwicklungsaufgaben
zu einem früheren Zeitpunkt als üblich gelöst werden. Verspätetes Lösen weckt
Mitleid oder sogar Ärger. Ebenso verhält es sich mit dem willentlichen Unterlassen einer Entwicklungsaufgabe.
Non-normative Entwicklungsaufgaben
Sozialisationstheorien
33
Diese Entwicklungsaufgaben werden nur von einzelnen oder wenigen Personen
gefordert oder stellen sich nicht allen Menschen (z.B. würde sich der Vater wünschen, dass sein Sohn Fussballer wird). Ebenfalls stellen sich non-normative
Entwicklungsaufgaben beim Eintreten von kritischen Lebensereignissen wie zum
Beispiel dem Tod eines Elternteils während der Jugendzeit.
Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
Es gibt unterschiedliche Arten, wie Menschen mit Entwicklungsaufgaben umgehen können. Die Bewältigung, das so genannte „Coping“, ist dabei abhängig von
den Kenntnissen, welche die Jugendlichen über mögliche Bewältigungsstrategien haben, sowie dem Willen bzw. der Bereitschaft, sich auseinander zu setzen.
Es folgt eine nach unterschiedlichen Kriterien gegliederte Anordnung einiger Coping-Strategien:
Tabelle 3, Coping Strategien
Problembezogenes Coping
vs.
Problemanalyse, Informationsbeschaffung, Handlungsplanung
Coping
Internale Bewältigung
vs.
vs.
Emotionsbezogenes
Coping
Sich-Beruhigen, SichAblenken
(Lazarus &
Folkman,
1984)
Defending
Nicht-Coping, d.h.
Absicherung gegen
Schäden oder
Verletzungen
Aktive Bewältigung unter
Nutzung sozialer
Ressourcen
(Haan, 1974,
1977)
vs.
Kognitive, interpretative und
emotionale
Bewältigungsformen
Aktive & aufgabenorientierte
Problemlösung
Problemmeid
endes
Verhalten
(SeiffgeKrenke, 1989)
vs.
Kognitive Umbewertung
Herabstufung der
Bedeutung, Betonung
der Vorteile der
Nichtbewältigung
vs.
Vermeidung &
Ablenkung
(Flammer,
Neuenschwan
der & Grob,
1995)
Untersuchungen haben ergeben, dass der handlungsorientierte Bewältigungsstil
für das Wohlbefinden der Jugendlichen am effektivsten ist. Emotionale Bewältigungsstile haben bei starker Belastung einen negativen Effekt aufs Wohlbefinden.
4.1.1.1. Biologische Entwicklung
Der Begriff „Pubertät“ wird heute mehrheitlich zur Eingrenzung von biologischen
Veränderungen beim Menschen verwendet. Die Auswirkungen der Pubertät sind
jedoch nicht nur biologisch, sondern ebenso psychosozial. Zuerst werden die
wichtigsten biologischen Veränderungen während der Pubertät genannt, um anschliessend einige psychosoziale Aspekte zu umreissen.
Sozialisationstheorien
34
Körper
Nach der Geburt nimmt das Längenwachstum beim Menschen kontinuierlich ab.
Unterbrochen wird diese Abnahme ein erstes Mal zwischen dem 6. und 8. Altersjahr, ein zweites und letztes Mal während der Pubertät. Im Durchschnitt erfolgt dieser letzte Wachstumsschub bei Mädchen mit 12 Jahren, bei Knaben mit
14 Jahren.
Stark geschlechtsspezifisch verändert sich in der Pubertät das Verhältnis der
Schulterbreite zur Hüftbreite. Jungen bekommen breitere Schultern, Mädchen
breitere Hüften. Ebenso verhält es sich mit dem Muskel- und dem Fettanteil.
Das Gewicht verändert sich idealerweise proportional zur Körpergrösse und
nimmt mit zunehmendem Alter ebenfalls zu.
Gehirn
Zwischen dem 7. und dem 15. Lebensjahr läuft eine intensive Hirnentwicklung
ab, die wesentlich von der Umwelt und den Erfahrungen beeinflusst wird. Das
heisst, das Gehirn wird nicht nur in der frühen Kindheit, sondern während der
gesamten Jugendphase durch die Art seiner Nutzung gewissermassen „programmiert“. Das Ausmass und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängt also ganz entscheidend davon ab,
womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen (vgl. Herschkowitz, 2003).
Obwohl das Gehirn mit sieben Jahren 95 Prozent seines Erwachsenengewichts erreicht hat, bedeutet das keinesfalls, dass seine Entwicklung abgeschlossen ist. Die Zentren, die Aufmerksamkeit beeinflussen, werden enger mit
anderen Hirnzentren vernetzt, was eine Voraussetzung für längere und intensivere Konzentration ist. Es steigt die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen.
Gleichzeitig finden weitere Reifungsprozesse in den Sprachzentren und in den
Assoziationsgebieten statt, in denen Informationen aus verschiedenen Hirnarealen zusammengefasst werden. Die Kommunikationsfähigkeit wird erhöht.
Von grosser Bedeutung für die Motivation und für das Gesundheitsbewusstsein ist die Entwicklung von Belohnungszentren im Gehirn, die während der
Adoleszenz besonders aktiv sind. Diese Prozesse können einerseits die Attraktivität von Alkohol, Nikotin und Drogen bei Jugendlichen erhöhen, vor allem aber
als Mittel gegen Langeweile, Frustration oder Entmutigungen dienen. Andererseits können diese Belohnungszentren zu einem vertieften Genuss von Tätigkeiten führen, die eine positive Bedeutung für das weitere Leben haben. Zum
Beispiel Sport, Tanzen, Zeichnen oder soziale Tätigkeiten.
Die Geschwindigkeit der Entwicklungsprozesse nimmt generell vom zwanzigsten Lebensjahr an ab, die Hirnentwicklung jedoch bleibt nicht stehen. Bis ans
Lebensende hat der Mensch die Fähigkeit zu lernen.
4.1.2. Identitätsentwicklung
Die Identitätsentwicklung gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben eines
Individuums. Denn jedes Individuum lernt bestimmte kulturelle Verhaltensmuster,
Werte30 und Normen zu übernehmen, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Gemäss Lajios ist das Ziel der Sozialisation unter anderem „…das Kind
selbstbewusster und fähiger zu machen, um den Aufbau einer stabilen Identität
zu ermöglichen“ (Zit. nach Lajios, 1991, S. 44). Dem Prozess der Individualisie-
30
Werte sind jene Klassen von Zuständen, auf deren Erreichung oder Erhaltung eine
bestimmte Art von Organismen hin tendieren (vgl. Obrecht, 2004, S. 44).
Sozialisationstheorien
35
rung31 auf sozialer Ebene entspricht demnach ein Prozess der Individuation32, in
welchem die individuelle und selbstständige Persönlichkeit erarbeitet werden
muss (vgl. Fend, 2001, S. 158). Als Erikson in den 50-er Jahren sein Modell der
Entwicklung präsentierte, entstand erstmals eine systematische Diskussion über
die Identität (vgl. Flammer, 2002, S. 156). Sein Modell hebt hervor, dass eine
erfolgreiche Entwicklung durch die Integration der persönlichen und der sozialen
Identität entsteht (Erikson, 1973, S. 143). Das Gefühl der eigenen Identität ist die
Zuversicht des Individuums, dass die innere Gleichheit und Kontinuität seines
Wesens von Aussen wahrgenommen wird. Einfacher ausgedrückt kann die Identität als ein Gefühl des „mit sich selber eins sein“ verstanden werden.
Aufgrund des schnellen Körperwachstums und der herantretenden körperlichen Geschlechtsreife erleben die sich entwickelnden Jugendlichen eine physische Revolution in sich und sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihre soziale
Rolle zu festigen. Die Identifizierungen, auf die sich die Jugendlichen bisher verlassen konnten, werden hinterfragt. Zu Beginn der Jugendphase haben sie noch
keine klaren Visionen darüber, was und wer sie sein könnten und so orientieren
sie sich an den aktuellen Idealen und Leitbildern, welche sie in ihr Selbstbild zu
integrieren versuchen. Später werden äussere Kontrollen zweitrangig und die
Jugendlichen beginnen sich nach ihren inneren Verpflichtungen zu richten, welche aus den eigenen Zielen und Normen resultieren, die darauf ausgerichtet
sind, was man sein und werden möchte. Daraus wiederum entstehen erstmals
normative Erwartungen in Bezug auf die eigene Zukunft (wie z.B. Erwartungen
an Beruf und Partnerschaft), welche als „erster selbst zu gestaltender Auftrag“
definiert werden können. Nur so können sie eine eigene Identität entwickeln,
welche es ihnen erlaubt, sich als in die Gesellschaft eingebettete und akzeptierte
Persönlichkeit zu begreifen. Es ist zu beachten, dass der Prozess der Entwicklung immer mit den bisher gemachten Erfahrungen verbunden ist.
4.1.3. Einfluss der Familie und der Peer Group33
Bindungen an Erwachsene entstehen bereits nach der Geburt und die meisten
Kinder haben schon sehr früh Freunde. Das Jugendalter ist jedoch der erste Lebensabschnitt, in welchem Gleichaltrige (Peer Group) mit den Erwachsenen
darum konkurrieren, die Einstellung und Verhaltensweisen einer Person zu formen. Durch die ständige Interaktion mit Gleichaltrigen definieren die Jugendlichen die soziale Komponente ihrer sich entwickelnden Identität und bestimmen,
was für ein Mensch sie sein und welche Beziehungen sie pflegen wollen (vgl.
Berndt, 1992; Hartup, 1996 in Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 481). Auch Lajios
weist auf die wichtige Funktion der Peer Group hin, nämlich die, das Selbstbewusstsein, die Sicherheit und das Lebenswertgefühl zu stabilisieren, was dann
wiederum zu einer bewussten Identitätsentwicklung führt (vgl. Lajios, 1991, S.
45). Da die Peer Group zu einer immer wichtigeren Quelle des sozialen Rückhalts wird, steigt auch die Angst vor Zurückweisung und die Konformität gegenüber den Werten und Verhaltensweisen von Gleichaltrigen wächst. Die in der
heutigen Zeit oft gesehene Demonstration des ungewöhnlichen Aussehens (Frisuren, Kleider, Tatoos, Piercings etc.), sowie die verwendete Jugendsprache,
beinhaltet weniger „den nach Innen gerichteten Blick auf die eigene Identität“,
31
Die Individualität eines Gegenstandes bestimmen; das Besondere, Einzelne,
Eigentümliche (einer Person, eines Falles) hervorheben (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
32
Mit Individuation ist der Weg zu einem Ganzen gemeint (vgl. www.wikipedia.org).
33
Unter Peer Group versteht man eine Gruppe von Gleichen; Bezeichnung aus der
Jugendsoziologie für gleichaltrige Kinder- oder Jugendlichengruppen, denen sich die
Mitglieder besonders zugehörige fühlen und von denen sich der Dazugehörige die Stütze
verspricht, die er zum Erwachsenwerden braucht (vgl. www.socioweb.de).
Sozialisationstheorien
36
sondern dient als Versuch, über die Gruppenidentität Stabilität im Selbst zu gewinnen.
Die Eltern hingegen glauben oft, dass sie im Konkurrenzkampf mit den Peers des
Kindes stehen, sobald dieses ungünstige Verhaltensweisen von seinen Freunden
übernimmt. In den Kindsjahren verfügen die Eltern über eine Autorität, welche
nicht in Frage gestellt wird. Durch die Adoleszenz findet jedoch eine Änderung
statt und den Jugendlichen wird ein gewisses Mass an Autonomie zugestanden.
Indem die Eltern die Entwicklung des Jugendlichen respektieren wollen und dadurch Widerspruch zulassen - ohne zuzulassen, dass unpassende Entscheidungen des Jugendlichen seine Zukunft gefährden - entsteht eine schwierige Situation für beide Parteien. Die Eltern sowie ihre jugendlichen Kinder müssen die
Veränderung in ihrer Beziehung zueinander annehmen und überstehen (vgl.
Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 481ff), denn eine gesunde Identität entwickelt sich
aus einer gestuften Integration aller Identifikationen (vgl. Erikson, 1973, S. 108).
Grundsätzlich ist es von grosser Wichtigkeit, dass die Jugendlichen in ihrem sozialen Umfeld über verlässliche Bezugsorte sozialer Unterstützung verfügen,
denn diese helfen ihnen dabei, für die Zukunft planen zu können.
Körperidentität
Aus den körperlichen Veränderungen im Jugendalter und der erlangten Fähigkeit
zur Selbstreflexion ergibt sich die Aufgabe, ein positives Verhältnis zum Körper
zu entwickeln (vgl. Breuer, 2001). Selbstreflexion und die Fähigkeit zur Selbstveränderung kommt in diesem Lebensalter erstmals voll zum Tragen; es wird
eine Einstellung zum eigenen Körper erarbeitet, die zu einem wesentlichen Bestandteil des eigenen Selbstverständnisses, der eigenen Identität wird.
Geschlechtsidentität
Die eigene Geschlechtsrolle muss heute individueller gefunden werden, denn
starre Orientierungsmuster, wie ein Mann oder eine Frau heute sein soll, bestehen nicht mehr in dem Masse wie früher. Die grösseren Entscheidungsspielräume ermöglichen es Jungen und Mädchen, sich von traditionellen Mustern
abzulösen und eigene Wege zu suchen. Gleichzeitig ist es aber nach wie vor so,
dass gesellschaftliche Werte relativ stark vorgeben, wie die Erfüllung der Geschlechtsrolle auszusehen hat. Sexistische Frauenbilder und negative Wertungen
von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften haben nach wie vor einen massiven
Einfluss. Das heisst nichts anderes, als dass Frauen oder Homosexuelle zur Findung und Erhaltung einer emanzipierten Identität erheblich mehr Aufwand betreiben müssen als Jugendliche, die sich an traditionellen Rollen orientieren (vgl.
Fend, 1991, S. 49ff).
Berufsidentität
Der Grad der Zufriedenheit mit der Entscheidung für einen Beruf hängt u.a. davon ab, inwiefern die eigenen Vorstellungen verwirklicht werden können. Jugendliche aus der Ober- oder Mittelschicht haben mehr Chancen auf einen höheren
Schulabschluss, was wiederum mehr Chancen und Möglichkeiten zur Folge hat,
dass sie Wunsch und Wirklichkeit in Einklang bringen können (vgl. Fend, 1991,
S. 46ff).
Sozialisationstheorien
37
Politische und moralische Identität
Mit der politischen Identitätsbildung (vgl. Fend, 1991, S. 113ff) treten Jugendliche
erstmals aus der Fixierung auf persönliche Lebensverhältnisse heraus und wenden sich umfassenderen gesellschaftlichen Problemstellungen zu. Die westlichen
Demokratien sind darauf angewiesen, dass politische Identitätsbildung, bzw.
Meinungsbildung zu gesellschaftlichen Themen stattfindet. Die politische Identitätsbildung hängt direkt mit einer weltanschaulichen allenfalls religiösen Identitätsbildung zusammen (vgl. Fend, 1991, S. 24ff). Beides bezieht sich unmittelbar
auf Werte und Normen. Bedürfnistheoretisch geht es hier um Erfüllung des Bedürfnisses nach kognitiver Orientierung im sozialen Raum, subjektivem Sinn,
Gerechtigkeit und Mitgliedschaft.34
Freizeitgestaltung, Stile
Durch das Ausprobieren verschiedener Lebensstile wird die Identitätsfindung
vorangetrieben. In der Gestaltung freier Zeit besteht die Möglichkeit, eigene
Wünsche zu verwirklichen wie in keinem anderen Bereich. Der Stil, den sich ein
Jugendlicher angeeignet hat, beeinflusst nicht selten auch die Identitätsbildung
und den Lebensstil auch in anderen Bereichen oder deutet zumindest auf die
gewünschte Lebensgestaltung hin. Die gesamte Identitätsbildung ist auch durch
das Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit motiviert. Dies zeigt sich vor allem in
der Abgrenzung gegenüber den Erwachsenen und anderen Peer-Groups, innerhalb einer Gleichaltrigengruppe ist allerdings ein oft hohes Mass an Konformität
feststellbar, das sich mit dem Bedürfnis nach Mitgliedschaft erklären lässt (vgl.
Fend, 1991, S. 26).
Identitätsdiffusion
Gemäss Erikson beinhaltet die Identitätsentwicklung die Gefahr der Identitätsdiffusion. Er definiert die Identitätsdiffusion als die Widersprüchlichkeit in der eigenen Persönlichkeit, der es nicht gelingt, herauszufinden, „…ob man ein richtiger
Mann (eine richtige Frau) ist, ob man jemals einen Zusammenhang in sich finden
und liebenswert erscheinen wird, ob man imstande sein wird, seine Triebe zu
beherrschen, ob man einmal wirklich weiss, wer man ist, ob man weiss, was man
werden will, weiss, wie einen die anderen sehen, und ob man jemals verstehen
wird, die richtigen Entscheidungen zu treffen,…“ (zit. nach Erikson, 1973, S.
111f). Einfach ausgedrückt, kann man die Identitätsdiffusion als Zweifel an der
eigenen Identität bezeichnen, welche durch die Unsicherheiten im eigenen Handeln und Entscheiden aufgrund des vermeintlichen Fremdbildes entstehen. Das
heisst, der Jugendliche schafft es aufgrund der früheren Zweifel an der eigenen
geschlechtlichen oder ethnischen Identität nicht, die aktuellen Ideale und Leitbilder in sein Selbstbild zu integrieren. Gelingt es einem Jugendlichen nicht, diese
Krise durch eine angemessene Lösung erfolgreich zu überwinden, besteht die
Möglichkeit, dass er sich nur bedingt oder gar nicht in die Gesellschaft einfügen
kann (vgl. Erikson, 1973, S. 106 ff). Dabei kommt es nicht selten zu kriminellen
oder psychotischen Vorkommnissen (vgl. Erikson, 1973, S. 110).
Beispiele der Identitätsdiffusion
In Anlehnung an Eriksons Werke führt Fend Beispiele auf, wie sich die Identitätsdiffusion zeigt. Darunter fallen die Auflösung der Zeitperspektive, (die Schwierigkeit an eine biografische Kontinuität und das zukünftige Sein zu denken), die
34
Vgl. Kapitel 5, Bedürfnistheorie.
Sozialisationstheorien
38
Identitätsbefangenheit (die auf Scham und Zweifel basierende Unfähigkeit, sich
als Persönlichkeit identisch zu fühlen), die Flucht in eine negative Identität (das
Eigene wird durch die Wahl des Gegenteils, was andere sind und erwarten, gefunden), sowie die Arbeitslähmung (Aufgrund einer unrealistischen Anforderung
an sich selbst, entsteht die Problematik sich auf eine Arbeit konzentrieren zu
können, was zu Arbeitsstörungen führt). Als weitere Gefährdungen in Bezug auf
die Identitätsarbeit werden unter anderem die Überidentifikation mit den Eltern,
das Ideologisieren von Vorbildern und festgefahrene Vorurteile aufgeführt. Die
Identitätsarbeit beinhaltet somit den Balanceakt zwischen Diffusion und Rigidität35 (Fend, 2001, S. 406 f).
4.2. Anwendung
An dieser Stelle werden Antworten auf die Frage „Welches sind die Beweggründe für eine Hooliganidentität/eine linksextreme Identität?“ erörtert. Dazu werden die unter Kapitel 4.1 eingeführten Sozialisationstheorien beigezogen.
Jedes soziale System hat explizite und implizite Antworten auf Entwicklungsaufgaben und besitzt eine Kultur und eine Struktur. Zentrales Thema der Soziologie
ist die Beziehung zwischen diesen zwei Begriffen (Kultur und Struktur). Kurz zusammengefasst geht es darum, dass die Beziehung zwischen Struktur und Kultur
asymmetrisch ist, das heisst, dass die Struktur als das konkretere von beiden
mehr entscheidet als die Kultur, welche eher der Tendenz nach das Begriffliche
ist. Durch zielgerichtete Handlungen versuchen menschliche Individuen, ihre
Sozialstruktur36 zu steuern. Kulturmerkmale sind wie in der Einleitung erwähnt,
Werte / Normen, die Sprache und kodifiziertes und allgemein zugängliches Wissen. Ein Teil dieser Kultur bezieht sich auf die Entwicklungsaufgaben, wie hier in
unsere Arbeit auf die Entwicklungsaufgaben der Jugend.
4.2.1. Subkultur der Hooligans
Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Alter der Jugendlichen ist die Ablösung von der Primärgruppe Familie. Die Jugendlichen müssen ihre eigene
Identität finden, wobei sie sich von den bisherigen Identifikationsfiguren der Eltern ablösen und neue Vorbilder suchen. Die Mitgliedschaft bei den Hooligans
hilft ihnen dabei, diese Ablösung von der Familie zu vollziehen. Ihre Vorbilder
sehen die Akteure einerseits in den Mitgliedern des Fussballclubs, den sie unterstützen, andererseits in den Führungspersonen unter den Hooligans. Sie eifern
ihnen nach, wobei sie sich durch ihre Handlungen strafbar machen können. Die
Mitgliedschaft bei den Hooligans ist für die Jugendlichen nicht ungefährlich.
Wenn die Akteure zu viel Alkohol konsumieren oder in Konflikt mit der Polizei
geraten, kann dies schwerwiegende Folgen betreffend ihrer Zukunft haben.
Körperidentität
Die Körperidentität der Hooligans zeigt sich einerseits durch die äussere Erscheinung, andererseits durch ihre Postur. Hooligans kleiden sich in den Farben
ihres Lieblingsclubs. Durch die gemeinsame Kleidung verstärken sie ihr Gruppengefühl und grenzen sich klar von den gegnerischen Fans ab. „Gemeinsam
35
Unnachgiebigkeit, Unfähigkeit sich wechselnden Bedingungen schnell anzupassen
(psychologisch) (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
36
Sozialstruktur ist etwas, was sich ergibt, etwas resultierendes, wenn Individuen in
längerfristigen Beziehungen zu einander treten. Menschen neigen auf Grund ihrer
biologischen Eigenschaften dazu, sich zu „vergesellschaften“, d.h. soziale Gruppen zu
bilden (vgl. Oberecht, 1998b, S. 64ff).
Sozialisationstheorien
39
sind wir stark. Wir wissen wer unsere Feinde sind“. Gemeinsam für etwas ein zu
stehen gibt den Jugendlichen das Gefühl, dazu zu gehören. Durch die Schaffung
eines äusseren Feindes (gegnerische Fans, Polizei etc.) wird das Gruppengefühl
verstärkt. „Wir müssen zusammenhalten!“ Die Postur der B-Fans ist anders als
jene der „klassischen Hooligans“. Sie müssen keine Muskeln haben um Sachbeschädigungen zu begehen. Direkte gewaltsame Auseinandersetzungen kommen
eher selten vor. Öfters werden Polizisten aus der Ferne traktiert, sei das durch
fliegende Steine oder ähnlichen Gegenständen. Auf diese Weise geraten die
Akteure nicht in Gefahr, einen Kampf zu verlieren, was sich negativ aufs Selbstwertgefühl auswirken würde.
Geschlechtsidentität
Hooligans haben eine starke Geschlechtsidentität. Sie fühlen sich als „ganze
Kerle“ wenn sie Bier trinken, sich lauthals gegen Randgruppen auslassen (Homosexuelle, Ausländer etc.) und sich gegen den Staat auflehnen können (Polizei). Ihr Verhalten wird von manchen Frauen als „männliches Gehabe“ bezeichnet. Die Subkultur der Hooligans ist eine reine Männerdomäne, denn im Zentrum
der Fankurve sind kaum Frauen anzutreffen.
Berufsidentität
Da Hooligans hauptsächlich über eine schlechte Schulbildung verfügen, haben
sie hinsichtlich ihrer Berufswahl nicht immer die Möglichkeit, Berufswunsch und
Wirklichkeit miteinander zu vereinbaren. Die meisten machen nach der Grundschule eine Lehre im handwerklichen Bereich.
Politische / moralische Identität
Eine politische Einstellung hat an Fussballspielen grundsätzlich nichts zu suchen.
Öfters werden Ausländer und Homosexuelle Opfer von diskriminierenden Äusserungen, welche aber weniger politisch einzuordnen sind, sondern eher als allgemeine Schimpfwörter mit wenig Hintergrund zu bezeichnen sind. In Parolen wie:
„Scheiss FC Kosovo“ widerspiegelt sich eher das kognitive Niveau der Hooligans
als ihre politische Einstellung.
Jugendliche befinden sich in einem Alter der Veränderungen und Entscheidungen. So müssen sie sich von ihrer Primärgruppe ablösen und gleichzeitig einen
beruflichen Weg einschlagen. Um auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen zu haben,
müssen sie gute Noten mit nach Hause bringen. Diese verschiedenen Aufgaben,
welche Jugendliche zu bewältigen haben, können eine Menge Spannungen zur
Folge haben. An Fussballspielen können solche Spannungen mittels Gewalt sehr
gut abgebaut werden. Jugendliche können ihre angestaute Wut an den Spielern,
den Schiedsrichtern, den gegnerischen Fans oder den Polizisten auslassen, wodurch es ihnen im Alltag wieder besser gelingt, sich anzupassen.
4.2.2.
Subkultur der militanten Linksautonomen
Das soziale System des Schwarzen Blocks, weiter differenziert in die Gruppierung der militanten Linksautonomen, beantwortet Entwicklungsaufgaben teilweise
anders, als die Hegemonialgesellschaft oder andere Jugendliche es tun. Beispielsweise hat Gewalt einen hohen Stellenwert und wird als Mittel gebraucht,
um sich zu unterhalten und Spass zu haben.
Körperidentität
Sozialisationstheorien
40
Die Körperidentität von militanten Linksautonomen im Schwarzen Block zeigt sich
darin, dass die äussere Erscheinung (vgl. Kap. 3.1.2.1) und die daraus folgenden
Konsequenzen sehr wichtig sind. Denn durch sie gelingt eine hohe soziale und
mediale Aufmerksamkeit. Der Körper und die Kleider werden an Demonstrationen oder öffentlichen politischen Anlässen demnach bewusst als Instrument zur
Auffälligkeit eingesetzt. Ausserhalb des Rahmens der Nachdemonstrationen
herrschen keine genauen Kenntnisse über den Kleidungsstil, es kann aber davon
ausgegangen werden, dass im Alltag normale, dem Beruf entsprechende Kleidung getragen wird. Kommt es an Anlässen wie dem 1. Mai zu Zusammenstössen mit der Polizei, beinhaltet dies meist körperliche Anstrengung, zum Beispiel
bei einer Prügelei oder einer Flucht vor dem Gegner. Hier werden bei den militanten Linksautonomen körperliche Grenzerfahrungen gemacht, welche sich auf
das Körperselbstbild auswirken. Je nach Situation erfahren sie das Gefühl von
Macht und Stärke, aber auch von Unterwerfung und Demütigung.
Geschlechtsidentität
Die emanzipierte Geschlechtsidentität der militanten Linken spiegelt sich in der
Abneigung von traditionellen Geschlechterstereotypen. Die Philosophie des
Linksextremismus fordert eine exakte Gleichstellung der Geschlechter. Dennoch
sind an gewalttätigen Demonstrationen über zwei Drittel der Beteiligten männlichen Geschlechts, was zeigt, dass physische Gewalt trotz einer Gleichstellungsideologie von Mann und Frau nach wie vor ein überwiegend männliches
Phänomen ist.
Berufsidentität
Da militante Linksautonome hauptsächlich aus der Mittel- bis Oberschicht kommen und über mindestens einen Realschulabschluss verfügen, haben sie hinsichtlich ihrer Berufswahl die Möglichkeit, Berufswunsch und Wirklichkeit miteinander zu vereinbaren. Hier wäre es interessant zu wissen, in welchen Betrieben
militante Linksautonome arbeiten oder welche Richtungen sie studieren. Es
würde uns wundernehmen, in wie weit die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und entsprechenden wirtschaftlichen Betrieben bestehen bleibt, wenn von
dort die Geldquelle für den Lebensunterhalt kommt. Auf Grund des Datenschutzes und mangelnden Informationen können darüber keine Aussagen gemacht
werden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass militante Linksautonome mangels eines vertieften Politikverständnisses hier weniger kritisch sind
wie beispielsweise die Steuerung oder der Kern des Schwarzen Blocks.
Politische / moralische Identität
Die politische / moralische Identität äussert sich bei den militanten Linksautonomen in Form von Interesse an Politik oder zumindest einer politischen Sensibilität. Dieses politische „Basisinteresse“ wird mit den Faktoren Spass, Unterhaltung, Action und Suche nach dem Kick kombiniert. Selbstbezogenheit, Spass
haben wollen und Engagement scheinen sich hier nicht auszuschliessen. Der
Gewaltaspekt spielt bei dieser Art von Politikinteresse eine hohe Rolle, sei es an
Demonstrationen gegen die Polizei oder bei Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen.
4.2.3. Fazit
In einem Fazit zum Teil der Sozialisationstheorien werden nun in einem Vergleich
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Hooliganidentität und der Identität von
militanten Linksautonomen herausgearbeitet.
Sozialisationstheorien
41
Die Mitglieder beider subkulturellen Gruppierungen befinden sich in der Lebensphase der Adoleszenz und sind dabei, für dieses Alter typische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Die Ablösung von der primären Sozialisationsinstanz Familie muss Schritt für Schritt vollzogen werden und die Peergroup als sekundäre
Sozialisationsinstanz nimmt einen immer grösseren Stellenwert ein. Gemeinsam
ist bei diesem Schritt den Akteuren beider Subkulturen, dass sie sich gewaltbereiten Gruppierungen anschliessen. Ein gewichtiger Grund zur Ausübung von
Gewalt sieht Professor Eisner (2001) in der heutigen Gesellschaft des „anything
goes“. Gewalt ist heutzutage zum einzig verbleibenden Mittel geworden, um die
Erwachsenen zu provozieren und zu reizen. Früher konnten sich Jugendliche mit
gefärbten Haaren, gewissen Musikrichtungen, Kleider, Tatoos, Piercings und
Drogenkonsum von den Erwachsenen abgrenzen. In der heutigen Zeit, in der
alles möglich ist und die Erwachsenen selbst dem Jugendwahn oder dem ewig
jugendlich sein verfallen sind, wird es schwierig, zu provozieren und sich abzugrenzen. Bei der Ausübung von Gewalt spüren Jugendliche den Widerstand der
Gesellschaft. Diese Form von Provokation trifft auf Akteure der Hooligans und
der militanten Linksautonomen sehr genau zu. Hooligans provozieren durch ihre
rassistischen und primitiven Fangesänge in Verbindung mit Gewalt, militante
Linksautonome durch ihre schwarze Kleidung und die Vermummung, ebenfalls in
Verbindung mit Gewaltausübung.
Allgemein kann festgestellt werden, dass wenn ein Individuum bezüglich seines
Modells und seines Erlebens, Übereinstimmungen mit der Hooligan/linksextremen Subkultur wahrnimmt, sich von dieser angezogen fühlt (kognitive Dissonanz) und bemüht sich, Komponente dieses Systems zu werden. Die
Dissonanztheorie erklärt diese Gesetzmässigkeit folgendermassen: Um kognitive
Dissonanz- ein aversives Gefühl kognitiver Spannung- zu vermeiden, werden
Personen in der Regel dissonante Informationen vermeiden, konsonante Informationen aktiv aufsuchen.
Warum ein Individuum (bevor es Teil einer Hooligangruppe oder in der Linksautonomen Szene ist) Modelle und Erlebnismodi, die kongruent mit der Hooligansubkultur oder der linksautonomen Subkultur sind, entwickelt, kann individuell
verschieden sein. Dies kann durch strukturelle Bedingungen wie Jugendarbeitslosigkeit, Freude am Fussball oder der Politik sein, durch einen Ausschluss aus
dem Familien- und/oder Bildungssystem oder durch Freundschaften, Kontakte zu
den entsprechenden Subkulturen oder zum Beispiel ältere Geschwister sein.
Viele Jugendliche schliessen sich aus Lust zur Provokation als Abgrenzungsstrategie gegen Erwachsene gewaltbereiten Subkulturen an.
Körperidentität
Akteure beider Subkulturen setzen Körper und Kleidung bewusst als Mittel und
Kennzeichen für ihre Gruppierungen ein. Hooligans tun dies, indem sie sich in
den Farben des Vereins kleiden, militante Linksautonome kleiden sich schwarz,
abgeleitet vom Namen des Schwarzen Blocks. Akteure beider Subkulturen setzen den Körper bewusst als Waffe gegen den Gegner (Polizei oder gegnerische
Gruppierungen) oder Dinge (Sachbeschädigungen) ein.
Geschlechtsidentität
Bezüglich der Geschlechtsidentität bestehen markante Unterschiede zwischen
den Subkulturen. Hooligans haben das Bild der klassischen Rollenverteilung und
traditionellen Geschlechterstereotypen. Ihr Denken ist geprägt durch ein starkes
Männerbild, welches sich durch Kraft, männliche Härte und Gewalt äussert.
Sozialisationstheorien
42
Schwule gelten bei Hooligans als verpönt und minderwertig. Hooligans sind eine
reine Männerdomäne und Frauen gelten höchstens als nette Accessoires, falls
sie sich überhaupt in solche Kreise begeben. Dem gegenüber haben militante
Linksautonome eine starke Abneigung gegen traditionelle Geschlechtertypen,
denn die Ideologie des Linksextremismus fordert eine Gleichstellung der Geschlechter. Alternative Geschlechtsformen wie Homosexualität sind bei militanten
Linksautonomen akzeptiert und werden teilweise selbst gelebt.
Berufsidentität
Bezüglich der Berufsidentität haben militante Linksautonome dank ihrer tendenziell höheren Bildung mehr Möglichkeiten, Berufswünsche und Wirklichkeit miteinander zu vereinbaren. Dies führt dazu, dass Hooligans unter grösseren anomischen Spannungen leiden (vgl. Kapitel 6).
Politische/moralische Identität
Betreffend der politischen Identität bestehen ebenfalls Unterschiede zwischen
Akteuren der beiden Subkulturen. Bei Hooligans ist an Fussballspielen grundsätzlich keine politische Einstellung zu finden. Militante Linksautonome hingegen
besitzen in irgendeiner Form Interesse an Politik oder zumindest eine politische
Sensibilität. Dieses „Basisinteresse“ an Politik wird mit Ausübung von Gewalt und
Unterhaltung kombiniert. Mehr Unterschiede in Erleben und Modells der Akteure
sind unter Kapitel 3.2, Fazit SDF, zu finden.
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
43
5. Biopsychosoziale Bedürfnistheorie37
Die biopsychosoziale Bedürfnistheorie nach Obrecht ist eine mehrniveaunale
Beschreibungstheorie. Sie wird an dieser Stelle eingeführt, um die Mitglieder der
Subkulturen der Hooligans und der militanten Linksautonomen bezüglich ihrer
Befriedigung von Bedürfnissen zu vergleichen. Im Fazit soll aufgezeigt werden,
welche Bedürfnisse die Mitglieder der beiden Subkulturen durch ihre Mitgliedschaft verletzen, bzw. befriedigen können. Es soll erstens erklärt werden, aufgrund der Befriedigung welcher Bedürfnisse sich ein Individuum zu einer Mitgliedschaft in einer der beiden Subkulturen entscheidet. Zweites zeigen wir auf,
aufgrund welcher Bedürfnisse Jugendliche in den betreffenden Subkulturen Gewalt anwenden.
5.1. Einführung
Menschliche Individuen sind selbstwissensfähige Biosysteme38 mit einem zentralen Nervensystem, welche wie alle Organismen durch einen Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umgebung leben. Organismen bevorzugen es, in ganz bestimmten Zuständen zu sein (Wohlbefinden) und haben deshalb entsprechende
(bio)-Werte, auch Soll-Zustände genannt. Jedoch sind sie laufend verschleissenden Zuständen ausgesetzt, welche diese bevorzugten Werte entfernen und damit
immer wieder ihr Überleben in Frage stellen. Man könnte auch sagen, dass der
Ist-Zustand nicht dem Soll-Zustand entspricht (vgl. Obrecht, 1998).
Ein Bedürfnis ist ein interner (spannungs-) Zustand, welcher weit weg ist von
dem Zustand, in dem sich der Mensch39 wohl fühlt. So entsteht ein Defizit, welches vom Nervensystem registriert wird. Der Mensch wird nun durch ein nach
aussen gerichtetes Verhalten zu einer Kompensation dieses entstandenen Defizits motiviert (Bedürfnisbefriedigung). Bedürfnisse sind Eigenschaften von Individuen und nicht von Systemen.
Wünsche sind bewusst wahrgenommene Bedürfnisse. Sie drücken aus, wie wir
ein Bedürfnis befriedigen wollen. Wenn zum Beispiel Durst ein Bedürfnis ist, kann
es ein Wunsch sein, ein Bier zu trinken. Bedürfnisse sind universell, Wünsche
dagegen kulturell. So kennen alle Menschen auf der Welt das Gefühl Durst zu
haben, jedoch haben nicht alle den Wunsch, den Durst auf dieselbe Weise zu
stillen.
Nach Obrecht gibt es drei verschiedene Arten von Bedürfnissen:40
37
Nach Obrecht (1998).
Ein System ist ein konkretes Ding, das aus konkreten Komponenten gebildet wird,
zwischen denen ein Netz von Beziehungen besteht, durch das die Komponenten
untereinander mehr verknüpft sind als mit anderen Dingen. Dadurch grenzen sie sich als
Ganzes von anderen Gebilden ab (vgl. Obrecht, 1998).
39
Organismus wird hier zur Vereinfachung durch Mensch ersetzt. Es ist jedoch wichtig zu
erwähnen, dass nicht nur Menschen Bedürfnisse- und damit Biowerte haben, sondern
alle Organismen.
40
Zur detaillierten Auflistung der Bedürfnisse, vgl. Anhang auf Seite VIII.
38
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
44
Biologische Bedürfnisse, welche durch den Umstand bedingt sind, dass Organismen selbstgesteuerte, autopoietische41 Systeme sind.
Psychische Bedürfnisse, welche durch den Umstand bedingt sind, dass Organismen durch ein komplexes Nervensystem gesteuert sind, dessen
angemessenes Funktionieren von einer sensorischen Grundstimulation
abhängt.
Soziale Bedürfnisse, welche durch den Umstand bedingt sind, dass Organismen selbstwissensfähig sind und ihr Verhalten in ihrer sozialen Umgebung über ihre Kognition steuert.
Bedürfnisse werden im Rahmen von einzelnen Handlungen befriedigt und sind
unterschiedlich elastisch. Das heisst, ihre Befriedigung kann über verschieden
lange Zeiträume hinausgeschoben werden. Die sozialen Bedürfnisse zum Beispiel sind elastischer als die Biologischen, da ihre Nichterfüllung keinen baldigen
Kollaps des Organismus zur Folge haben.
Bedürfnisse sind zusammengefasst eine spezifische Klasse von Regelungsprozessen innerhalb von Organismen mit einem zentralen Nervensystem (dazu gehören nicht nur Menschen, sondern beispielsweise auch Tiere). Neben externen
Sensoren sind sie auch mit einem Erkennungs- und Bewertungssystem für innere und äussere Reize ausgestattet.
(Bedürfnisse)
Spannungszustände
↓
Motivation
(kompensatorisches Verhalten zur Werterhaltung)
↓
Befriedigung
↓
Wohlbefinden
Abbildung 3, Ablauf der Bedürfnisbefriedigung
Welche Funktion haben denn nun Bedürfnisse? Wo Bedürfnisse sind, können
auch Bedürfnisspannungen sein. Eine Bedürfnisspannung tritt dann auf, wenn
der Soll-Wert eines Organismus nicht mit dem Ist-Wert übereinstimmt. Sie diktiert
die Suche nach befriedigenden Dingen und/oder Stimulationen. Man kann demnach sagen, dass ohne bedürfnisgesteuerte Motivation kein absichtsvolles Verhalten gibt.
5.2. Anwendung
41
Autopoiese bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines
Systems (vgl. www.wikipedia.org).
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
45
Zur Anwendung der Bedürfnistheorie nach Obrecht werden bezüglich der beiden
Subkulturen folgende Fragen beantwortet:
Welche Bedürfnisse werden durch die Mitgliedschaft der Subkultur befriedigt?
Welche Bedürfnisse werden durch die Mitgliedschaft in der Subkultur verletzt?
Welche Bedürfnisse werden durch die Ausübung von Gewalt befriedigt?
Welche Bedürfnisse werden durch die Ausübung von Gewalt verletzt?
Nach der Beantwortung der aufgeführten Fragen werden in einem Fazit die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede zwischen der Subkultur der Hooligans
und jener der Linksautonomen, bezüglich der Befriedigung von Bedürfnissen,
aufgezeigt.
5.2.1. Subkultur der Hooligans
Aufgrund der Befriedigung welcher Bedürfnisse halten sich Jugendliche in gewaltbereiten Fan-Kreisen auf?
Anhand von Sozialisationstheorien wurde aufgezeigt, dass Jugendliche eine
Identitätsentwicklung durchmachen. Sie sind auf der Suche nach ihrer eigenen
Identität, wobei sie einerseits Vorbildern nacheifern, andererseits doch eine eigenständige Person sein wollen, die ihre eigenen Werten und Normen hat und
dementsprechend handelt. Durch die Mitgliedschaft bei den Hooligans können
sie bezüglich dieses Prozesses einige wichtige Bedürfnisse befriedigen, wie die
Bedürfnisse nach Orientierung und nach Unverwechselbarkeit. Sie orientieren
sich an einem Club, die Fussballspieler werden als Vorbilder gesehen. Einige
Jugendliche tragen an den Spielen sogar Trikots mit dem Namen eines Spielers
drauf. So sind die B-Fans immer in den Farben des Lieblingsclubs gekleidet, haben eigene Sprechgesänge und Transparente. Und doch will jeder Fan unverwechselbar sein. Einerseits grenzen sich die verschiedenen Gruppen klar gegen
die gegnerischen Fans ab, andererseits hat jeder Fan seine eigene „Ausrüstung“,
welche er zum Spiel trägt.
Viele Jugendliche sind in der Phase der Pubertät stark verunsichert. Sie haben die eigene Identität noch nicht gefunden. Einerseits verändert sich der Körper stark in dieser Phase, andererseits müssen wichtige Entscheidungen bezüglich Ausbildung und Beruf getroffen werden. Durch die Zugehörigkeit bei den
Hooligans können sie dementsprechend die Bedürfnisse nach Kontrolle und
Kompetenz, sowie nach Zugehörigkeit und sozialer Anerkennung, befriedigen.
Die Jugendlichen fühlen sich der Fangruppe zugehörig, indem sie ähnlich gekleidet sind, die gleiche Mannschaft unterstützen und die gleichen Feindbilder haben
(gegnerische Fans, Polizei etc.). In der Gruppe fühlen sie sich stark und erhalten
die nötige soziale Anerkennung, in dem sie bei den Spielen dabei sind, sich bei
den Choreographien beteiligen und je nach Situation Dinge aufs Spielfeld werfen
oder eine Leuchtpetarde zünden. Mit der Gruppe im Rücken ist es leichter mutig
zu sein und gegnerische Fans zu beschimpfen, als wenn Jugendliche es alleine
tun müssten. So fühlen sie sich einerseits stark, weil sie sich mutig fühlen und
andererseits durch die Anerkennung, die sie von ihren Fan-Kollegen für ihre Taten bekommen.
Weiter können Hooligans durch die Zugehörigkeit in der Subkultur ihr Bedürfnis nach Autonomie befriedigen. Jugendliche beginnen sich von ihren Primärgruppen (vor allem der Familie) zu lösen. Die Zugehörigkeit verleiht ihnen das
Gefühl „etwas Eigenes zu haben“. Nicht selten geben sie deswegen zu Hause
und in der Schule mit ihren „Heldentaten“ an.
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
46
Durch die Mitgliedschaft von Jugendlichen in gewaltbereiten Fan-Kreisen werden
einige Bedürfnisse verletzt. Wie schon erwähnt, müssen in der Jugendphase
wichtige Entscheidungen getroffen werden. Die Jugendlichen stecken sich Ziele,
welche sie in den nächsten Jahren erreichen wollen (Schule, Lehre, Wohnsituation etc.). Dies gibt ihnen die Motivation eine Ausbildung zu machen und dafür zu
lernen, obwohl sie in diesem Alter viele andere Dinge im Kopf haben. Durch die
Zugehörigkeit bei den Hooligans ist ihr Bedürfnis nach subjektiv relevanten Zielen
und Hoffnung auf Erfüllung nicht erfüllt. Durch den Alkoholkonsum und die Probleme mit der Polizei laufen die Jugendlichen Gefahr, sich einen positiven Verlauf
der wichtigen nächsten Jahre zu verbauen.
Einige Jugendliche können durch die Zugehörigkeit bei den Hooligans ihr Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit befriedigen, bei anderen wird durch dieselbe
Zugehörigkeit das Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit verletzt. Anstatt sich
durch die Gruppe eine eigene Identität aufzubauen, gehen sie in der Gruppe unter und fühlen sich nur als einer unter vielen. Gerade bei diesen Mitgliedern kann
auch das Bedürfnis nach (Austausch-) Gerechtigkeit verletzt werden. Sie haben
nichts zu sagen und müssen sich den Regeln der Stärkeren unterwerfen.
Durch die Ausübung von Gewalt können die Hooligans das Bedürfnis nach Abwechslung und Stimulation befriedigen. Sie suchen durch die Pöbeleien an die
Adresse der gegnerischen Fans oder der Polizei den Kick und finden es immer
wieder „cool“, auf diesem Weg an ihre Grenzen zu gehen.
Verletzt wird dabei als erstes das Bedürfnis nach physischer Unversehrtheit. Dies
ist ein biologisches Bedürfnis und ist dadurch weniger elastisch als die biopsychosozialen Bedürfnisse. Bei den Ausschreitungen der Hooligans werden immer
wieder viele Personen verletzt. Einige Male gab es auch Tote, jedoch nicht in der
Schweiz. Immer wieder kann durch die Gewaltausübung das Bedürfnis nach
Kontrolle und Kompetenz verletzt werden. Es werden in den Fankurven Leuchtpetarden abgefeuert, die irgendeine Person treffen könnten. Auch bei Prügeleien
kann ein Jugendlicher die Kontrolle über sich selber oder seinen Widersacher
verlieren. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird vor allem bei Unbeteiligten Personen verletzt, denn immer wieder kommt es zu Verletzungen von Drittpersonen.
5.2.2. Subkultur der militanten Linksautonomen
Für Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahre ist die militante Linksautonome des
Schwarzen Blocks eine gute Gelegenheitsstruktur, um viele für diese Lebensphase typische Bedürfnisse zu befriedigen. Auf der Suche nach der eigenen
Identität und beim Erproben neuer Handlungskompetenzen können auch bei der
Mitgliedschaft im Schwarzen Block viele Bedürfnisse befriedigt werden.
Zum Beispiel das Bedürfnis nach Abwechslung und Stimulation. Am 1. Mai
herrschen oftmals kriegsähnliche Zustände, welche die Routine des geregelten
Alltags völlig in den Schatten stellen. Jugendliche, die bei den militanten Linksautonomen aktiv sind, sind meist eingebunden in Alltagsstrukturen mit Lehre,
Arbeit oder Studium, was viele in dieser Lebensphase als eine Art Zwang und
Routine betrachten. Unbewilligte Nachdemonstrationen mit Gewaltausschreitungen durchbrechen diesen „Trott“ perfekt und bringen Abwechslung, Erregung und
Stimulation.
Durch die gemeinsame Ablehnung der Gesellschaftsform des Kapitalismus
und des bestehenden politischen und ökonomischen Systems wird das Bedürfnis
nach Orientierung in der Gruppe oder an Nachdemonstrationen bis zu einem
gewissen Grad befriedigt. Man orientiert sich an den kommunistischen oder marxistischen Vorbildern und am revolutionären, linksextremen Gedankengut. Wobei
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
47
hier erwähnt werden muss, dass viele der militanten Linksautonomen des
Schwarzen Blocks zwar eine politische Sensibilität für diese Themen haben, sich
jedoch nur beim Kampf auf der Strasse (der Kampf ist die Hauptsache) wirklich
an diesen Leitsätzen orientieren.
Die quantitative und qualitative Untersuchung des Pädagogischen Instituts Zürich (2003) hat ergeben, dass bei militanten Linksautonomen Fernziele und Zukunftsperspektiven vorhanden sind. Gesellschaftliche Zukunftsperspektiven werden eher pessimistisch eingeschätzt. Im Hinblick auf die Erreichung der eigenen
beruflichen Ziele wird jedoch vermehrt an eine Bedürfnisbefriedigung geglaubt.
Diese Zuversicht kommt daher, dass viele der militanten Linksautonomen in
Form einer Lehre, bei der Arbeit oder im Studium aktiv im System funktionieren
und Rückhalt in der Mittel- oder Oberschicht haben.
Mit der Zugehörigkeit zum militanten Flügel des Schwarzen Blocks kann das
Bedürfnis nach sozialer Anerkennung befriedigt werden. In der Gruppe fühlen sie
sich stark und zugehörig, da alle schwarz gekleidet und vermummt sind. Sie teilen im weiteren Sinne dieselben politischen Ansichten und haben dieselben
Feinbilder (den Staatsapparat, in Verkörperung der Polizei und die Faschisten).
Militante Linksautonome erhalten die nötige soziale Anerkennung innerhalb der
Gruppe (auch wenn diese Gruppe nur eine kundgebungsbezogene Gelegenheitsstruktur ist) in dem sie an Nachdemonstrationen dabei sind und besonders
gewagte Dinge tun wie beispielsweise das Einschlagen eines Schaufensters
oder das Anzünden eines Autos. Mit anderen vermummten Gesinnungsgenossen
an der Seite oder im Rücken ist es leichter, Sachbeschädigungen zu begehen
oder Pflastersteine nach Polizisten zu werfen, als wenn Akteure ganz alleine wären. Die gesellschaftliche Anerkennung der militanten Linksautonomen ist relativ
gering, da sie im Allgemeinen als Krawallmacher und Chaoten stigmatisiert werden. Dennoch geniessen sie eine Art Anerkennung, in dem Sinne nämlich, dass
sie durch ihr militantes Auftreten eine hohe soziale und mediale Aufmerksamkeit
erlangen.
Inwiefern das Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung befriedigt wird ist
schwierig zu sagen, da die Nachdemonstrationen eine kungebungsbezogene
Gelegenheitsstruktur sind, bei der immer wieder andere Akteure beteiligt sind.
Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Freundschaft, Solidarität und
Liebe in Form von Austauschbeziehungen bei einigen Akteuren der militanten
Linksautonomen erlebt werden.
Auch das Bedürfnis nach spontaner Hilfe wird je nach Situation befriedigt. Es
kann sein, dass es in der Hitze des Gefechts an einer Demonstration möglich ist,
anderen Hilfestellung zu bieten. Genau so kann es aber auch sein, dass dies
nicht möglich ist, da die Situation das Wahren der eigenen physischen Integrität
erfordert.
Als meist unbewusstes Hauptmotiv, sich einer gesellschaftlichen Peergroup
bzw. Subkultur anschliessen zu wollen, gilt sicherlich, dass durch diese erlangte
Mitgliedschaft, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit effektiver befriedigt werden
kann, als beispielsweise in einer Familiengemeinschaft. Ferchoff erwähnt in diesem Kontext: „Peers eröffnen ohne formelle Organisationsformen und Verwaltungsstrukturen (…), vielen Jugendlichen in sozialkultureller Hinsicht kompetente
Teilnahme und Selbstverwirklichungschancen (…), die ihnen im Rahmen der
Familie, Schule, Erwerbsarbeit, Vereinsstruktur und Jugendverband in diesem
Ausmass nicht gewährt werden“ (1990, S. 128). Bei militanten Linksautonomen
beschränkt sich dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit vor allem auf die Zeiträume
von Demonstrationen oder politischen Anlässe, dann ist es jedoch um so stärker,
da man im Kampf auf der Strasse aufeinander angewiesen ist.
Das Bedürfnis nach Autonomie ist bei den militanten Linksautonome interessant, da das Wort `Autonomie` schon im Namen der Subkultur vorkommt. Das
subjektive Bedürfnis nach Autonomie wird bei den militanten Linksautonomen
Biopsychosoziale Bedürfnistheorie
48
teilweise befriedigt. Im Moment der Demonstrationen und den Krawallen auf der
Strasse herrschen Zustände des Chaos und der Anarchie. Dies ermöglicht den
Demonstranten für kurze Zeit ihr Bedürfnis nach Autonomie, Freiraum und
Selbstbestimmung zu befriedigen. Im Ganzen gesehen sind militante Linksautonome jedoch abhängig von hierarchisch höheren Individuen, die ihr momentanes
und weiteres Leben bestimmen wollen / müssen (Erziehungsberechtigte, Behörden, Polizei etc.).
Aufgrund vorgegebener gesetzlichen Bestimmungen sind sie in einem gewissen Masse abhängig von diesen Zwangsbeziehungen, in welchen sie in begrenzender und behindernder Form Machtausübung erleben.
Genauso wie Bedürfnisse durch die Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Gruppierungen befriedigt werden, können dadurch auch Bedürfnisse verletzt werden.
Bei Zusammenstössen von militanten Linksautonomen mit der Polizei oder mit
rechtsextremen Gruppierungen wird das Bedürfnis nach physischer Integrität
verletzt. Gummischrott und Tränengas sind gefährlich und schädlich für den Organismus und nicht selten kommt es an Demonstrationen zu Verletzten.
An Ausschreitungen bei Demonstrationen wird auch das Kontroll- und Kompetenzbedürfnis verletzt. Die Polizei ist schlussendlich durch ihre Anzahl und den
zur Verfügung stehenden Mitteln immer stärker und jugendliche Linksautonome
erfahren dadurch zuletzt immer einen Kontroll- und Kompetenzverlust.
Militante Linksautonome erleben in ihrem latenten Politikverständnis die Welt
und ihre Gesellschaft als ungerecht und sind unter anderem aus diesem Grund
zu dieser Subkultur gestossen. In dieser Zugehörigkeit erhoffen sie sich mehr
Austauschgerechtigkeit und weniger hierarchische Strukturen. Durch diese Einstellung wird das Bedürfnis nach Gerechtigkeit klar verletzt.
5.2.3. Fazit
Jugendliche durchlaufen eine Identitätsentwicklung. Durch die Mitgliedschaft in
gewalttätigen Subkulturen wie jene der Hooligans, bzw. der militanten Linksautonomen, können sie eine Reihe von Bedürfnissen befriedigen.
Die Mitglieder beider Subkulturen können durch ihre Mitgliedschaft die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Orientierung befriedigen. Durch die Gewaltausübung erleben die Jugendlichen Abwechslung und Stimulation. Der Zusammenhalt in der Gruppe verleiht ihnen Mut und die Akteure versuchen sich durch
die Gewaltausübung zu profilieren. Dadurch erhalten sie von anderen Mitgliedern
soziale Anerkennung und ihre Bedürfnisse nach Autonomie, nach Kompetenz
und Unverwechselbarkeit werden befriedigt.
Durch die Zusammenstösse mit der Polizei kann das Bedürfnis nach physischer Unversehrtheit verletzt werden, welches zu den unelastischen Bedürfnissen zählt und schwerwiegende Folgen bezüglich der Zukunftsplanung der Jugendlichen haben kann. Bei einer Verhaftung können viele Bedürfnisse verletzt
werden, von welchen die Jugendlichen ursprünglich hofften, sie in der Subkultur
befriedigen zu können.
Die Mitgliedschaft in einer Subkultur kann die Jugendlichen beim Ablösungsprozess der Familie unterstützen, da in Peergroups viel grössere Selbstverwirklichungschancen bestehen als in normalen Verwaltungsstrukturen.
Bezüglich der Bedürfnisbefriedigung können bei beiden Subkulturen keine relevanten Unterschiede gemacht werden. Akteure beider Subkulturen können durch
die Mitgliedschaft bei den Hooligans und den militanten Linksautonomen für das
Jugendalter typische Bedürfnisse befriedigen.
Theorie anomischer Spannungen
49
6. Theorie anomischer Spannungen42
Die Theorie struktureller und anomischer Spannungen nach Obrecht ist eine
mehrniveaunale Erklärungstheorie. Sie wird an dieser Stelle eingeführt, um die
Subkulturen der Hooligans und der militanten Linksautonomen bezüglich ihrer
anomischen Spannungen zu vergleichen. Im Fazit soll aufgezeigt werden, welche
Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede bezüglich anomischer Spannungen
und der Strategien zur Bewältigung dieser Spannungen in den beiden Subkulturen existieren.
6.1. Einführung
Menschliche Sozialsysteme sind dichte und stabile Interaktionsfelder selbstwissensfähiger Biosysteme (Menschen). Es sind Systeme, die eine Reihe von Komponenten involvieren, zwischen denen ein Netz von Beziehungen besteht. Die
Komponenten dieser Sozialen Systeme, also die Menschen, sind der Schichtung
dieses Systems ausgesetzt. Unter Schichtung versteht Obrecht „die ungleiche
Verteilung eines relevanten Gutes unter den Mitgliedern eines sozialen Systems“.
In jedem Sozialsystem gibt es verschiedene Statussubsysteme. So sind die
wichtigsten Statussubsysteme in unserer modernen Gesellschaft die Ausbildung,
das Einkommen und die berufliche Stellung. Nicht alle Individuen einer Bevölkerung sind von diesen Statussubsystemen gleich betroffen. So sind Kinder beispielsweise noch nicht in der Arbeitswelt integriert oder Pensionierte sind bereits
aus der Arbeitswelt ausgetreten. In der folgenden Grafik sind die Statuslinien und
Statuskonfigurationen schematisch dargestellt. Sie soll die Einführung dieser
Bezeichnungen erleichtern.
Bildung
Beschäftigung
Einkommen
Abbildung 4, Übersicht Statuslinien & Statuskonfiguration
Jedes Statussubsystem besteht aus einer Statuslinie, welche alle möglichen vertikalen Positionen innerhalb dieses Systems beinhaltet. In der obenstehenden
Grafik sind die Statuslinien rot eingezeichnet. So kann beispielsweise die linke
42
Nach Obrecht (1998).
Theorie anomischer Spannungen
50
Linie für den Status „Bildung“ stehen, die mittlere für den Status „Beschäftigung“
und die rechte für den Status „Einkommen“.
Nehmen wir als soziales System nun eine Fangruppe. Jede Person befindet
sich auf den verschiedenen Statuslinien auf einer anderen Position. So hat das
Mitglied eins eine gute Bildung, einen guten Job und ein gutes Einkommen. Mitglied zwei jedoch ist schlechter gebildet, hat sich mit den Jahren aber nach oben
gearbeitet und mittlerweile einen guten Job mit mittlerer Entlöhnung. Mitglied drei
hat eine gute Bildung, ist jedoch arbeitslos, womit die Position auf der Statuslinie
der Beschäftigung wegfällt. Da die Person vom Sozialamt unterstützt wird, hat sie
nur ein kleines Einkommen.
In jedem sozialen System bilden sich mehrere Statussubsysteme, die in einer
Beziehung miteinander stehen. Die Menge der Statuspositionen, die ein Mitglied
eines Systems einnimmt, nennt man Statuskonfiguration. In der Grafik sind die
Statuskonfigurationen durch die grünen und blauen Linien dargestellt. Die blauen
Linien bezeichnen Positionen, welche im Statusgleichgewicht sind, also Individuen, welche in allen drei Statussubsystemen auf einem durchwegs hohen, bzw.
mittleren oder tiefen Niveau stehen. Menschen, welche beispielsweise eine gute
Bildung, jedoch einen schlechten Job mit schlechter Entlöhnung haben, befinden
sich in einem Statusungleichgewicht. Die obere der beiden grünen Linien stellt
eine solche Statuskonfiguration dar. Dann gibt es auch Individuen, welche nicht
auf jeder Statuslinie eine Position innehaben. Dies könnten zum Beispiel Personen ohne Bildung oder Erwerbslose sein. Bei ihnen sind eine oder mehrere Positionen einer Konfiguration nicht besetzt, also spricht man von einer Statusunvollständigkeit. In der Grafik ist eine Statusunvollständigkeit durch die untere grüne
Linie dargestellt.
Jede Abweichung einer vollständigen und gleichwertigen Konfiguration auf hohem Rang führt zu einer bestimmten Form von Spannung beim betroffenen Individuum. Die Abweichungen in der Konfiguration nennt man strukturelle Spannungen. In unserer modernen Gesellschaft sind drei strukturelle Spannungen von
Bedeutung:
Abweichung vom höchsten Rang
Statusungleichgewicht
Statusunvollständigkeit
Die Spannung, welche das Individuum aufgrund der Abweichung von der Norm
erfährt, nennt man anomische Spannungen. Dies sind:
Rangspannung
Ungleichgewichtsspannung
Unvollständigkeitsspannung
Anomische Spannungen sind Spannungen im Organismus des Akteurs als Antwort auf seine gespannte strukturelle Lage. Eine solche Spannung besteht in der
Diskrepanz zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten. Die
verschiedenen strukturellen Spannungen haben jeweils besondere Formen von
anomischen Spannungen zur Folge. Je grösser beispielsweise das Statusungleichgewicht ist, desto grösser ist die vom Individuum erfahrene Ungleichgewichtsspannung. Ein Individuum, welches beispielsweise unter einer Rangspannung leidet, fühlt sich in der Gesellschaft nicht genügend anerkannt. Das
Individuum hat dann ein Problem, wenn ein bestimmtes Ziel (zum Beispiel mehr
Lohn für die Arbeit zu bekommen) mit dem ihm zu Verfügung stehenden Mittel
Theorie anomischer Spannungen
51
nicht gelöst werden kann. Solche Situationen sind dann oft mit Gefühlen der
Ohnmacht verbunden.
Dass ein Individuum eine strukturelle Spannung subjektiv erfährt und damit eine
anomische Spannung erlebt, setzt voraus, dass die Werte, welche den Statuslinien zugrunde liegen für die Person auch verbindlich sind. So kann kein Individuum an einer Unvollständigkeitsspannung leiden, welchem es absolut nicht
wichtig ist, einen Job zu haben. Voraussetzung für eine anomische Spannung ist
also die Identifikation mit den Werten der Gesellschaft.
Es gibt verschiedene Strategien anomische Spannungen abzubauen, wobei nicht
alle zur Lösung derselben strukturellen Problematik geeignet sind:43
Ablehnung des Wertes:
Soziale Isolation
Individuelle vertikale Mobilität:
Kollektive vertikale Mobilität
Migration oder geografische Mobilität
Delinquenz
(Chronische) Krankheit
6.2. Anwendung
Zur Anwendung der Theorie struktureller und anomischer Spannungen nach
Obrecht werden bezüglich der beiden Subkulturen folgende Fragen beantwortet:
Welche Statussubsysteme sind in der Subkultur wichtig?
Welche Aussage kann über die Mitglieder der Subkulturen gemacht werden
bezüglich Bildung, Beschäftigung und Einkommen?
Welchen anomischen Spannungen sind die Mitglieder der Subkultur ausgesetzt?
Welche Strategien haben sie, diese zu bewältigen?
Nach der Beantwortung der aufgeführten Fragen werden in einem Fazit Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zwischen der Subkultur der Hooligans und jener
der Linksautonomen, bezüglich Status der Mitglieder der Subkultur und des Vorhandensein ihrer anomischen Spannungen, aufgezeigt.
6.2.1. Subkultur der Hooligans
In der heutigen, modernen Gesellschaft sind es die Statussubsysteme Bildung,
Beschäftigung und Einkommen, welche den höchsten Wert haben. Die Mitglieder
der Subkultur der Hooligans befinden sich nach Aussage der Kantonspolizei auf
einer tiefen Statuslinie. Die meisten haben einen tiefen Bildungsstatus, woraus
tendenziell eher schlecht bezahlte Beschäftigungen resultieren. Vielen Hooligans
können ihre Berufswahl dementsprechend nicht frei zu gestalten, was eine Diskrepanz von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung und damit eine Rangspannung
43
Vgl. zu den anomischen Spannungen die Beispiele im Anhang auf Seite IX.
Theorie anomischer Spannungen
52
zur Folge haben kann. Eine Beschäftigung und damit ein Einkommen zu haben
könnte notwendig sein um die Eintrittspreise für die Fussballspiele, sowie die
dazugehörige Bekleidung und andere Lebensstandards finanzieren zu können.
Den Hooligans ist es wichtig, körperlich gesund und mobil zu sein, damit sie
bei den Spielen dabei sein können und bei gewalttätigen Auseinandersetzungen
nicht „den Kürzeren ziehen“.
Gemäss Aussagen der Kantonspolizei haben Hooligans bezüglich Bildung, Beschäftigung und Einkommen nur eines gemeinsam: Die meisten der gewaltbereiten jugendlichen Fans hat eine eher schlechte Schulbildung. Dies ist an ihren
niveaulosen Sprechgesängen und den zum Teil diskriminierenden Transparenten
zu sehen. Nicht selten werden Aussagen wie: „Schiri, du schwule Sau“ gemacht.
Eine bessere Bildung ist eher bei den wenigen Führungspersonen zu finden,
welche sich raffiniert in Szene setzen können und für die Polizei schwer zu belangen sind. Bezüglich Beschäftigung und Einkommen kann über diese Subkultur
keine einheitliche Aussage gemacht werden, wobei bekannt ist, dass die Hooligans tendenziell handwerkliche Berufe erlernen. Ausgehend von ihrer schlechten
Bildung kann eine eher tiefe Statuskonfiguration angenommen werden.
Die Akteure der Hooligans leiden daher am ehesten unter Rangspannungen. Sie
befinden sich bezüglich Bildung, daraus abgeleitet auch bezüglich Beschäftigung
und Einkommen, auf einem tieferen Rang als ein Grossteil der Bevölkerung.
Konkrete Strategien, diese Spannungen abzubauen sind uns nicht konkret bekannt.
Die Ablehnung des Wertes „situationsadäquates Verhalten“ und die Delinquenz in Form von Gewaltausübung gehören zu den „beliebtesten“ Strategien
der Hooligans, um diese Rangspannungen abzubauen. An Fussballspielen können sie durch Pöbeleien und Zusammenstössen mit der Polizei angestaute Wutgefühle abladen, womit sie durch situationsinadäquates Verhalten auffallen.
6.2.2. Subkultur der militanten Linksautonomen
Militante Linksautonome entstammen gemäss der quantitativen und qualitativen
Untersuchung zum 1. Mai des Pädagogischen Instituts Zürich (2003) der Mittelund Oberschicht. Realschulabschlüsse sind am häufigsten vertreten, es gibt aber
auch Gymnasiasten und Studenten unter den Akteuren. Dies bedeutet für die
Stautssubsysteme Bildung, Beschäftigung und Einkommen eine durchschnittliche
bis hohe Statuskonfiguration. Es mag sein, dass bei Schülern und Lehrlingen ein
Statusungleichgewicht oder gar eine Statusunvollständigkeit besteht, da sie sich
noch in Ausbildung oder Schule befinden. Demnach ist das Statussubsystem
Bildung zwar hoch, das Einkommen aber vorerst noch tief. Bei Schülern ist zu
diesem Zeitpunkt noch überhaupt kein Erwerb möglich. Da militante Linksautonome hinsichtlich ihrer Berufsperspektive mehrheitlich positiv eingestellt sind (vgl.
Quantitative und qualitative Untersuchung zum 1. Mai, 2003), ist dieses Statusungleichgewicht oder Statusunvollständigkeit nur ein vorübergehender Zustand.
Aus dieser mittleren bis hohen Statuskonfiguration und einem Statusgleichgewicht kann von keinen bis geringen strukturellen Spannungen ausgegangen werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass militante Linksautonome Bedürfnisse
und Bedürfnisbefriedigung miteinander in Einklang bringen können und dementsprechend wenig oder gar keine anomischen Spannungen erleben.
Für die politisch orientierten Individuen bei den militanten Linksautonomen des
Schwarzen Blocks können jedoch anomische Spannungen auf Grund der strukturellen Lage des politischen und ökonomischen Systems unserer Gesellschaft
entstehen. Die Ideologie des Linksextremismus lehnt das bestehende politische
System des Kapitalismus ab. Demnach erfahren Akteure der militanten Linksautonomen, welche politisch interessiert sind oder der Tendenz nach politisch sen-
Theorie anomischer Spannungen
53
sibilisiert sind, durch ihre linksextreme Einstellung anomische Spannungen, welche als Folge unserer kapitalistischen Gesellschaftsform resultieren.
Diese Form von anomischer Spannung ist jedoch in einem übertragenen Sinn
zu verstehen, da die Diskrepanz von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung nicht
direkt mit der persönlichen, in einem organischen Sinn verstandenen, strukturellen Spannung zusammenhängt, sondern in einem ideologischen Sinne erfolgt.
Eine Strategie, diese ideologischen anomischen Spannungen zu bewältigen,
ist der „revolutionäre“ Kampf auf der Strasse. Demnach werden am 1. Mai Sachbeschädigungen verübt und Polizisten tätlich attackiert und dadurch versucht, die
bestehende Gesellschaftsordnung zu verändern.
6.2.3. Fazit
Werden die beiden Subkulturen unter dem Blickwinkel der Theorie struktureller
und anomischer Spannungen verglichen, zeigen sich deutliche Unterschiede bei
den Akteuren der Hooligans und militanten Linksautonomen.
Militante Linksautonome weisen auf allen Statussubsystemen eine mittlere bis
hohe Statuskonfiguration auf. Dies bedeutet, dass Mitglieder militanter Linkautonomen der Tendenz nach weniger unter Rangspannungen leiden als Hooligans
und demzufolge mangels struktureller Spannungen weniger anomische Spannungen erfahren.
Hooligans hingegen haben, ausgehend von einem niederen Statussubsystem
Bildung, eine tiefe Statuskonfiguration und leiden den theoretischen Grundlagen
zufolge eher an strukturellen und anomischen Spannungen.
Was diese Unterschiede in der Statuskonfiguration sowie struktureller und anomischer Spannungen im Bezug auf die Gewaltausübung von Akteuren der Hooligans oder militanten Linskautonomen bedeutet, ist im Hinblick auf die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit interessant und soll hier näher erläutert werden.
Aus Untersuchungen von amtlich registrierter Gewalt ist bekannt, dass unter jenen Tätern, die polizeilich oder gerichtlich bekannt werden, Personen mit tiefer
Schulbildung und geringem sozialen Status deutlich überrepräsentiert sind (vgl.
Eisner, 1997, Tittle und Mierer, 1990, in Eisner, 2000). Der Befragung der Studie
zu Folge sind Gewalthandlungen im Sinne körperlicher Aggression ausserordentlich stark mit einem geringen Bildungsstatus der Jugendlichen verknüpft. Auf die
Subkultur der Hooligans trifft das Problem des niederen Bildungsstatus zu und
entsprechende Gewaltakte lassen sich demnach als Strategien zur Lösung von
anomischen Spannungen erklären.
Anhand der Beschreibung der SDF (vgl. Kapitel 3) und dem daraus entstandenen Vergleich zwischen den beiden Subkulturen hat sich ergeben, dass Hooligans und militante Linksautonome eine ähnliche Art in der Gewaltausübung
(Sachbeschädigungen, Gewalt gegen Polizei und Gegner) haben und ein gleich
hohes Gewaltpotenzial aufweisen. Bei den Hooligans lassen sich die Gewaltakte
wie bereits erwähnt anhand der Theorie struktureller und anomischen Spannungen erklären. Militante Linksautonome hingegen leiden dank ihrer mittleren bis
höheren Statuskonfiguration viel weniger bis gar nicht an anomischen Spannungen. Diese Erkenntnis lässt darauf schliessen, dass nicht nur eine tiefe Statuskonfiguration Gewalt als Strategie für den Abbau von anomischen Spannungen
zur Folge hat, sondern dass Gründe für Gewaltausübung jugendlicher Akteure
differenzierter gesucht und erklärt werden müssen.
Weitere Gründe zum Problem der Gewaltausübung von Jugendlichen liefert die
Studie über Gewalterfahrungen von Jugendlichen von Eisner; Manzoni & Ribeaud (2000).
Die Studie hat ergeben, dass Jugendliche mit einer hohen Wahrscheinlichkeit
für aktives Gewalthandeln sich durch eine spezifische Persönlichkeitsstruktur
Theorie anomischer Spannungen
54
auszeichnen, zu der eine hohe Risikobereitschaft und Impulsivität, ein geringes
Ausmass von Empathie sowie eine starke Tendenz gehören, in Konflikten in einer aggressiven und Eskalation begünstigender Weise zu reagieren. Untersuchungen zeigen, dass solche Merkmale bereits in der Kindheit festgestellt werden können. Dies bedeutet wiederum, dass auch der soziale Status und der Erziehungsstil der Eltern (primäre Sozialisation) ein Risiko für Gewaltausübung
darstellen. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass gewalttätige Jugendliche überdurchschnittlich häufig in Jugendsubkulturen eingebunden sind, in denen ein hohes Mass an Gewaltakzeptanz besteht. Ihr Lebens- und Freizeitstil ist
durch eine hohe „Actionorientierung“ gekennzeichnet. Dieser Punkt trifft auf Hooligans und militante Linksautonome gleichermassen zu.
Hier müsste demnach der Ansatzpunkt zur Erklärung der Gewaltausübung
von Akteuren der militanten Linksautonomen des Schwarzen Blocks liegen sowie
weitere Erklärungen zum Problem der Hooligangewalt.
Dazu werden im Kapitel 7 zwei Risikotheorien eingeführt, welche der Persönlichkeitsstruktur, der Risikobereitschaft und der „Actionorientierung“ innerhalb der
Gruppe (Subkultur) Rechnung tragen.
Risikotheorien
55
7. Risikotheorien
Im folgenden Kapitel wird anhand verschiedener sozialpsychologischen Risikotheorien die Ausübung von Gewalt an öffentlichen Grossanlässen von Hooligans
und Linksautonomen erklärt.
In der Anwendung werden die Theorien des persönlichkeitspsychologischen
Konzept des Sensation Seeking nach Zuckerman, sowie die Theorie des gruppenpsychologischen Modells riskanten Verhaltens am Beispiel gewaltaffinen Risikoverhaltens nach Thomas auf die Subkulturen der Hooligans, bzw. der militanten Linksautonomen angewendet.
Charakteristisch für die Lebensphase Jugend ist die Suche und Entwicklung einer eigenen Identität. Das Austesten eigener Handlungskompetenzen auf der
einen Seite und des von der Gemeinschaft `noch` Gebilligten auf der anderen
Seite sind ein gewichtiger Hintergrund dafür, dass das Verhalten von Jugendlichen risiko- bzw. problembehaftet ist. Das Jugendalter ist Einstiegspunkt und
Höhepunkt für verschiedenste Formen des Risiko- bzw. Problemverhaltens.
Der Risikobegriff
Der Begriff des Risikos ist ein alltagssprachliches und zugleich ein wissenschaftliches Wort, in dem vor allem die Wahrscheinlichkeit eines Schadens / Verlustes
und das Ausmass der unerwünschten Konsequenzen zum Tragen kommen (vgl.
Rohmann, 1990, in Raithel, 2004). Dennoch sind Risiken im Gegensatz zu Gefahren nicht prinzipiell negativ bewertet, denn Risiken bergen nebst der Gefahr
auch Chancen. Risiken stellen bewusste Wagnisse dar, für dessen Folgen die
Handelnden Subjekte gerade stehen müssen (vgl. Bonss, 1991, in Raithel,
2004).
Risikoverhalten
„Risikoverhalten gilt im Weiteren als ein unsicherheitsbezogenes Verhalten, das
potenziell zu einer Schädigung führen kann und somit einer produktiven Entwicklung- in Bezug auf die Entwicklungsziele Individuation und Integration- entgegenwirken kann“ (vgl. Raithel 2004, S. 27).
Raithel (2004) unterscheidet in vier Risikoverhaltenstypen:
Gesundheitliches Risikoverhalten
Ernährung, Strassenverkehr, Gewalt, Drogen, Mutproben, Sexualität, Sport
Delinquentes Risikoverhalten
Strassenverkehr, Drogen, Gewalt, Eigentumskriminalität, Mutproben
Finanzielles Risikoverhalten
Warenkonsum, Glücksspiel, Verschuldung, Verpfändung
Ökologisches Risikoverhalten
Verschmutzung, Zerstörung wie Strassenverkehr, Freizeitsport, Müllentsorgung
Risikotheorien
56
Aus den aufgeführten Verhaltensbereichen wird deutlich, dass viele Risikoverhaltensweisen unterschiedliche und somit mehrfache Risiken in sich bergen.
Eine weitere Unterscheidung von Risikoverhaltensweisen besteht im substanzbezogenen Risikoverhalten (risk behavior) und den explizit risiko- konnotativen
Aktivitäten44, dem risk- taking behavior (vgl. Jessor, 2001, in Raithel, 2004).
In der vorliegenden Arbeit interessiert vor allem das delinquente „gewaltaffine,
risk-taking behavior Risikoverhalten“ bei Jugendlichen, da militante Linksautonome und Hooligans durch ihre Handlungen deutlich in diese Kategorien einzuteilen sind.
7.1. Einführung in die Theorie des Sensation Seeking
Mit dem Konstrukt Sensation Seeking hat der Psychologe Marvin Zuckerman zu
Beginn von 1996 die Suche nach dem „Kick“ und „Thrill“ erstmals beschrieben.
Mittlerweile ist daraus eine biopsychologische, mehrniveaunale Theorie entstanden (vgl. zum Überblick Zuckerman 1979; 1994; Ruch/Zuckerman, 2001). Sensation Seeking wird dabei als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst bzw. als eine
Verhaltensdisposition definiert, die durch ein individuell variierendes Bedürfnis
(Motiv) und Streben nach neuen, abwechslungsreichen und intensiven Sinneseindrücken und Erfahrungen gekennzeichnet ist. Die aktive Suche (Motivation)
nach solchen Eindrücken und Erfahrungen geht dabei mit der prinzipiellen Bereitschaft einher, Risiken aller Art in Kauf zu nehmen. So finden sich Ausdrücke
des Sensation Seeking nicht nur in verschiedenen Arten des risk-taking behaviors, wie Fahrverhalten, Glücksspiel, Gesundheit, finanzielle Aktivitäten, Alkoholund Drogenkonsum, Sexualverhalten und Sport, sondern auch in der Berufswahl,
Jobzufriedenheit, sozialem Verhalten in Beziehungen vor der Ehe und während
der Ehe, Essverhalten, Kreativität, Humor, Fantasie, Medien- und Kunstpräferenzen und sozialen Einstellungen. Dies hat die Funktion, einen als aversiv erlebten
Zustand der Langeweile in einen positiv erfahrenen Zustand der Wachheit und
Anspannung zu überführen. Dies ist dann gewährleistet, wenn eine für das jeweilige Individuum optimale sensorische Stimulation sowie ein optimaler Informationsstrom erfolgen.
In Zuckermans Theorie werden die Bereiche Genetik, Neurologie, Biochemie
und Physiologie als neurobiologische Grundlagen für „übergeordnete“ psychologische Prozesse wie beispielsweise soziales Verhalten, verstanden (vgl. Zuckerman, 1994, in Raithel, 2004). Besonders hervorzuheben ist dabei die neurochemische Ebene, denn Zuckermans Modell basiert auf den Einflüssen der individuellen Unterschiede von Neurotransmittern, Enzymen und Hormonen.
Das Konzept Sensation Seeking untergliedert sich anhand des psychometrischen Instruments der Sensation Seeking Scale in vier Faktoren:
Thrill and Adventure Seeking (Gefahr- und Abenteuersuche)
Experience Seeking (Erfahrungssuche)
Disinhibition (Enthemmung)
Boredom Susceptibility (Empfänglichkeit für Langeweile)
Der erste Faktor Thrill and Adventure Seeking beschreibt die Tendenz, sportliche
und andere Aktivitäten durchzuführen, die Gefahr oder Geschwindigkeit beinhalten. Der zweite Faktor, Experience Seeking bezeichnet und beschreibt die Suche
44
Mutproben, Schlägereien, Gewalt gegen Dritte und Sachbeschädigung.
Risikotheorien
57
von Erfahrungen durch nonkonformistische Verhaltensweisen wie beispielsweise
übermässiger Alkohol- oder Drogenkonsum. Der dritte Faktor Disinhibition erfasst
die Tendenz zu sozial und sexuell enthemmtem Verhalten und der letzte Faktor
Boredom Susceptibility charakterisiert eine Abneigung gegenüber Wiederholungen und Routine.
Zuckerman (1969, in Raithel, 2004) formulierte schon früh die Annahme, dass
Sensation Seeking entwicklungsbezogenen Veränderungen unterliege, wobei er
eine stetige Abnahme im Verlauf des Erwachsenenalters feststellte und ebenso,
dass geschlechtsspezifische Unterschiede mit höheren Werten auf Seiten der
Männer bestehen.
7.1.1. Anwendung der Theorie des Sensation Seeking
Zur Anwendung des persönlichkeitspsychologischen Konzepts Sensation Seeking von Zuckerman werden bezüglich der beiden Subkulturen folgende Fragen
beantwortet:
Wie ist die Verknüpfung / der Zusammenhang der Lebensphase Jugend
(Pubertät, Hormonumstellung) und der auf biochemischen Elementen basierenden Theorie von Zuckerman?
Wie verhält es sich mit den vier Faktoren des Sensation Seeking Konzepts in
den Subkulturen?
Nach der Beantwortung der aufgeführten Fragen werden in einem Fazit die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Subkultur der Hooligans und
jenen der Linksautonomen bezüglich Risikobereitschaft und Risikoverhaltensweisen aufgezeigt.
7.1.1.1. Subkultur der Hooligans
Jugendliche tendieren durch verschiedene altersspezifische neurobiologische
Prozesse zu riskantem Verhalten. Sie erleben starke hormonelle Veränderungen
und sind auf der Suche nach einer eigenen Identität.
Die vier Faktoren des Sensation Seeking Konzepts sind bei den Hooligans deutlich festzustellen:
Thrill and Adventure Seeking (Gefahr- und Abenteuersuche)
Die Jugendlichen besuchen die Fussballspiele einerseits aus Empathie zu ihrem
Lieblingsclub, andererseits sind sie auf der Suche nach Abenteuer und „Action“.
Ihr provokantes Verhalten gegenüber der Polizei oder anderen Fans ist darauf
auszulegen, dass die Akteure an ihre Grenzen gehen wollen und es lieben, den
Adrenalinspiegel in die Höhe zu jagen. Auch Sachbeschädigungen werden aus
diesem Grunde begangen: Die Jugendlichen beschädigen Fahrzeuge und Gebäude im öffentlichen Raum, wobei die Gegenstände einerseits als Ventil benutzt
werden um angestaute Wut und Spannungen abzubauen, andererseits spielt
auch der „Kick“ eine grosse Rolle, von der Polizei gesehen und verfolgt zu werden.
Experience Seeking (Erfahrungssuche)
Durch ihre Mitgliedschaft bei den Hooligans und den damit verbundenen Gewalttaten machen die Jugendlichen verschiedene Erfahrungen. Zum einen lernen
Risikotheorien
58
sie ihre Grenzen und Fähigkeiten bezüglich Kraft und Mut kennen, zum anderen
kommen sie mit der Polizei als Staatsmacht in Berührung und erleben beispielsweise die Situation einer Verhaftung oder Verfolgung. Nach Aussagen der Stadtpolizei Zürich sind die jugendlichen Randalierer in einer Einzelsituation (zum Beispiel bei der Befragung nach einer Verhaftung) „lammfromm“. Oft ist in solchen
Situationen nicht mehr viel vom vorherigen Enthusiasmus zu spüren, wobei auch
eine solche Situation für Jugendliche eine Erfahrung ist. Sie merken, wie wichtig
die Gruppe ist und sehen einige Situationen nach dem Kontakt mit der Polizei
aus einem anderen Blickwinkel als vorher.
Disinhibition (Enthemmung)
Das Gruppengefühl in Kombination mit beträchtlichem Alkoholkonsum führt bei
jugendlichen Hooligans klar zu enthemmten Verhalten. Wie bereits erwähnt, fühlen sie sich in der Gruppe viel stärker als alleine und beteiligen sich bei Fussballspielen an Situationen (Sprechgesänge, Schlägereien, Sachbeschädigungen
etc.), welchen sie im Alltag vielleicht sogar aus dem Weg gehen würden.
Boredom Susceptibility (Empfänglichkeit für Langeweile)
Die Langeweile ist bei den Jugendlichen sehr verbreitet. Oft wissen sie neben
ihrem Schul- oder Arbeitsalltag nichts mit ihrer Zeit anzufangen, wodurch sie
empfänglich werden für Gelegenheiten, diese Langeweile durch action-geladene
Tätigkeiten zu durchbrechen. Die Fussballspiele und die nachfolgenden Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans und/oder der Polizei bieten den Jugendlichen Abwechslung. Ihr sonst angepasster und mit Normen und Regeln
behafteter Alltag wird durch ihre Mitgliedschaft bei den Hooligans durchbrochen.
Bei den Hooligans kann das Sensations Seeking mit ihrem Alter in Bezug gebracht werden.
Die Hooligans befinden sich fast ausschliesslich im Alter zwischen 15 und 25
Jahren, in der Zeit der Selbstfindung und dem Drang nach Selbstbestätigung.
Ältere Individuen sind bei den B-Fans kaum zu finden, da das Verhalten der BFans dem typisch jugendlichen Gehabe zuzuordnen ist.
7.1.1.2. Subkultur der militanten Linksautonomen
In Zuckermans Theorie bilden die neurobiologischen Prozesse die Grundlagen
für soziales Verhalten und die Persönlichkeitsstruktur von Individuen. Gerade die
Lebensphase Jugend ist gekennzeichnet durch grosse neurobiologische Prozesse, wie beispielsweise hormonale Veränderungen. Jugendliche erleben in der
Pubertät richtige „Hormonschübe“, männliche Jugendliche weisen zudem einen
erhöhten Testosteronspiegel auf. Diese hormonalen Veränderungen, die Suche
nach einer eigenen Identität und dem Ausprobieren neuer Handlungskompetenzen stehen im engen Zusammenhang mit erhöhter Risikobereitschaft. Nie öfters
als in der Lebensphase Jugend werden so viele Risiken eingegangen, bzw. bewusst in Kauf genommen.
Risikotheorien
59
Die vier Faktoren des Sensation Seeking Konzepts sind bei den militanten Linksautonomen deutlich festzustellen:
Thrill and Adventure Seeking (Gefahr- und Abenteuersuche)
Das Teilnehmen an unbewilligten Nachdemonstrationen birgt von sich aus die
Gefahr, in eskalierende Situationen zu kommen. Um Ausschreitungen zu provozieren, suchen die militanten Linksautonomen des Schwarzen Blocks aktiv nach
Risiken. Sie vermummen sich und verstossen dadurch gegen das Vermummungsgesetz, sie werfen Farbbeutel gegen Banken und Geschäfte oder werfen
Pflastersteine. Dieses gesetzwidrige und provokante Verhalten ruft wiederum die
Polizei auf den Plan und es kommt zu Action geladenen und riskanten Auseinandersetzungen mit Wasserwerfern und Tränengas. Es wird seitens der Demonstranten ein hohes physisches Risiko (Verletzung der physischen Integrität) sowie
das Risiko verhaftet zu werden oder Geldbussen zu zahlen, eingegangen.
An jedem 1. Mai geht es darum, die Polizei in ein Katz- und Mausspiel zu verwickeln. Dazu werden geheime Treffen mit verschlüsselten Einladungen (meist
auf Flyern) organisiert, geheime Versammlungsorte für die unbewilligte Nachdemonstration werden vereinbart und am Tag des Geschehens geht es darum,
Sinneseindrücke und Erfahrungen in Ausschreitungen gegen die Polizei zu
sammeln. Militante Linksautonome suchen an entsprechenden politischen
Grossanlässen bewusst und aktiv nach Gefahren und Abenteuern.
Experience Seeking (Erfahrungssuche)
Im Kampf gegen die Polizei als Vertreterin des Staatsmonopols bedienen sich die
militanten Linksautonomen des nonkonformistischen Mittels der Gewalt. Durch
ihre hohe Bereitschaft zur Gewalt gegen Polizisten, Rechtsextreme und dem
Beschädigen von fremdem Eigentum, verstossen sie mit ihren Handlungen gegen Regeln und Normen der Gesellschaft und machen sich dadurch strafbar.
Erfahrungen mit eigenen körperlichen Grenzen, mit eigenen psychischen Zuständen wie Angst oder unbändiger Wut und schlussendlich Erfahrungen mit der
Polizei und der Justiz werden gemacht. „Auch eine Festnahme ist aufregend und
man ist um eine Erfahrung reicher“, so sagt ein militanter Linksautonomer in einem Interview (vgl. www.ethlife.ethz.ch). Gemäss Andreas Widmer, Sicherheitsdienst Stadtpolizei Zürich, spielt Alkohol bei Ausschreitungen ebenfalls eine
grosse Rolle. Alkoholkonsum erfolgt bei militanten Linksautonomen individuell vor
und während den Demonstrationen. Die Folgen davon sind herabgesetzte
Hemmschwellen, gesteigerte Risikobereitschaft und grössere Aggressionen. Vor
allem Polizisten sind mit dem durch Alkohol verursachten unberechenbaren Verhalten konfrontiert.
Disinhibition (Enthemmung)
Eskalierende Gewalt kann als ein sozial enthemmtes Verhalten bezeichnet werden, welches in Kombination mit Alkohol, der aufgeheizten Stimmung durch die
Gruppe und den Anlass selbst (Beispiel 1. Mai) erfolgen kann. An unbewilligten
Nachdemonstrationen gab es in einigen Jahren kriegsähnliche Zustände in Zürich, hervorgerufen durch die Enthemmung und eskalierende Gewalt.
Boredom Susceptibility (Empfänglichkeit für Langeweile)
Unbewilligte Nachdemonstrationen sind gekennzeichnet durch intensive Sinneseindrücke, durch abwechslungsreiche und sich immer wieder ändernde Situationen und ein hohes Mass an „Action“ und Risikopotenzial. In einer Welt, die für
viele Jugendliche durch gegebene Strukturen starr und vorbestimmt ist (Erwerb,
Schule, Ausbildung, tägliche Routine), sowie fehlende Ideale, um sich gegen die
Risikotheorien
60
Erwachsenen abgrenzen zu können, kann eine Empfänglichkeit für Langeweile
aufkommen. Professor Eisner erklärt diesen Mechanismus wie folgt:
„Wo soll denn die Jugend heute noch neue Ideale finden, mit denen sie sich
gegen die Erwachsenen abgrenzen können? In den 70er und 80er Jahren waren
neue Lebensstile- ausgefallene Kleidung, lange oder farbige Haare, Piercings,
Tattoos, Drogenkonsum (…) etwas, mit dem man die Erwachsenen ärgern
konnte. Aber heute ist es schwierig geworden, vorherige Generation zu
überholen. Für einige Jugendliche ist daher Gewalt zum einzig verbleibenden
Mittel geworden, um die Erwachsenen zu reizen“ (vgl. Interview in
www.ethlife.ethz.ch).
Durch das hohe Action- und Risikopotenzial sind unbewilligte Demonstrationen für viele Jugendliche ein geeigneter Ort, sich Abwechslung vom Alltag zu
verschaffen. Militante Linksautonome suchen über den Weg der Gewalt den
„Kick“ und die Abwechslung, die sie im Alltag nie so extrem und aktiv erfahren
können. Gleichzeitig gelingt es ihnen mit gewalttätigem und randalierendem Verhalten und Provokationen eine hohe mediale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Die Annahme, dass Sensation Seeking entwicklungsbezogenen Veränderungen
unterliegt, kann in der Betrachtung der militanten Linksautonomen wiedererkannt
werden. Die meisten Jugendlichen dieser Gruppierung befinden sich im Alter
zwischen 15 bis 25 Jahren, also genau in der Zeit, in der die grössten
biologischen Veränderungen von statten gehen. Ältere Personen der linksautonomen Szene sind vermehrt im Hintergrund und als Rädelsführer aktiv, wenn sie
überhaupt noch mit dem extremen linken Gedankengut sympathisieren. Genauso
verhält es sich mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden. Männer unterliegen durch die Bildung von Testosteron und anderen männlichen Hormonen unterschiedlichen hormonellen Veränderungen wie Frauen. Dadurch neigen sie
prinzipiell mehr zu externalisierendem45 Problem- oder Risikoverhalten. Bei den
militanten Linksautonomen des Schwarzen Blocks gibt es zwar Frauen, welche
Gewalt ausüben, mehr als zwei Drittel sind jedoch junge Männer.
7.1.2. Fazit
Bei Akteuren beider Subkulturen ist Zuckermans Konzept des Sensation Seeking
deutlich festzustellen. Gefahr- und Abenteuersuche, Erfahrungssuche, Enthemmung und Empfänglichkeit für Langeweile sind alles Merkmale, welche Hooligans
wie auch militante Linksautonome kennzeichnen. Eine hohe Risikobereitschaft
und Gewalt als Mittel zur Provokation und Möglichkeit, sich Spass zu verschaffen, sind Mechanismen, welche in beiden Subkulturen deutlich zum Ausdruck
kommen. Bei beiden Gruppierungen kann das Sensation Seeking mit der Lebensphase Jugend und den entsprechenden biologischen, neurologischen und
hormonellen Veränderungen in Bezug gebracht werden.
Durch das hohe Action- und Risikopotenzial sind Fussballspiele und unbewilligte Demonstrationen für viele Jugendliche ein geeigneter Ort, um sich Abwechslung vom Alltag und den nötigen „Kick“ zu verschaffen. Beide subkulturellen Gruppierungen suchen über den Weg der Gewalt den „Thrill“ und die Abwechslung, die sie im Alltag nie so extrem und aktiv erfahren können. Gleichzeitig gelingt es ihnen, mit gewalttätigem und randalierendem Verhalten zu provozieren und sich auf diesem Weg von den Erwachsenen und der Gesellschaft
abzugrenzen.
45
Externalisierendes Verhalten bedeutet nach Aussen gerichtetes Verhalten mit der
Tendenz zur Fremdschädigung (delinquentes Verhalten, aggressives Verhalten,
missbräuchlicher Konsum von illegalen Substanzen) (vgl. Fend, 1990).
Risikotheorien
61
Dabei spielt es gemäss unseren Erkenntnissen eine untergeordnete Rolle, ob
nun Fussball oder Politik als Ausgangspunkt für Gewaltakte gilt. Vielmehr geht es
Jugendlichen darum, aktiv Risiken einzugehen, sich in risikoreichen Situationen
zu erproben und daraus eigene Handlungskompetenzen zu entwickeln. Dies ist
an Fussballspielen und politischen Anlässen wie beispielsweise dem 1. Mai gleichermassen möglich.
7.2. Einführung in die Theorie des gewaltaffinen
Risikoverhalten
Die Erklärung des Risikoschub-Phänomens von Thomas (1992, in Raihtel, 2004)
geht davon aus, dass ein Individuum versucht, bei seinen Entscheidungen dem
jeweils aktuellsten sozialen Wert in einem möglichst hohen Mass zu entsprechen.
Gruppenprozesse können dazu führen, dass sich das gemeinsame Verhalten der
Gruppenmitglieder dem aktuellsten sozialen Wert weiter annähert und damit in
vielen Fällen extremer ausfällt als es beim Einzelverhalten ausfallen würde. Dies
ist vor allem in Gruppen der Fall, in denen Risikofreudigkeit einen hohen sozialen
Wert darstellt. Die Gruppenmitglieder, die im Vergleich von dem aktuellsten
Gruppen-Normwert abweichen, verändern ihr Verhalten Richtung diesem Normwert und dadurch fallen Gruppenentscheide und somit auch Gruppenverhalten
risikofreudiger aus als das Durchschnittsniveau von Einzelpersonen. Dieser Effekt resultiert vor allem aus dem Konformitätsdruck46 innerhalb der Gruppe.
In Jugendgruppen zeigt sich dieses Risikoschub-Phänomen besonders auffällig beim „gewaltaffinen Risikoverhalten“. Ulbrich-Herrmann und Claves (2001, in
Raithel, 2004) entwarfen dazu ein beispielhaftes Prozessmodell, welches durch
die Hooliganforschung entstanden ist.
Tabelle 4: Prozess des gewaltaffinen Risikoverhaltens
Einstimmen
↓
Erregung steigern
↓
Konfrontation
↓
Eskalation
↓
Nacherleben
Die erste Phase „Einstimmen“ beginnt im Zusammenfinden der Gruppe. Indem
über gruppenspezifische Interessen und gemeinsame Erlebnisse gesprochen
und gruppentypisches Verhalten zelebriert wird, grenzt sich die Gruppe von der
Umwelt ab. In der Phase des „Einstimmens“ wird ein Gruppengefühl geschaffen,
einhergehend mit einer subjektiv wahrgenommenen Sicherheit, aber auch mit der
Installierung gruppeneigener Werte und Sinnkonstruktionen (im Sinne der Subkulturtheorie). Wird eine mögliche Auseinandersetzung angekündigt, das heisst,
findet sich die Möglichkeit, Gewalt in einem überschaubaren Rahmen auszuüben, kann die zweite Phase eingeleitet werden- am Beispiel der Hooligans
durch Sprüche oder rhythmisches Klatschen.
In der Phase „Konfrontation“ trifft die Gruppe oder Gruppenteile auf ihre Gegner.
Dabei können die Gegner eine andere Gruppe, ein unfreiwilliges Opfer oder auch
die Ordnungskräfte sein. Konfrontation bedeutet allerdings noch nicht Kampf,
denn zu solch einem muss es nicht unbedingt kommen. Mit Konfrontation ist ge46
Druck, mit den anderen überein zu stimmen, das Gleichgerichtet sein des Verhaltens
einer Person mit dem einer Gruppe (vgl. Fremdwörterduden, 1997).
Risikotheorien
62
meint, dass die Gruppe auf einen Gegner trifft und a) die Gruppe vor dem Gegner flieht, b) es zum Kampf mit dem Gegner kommt oder c) es beim verbalen
Schlagabtausch bleibt. Je nach Situation kommt es zu unterschiedlichen Verläufen nach der Phase „Konfrontation“. Es schliesst sich eine Eskalation oder häufig
das Nacherleben der Konfrontation an.
Mit „Eskalation“ ist nun aber nicht nur ein einfaches Handgemenge gemeint,
sondern eine physische Auseinandersetzung oder Panik mit Schwerverletzten
oder gar Toten. Dies kann eintreten, wenn der „Mob“ mit dem Ergebnis der Konfrontation unzufrieden ist (sich von der Polizei ungerecht behandelt fühlt), die
Emotionen (insbesondere Wut und Angst) nicht kontrolliert werden und der „Mob“
in „Blutrausch“ gerät, oder selber unter Druck gesetzt wird und in Panik verfällt.
Ist die Gruppe mit dem Ergebnis der Konfrontation zufrieden, das heisst ist sie
zum Beispiel einem übermächtigen Gegner entkommen, hat sie sich von der
Polizei vertreiben lassen und/oder den „Kampf“ (Konfrontation) gewonnen, so
lässt sie den Kampfrausch und die Situation nachklingen und erzählt euphorisiert
von ihren „Heldentaten“.
Gewaltaffines Risikoverhalten dient in diesem Sinne als Beschäftigung und Mittel
gegen Langeweile, gleichsam einem Spiel, welches Abwechslung verspricht. Es
ermöglicht den Akteuren das Erleben von Nervenkitzel und „Kicks“, die als emotionale Grenzerfahrungen bezeichnet werden können. Gewaltaffines Risikoverhalten beinhaltet meist körperliche Anstrengung, z.B. bei einer Prügelei oder
Flucht vor dem Gegner. Diese Aktivität bietet Gelegenheit zum Kräftemessen,
Austoben und zum Erfahren körperlicher Grenzen. Diese erlebten emotionalen
und körperlichen Grenzerfahrungen können sich auf das Selbstbild auswirken, in
dem Fähigkeiten bewiesen werden. Auch die Unterwerfung und/oder Demütigung
von Personen, verbunden mit dem Erleben von Macht und Stärke, kann den Akteur in seiner Überzeugung bestätigen, besser als andere zu sein. Sowohl die
Bestätigung durch Grenzerfahrungen, die Bestätigung durch Unterwerfung als
auch die Bestätigung durch Abgrenzung können einer rein subjektiven Bewertung den Jugendlichen unterliegen, aber auch durch die soziale Umwelt oder, wie
in unserem Fall, durch gewaltaffine Peer-Groups verstärkt werden (vgl. UlbrichHerrmann/Claves, 2001, in Raithel, 2004).
7.2.1. Anwendung der Theorie des gewaltaffinen Risikoverhalten
Zur Anwendung der Theorie des Gruppenpsychologischen Modells riskanten
Verhaltens werden bezüglich der beiden Subkulturen folgende Fragen beantwortet:
Wie kommt es zu einem Risikoschub-Phänomen innerhalb der Subkultur?
Wie verläuft der Prozess des gewaltaffinen Risikoverhaltens (Tabelle 4) innerhalb der Subkultur?
Welchen Stellenwert nimmt die Risikofreude innerhalb der Subkultur ein?
Gibt es einen Konformitätsdruck innerhalb der Subkultur?
Nach der Beantwortung der aufgeführten Fragen werden in einem Fazit die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede zwischen der Subkultur der Hooligans
und jener der Linksautonomen bezüglich des gewaltaffinen Risikoverhaltens aufgezeigt.
7.2.1.1. Subkultur der Hooligans
Risikotheorien
63
Jugendliche suchen an und nach Fussballspielen das Risiko. Dies gibt ihnen den
Kick, den sie im Alltag vermissen. Je nach Verlauf des Spiels lassen sich viele
Hooligans gerne zu einer „übersteigerten Stimmung“ verleiten, welcher sich dann
jene anschliessen, die an Fussballspielen als potentiell gewaltbereit eingestuft
werden, bei welchen es aber nur zu Gewalttätigkeiten kommt, wenn der
Gruppenprozess dementsprechend verläuft. Ein Risikoschubphänomen erfolgt
insofern, als dass Hooligans durch den Zusammenhalt in der Gruppe zu viel
mehr Gewalt tendieren als alleine. Kaum einer wirft alleine Steine gegen die Polizei, in der Gruppe lassen sich jedoch viele Akteure dazu verleiten.
Da das Prozessmodell von Ulbrich-Hermann/Claves aus der Hooliganforschung
stammt, lässt es sich sehr gut auf die jugendlichen Fans anwenden.
Einstimmen
Wenn man vor einem Fussballspiel mit dem 4-er Tram in Richtung Hardturm
Stadion fährt, hört man die in den Vereinsfarben gekleideten Fans nur über ein
Thema reden: Das bevorstehende Spiel. Sie malen sich aus, wie hoch man den
Gegner heute schlagen wird, wobei bereits grosse Mengen an Alkohol konsumiert werden. Vor einem Fussballspiel versammeln sich die Hooligans vor dem
Stadion. Oft ertönen die ersten Sprechgesänge schon lange vor dem Anpfiff.
Gemeinsam bereiten sich die Hooligans auf das bevorstehende Spektakel vor,
hissen ihre Transparente und konsumieren Bier.
Erregung steigern
Die Stimmung wird während dem Fussballspiel gesteigert und spitzt sich je nach
Verlauf und Vorkommnissen zu. Der grösste Teil der B-Fans wird von der Polizei
unter „potentielle Gewalttäter“ eingestuft. Je nach Situation auf dem Spielfeld
oder in der Fankurve können sie zu einer gewalttätigen Masse werden. Empfinden die Fans einen Schiedsrichterentscheid als ungerecht oder verliert die geliebte Mannschaft in den letzten Minuten, beginnt die Stimmung in der Fankurve
zu brodeln. Gegenstände fliegen aufs Spielfeld, der Übeltäter wird mit „Arschloch“ oder „schwuler Sau“ betitelt.
Konfrontation
Hat ein Vorkommnis die Wut der Fans auf sich gezogen, kann es nach dem Spiel
zu einer Konfrontation kommen. Um ihre Wut abzubauen und „Action“ zu erfahren, provozieren die Hooligans teils in grösseren, teils in kleineren Gruppen, gegnerische Fans und die Polizei. Die Opfer werden mit Gegenständen beworfen
und auf üble Art und Weise beschimpft.
Eskalation
Oft kommt es zu Schlägereien mit gegnerischen Fans und zu Angriffen gegen die
Polizei. Die wehren sich ihrerseits mit Tränengas oder Gummigeschossen und
nehmen Gewalttäter fest. Bei Sachbeschädigungen hat es die Polizei schwer, die
Verantwortlichen zu erwischen, weil sie oft von kleinen Gruppierungen begangen
werden, welche sich vom Stadion weg bewegen.
Nacherleben
Oft löst sich die Masse in kleine Grüppchen auf, welche sich vor oder nach der
Eskalation in Richtung Bahnhof bewegt. In den Zügen treffen nochmals einige
Fans zusammen, wobei es nochmals zu lauten Sprechgesängen oder Sachbe-
Risikotheorien
64
schädigungen kommen kann. Bekannt sind ihn der Stadt Zürich die „Hüpf-Eskapaden“ der Grasshopper-Fans nach einem Sieg ihrer Mannschaft, welche schon
Trams aus den Schienen befördert haben. Oft tauschen Hooligans ihre „Heldentaten“ nach den Spielen in Internetforen aus.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Eskalation an Fussballspielen
zweierlei Ursachen hat. Einerseits wollen die Jugendlichen an ihre Grenzen gehen und suchen in den Auseinandersetzungen mit der Polizei den „Kick“, andererseits laden sie auch Wut ab, welche sich im Laufe eines Fussballspiels entwickelt hat. Je nach dem sind bei den Krawallen einzelne oder zahlreiche Fans
beteiligt.
7.2.1.2. Subkultur der militanten Linksautonomen
Ein Risikoschubphänomen erfolgt insofern, da bei militanten Linksautonomen des
Schwarzen Blocks eine hohe Risikobereitschaft vorhanden ist und diese in der
Gruppe noch verstärkt wird. Gruppenmitglieder der militanten Linken, welche von
sich aus weniger zu Gewalt tendieren würden, passen sich in der Gruppe und
während des Ereignisses den Akteuren an, welche eine höhere Gewaltbereitschaft aufweisen. Inwiefern Konformitätsdruck bei diesem Mechanismus eine
Rolle spielt, kann an dieser Stelle mangels empirischen Untersuchungen nicht
beantwortet werden.
Das Prozessmodell von Ulbrich-Herrmann/Claves, welches ursprünglich durch
die Hooliganforschung entstanden ist, kann auch zur Erklärung des Risikoschubphänomens bei militanten Linksautonomen des Schwarzen Blocks beigezogen
werden.
Einstimmen
Vor einer unbewilligten Nachdemonstration am 1. Mai versammeln sich die militanten Linksautonomen und zwar nahe an der Grenze des von der Polizei abgeschotteten und als Tabu erklärten Gebiets (in Zürich beispielsweise das Gebiet
um das Kaserneareal, Militär- Langstrasse, Bezirksgebäude und Helvetiaplatz).
Dort formieren sie sich und spannen ihre Transparente auf, besprechen nochmals ihre Route und stimmen sich auf das Ereignis ein. Einige trinken dazu Alkohol, die Akteure reden miteinander und diejenigen mit Erfahrungen erzählen von
vergangenen 1. Mai Nachdemonstrationen.
Erregung steigern
Danach geht der schwarze Zug in die für Tabu erklärte Zone und die Erregung
steigert sich, da es jeden Moment zu einem Zusammenstoss mit dem Gegner,
der Polizei, kommen kann. Es werden Parolen wie „Kampf dem Kapital!“, „1. MaiStrasse frei!“, „Kapital zerschlagen- den Kampf auf die Strasse tragen!“, „WEF
und G8 stehen für Ausbeutung, Krieg und Repression- kämpfen wir dagegen bis
zur Revolution!“ skandiert und erste Sachbeschädigungen wie beispielsweise das
Werfen von Farbbeuteln oder das Einschlagen von Schaufenstern können erfolgen.
Risikotheorien
65
Konfrontation
In diesem Moment tritt die Polizei auf den Plan und es kommt zu einer Konfrontation zwischen militanten Linksautonomen und den meist mit Schlagstöcken und
Gummischrott ausgerüsteten Polizisten. An dieser Stelle kann der Verlauf des
Geschehens in verschiedene Richtungen erfolgen: a) Es kann sein, dass die
militanten Linksautonomen in Anbetracht des übermächtigen Gegners fliehen
und in kleinern Strassen um die Langstrasse „abtauchen“. Dies ist das berühmte
Katz und Mausspiel zwischen der Polizei und den Demonstranten, welches sich
über mehrere Stunden hinziehen und sich in alle Teile der Stadt verlagern kann.
Hier verzettelt sich die Gruppe in kleinere Untergruppen, da es für die Akteure
schwierig ist, zusammen zu bleiben. Es werden Schaufenster eingeschlagen,
manchmal Container oder Autos angezündet. b) In diesem Fall kommt es zum
Kampf mit der Polizei. Pflastersteine werden direkt nach Polizisten geschleudert,
diese antworten mit Gummischrott und Tränengas. Ist die Menge der militanten
Linksautonomen gross und gelingt es ihnen, vereint in der Gruppe zu bleiben,
werden zusätzlich Wasserwerfer aufgeboten. c) Bei 1. Mai Nachdemonstrationen
mit weniger Aggressionspotenzial ist es auch schon nur beim verbalen Schlagabtausch zwischen der Polizei und militanten Linksautonomen gekommen, in
Verbindung mit Sachbeschädigungen.
Eskalation
Je nach Situation kommt es zu unterschiedlichen Verläufen nach der Phase
„Konfrontation.“ Können Emotionen wie Wut und Angst nicht mehr kontrolliert
werden oder geraten die Demonstranten in Panik, kommt es zur Eskalation. Seitens der Polizei werden Wasserwerfer und vermehrt Gummischrott und Tränengas eingesetzt und je nach Grösse des „Mobs“ werden noch mehr Polizisten an
Ort gerufen. Demonstranten werden eingekesselt und nach Möglichkeiten festgenommen. In eskalierenden Situationen kommt es oft zu Verletzten, vor allem
auf Seiten der militanten Linksautonomen aber auch der Polizei.
Nacherleben
Nach der Auseinandersetzung gehen die Akteure, welche nicht festgenommen
wurden, an nachfolgende Partys in Kulturtreffs oder besetzten Häuser und es
kann davon ausgegangen werden, dass dort der Kampfrausch und die verschiedenen Erlebnisse untereinander ausgetauscht werden und nachklingen.
Allgemein wird deutlich, dass unbewilligte Nachdemonstrationen mit Krawallen
den militanten Linksautonomen emotionale Grenzerfahrungen ermöglichen. Gewalttätige Demonstrationen verschaffen ihnen Nervenkitzel und „Kicks“ und sind
einem Abenteuer gleichzusetzen. Im Kampf gegen uniformierte Polizisten können
eigene körperliche Kräfte ausprobiert werden und psychische und physische
Grenzerfahrungen können gemacht werden.
7.2.2. Fazit
In beiden subkulturellen Gruppierungen kommt es zu einem Risikoschub-Phänomen innerhalb der Subkultur. Akteure beider Gruppierungen sind durch eine
hohe Risikobereitschaft gekennzeichnet, welche im Schutz der Gruppe noch verstärkt wird. Hooligans wie auch militante Linksautonome des Schwarzen Blocks
passen sich in der Gruppe und während des Ereignisses den Akteuren an, welche von sich aus eine höhere Gewaltbereitschaft aufweisen. Innerhalb der
Gruppe passen sich alle Akteure diesem so genannt `aktuellsten` Wert an.
Risikotheorien
66
Das dargestellte Prozessmodell von Ulbrich-Herrmann/Claves, welches ursprünglich aus der Hooliganforschung stammt, kann genau so auf militante
Linksautonome angewendet werden. Der Mechanismus des Einstimmens, Erregung steigern, Konfrontation, Eskalation und Nacherleben ist bei beiden Gruppierungen sehr ähnlich festzustellen.
7.3. Zusammenfassung Ergebnisse Risikotheorien
Auf Grund der vorgestellten Risikotheorien und deren Anwendung wird deutlich,
dass im Zusammenhang mit Risiko stehende Anlässe wie Fussballspiele oder
Nachdemonstrationen am 1. Mai, Jugendlichen die Möglichkeit bieten, psychische und physische Grenzerfahrungen zu machen. Im Kontext von subkulturellen
Gruppierungen ist Gewaltausübung bei Jugendlichen ein beliebtes Mittel auf der
Suche nach dem Kick und „Action“. Die Lust an Grenzerfahrungen und actiongeladenen Tätigkeiten ist typisch für die Lebensphase Jugend, wobei sie bei unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen und verschiedenen Sozialisationsverläufen unterschiedlich stark ist.
Die vorgestellten Risikotheorien und deren Anwendung auf die in dieser Diplomarbeit beschriebene Subkulturen bilden nebst den Sozialisationstheorien,
Theorie menschlicher Bedürfnisse und der Theorie struktureller und anomischer
Spannungen Erklärungsansätze zu Jugendgewalt in Subkulturen und sollten die
in der Einführung gestellten Fragen beantworten.
Zusammenfassung der Ergebnisse
67
8. Zusammenfassung der Ergebnisse
In den vorherigen Kapiteln haben wir fünf verschiedene Theorien auf die Subkultur der Hooligans, bzw. der militanten Linksautonomen als Erklärungen beigezogen. An dieser Stelle werden noch einmal die wesentlichen Erkenntnisse aus
den Erklärungen aufgeführt und in Form einer Zusammenfassung dargestellt. Die
wichtigsten Fragestellungen des theoretischen Teils werden anhand dieser
Zusammenfassung beantwortet. Zur Übersicht werden die Hauptfragestellungen
an dieser Stelle noch einmal aufgeführt.
8.1. Hauptfragestellung
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die an Ausschreitungen beteiligten
Akteure der Hooligans und der militanten Linksautonomen? Gibt es
Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede bezüglich ihrer Motive zur
Ausübung von Gewalt?
8.1.1. Fragestellungen Theoretischer Teil
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die Hooligans?
Welche sozialen Merkmale kennzeichnen die militanten Linksautonomen?
Nach welchen Kriterien und Merkmalen unterscheiden sich die beiden Subkulturen?
Welche Absichten haben Hooligans und welche Motive veranlassen sie zu
Krawallen bei und/oder nach Fussballspielen?
Welche Absichten haben militante Linksautonome und welche Motive veranlassen sie zu einer Teilname an Nachdemonstrationen?
Gibt es Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten in den Gründen, warum
sich Jugendliche der ausserparlamentarischen Linken oder den Hooligans
anschliessen?
Aufgrund der vorgestellten Theorien und deren Anwendung auf die Subkulturen
der Hooligans und militanten Linksautonomen ist es uns möglich, Aussagen über
die sozialen Merkmale der Akteure zu machen.
Die Beschreibung anhand der SDF hat ergeben, dass militante Linksautonome
vorwiegend der Mittel- und Oberschicht angehören und im Vergleich zu den Hooligans ein mittleres bis gutes Bildungsniveau aufweisen. Bei den Hooligans sind
zwar ebenfalls alle sozialen Schichten vertreten, dennoch entstammen sie vorwiegend der Unter- bis Mittelschicht und die meisten Akteure verfügen über ein
tiefes Bildungsniveau. In anbetracht unserer beiden Subkulturen kann hier der
Schluss gezogen werden, dass gewaltbereite Subkulturen Individuen aus allen
sozialen Schichten als Mitglieder haben.
Hinsichtlich ihrer Erlebensmodi und Modelldenkens können militante Linksautonome nicht als gänzlich apolitisch bezeichnet werden, es braucht eine gewisse Sympathie oder Sensibilität für Politik, um Gewalt an politischen Anlässen
auszuüben. Hooligans hingegen sind gänzlich apolitisch und die Faszination des
Fussballs bringt sie an Sportanlässe.
Zusammenfassung der Ergebnisse
68
Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Subkulturen besteht in ihrer
Struktur. Hooligans sind meistens Teil von festen Gruppierungen. Dies bedeutet,
dass sich an Sportanlässen immer wieder die gleichen Akteure treffen, sich auf
den Anlass vorbereiten und im Sinne von Freundschaften miteinander verkehren.
Die Subkultur der militanten Linksautonomen ist im Gegensatz dazu eine anlassund kundgebungsbezogene Gelegenheitsstruktur, welche es den unterschiedlichsten Akteuren erlaubt, ihre Interessen und Anliegen zu vertreten oder Krawalle zu machen.
Eine grosse Gemeinsamkeit der beiden Subkulturen ist die hohe Gewaltbereitschaft und die Art und Weise der Gewaltausübung (Sachbeschädigungen,
Gewalt gegen die Polizei, Gewalt gegen einen Gegner) an öffentlichen Sportoder Politanlässen. Zudem weisen Akteure beider Subkulturen eine hohe Risikobereitschaft und eine Affinität zu actiongeladenen Tätigkeiten auf. Alkohol spielt
bei Hooligans und militanten Linksautonomen eine entscheidende Rolle bei der
Ausübung von Gewalt, da die Hemmschwelle herabgesetzt wird und noch mehr
Risiken eingegangen werden.
Den Motiven zur Ausübung von Gewalt im Kontext von Subkulturen können zusammenfassend mehreren Erklärungsansätzen entnommen werden.
Ein übergeordnetes Motiv, welches bei den Anwendung der verschiedenen Theorien auf die vorgestellten Subkulturen immer wieder zum Vorschein kam, ist die
hohe Risikobereitschaft der Akteure sowie Gewalt als Mittel zur Provokation und
die Möglichkeit, sich Spass und Unterhaltung zu verschaffen. Dies ist ein Mechanismus, welcher in beiden Subkulturen deutlich zum Ausdruck kommt. Bei beiden
Gruppierungen kann dabei das Sensation Seeking mit der Lebensphase Jugend
und den entsprechenden biologischen, neurologischen und hormonellen Veränderungen in Bezug gebracht werden.
Durch das hohe Action- und Risikopotenzial sind Fussballspiele und unbewilligte Demonstrationen für Jugendliche aus allen sozialen Schichten ein geeigneter Ort, um sich Abwechslung vom Alltag und den nötigen „Kick“ zu verschaffen.
Beide subkulturellen Gruppierungen suchen über den Weg der Gewalt den
„Thrill“ und die Abwechslung, die sie im Alltag nie so extrem und aktiv erfahren
können. Gleichzeitig gelingt es ihnen, mit gewalttätigem und randalierendem
Verhalten zu provozieren und sich auf diesem Weg von den Erwachsenen und
der Gesellschaft abzugrenzen.
Dabei spielt es gemäss unseren Erkenntnissen eine untergeordnete Rolle, ob
nun Fussball oder Politik als Ausgangspunkt für Gewaltakte gilt. Vielmehr geht es
Jugendlichen darum, aktiv Risiken einzugehen, sich in risikoreichen Situationen
zu erproben und daraus eigene Handlungskompetenzen zu entwickeln. Dies ist
an Fussballspielen und politischen Anlässen wie beispielsweise dem 1. Mai gleichermassen möglich. Ob sich nun ein Jugendlicher den Hooligans oder militanten Linksautonomen anschliesst, hängt schlussendlich davon ab, von welcher
Subkultur sich das Individuum mehr angezogen fühlt. Dabei spielen Faktoren wie
zufällige Kontakte zu den entsprechenden Subkulturen, strukturelle Bedingungen
wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Ausschluss aus dem Bildungssystem, banale Freude am Fussball oder eine Sensibilität für Politik eine Rolle.
Ein weiterer Grund, warum sich Jugendliche den Hooligans oder den militanten
Linksautonomen anschliessen, ist die Befriedigung diverser Bedürfnisse bei einer
Mitgliedschaft in gewaltbereiten Subkulturen. Da sich Jugendliche im Prozess der
Identitätsbildung befinden und sich aus der primären Sozialisationsinstanz Familie zu lösen beginnen, müssen neue Mitgliedschaften gefunden werden. In
Peergroups kann das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Orientierung und sozialer
Anerkennung optimal befriedigt werden, da formelle Organisationsformen und
Verwaltungsstrukturen fehlen (vgl. Ferchhoff, 1990). Durch das hohe action- und
Zusammenfassung der Ergebnisse
69
Risikopotenzial an Fussballspielen oder politischen Anlässen wie dem 1. Mai
werden vor allem die Bedürfnisse nach Abwechslung und Stimulation befriedigt.
Da die Lebensphase Jugend im Zusammenhang mit einer erhöhten Risikobereitschaft steht, sind gewaltbereite Jugendsubkulturen für viele Jugendliche sehr
attraktiv. Im Schutz der Gruppe können riskante Verhaltensweisen ausprobiert
und eigene Handlungskompetenzen entwickelt werden. Da Krawalle nach Fussballspielen oder Randale an unbewilligten Nachdemonstrationen ein ähnlich
grosses Risikopotenzial aufweisen, sind beide Subkulturen für männliche Jugendliche gleich attraktiv. Ob Akteure sich den Hooligans oder den militanten
Linksautonomen anschliessen, ist wie bereits erwähnt eine Frage der persönlichen Interessen oder bereits gemachten Erfahrungen.
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
70
9. Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
In diesem Kapitel werden die Unterstützungsangebote Fanarbeit Schweiz und das
Forum für Friedenserziehung, welche sich durch massgebliche Kontakte zu Hooligans oder militanten Linksautonomen auszeichnen, anhand ihrer Leitbilder beschrieben.
Folgende Fragestellungen werden an dieser Stelle beantwortet:
Welche Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit gibt es für Hooligans?
Welche Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit gibt es für die linksautonome Szene?
Als Fazit aus dieser Beschreibung soll der Handlungsbedarf aufgezeigt werden,
welcher in der Jugendarbeit in Bezug auf gewaltbereite Jugendsubkulturen besteht.
Das im theoretischen Teil erarbeitete Wissen über gewaltbereite Subkulturen soll für
die professionelle Sozialarbeit mit Jugendlichen beigezogen werden.
9.1. Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit für
Hooligans
In der Arbeit mit Hooligans gibt es zwei Arten von Unterstützungsangeboten in der
Schweiz. Einerseits die Fanprojekte, andererseits der Kontakt zur Polizei. Da wir
uns im theoretischen Teil auf die Fanarbeit der Polizei gestützt haben (Kategorisierungen, Interview als Quelle), ist es uns wichtig, im praktischen Teil noch einen anderen Bereich der Fanarbeit aufzuzeigen.
In der Schweiz gibt es momentan nur einzelne Fanprojekte. Einige sind nach einer
Testphase wieder verschwunden.
Fanarbeit Schweiz
Ein bestehendes Angebot ist die Fanarbeit Schweiz47, eine Vernetzungsplattform,
welche die sozialpädagogische Fanarbeit fördert und Weiterbildungen, Coachings
und Publikationen im Fanbereich anbietet. Momentan befindet sich die Fanarbeit in
einem Leitbildprozess, was verhindert, dass die Fanarbeit an dieser Stelle genauer
vorgestellt werden kann. Stattdessen hat uns D. Zimmermann, Geschäftsleiter der
Fanarbeit Schweiz, Folien zur Verfügung gestellt, welche einen Einblick in die konkrete Fanarbeit geben.
Sozialpädagogische Fanarbeit
Zielgruppe sind die Fans in der Kurve, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität oder politischer Ausrichtung. Als wichtige Vernetzungspartner gelten unter anderem die Vereine, die Sicherheitsdienste und die Polizei. In der sozialpädagogischen Fanarbeit geht es einerseits um die Vermittlung im Spannungsfeld der Sozialräume, andererseits aber auch um Förderung der Ressourcen (mit den Fans), der
Beratung und der Triage. Ein Beispiel zur Förderung von Ressourcen ist für D.
Zimmermann das Gestalten einer Choreografie (als Bedürfnisbefriedigung einer
Fangruppierung). Vermittelt wird beispielsweise zwischen verschiedenen Fangruppierungen durch die Bildung eines „Fan-Rats“.
47
Vgl. dazu die Homepage der Fanarbeit Schweiz: www.fanarbeit.ch
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
71
Grundlagen für die sozialpädagogische Fanarbeit sind Beziehungsarbeit, die Bedürfnisse der Fans ernst zu nehmen und Kenntnisse der Fanszene (oder mindestens ein Interesse dafür). Als Ergebnis nennt D. Zimmermann Gewaltprävention
durch höhere Wertschätzung und Integration und eine bessere Kommunikation zwischen den Parteien.
Weitere Arten der Fanarbeit
Nebst der sozialpädagogischen Fanarbeit gibt es noch die Vereins-Fanarbeit, die
Fanarbeit der Polizei und die Fanarbeit der Fans.
Hooligans als Klientel
Die Fanarbeit versucht die Hooligans über den akzeptierenden Ansatz zu erreichen.
Gearbeitet wird auf vier Ebenen: Als erste Ebene nennt D. Zimmermann die Prävention. Hier geht es darum, Jugendlichen eine Alternative zum Eintritt in die Szene
zu bieten. Auf der zweiten Ebene geht es um Angebote für Hooligans, zur Vermittlung einer anderen Art von „Kick“. Auf der dritten Ebene wird das Verhalten der
Hooligans reflektiert und schlussendlich werden Hilfen zum Ausstieg aus der Szene
geboten.
Fanprojekte, bei welchen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im direkten Kontakt zu
den Fans stehen, sind in Deutschland weit verbreitet. Nach Aussagen von Professor
Dr. A. Pilz48 können sie bereits grosse Erfolge feiern. Ob das Fehlen solcher Projekte in der Schweiz finanzielle Gründe hat oder auf die fehlende Erfahrung mit
Fanarbeit zurückzuführen ist, ist uns unbekannt. Mit Sicherheit kann dazu gesagt
werden, dass die Gewaltbereitschaft der Fussballfans in der Schweiz ein neueres
Phänomen ist, womit sich die Funktionäre des Schweizer-Fussball noch nicht sehr
lange auseinandersetzen müssen.
Laut C. Nef von der Stadtpolizei Zürich49 haben auch die Fanprojekte keine Mittel
gefunden, die Gewaltbereitschaft der Fussballfans endgültig in den Griff zu bekommen. Er sieht als Lösung gegen die Gewalt einzig die Auflösung der Stehplätze in
den Stadien und eine gezielte und radikalere Vorgehen der Polizei gegen Gewalttäter. Durch das neue Hooligangesetz soll ein besserer Austausch von Personalien
bekannter Hooligans vereinfacht werden. Diese Massnahme findet C. Nef gerade im
Hinblick auf die EM 2008 in der Schweiz sinnvoll. Die Polizei steht immer im Kontakt
zu verschiedenen Fangruppierungen und versuchen einen regelmässigen und
ausgeglichenen Dialog zu führen. Die Machtverteilung ist dabei jedoch immer präsent, was dazu beiträgt, dass die Polizei nur beschränkte Möglichkeiten hat, mit den
Hooligans in Kontakt zu treten.
9.2. Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit für
Linksautonome
Gemäss unseren ausführlichen Recherchen (Gespräche mit der Stadtpolizei Zürich,
Gespräche mit Sip Züri) gibt es keine direkten Unterstützungsangebote der Sozialen
Arbeit für gewalttätige Jugendliche des Schwarzen Blocks. Ähnlich wie bei den Hooligans ist es fast ausschliesslich die Polizei, welche sich situativ und unmittelbar mit
dem Problem der linksautonomen Jugendgewalt beschäftigt. Gemäss A. Widmer,
Sicherheitsdienst der Stadtpolizei Zürich, zuständig für die Lagebeurteilung der
linksextremen Szene in Zürich, ist dies auf die mangelnde Dialogbereitschaft von
48
49
Vgl. www.sportwiss.uni-hannover.de
Vgl. dazu das Interview mit der Stadtpolizei Zürich im Anhang auf Seite III und IV.
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
72
militanten Linksautonomen zurückzuführen. Es ist schwierig bis unmöglich, die Akteure zu erreichen und mit ihnen in einen Dialog zu treten, da sie sich jeglicher Kooperation verweigern.
Das Unterstützungsangebot Sip Züri50 ist 364 Tage im Jahr mit ihren Patrouillen
auf den Strassen Zürichs unterwegs. Am 1. Mai wird aus Sicherheitsgründen nicht
gearbeitet. Zu gross ist die Gefahr, von militanten Linksautonomen mit der Polizei
verwechselt und tätlich angegriffen zu werden.
Aufgrund dieser Informationen über das Fehlen jeglicher Unterstützungsangebote für militante Linksautonome war es uns klar, dass auf jeden Fall Handlungsbedarf auf diesem Gebiet besteht.
Über die Stadtpolizei Zürich erfuhren wir vom Forum für Friedenserziehung, eine
Gruppierung, welche im Zusammenhang mit Anti-WEF Demonstrationen und Aktionen am G-8 Gipfel schon mehrere Male in Erscheinung trat. Das Forum für Friedenserziehung ist zwar kein Unterstützungsangebot der Sozialen Arbeit, dennoch
lohnt es sich unserer Meinung nach, dessen Ziele und Methoden an dieser Stelle
genauer auszuführen. Das Konzept der Gewaltfreiheit und vermittelnden Interventionen an Demonstrationen stellt ein interessanter Gesichtspunkt für die Soziale Arbeit dar.
Folgende Beschreibung bezieht sich auf das Interview (vgl. Anhang auf Seite V
bis VII) mit Ueli Wildberger, langjähriger Aktivist und Mitarbeiter des Forums für
Friedenserziehung.
Forum für Friedenserziehung
Das "Forum für Friedenserziehung" ist der Deutschschweizer Zweig des IFOR (The
international Fellowship of Reconsilitation)51 und basiert auf dem Grundvertrauen in
die Kraft der Liebe und Wahrheit, um Versöhnung zu suchen und Gemeinschaft zu
fördern. Die Mitglieder engagieren sich für die aktive Gewaltfreiheit und für echte
Veränderungen von ungerechten Verhältnissen. Das Forum für Friedenserziehung
versteht sich als Organisation, die sich auf verschiedenste Weise Konfliktfähigkeit
und gewaltfreie Konfliktlösung zum Anliegen macht.
Ziele des Forums für Friedenserziehung
Die Ziele sind sehr umfassend und können nach Gandhi allgemein zusammengefasst als "Der Weg ist das Ziel" beschrieben werden. Das heisst soviel wie ein gutes
Zusammenleben im Hier und Jetzt und nicht erst in ferner Zukunft. Auf der politischen / gesellschaftlichen Ebene sind die Ziele überall dort, wo es Ungerechtigkeit
und Probleme gibt, einen gewaltfreien Prozess in Gang zu bringen. Denn ohne Gewaltanwendung, kommt das eigentliche politische Anliegen zum Vorschein und steht
im Vordergrund.
Arbeitsmethoden des Forums für Friedenserziehung
Hierbei muss zwischen präventiven und spontanen Arbeitsmethoden unterschieden
werden.
Präventive Methoden:
50
Sicherheit Intervention Prävention
weltweites Netzwerk von Friedensgruppen. Heute gibt es Zweige in über 40 Ländern auf
allen Kontinenten. Zu seinen Mitgliedern gehören Menschen aus allen Weltreligionen.
51
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
73
Die gewaltfreie Aktion liegt einem Konzept zugrunde und ist eine konkrete Methode
zur Verhinderung von Gewaltexzessen. Das Konzept nach Theo Ebert52 unterscheidet vier verschiedene Stufen des gewaltfreien Widerstandes:
1. Stufe: Symbolaktionen und Protest zur Bewusstseinsbildung (Transparente,
Stände etc).
2. Stufe: legale Non-Kooperation (Streik, Boykott).
3. Stufe: Ziviler Ungehorsam (Schritt in die Illegalität, wobei hierbei der Grundsatz gilt, lieber Schaden / Gewalt auf sich nehmen wie anderen zufügen).
4. Stufe: Generalstreik (unrechtsmässige Regimes zum Einsturz bringen, ist
sehr theoretisch).
Für eine gewaltfreie Aktion braucht es eine Aktionsgruppe mit einer festen Organisationsstruktur, welche einen konkreten Konflikt analysiert und sich Alternativen
überlegt.
Eine weitere präventive Methode sind die Aktionsvorbereitungstrainings, welche
anlass- und kundgebungsbezogen sind und immer vor Aktionen durchgeführt werden. Diese beinhalten Diskussionen, Strategieplanung und vor allem Rollenspiele, in
denen Situationen nachgespielt werden.
Spontane Methoden:
Spontane Methoden kommen dann zum Einsatz, wenn eine Aktion nicht vorbereitet
werden konnte und beispielsweise eine Demonstration schon im Gange ist. Hier
wird versucht, auf das emotionale Klima einzuwirken. Dies geschieht mittels humorvollen Slogans, speziellen Liedern und Sprüchen oder originellen Verkleidungen.
Hat es beispielsweise an einer Demonstration gewaltbereite Personen, welche
keine Bereitschaft äussern, sich friedlich zu verhalten, kommt das so genannte
Peace-Keeping zum Einsatz. Peace-Keeper (unterschiedliche Anzahl von Personen, welche sich direkt vor Ort für einen gewaltfreien Verlauf einer Demonstration
einsetzen) stellen sich zwischen die feindlichen Parteien. Dies kann ein Stehen zwischen einem Schaufenster und einem Demonstranten mit einem Baseballschläger
sein oder ein Positionieren zwischen einer Reihe uniformierter Polizisten und eine
Gruppe von gewaltbereiten Akteuren des Schwarzen Blocks.
Solche und ähnliche Einsätze wurden an Anti-WEF Demos und G-8 bereits gemacht
und waren erfolgreich. Gewaltakte konnten über mehrere Stunden hinweg verhindert werden.
Interventionen des Forums für Friedenserziehung
Gezielte Interventionen entspringen den oben aufgeführten unterschiedlichen Methoden.
Präventive Interventionen sind beispielsweise, sich in das Organisationskomitee
einzubringen und aktiv an der Planung einer Demonstration mitmachen. Dadurch
können alternative Vorschläge zur Gewalt eingebracht, neue Aktionsplattformen geschaffen und neue Denkanstösse gemacht werden. (Zum Beispiel werden Linksautonome eingeladen, die Demonstration mit zu planen und ein Konsens zur Gewaltfreiheit wird erarbeitet.)
Interventionen des Peace-keeping sind das Bilden von Menschenketten zwischen der Polizei und gewalttätigen Akteuren. Mittels Kommunikation wird versucht,
einen persönlichen Kontakt zu den Demonstranten herzustellen. Durch vermittelnde
52
Politikprofessor in Berlin
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
74
Gespräche wird versucht, den Zwischenraum zum Gegner zu vergrössern oder gewalttätige Akteure ganz aus der Gefahrenzone zu bringen.
Bezug zur Sozialen Arbeit
Die Methoden der gewaltfreien Konfliktlösung stellen einen interessanten Aspekt für
die Soziale Arbeit dar und könnten unserer Meinung nach durchaus in gewissen
Arbeitsfeldern übernommen werden.
Ein Punkt, dass dies nicht passiert ist, dass das Konzept der Gewaltfreiheit sehr
gesellschaftskritisch ist. Die Friedensbewegung ist in ihrer Ideologie ziemlich radikal,
so dass es bei vielen auf Widerstand stösst. Die Soziale Arbeit hat zwar viel Spielraum bei der Veränderung von persönlichem Verhalten und Einstellung; dadurch,
dass sie jedoch meist öffentlich getragen ist, gibt es Grenzen, wenn ihre Tätigkeit in
gesellschaftsverändernde Fragen hineingeht (Wirtschaft und Politik).
9.3. Fazit
Die Fragestellung des Theoretischen Teils soll anhand des im praktischen Teil erworbenen Wissens an dieser Stelle beantwortet werden. Sie lautet:
Inwiefern kann das in dieser Diplomarbeit erarbeitete Wissen im Rahmen der
professionellen Jugendarbeit beigezogen werden?
Wir werden in diesem Teil keine konkreten Hilfsangebote für jugendliche Gewalttäter entwickeln, sondern aufführen, in welcher Form die Soziale Arbeit bezüglich dieses Problems ansetzen kann.
Unterstützungsangebote, welche explizit Mitglieder von gewaltbereiten Subkulturen
ansprechen, gibt es in der Schweiz nur vereinzelt. Es ist fast ausschliesslich die
Polizei, welche sich den Hooligans, bzw. den militanten Linksautonomen annimmt,
wenn diese durch ihr delinquentes Verhalten auffallen. Die Jugendlichen werden für
ihr Vergehen bestraft, wodurch ihre Zukunft einerseits gefährdet werden kann, sie
andererseits aber auch die Chance erhalten, nach der verbüssten Strafe einen anderen Weg einzuschlagen.
Wir haben in dieser Arbeit aufgezeigt, dass Jugendliche sich aus verschiedenen
Gründen einer gewaltbereiten Subkultur anschliessen (vgl. dazu die Zusammenfassung der Ergebnisse unter Punkt 8.1.1). Dies bedeutet, dass die Soziale Arbeit auf
verschiedenen Ebenen ansetzen muss, um das Problem der Jugendgewalt in Subkulturen zu lösen.
Wichtig ist dabei die präventive Arbeit, in welche vor allem Eltern und Lehrer miteinbezogen werden müssen, aber auch Funktionäre in den verschiedenen Vereinen
und Gruppierungen, in welchen sich Kinder und Jugendliche bewegen. Oft ist die
Zusammenarbeit zwischen diesen verschiedenen Aktionsfeldern mangelhaft, wodurch unserer Meinung nach eine wichtige Ressource der präventiven Jugendarbeit
verloren geht.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtungen ist unserer Meinung nach mit der Schulsozialarbeit getan: Einerseits haben Schulsozialarbeitende die Möglichkeit, mit Kindern
in verschiedenen Altersstufen zu arbeiten: Sie können den Jugendlichen unter anderem Konfliktlösungsmodelle-, sowie einen angemessenen Umgang mit Aggressionen vermitteln. Andererseits können sie die verschiedenen Aktionsfelder, in welchen sich die Kinder bewegen, miteinander verknüpfen, sei dies durch Eltern- und
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
75
Informationsabende oder durch gezielte Gespräche mit Eltern und/oder Lehrpersonen.
Neben der präventiven Arbeit ist auch die gezielte Sozialarbeit mit Jugendlichen
Gewalttätern wichtig. Den Jugendlichen muss einerseits klar aufgezeigt werden,
dass ihr Verhalten von der Gesellschaft nicht geduldet wird, andererseits müssen
ihnen Alternativen geboten werden, in welchen sie sich entfalten können. Hier wären Alternativen gefragt, die dem hohen Action- und Risikopotential von Jugendlichen Rechnung tragen, ohne dass sie sich dabei selbst schaden.
Ersteres ist nur durch eine gute Zusammenarbeit und einen gezielten Datenaustausch verschiedener Stellen möglich. Am Beispiel der Hooligans sind dies der Stadionbetreiber auf der einen Seite und die Polizei auf der anderen Seite. Dazu könnten noch verschiedene andere Akteure kommen, welche mit Hooligans in irgendeiner Weise in Kontakt treten. Nur wenn die Hooligans merken, dass ihr Handeln bemerkt wird und sofortige Konsequenzen hat, werden sie es sich besser überlegen,
ob sie im oder ums Stadion randalieren und andere Personen anpöbeln. Die verschiedenen Datenschutzgesetze sind laut Aussage der Kantonspolizei in einigen
Situationen hinderlich.
Wie schon unter Punkt 9.1 erwähnt, müssen den Jugendlichen Alternativen zu ihren
Tätigkeiten in den gewaltbereiten Subkulturen geboten werden. Diese sollten auf die
Bedürfnisbefriedigung der Akteure ausgerichtet sein. Es ist die mögliche
Befriedigung vieler Bedürfnisse, welche die Jugendlichen unter anderem dazu bewegen, sich einer gewaltbereiten Jugendsubkultur anzuschliessen (vgl. dazu Punkt
5.2.3). Nur wenn die alternative Tätigkeit die wesentlichen Bedürfnisse abdeckt,
wären die Akteure allenfalls bereit, sich gegen die Mitgliedschaft in einer gewaltbereiten Jugendsubkultur zu entscheiden. Die Möglichkeit zur Befriedigung der relevanten Bedürfnisse alleine reicht jedoch nicht, die Jugendlichen von gewalttätigen
Aktionen abzubringen. Andere Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle.
Die Akteure sollten die Möglichkeiten haben, ihre anomischen Spannungen abzubauen. Ein Ansatz in diese Richtung könnte eine vermehrte Mitsprachemöglichkeit
im politischen Rahmen sein (im Sinne von Partizipationsmöglichkeiten). Jugendlichen sollte vermehrt die Möglichkeit geboten werden, ihre Ängste und ihre Wut im
Sinne von konstruktiver Kritik an einem sinnvollen Ort anbringen zu können. Dies
könnte andere Strategien verhindern, welche Jugendliche wählen, um ihre Spannungen abzubauen. An diesem Punkt sind unserer Meinung nach klar Politiker oder
Vorsitzende grosser Institutionen gefragt. Jugendlichen muss das Gefühl der
Mitsprachemöglichkeit vermittelt werden, nur wenn sie sich ernst genommen fühlen,
werden sie sich auch kooperativ verhalten. Dieser Ansatz ist in der direkten
Fanarbeit, aber auch in der Arbeit mit politisch interessierten Gruppierungen wie den
militanten Linksautonomen, von Bedeutung. Auf einer wirtschaftspolitischen Ebene
können anomische Spannungen dadurch abgebaut werden, indem Berufswunsch
und -Wirklichkeit besser miteinander vereinbart werden können. Genügend
Lehrstellen und Zugang zu Bildungsinstitutionen für alle müssen gewährt sein. Hier
sind Politiker und die Wirtschaft gleichermassen gefragt und gefordert.
Da sich die Akteure der vorgestellten Subkulturen in einer, durch die Adoleszenz
bedingten Selbstfindungsphase befinden, sollten ihnen Möglichkeiten geboten werden, diese Phase mit Hilfe von guten Vorbildern zu meistern. Jugendliche orientieren sich oft an „ungünstigen“ Vorbildern, was sich, je nach Kreisen, in denen sie
verkehren, negativ auf ihre Zukunft auswirken kann. In Vereinen wie Fussballclubs
oder der Pfadi haben Jugendliche die Möglichkeit, sich an positiven Vorbildern zu
orientieren (seien dies Coachs oder andere Leitungspersonen). Individuen, welche
Unterstützungsangebote in der Jugendarbeit
76
sich nicht in solchen Kreisen aufhalten, ist der Zugang zu positiven Leitungspersönlichkeiten jedoch erschwert. Oft erleben sie Erwachsene in von ihnen negativ behafteten Positionen (Lehrpersonen, Polizei), was ihre Auflehnung gegenüber der
Gesellschaft verstärken kann. So sollte ihnen der Kontakt zu Erwachsenen in positiv
behafteten Rollen ermöglicht werden. Bei Fussballfans könnten engagierte Akteure
des Fussballvereins (Trainer, Spieler und andere Vereinsmitglieder) sicherlich etwas
erreichen. Oft wollen Spieler mit den gewaltbereiten Fans nichts zu tun haben, dabei
könnten sie mit klaren Worten oder einer klaren Haltung je nach Situation viel erreichen und klare Zeichen gegen die Gewalt setzen.
Ein weiterer wichtiger Lösungsansatz ist unserer Meinung nach die aufsuchende
Jugendarbeit. In Fanprojekten wurde diese Form der Sozialen Arbeit bereits praktiziert. Obwohl die Polizei keinen direkten Nutzen darin sieht, sollten die Projekte, wie
es in Deutschland gemacht wird, ausgeweitet und etabliert werden.
An politischen Anlässen, an welchen Gewalt durch militante Linksautonome
droht, könnte die aufsuchende Jugendarbeit in Form einer spontanen Intervention
der Sozialen Arbeit durchgeführt werden. Aufsuchende Jugendarbeitender könnten
sich an der gewaltfreien Konfliktlösung des Forums für Friedenserziehung orientieren und eine vermittelnde Rolle zwischen der Polizei und den Demonstranten einnehmen. Sozialarbeitende in dieser Rolle müssten durch ihre äussere Erscheinung
klar erkennbar sein und selbstverständlich müsste der Sicherheitsaspekt der persönlichen Sicherheit gewährleistet sein.
Schlussteil
77
10. Schlussteil
Im Schlussteil wird die Zielerreichung unserer Arbeit ausgewertet und nach einem Schlussplädoyer werden abschliessend offene Fragen aufgeführt.
10.1. Zielerreichung
Die im Kapitel 1.2 aufgestellten Fragen wurden während dieser Arbeit anhand
von Literatur und theoretischem Wissen erörtert, präzisiert und beantwortet.
Anhand der Erklärungstheorien im theoretischen Teil wurde aufgezeigt, warum
sich Jugendliche gewaltbereiten Subkulturen anschliessen. Im Praktischen Teil
wurde eine theoretische Verständnisgrundlage für Sozialarbeitende im Jugendbereich, welche mit gewaltbereiten Subkulturen in Berührung kommen,
erarbeitet. Somit sind die gesetzten Ziele erreicht.
10.2. Schlussplädoyer
In den letzten Jahren hat die Jugendgewalt im Kontext von Subkulturen zugenommen. Die Gründe dafür sind multifaktoriell und wurden in dieser Diplomarbeit
erläutert. Obwohl Jugendgewalt in der Bevölkerung zu recht als störend und beängstigend wahrgenommen wird, geht es nicht darum, gewalttätige Jugendliche
zu stigmatisieren und zu kriminalisieren. Die Gesellschaft muss sich bewusst
sein, in welchem Druck Jugendliche sich heute befinden. Die Pluralisierung der
Lebensstile, die ungleiche Chancenverteilung, die Individualisierung unserer Gesellschaft und zuletzt auch die Globalisierung, tragen das Ihre dazu bei, dass
junge Menschen verunsichert sein können und als Folge daraus problematische
Handlungsmuster entwickeln.
Hier liegt es in der Verantwortung von Eltern, Lehrpersonen, Institutionen,
Medien, Wirtschaft, Politik und der Sozialen Arbeit im Speziellen, positive Gegenpole zu schaffen und durchzusetzen. Nur mit dem Einbezug aller Ebenen
können längerfristige präventive Massnahmen ergriffen und adäquate Lösungen
herbeigeführt werden.
Mit dem Ausbau der Schulsozialarbeit in fast allen Schulhäusern der Stadt Zürich wurde von Seiten der Sozialen Arbeit bereits ein wichtiger Schritt getan, den
es auf jeden Fall weiter zu verfolgen gilt.
Um dem hohen Fun- Action- und Risikopotenzial von Jugendlichen Rechnung
zu tragen, sind zudem alternative Möglichkeiten gefragt, damit Gewalt als "Risikosportart" vermieden werden kann. Denn Risikobereitschaft und - Lust sind
nicht nur problembehaftet und negativ zu bewerten, sondern wichtige Bestandteile im Erlernen eigener Handlungskompetenzen und der Entwicklung der Identität von jungen Menschen.
Schlussteil
78
10.3. Offene Fragen
Während der Erarbeitung unserer Diplomarbeit sind eine Reihe von interessanten Fragen aufgetaucht, welche zu beantworten den Rahmen dieser Arbeit
sprengen würde:
Wie verhält es sich mit dem Wahlverhalten von Hooligans und militanten
Linksautonomen? Gehen sie überhaupt wählen und welche Parteien würden sie sich in die Regierung wünschen?
Gibt es rechtliche Aspekte, die im Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichen Raums hinderlich oder förderlich sind?
Wie viel trägt die Polizei durch ihr Auftreten (grosse Anzahl, Uniformierung
und Bewaffnung) zu einer Provokation der Akteure (Hooligans und
militante Linksautonome) bei?
Wie könnten konkrete Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit bezüglich
gewalttätiger Jugendsubkulturen aussehen? (Eine Planung eines solchen
Angebots wäre ein spannendes Thema für eine weitere Diplomarbeit).
Quellenverzeichnis
79
11. Quellenverzeichnis
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Quellenverzeichnis
82
Fotos Schwarzer Block: Quelle Stadtpolizei Zürich, aus einer Powerpoint
Präsentation von A. Widmer
Fotos Hooligans: www.hooligans.cz
Anmerkung:
Für das Erstellen dieser Diplomarbeit standen den Verfasserinnen 8 Wochen zur
Verfügung.
Anhang
Statistiken zur Jugendgewalt
I
Anhang
Quelle:
http://tages-anzeiger.ch/dyn/news/dossiers/zuerich/700.html
eingesehen am 30.03.07
II
Anhang
III
Interview Stadtpolizei Zürich; Herr C. Nef
Als erstes möchte ich mich herzlich bei Herrn Nef bedanken, dass er sich so viel
Zeit für dieses Gespräch genommen hat. Wichtig ist zu erwähnen, dass ich beim
Interview nur Notizen gemacht habe und das folgende Interview demnach als
sinngemäss zu verstehen ist und nicht wörtlich genommen werden darf.
Herr Nef gehört einem sechsköpfigen Team an, welches sich vollamtlich mit dem
Thema Hooligans beschäftigt. Ein solches Team ist in der Schweiz einmalig,
keine andere Stadt setzt so viele Ressourcen für dieses Thema ein. Die
Hooligan-Abteilung der Stadtpolizei Zürich ist an die schweizerische Zentralstelle
für Hooliganismus angegliedert und arbeitet auch eng mit ähnlichen Stellen aus
dem Ausland zusammen.
tm:
Hat sich der Hooliganismus in der Schweiz in den letzten
Jahren verändert? Wenn ja, wie?
Herr Nef:
Ja, wenn die Hooligans aufeinander treffen geht es nicht mehr so
fair zu und her. Die Hooligans halten sich nicht mehr so stark an
den Ehrencodex wie vor einigen Jahren. Auch hat sich der
Standort der „Treffen“ verändert. Durch die grosse Präsenz und
das härtere Einschreiten der Polizei in und ums Stadion treffen
sich die Hooligans an anderen Orten. In der Fachsprache wird das
„Feld-Wald-Wiese“ genannt. Auch Autobahnraststätten eignen sich
gut für solche Treffen. Aus diesem Grund bekommt die Polizei gar
nicht immer mit, wie viele Hooligans sich wo treffen und was bei
diesen Treffen abgeht.
tm:
Die gewaltbereiten Fans werden als Bbezeichnet.
Gibt
es
bei
dieser
Untergruppierungen? Welche?
Herr Nef:
Ich finde die Unterteilung in A-, B- und C-Fans eigentlich gut. In
der Praxis werden die Fans heute nur noch in risk- und no-riskFans unterteilt. Bei den risk-Fans gibt es verschiedene
Fangruppen. Die Hooligans einer Mannschaft sind meistens eine
Gruppe von 30-40 Leuten. Dann gibt es noch die so genannten BFans, überwiegend Jugendliche, welche zu Gewalt in
verschiedenen Formen neigen und als Unberechenbar gelten. Sie
können je nach Spielverlauf und Vorkommnissen auf dem
Fussballplatz explodieren und in der Masse gefährlich werden
(Beispiel dafür ist das Meisterschaftsspiel vom 13. Mai 2006
zwischen dem FC Basel und dem FC Zürich). Oft pöbeln sie nach
dem
Spiel
herum
und
begehen
beträchtliche
Sachbeschädigungen. Beim FC Zürich stehen von diesen Fans je
nach Spiel zwischen 400-600 Fans in der Südkurve. Natürlich gibt
es auch unter ihnen verschiedene Gruppen, aber da es so viele
sind, kennen wir sie nicht so gut wie die Hooligans, zu denen wir
regelmässigen Kontakt haben.
tm:
Wer sind diese B-Fans, von wo kommen sie (Nationalität,
soziale Schicht) und welche Merkmale haben sie?
und C-Fans
Fankategorie
Anhang
IV
Herr Nef:
Sie kommen von überall her. Viele verschiedene Nationalitäten
sind vertreten und sie kommen aus unterschiedlichen sozialen
Schichten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie „nicht sehr hell“ sind
und viel Alkohol konsumieren. Ihr Niveau ist sehr tief, das hört
man an den Sprechchören und den Gesprächen, die sie
miteinander führen. Dies und der Alkohol macht sie so
unberechenbar.
tm:
Warum suchen Jugendliche nach einem Fussballspiel nach
Gewalt, was sind ihre Motive?
Herr Nef:
Hier muss man sicher zwischen Hooligans und B-Fans
unterscheiden. Bei den Prügeleien der Hooligans geht es
sicherlich einerseits um den Kick, andererseits haben diese
Kämpfe aber auch etwas mit Sport zu tun. Sie wollen sich messen
denn viele von ihnen sind sehr sportlich und haben Kampfsport Erfahrungen. Bei den B-Fans geht es vor allem um den Kick,
wobei das Gruppengefühl eine wichtige Rolle spielt. In der Gruppe
fühlen sie sich stark und machen Dinge, die sie alleine niemals tun
würden. Sie spielen sich auf, in den sie Dinge (Autos, Cars, etc.)
beschädigen oder den Konflikt mit schwächeren Gegnern suchen.
Es kommt auch vor, dass ihnen unbeteiligte Fans zum Opfer
fallen, auch Frauen. Sie sind Chaoten und auch immer wieder an
anderen Veranstaltungen anzutreffen wie zum Beispiel an 1.Mai –
Demos.
tm:
Wie gehen Sie mit Jugendlichen Gewalttätern um?
Herr Nef:
Wenn sie erwischt werden, bekommen sie ein ganz normales
Strafverfahren. Begehen sie die Straftat im Stadion erhalten sie
Stadionverbot. Wenn sie die Straftat jedoch ausserhalb des
Stadions begehen, dürfen wir sie für ihre Tat zwar bestrafen, doch
dürfen wir dem Stadionbesitzer aus Datenschutzgründen keine
Mitteilung machen. Mit dem neuen Hooligangesetz wird das
jedoch besser.
tm:
Welche Angebote im Bereich der Sozialen Arbeit im Bezug auf
Fans kennen Sie?
Herr Nef:
Meiner Meinung nach gibt es in der Schweiz keine Angebote, die
wirklich etwas bringen. Es gibt verschiedene Fanprojekte, welche
aber auf Freiwilligkeit beruhen und sich mit den Fans
solidarisieren um überhaupt Zulauf zu haben. Für die Polizei ist
das Problem die Masse der Fans, die so genannten B-Fans.
tm:
Welche Lösungen gibt es Ihrer Meinung nach diese Masse
unter Kontrolle zu bringen?
Herr Nef:
Man müsste viel radikaler gegen Gewalttäter vorgehen. In den
Stadien sollte es nur noch Sitzplätze geben, keine Stehplätze
mehr. Auch sollte im und um das Stadion kein Alkohol mehr
ausgeschenkt werden dürfen. Der Alkoholkonsum vor und
während den Spielen ist ein grosses Problem.
Anhang
V
Interview mit Ueli Wildberger, Forum für Friedenserzeugnisse
Da Mitglieder des Forums für Friedenserziehung bereits Aktionen mit
Linksautonomen an Anti-Wef Demos oder dem G-8 durchgeführt haben, wird im
folgenden Anhangsteil ein Interview mit Ueli Wildberger, langjähriger Aktivist im
Forum für Friedenserziehung, geführt. Das Forum für Friedenserziehung ist zwar
kein Unterstützungsangebot der Sozialen Arbeit für militante Linksautonome,
dennoch könnte der Ansatz der gewaltfreien Konfliktlösung und der bereits
durchgeführten Interventionen an Demonstrationen auch für die Soziale Arbeit für
Bedeutung sein. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle anhand eines
Interviews das Forum für Friedenserziehung mit seinen Zielen, Arbeitsmethoden
und Interventionen, vorgestellt.
Im folgenden Interview werden die Aussagen von Ueli Wildberger, Forum für
Friedenserziehung, anhand der gestellten Fragen zusammengefasst.
ss:
Was ist das Forum für Friedenserziehung?
Das "Forum für Friedenserziehung" ist der Deutschschweizer Zweig des IFOR
(The international Fellowship of Reconsilitation)53 und basiert auf dem
Grundvertrauen in die Kraft der Liebe und Wahrheit, um Versöhnung zu suchen
und Gemeinschaft zu fördern. Die Mitglieder engagieren sich für die aktive
Gewaltfreiheit und für echte Veränderungen von ungerechten Verhältnissen. Das
Forum für Friedenserziehung versteht sich als Organisation, die sich auf
verschiedenste Weise Konfliktfähigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung zum
Anliegen macht.
ss:
Was ist Ihr persönlicher und beruflicher Hintergrund?
Ueli Wildberger hat in Berlin Theologie studiert und schöpfte seine Motivation aus
eigenen Erfahrungen an den Studentenrevolutionen 1968. Damals herrschte ein
ähnliches Dilemma und die gesellschaftliche Situation wurde als ungerecht
empfunden. Die Studentenrevolutionen damals waren von Gewalt überschattet
und U. Wildberger fühlte sich von der gewalttätigen Art der Konfliktlösung
abgestossen. Er sah einen grossen Widerspruch in den heeren Zielen der
Bewegung und dem Mittel der Gewalt zu ihrer Durchsetzung. Dies motivierte ihn,
nach anderen Formen und Wegen zu suchen. 1968 lebte Martin Luther King und
U. Wildberger hörte von den grossen, gewaltfreien Bewegungen in Amerika oder
Indien (Gandhi). In diesen gewaltfreien Bewegungen sah er die Alternative zum
damaligen marxistischen Revolutionskonzept. Es kristallisierten sich die
folgenden Leitfragen heraus:
"Wie kann man gegen strukturelle Gewalt, die in diesem System herrscht, mit
gewaltfreien Mitteln vorgehen?"
„Wie kann wirksamer Widerstand und Veränderung in der Gesellschaft
bewirkt und eingebracht werden?"
Die Antwort auf diese Fragen ist die aktive Gewaltfreiheit. Daraus ergibt sich die
Frage, wie man die aktive Gewaltfreiheit im Grossen praktiziert. Vorbilder dazu
sind Martin Luther King und Mahatma Gandhi. U. Wildberger schloss sich dem
IFOR an und ist heute zu 40% in dieser Organisation angestellt.
ss:
Was sind die Ziele des Forums für Friedenserziehung?
53
weltweites Netzwerk von Friedensgruppe. Heute gibt es Zweige in über 40 Ländern auf
allen Kontitenten. Zu seienn Mitgliedern gehören Menschen aus allen Weltreligionen.
Anhang
VI
Die Ziele sind sehr umfassend und können nach Gandhi allgemein als: "Der Weg
ist das Ziel" zusammengefasst werden. Das heisst soviel wie ein gutes
Zusammenleben im Hier und Jetzt und nicht in einer fernen Zukunft. Auf der
persönlichen Ebene heisst dies auch Gewaltfreiheit im eigenen Leben (mit der
Natur im Einklang leben, leben in Wohngemeinschaften, Gleichstellung von
Mann und Frau, friedliches Zusammenleben von Ausländern und Schweizer).
Auf der politischen / gesellschaftlichen Ebene ist das Ziel, überall dort, wo es
Ungerechtigkeit und Probleme gibt, einen gewaltfreien Prozess in Gang zu
bringen. Denn wenn keine Gewalt vorhanden ist, kommt das eigentliche
politische Anliegen zum Vorschein. Feinde sollten auch zu Freunden gemacht
werden.
ss:
Welches
sind
die
Friedenserziehung?
Hierbei muss zwischen
unterschieden werden.
Arbeitsmethoden
präventiven
und
des
spontanen
Forums
für
Arbeitsmethoden
Präventive Methoden:
Die gewaltfreie Aktion liegt einem Konzept zugrunde und ist eine konkrete
Methode zur Verhinderung von Gewaltexzessen. Das Konzept nach Theo Ebert
unterscheidet vier verschiedene Stufen des gewaltfreien Widerstandes:
1.
Stufe: Symbolaktionen
(Transparente, Stände etc)
und
Protest
zur
Bewusstseinsbildung
2. Stufe: legale Non-Kooperation (Streik, Boykott)
3. Stufe: Ziviler Ungehorsam (Schritt in die Illegalität, wobei hierbei der
Grundsatz gilt, lieber Schaden / Gewalt auf sich nehmen wie anderen
zufügen).
4. Stufe: Generalstreik (unrechtsmässige Regimes zum Einsturz bringen, ist
sehr theoretisch).
Für eine gewaltfreie Aktion braucht es eine Aktionsgruppe mit einer festen
Organisationsstruktur, welche einen konkreten Konflikt analysiert und sich
Alternativen überlegt.
Eine weitere präventive Methode sind die Aktionsvorbereitungstrainings, welche
anlass- und kundgebungsbezogen sind und immer vor Aktionen durchgeführt
werden. Diese beinhalten beispielsweise Diskussionen, Strategieplanung und vor
allem Rollenspiele.
Spontane Methoden:
Spontane Methoden kommen dann zum Einsatz, wenn eine Aktion nicht
vorbereitet werden konnte und beispielsweise eine Demonstration schon im
Gange ist. Hier wird versucht, auf das emotionale Klima einzuwirken. Dies
geschieht mittels humorvollen Slogans, speziellen Liedern und Sprüchen oder
originellen Verkleidungen. Auf diese Art können spontane Aktionen durchgeführt
werden und der ganze Frust wird versucht, in eine positive Energie
umzuwandeln.
Hat es beispielsweise an einer Demonstration gewaltbereite Personen, welche
keine Bereitschaft äussern, sich friedlich zu verhalten, kommt das sogenannte
Anhang
VII
Peace-Keeping zum Einsatz. Diese Methode könnte auch an einer
Nachdemonstration mit militanten Linksautonomen angewendet werden. PeaceKeeper (unterschiedliche Anzahl von Personen, welche sich direkt vor Ort für
einen gewaltfreien Verlauf einer Demonstration einsetzen) stellen sich zwischen
die feindlichen Parteien. Dies kann ein Stehen zwischen ein Schaufenster und
eines Demonstranten mit einem Baseballschläger sein oder ein Positionieren
zwischen eine Reihe uniformierter Polizisten und eine Gruppe von gewaltbereiten
Akteuren des Schwarzen Blocks. Dadurch können zwar Einzelaktionen gestoppt
werden, grössere Aktionen jedoch nicht. Dazu bräuchte es mehr Leute.
Solche und ähnliche Einsätze wurden an Anti-WEF Demos und G-8 Gipfel
bereits gemacht und waren erfolgreich. Gewaltakte konnten über mehrere
Stunden hinweg verhindert werden.
ss:
Welches sind Interventionen des Forums für Friedenserziehung?
Gezielte Interventionen entspringen den oben aufgeführten unterschiedlichen
Methoden.
Präventive Interventionen sind beispielsweise sich in das Organisationskomittee
einbringen und aktiv an der Planung einer Demonstration mitmachen. Dadurch
können alternative Vorschläge zur Gewalt eingebracht, neue Aktionsplattformen
geschaffen und neue Denkanstösse gemacht werden. (Zum Beispiel werden
Linksautonome eingeladen, die Demonstration mit zu planen und ein Konsens
zur Gewaltfreiheit wird erarbeitet.)
Interventionen des Peace-keeping sind das Bilden von Menschenketten
zwischen der Polizei und gewalttätigen Akteuren. Mittels Kommunikation wird
versucht, einen persönlichen Kontakt zu den Demonstranten herzustellen, die
Aggression zu dämpfen und der Zwischenraum zum Gegner zu verkleinern.
ss:
Wären aus Ihrer Sicht Interventionen am 1. Mai in Zürich möglich /
sinnvoll?
Interventionen am 1. Mai in Zürich wären durchaus möglich und auch sinnvoll. U.
Wildberger hatte diesbezüglich auch schon Kontakt mit Esther Maurer,
Polizeivorsteherin der Stadt Zürich, aufgenommen und diese würde
diesbezügliche Aktionen begrüssen. Probleme würden die Zeit- und
Kräfteressourcen (Mangel an Personen) darstellen.
ss:
Wie sehen Sie aus Ihrer Sicht den Bezug des Forum für
Friedenserziehung zur Sozialen Arbeit?
Theoretisch könnten sehr viele Methoden der gewaltfreien Konfliktlösung des
Forums für Friedenserziehung für die Soziale Arbeit übernommen werden. Ein
Punkt, dass dies nicht passiert ist, dass das Konzept der Gewaltfreiheit sehr
gesellschaftskritisch ist. Die Friedensbewegung ist in ihrer Ideologie ziemlich
radikal, so dass sie bei vielen auf Widerstand stösst. Die Soziale Arbeit hat viel
Spielraum bei der Veränderung von persönlichem Verhalten und der Einstellung.
Dadurch, dass die Soziale Arbeit jedoch meist öffentlich getragen ist, gibt es
Grenzen, wenn es in gesellschaftsverändernde Fragen hineingeht (Wirtschaft
und Politik). Zum Beispiel beim zivilen Ungehorsam gäbe es sofort einen Clinch
mit Gesetz und Staat.
Anhang
VIII
Auflistung der Bedürfnisse
In der folgenden Aufzählung sind die Bedürfnisse nach diesen drei Arten
gegliedert:
Biologische Bedürfnisse
Bedürfnis nach physischer Unversehrtheit
Bedürfnis für die Autopoiese erforderlichen Austauschstoffe
Bedürfnis nach Regenerierung
Bedürfnis nach sexueller Aktivität und nach Fortpflanzung
Biopsychische Bedürfnisse
Bedürfnis nach wahrnehmungsgerechter sensorischer Stimulation
Bedürfnis nach schönen Formen in spezifischen Bereichen des Erlebens
Bedürfnis nach Abwechslung und Stimulation
Bedürfnis nach Orientierung
Bedürfnis nach subjektiv relevanten Zielen und Hoffnung auf Erfüllung
Bedürfnis nach Kontrolle und Kompetenz
Biopsychosoziale Bedürfnisse
Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung
Bedürfnis nach spontaner Hilfe
Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch Teilnahme
Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit
Bedürfnis nach Autonomie
Bedürfnis nach sozialer Anerkennung
Bedürfnis nach (Austausch-) Gerechtigkeit
Anhang
IX
Beispiele anomischer Spannungen
Ablehnung des Wertes:
Beispiel: Ein Arbeitsloser spielt den Wert der Beschäftigung herunter und
gewichtet andere Werte, wie beispielsweise viel Freizeit zu haben, höher.
Soziale Isolation
Beispiel: Eine Putzfrau kommt erst spät am Abend in die Bank um den
Begegnungen mit den Bankangestellten ausweichen zu können. Oder ein
Arbeitsloser geht nicht mehr in die Stammkneipe, welche er nach der Arbeit
immer Besucht hat, um seinen Kollegen auszuweichen, welche immer noch
einen Job haben.
Individuelle vertikale Mobilität:
Beispiel: Ein Mitarbeiter einer grossen Versicherung würde gerne aufsteigen. Da
dies aber nicht so einfach ist, wählt der den Weg über einen anderen zentralen
Wert wie zum Beispiel die Bildung. Er besucht eine Abendschule um danach
bessere Aufstiegschancen zu haben.
Kollektive vertikale Mobilität
Beispiel: Eine Gruppe von Akteuren tut sich zusammen und die gemeinsame
Situation zu verbessern und planen beispielsweise einen Streik.
Migration oder geografische Mobilität
Beispiel: Weil ein Maler in Winterthur keine Stelle finden kann, zieht er nach St.
Gallen, weil er gehört hat, dass in dieser Stadt Maler gesucht werden. Ein
anderes Beispiel sind Menschen die auswandern, weil in ihrem Land die
Arbeitslosigkeit dermassen gross ist, dass sie nicht mehr damit rechnen eine
Stelle zu finden.
Delinquenz
Beispiel: Ein Sozialhilfebezüger hätte wahnsinnig gerne eine bestimmte
Winterjacke, die er sich bei seinem tiefen Einkommen aber nicht leisten kann. Er
geht ins Geschäft uns stiehlt die Jacke (oder auch andere Statussymbole).
(Chronische) Krankheit
Beispiel: Ein Krankheit gibt der betroffenen Person immer einen Grund sich
zurückzuziehen und ein fehlen, beispielsweise am Arbeitsplatz, zu erklären.

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