THAILAND-RUNDSCHAU

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THAILAND-RUNDSCHAU
THAILAND-RUNDSCHAU
der Deutsch-Thailändischen Gesellschaft e.V., Köln
Jahrgang 23
November 2010
ISSN: 0934-8824
Nr. 3
THAILANDRUNDSCHAU
DEUTSCH-THAILÄNDISCHE
GESELLSCHAFT e.V.
Ehrenpräsident:
Der Botschafter des Königreiches
Thailand in Deutschland
Präsidentin:
Prof. Dr. Frauke Kraas
Stellvertretender Präsident:
Prof. Dr. Dr. h.c. K.-H. Pfeffer
Schatzmeister:
Günter Blindert
Vorstandsmitglieder:
Dr. Christoph Brümmer
Dr. Arnd D. Kumerloeve
Impressum und Inhalt
Inhalt
Nr. 3 – 2010
Vorwort
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Zum Tode unseres langjährigen Präsidenten
Prof. Dr.-Ing. Helmut Eggers
Frauke Kraas
84
Ihre Königliche Hoheit gab uns die Ehre
Jürgen H. Hohnholz
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100 Jahre Carl Werner Drewes
Arnd D. Kumerloeve
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Bangkok: Megastadt auf dem Weg in die Postmoderne
Frauke Kraas
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»Essen wie die Tiger«
Marin Trenk
101
Nachhaltige Landnutzung und ländliche Entwicklung
in Bergregionen Südostasiens – SFB564
Holger Fröhlich und Karl Stahr
109
Thailands Demokratie in der Krise: Ursachen
und Konsequenzen
Holger Alisch
114
"Die zweite Generation - Wo bin ich Zuhause?"
Frauke Kraas
117
Aus Eka Donner’s Tagebuch
Arnd D. Kumerloeve
118
RUNDSCHAU -IMPRESSUM
Herausgeber und Verlag:
Deutsch-Thailändische Gesellschaft
e.V.
Redaktion:
Prof. Dr. Frauke Kraas, 50923 Köln
(ViSdP)
unter Mitarbeit von
Dr. Arnd D. Kumerloeve, Köln, und
Prof. Dr. Karl-Heinz Pfeffer, Tübingen
Layout: Anke Dick-Follmann, Rodgau
Druck
Druckerei Koges, Bonn
ISSN: 0934-8824
Geschäftsstelle, Bibliothek
und Redaktionsbüro
Johann-Bensberg-Straße 49
51067 Köln
! +49 (0)221 / 68 00 210
Fax: +49 (0)221 / 96 90 287
E-Mail: [email protected]
Internet: http:// www.dtg.eu
THAILAND-RUNDSCHAU, die Zeitschrift der Deutsch-Thailändischen
Gesellschaft e.V., erscheint dreimal im
Jahr im Umfang von je ca. 40 Seiten.
Der Bezugspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten.
Redaktionsschluss:
für Heft 1-2011: 01.02.2011
für Heft 2-2011: 01.06.2011
für Heft 3-2011: 15.10.2011
Namentlich gekennzeichnete oder aus anderen Publikationen übernommene Beiträge dienen ausschließlich der Information unserer Leser
und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der Gesellschaft wieder.
Titelphoto: Bangkok – Blick über die heterogene Megastadt, Photo ©
Frauke Kraas
Innenphoto: Eindruck von der Insel Koh Samet, Photo © Anke DickFollmann
THAILAND-RUNDSCHAU Vorwort
Liebe Freunde und Mitglieder der DTG!
Ein Wort in eigener Sache vorweg! Sie haben den langen Bericht in der letzten Thailand-Rundschau gelesen:
Nicht allein auf den Jahrestagungen und – alle zwei Jahre – den DTG-Symposien bietet sich die Gelegenheit
zum direkten Gespräch und Austausch der DTG-Mitglieder miteinander, sondern auch in unseren DTGRegionalgruppen (früher wurden sie als sog. „Stützpunkte“ bezeichnet, eine Terminologie, die wir uns entschlossen haben zu ändern). Höchst erfreulicherweise gibt es inzwischen in acht Städten um aktive DTGMitglieder herum kleinere und größere Gruppen von Freunden und Bekannten, die sich zu gemeinsamen
Gesprächsrunden und Essen, kulturellen Aktivitäten und Veranstaltungen treffen. Wir berichten gerne in der
Thailand-Rundschau darüber! Bitte machen Sie innerhalb Ihres Freundes- und Bekanntenkreises Werbung für
unsere DTG, denn es wäre schön, wenn die Regionalgruppen weiter wachsen und die DTG damit noch lebendiger an verschiedenen Standorten in Deutschland vertreten sein könnte. Gerne erhalten Sie von der Geschäftsstelle entsprechende Flyer und Informationsmaterialien – lassen Sie es uns wissen. Für unsere Firmenmitglieder besteht die Möglichkeit, in der Thailand-Rundschau zu inserieren.
Ein kleiner Ausblick sodann auf das kommende Jahr 2011! Bitte notieren Sie sich bereits heute Ort und Zeitpunkt unserer nächsten
DTG-Mitgliederversammlung 2011 mit Symposium zum Thema
„Wirtschaftsstandort Thailand: Landwirtschaft, Industrie, Tourismus, Handel“
am 21.05.2011 im Rautenstrauch-Joest Museum in Köln.
Nachdem wir in den zurückliegenden Symposien die Entwicklungen in Kultur und Politik unseres Partnerlandes in den Vordergrund gestellt hatten, widmen wir uns 2011 zentralen Fragen der Wirtschaft, wobei alle Sektoren einbezogen und in Vorträgen von Fachleuten thematisiert werden sollen. Wir freuen uns schon jetzt auf
Ihre Teilnahme – und werden Sie rechtzeitig über das detaillierte Programm einschließlich profilierter Referenten informieren.
Mit Blick auf das nahende Jahresende sei Ihnen und Ihren Familien – im Namen des gesamten DTGVorstands – nun ein Frohes Weihnachtsfest sowie gutes, gesundes und erfolgreiches Neues Jahr 2011 gewünscht!
Mit besten Grüßen, im Namen des gesamten Vorstands,
Ihre Frauke Kraas
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Zum Tode unseres langjährigen Präsidenten
Prof. Dr.-Ing. Helmut Eggers
Universitätsprofessor em. Dr.-Ing. Helmut Eggers
! 24.2.2010
Die Mitglieder der Deutsch-Thailändischen Gesellschaft trauern um Ihren langjährigen Präsidenten
Prof. Dr.-Ing. Helmut Eggers, der am 24. Februar
2010 nach schwerer Krankheit verstorben ist. Im
Namen der Mitglieder und des Vorstandes sei
seiner Familie und seinen Angehörigen unser großes Mitgefühl und der herzliche Dank für viele
Jahre großen Engagements für die DTG zum Ausdruck gebracht.
Helmut Eggers wurde am 15. Juni 1940 in Hamburg geboren. Sein Vater fiel im Krieg in Russland.
Nach dem Studium des Bauingenieurwesens an
der Universität Karlsruhe arbeitete und promovierte Eggers im Bereich der Wasserwirtschaft und
Hydrologie am Theodor-Rehbock-Flussbau-Labor
bei Prof. Mosonyi. Von 1978 bis 1980 arbeitete
Eggers als Associate Professor, gefördert durch
eine Gastdozentur des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD), am renommierten
Asian Institute of Technology (AIT) in Bangkok,
von wo aus er auf den Lehrstuhl für Landwirt-
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schaftlichen Wasserbau und Kulturtechnik an der
Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Bonn
berufen wurde. Hier wirkte er von 1980 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005. In der Zeit von
1988 bis 1992 wurde er - bei Beurlaubung in Bonn
- als Vice President for Academic Affairs an das
Asian Institute of Technology berufen. Hier gehörte
Eggers in führender Position zu einer bemerkenswerten Zahl von deutschen Wissenschaftlern, die
am AIT seit den 1970er Jahren in Lehre, Forschung und Wissenschaftsmanagement tätig waren. Seine vielfältigen internationalen Forschungsarbeiten, vor allem in Ländern Afrikas und Asiens,
trugen Eggers hoheV wissenschaftliche Reputation, zahlreiche nationale und internationale Ehrungen sowie Mitgliedschaften in wissenschaftlichen
Vereinigungen ein. Neben der Forschung und
Lehre an der Universität Bonn hat Helmut Eggers
den sehr erfolgreichen internationalen Masterstudiengang "Agrarwissenschaften und Ressourcenmanagement in den Tropen und Subtropen"
(ARTS) an der Landwirtschaftlichen Fakultät mitbegründet.
Geprägt von seinen intensiven wissenschaftlichen
und persönlichen Erfahrungen aus den vielen Jahren in Thailand, engagierte Helmut Eggers sich
intensiv in unserer Deutsch-Thailändischen Gesellschaft, zuerst aktiv im Beirat und von 1997 bis
2003 als ihr Präsident. Dabei wurde er stets sehr
tatkräftig unterstützt von seiner Frau Roswitha, die
nicht nur zahlreiche, sehr gastfreundliche Vorstandssitzungen mit selbst zubereitetem thailändischen Essen gestaltete, sondern viele Jahre lang
umfangreiche DTG-bezogene Korrespondenz und
Kommunikation von ihrem Mann übernahm. Die
herzliche und fürsorgliche Atmosphäre vieler Sitzungen im Hause Eggers wird dem Vorstand und
Beirat stets dankbar in Erinnerung bleiben!
Am 24. Februar 2010 ist Helmut Eggers nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Seiner Frau
sowie seinen Kindern und Enkelkindern gilt unser
herzliches Mitgefühl.
Frauke Kraas
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Ihre Königliche Hoheit gab uns die Ehre
Jürgen H. Hohnholz
Du lieber Himmel, was für eine antiquierte Überschrift zu einem Beitrag in der ThailandRundschau, den Besuch der Prinzessin Maha
Chakri Sirindhorn betreffend, die zwei Tage in
Tübingen weilte. Und doch: gerade weil sie so
wenig dem Gemeinbild einer Kronprinzessin in
ihrer natürlichen und liebenswerten Art entspricht,
wurde der Kontrast sogar von der Tübinger Presse
bemerkt und hervorgehoben.
Neben einem Empfang im malerischen Rathaus
der Stadt Tübingen und dem obligatorischen Eintrag in das Goldene Buch planten wir einen Rundgang durch die reizvolle Altstadt mit Besuch der
fürstlichen Grablege in der Stiftskirche und im historischen studentischen Karzer, in dem "gesessen"
zu haben, sich manche wissenschaftliche Koryphäe als Ehre anrechnete .
Im Anschluß an die Tagung der Nobelpreisträger
in Lindau hatte sich die Prinzessin vorgenommen,
nach 28 Jahren wieder einmal Tübingen zu besuchen und dabei gleich mit einem privaten Besuch
bei uns zu Haus in Ofterdingen - ein selbständiges
Dorf! bei Tübingen - zu verbinden. Welche hochrangige Kronprinzessin besucht schon einen einfachen Professor in einem Dorf auf dem Land, also stimmt doch die Überschrift? - Wir korrespondieren schon seit mehr als 30 Jahren miteinander,
das Fachgebiet der Geographie stellte den Kontakt
her, und ich hatte die Gelegenheit, sie schon
mehrfach in Bangkok zu besuchen.
Höhepunkt des Stadtbesuches bildete das
Schloßmuseum, in dem der Rektor der Universität
nach einem offiziellen Empfang im Fürstenzimmer
des Schlosses Ihre Königliche Hoheit persönlich
führen und ihr die ältesten Kunstwerke der
Menschheit vorstellen würde. Fernerhin stand ein
Mittagessen im Landgasthaus "Schwärzloch" auf
dem Programm, erbaut im Jahre 1085 und seit fast
200 Jahren das beliebteste Nahziel für Studenten,
Professoren und Bürger der Stadt. Eine Führung
durch das bekannte Zisterzienser-Kloster Bebenhausen und ein Abendessen im dortigen "Grünen
Saal" des Königlichen Jagdschlosses rundeten
den offiziellen Besuch IKH in Tübingen ab.
Gemeinsam mit meinem Kollegen, Herrn Prof.
Pfeffer, dem Vizepräsidenten der DTG, entwarfen
wir ein Programm für den offiziellen Besuch am
Dienstag, den 29. Juni 2010, das vorsah, jene Orte
zu betrachten, die Ihrer Königlichen Hoheit vor so
vielen Jahren entgangen waren.
Bereits 3 Wochen vor dem großen Ereignis tauchte ein Erkundungskommando der Thailändischen
Botschaft in Tübingen auf, geleitet von dem stellvertretenden Botschafter, der sich das vorgelegte
Programm von Bangkok aus hatte genehmigen
lassen, und man hakte Punkt für Punkt auf einer
Der Erkundungstrupp in Bebenhausen
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Die Prinzessin erläutert ihr nettes Kinderbuch
Liste ab: z. B. wie lang dauert die Fahrt von
Schwärzloch zum Schloß, welche Zimmer sind im
Hotel reserviert, gibt es dort einen Fahrstuhl, wie
viele Stufen müssen im Schloßmuseum und in der
Stadt bewältigt werden? Und vieles mehr, nichts
blieb dem Zufall überlassen. Die von Navigationsgeräten geleiteten Fahrer notierten sich die kritischen Punkte, kurzum, die Botschaft leistete eine
generalstabsmäßige Vorarbeit. Man suchte uns
auch in Ofterdingen auf, inspizierte Haus und Garten und war von dem Ergebnis durchaus angetan.
Der ausführliche Bericht der Botschaft an den Palast wurde dort in ein minutiöses Ablauf-Programm
umgesetzt: Der Anreisetag, der 28.06.10, war mit
dem Besuch in Ofterdingen als "privat" ausgewiesen und der 29. als "offiziell".
Und so geschah es dann auch. Ihre Königliche
Hoheit hatte den Wunsch geäußert, die Tübinger
Universitätsaugenklinik zu besuchen, um sich dort
über die modernsten Methoden von RetinaImplantationen kundig zu machen, denn hier arbeitet man daran, mit Mikrochips die Sehfähigkeit von
erblindeten Menschen wieder teilweise herzustellen. Es kann der Universitätsleitung nicht hoch
genug angerechnet werden, daß man von dort
aus, in vorbildlicher Zusammenarbeit mit der Botschaft und den Tübinger Planern, alle Wünsche
genauestens und mit erheblichem Engagement
erfüllte..
Ein Streichquartett des Tübinger Studentenorchesters
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IKH im Fachgespräch in Ofterdingen
Die Prinzessin reiste direkt von Lindau kommend
in der Augenklinik an, schon 20 Minuten vorher
erschien ein Vorkommando und vergewisserte
sich, daß alles seine gute Ordnung hatte, daß das
Empfangskomitee bereit stand und der Ort der
Präsentation funktionsbereit war.
Auf die Minute pünktlich - Pünktlichkeit ist immer
noch die Höflichkeit der Könige - rauschte die Kavalkade bei der Klinik an: Polizei mit Blaulicht vorweg, dann der Führungswagen, es folgten die
Wagen 1 bis 4 und der Wagen mit den Sicherheitsbeamten, kurzum: das war richtig eindrucksvoll und der empfangende Professor gestand hinterher, daß er in seiner langjährigen Tätigkeit an
dieser Klinik noch nie so ein Spektakel erlebt hatte.
sie sämtliche Wartenden mit Handschlag, begann
sofort ein angeregtes Gespräch mit den Fachleuten und verfolgte aufmerksam die fachliche Präsentation von Retina-Implantationen. Die vorgestellten Ergebnisse beeindruckten nicht nur IKH,
sondern auch das gesamte Gefolge, das sich aus
9 Personen des Palastes, 3 thailändischen Pressevertretern und 14 Delegierten der Thailändischen Botschaft und Konsulate zusammensetzte.
Nach einer kleinen Ruhepause im Hotel fuhr die
Prinzessin, begleitet von ihren drei engsten Mitarbeitern, nach Ofterdingen. Wie üblich, sicherten
wieder ein Vorkommando und zwei deutsche Sicherheitsbeamte die Lage, bevor die Königliche
Hoheit sehr gelöst und offensichtlich erwartungs-
Ganz im Gegensatz zu diesem Aufwand erschien
dann die Prinzessin. Freundlich lächelnd begrüßte
In Ofterdingen
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voll aus dem Wagen stieg. Nach Besichtigung des
Hauses fand der weitere Abend im engsten Familienkreis der Gastgeber und drei weiteren Thailandkennern bei angeregten Gesprächen und dem
Austausch von Erinnerungen statt. So frei und voll
ihren Scharm entfaltend kann man die Prinzessin
Maha Chakri Sirindhorn eigentlich nur im Ausland
erleben. Die Zeit verstrich wie im Flug.
Am nächsten Tag verlief der "offizielle" Teil genau
wie geplant. Die reich geschmückten Gräber der
Württembergischen Fürsten und Könige wurden
gebührend bewundert, der kuriose Karzer führte in
das vergangene Studentenleben ein, Schwärzloch
war ein voller Erfolg, man hatte sich dort größte
Mühe gegeben, und wir hatten das gesamte Ausflugslokal ganz für uns, denn eigentlich ist Dienstag Ruhetag, und selbst der auf dem Hof hinter
dem Haus auftretende Stallgeruch schockte das
Gefolge nicht. Bei Ihrer Königlichen Hoheit ist es
an Überraschungen dieser Art durchaus gewöhnt,
denn Prinzessin Sirindhorn kümmert sich, - ebenso wie die gesamte Königliche Familie, - in vorbildlicher Weise um die unterpriviligierten Bergvölker im Norden des Landes und stattet dort
regelmäßig Besuche ab.
Man hatte sich auch in Bebenhausen viel Mühe
gegeben, das ehrwürdige Zisterzienser-Kloster
führte in das Mönchsleben im späten Mittelalter ein
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und das Königliche Jagdschloß unter anderem in
die Zeit nach dem Zusammenbruch des Dritten
Reiches, als hier der erste Landtag Württembergs
residierte. Besonders erstaunt zeigte sich das
Gefolge über die äußerste Schlichtheit der Kammern der Abgeordneten. Allerdings war eine der
Kammern noch so gestaltet, wie sie zu Mönchszeiten ausgesehen haben mag, mit schlichtem Holzbett, bedeckt mit Stroh, die der Dekan der Philosophischen Fakultät der Chulalongkorn Universität
sogleich der damaligen Opposition im Landtag
zuwies.
Empfangen wurde die Prinzessin im Kloster und
Schloß von einem Streichquartett des Tübinger
Studentenorchesters, das die "Prinzessinnenhymne" spielte, unvergeßlich, wie sich eine Dame des
Gefolges schamhaft eine Träne der Rührung aus
den Augen wischte. Beim Abendessen im Grünen
Saal des Schlosses, das von der Konsulin Thailands in Stuttgart ausgerichtet wurde, spielte das
Quartett, die bekanntesten Volkslieder Deutschlands und trug so erheblich zum festlichen Charakter des Abends bei. Man kann wohl mit Recht feststellen, daß der Besuch Ihrer Königlichen Hoheit,
Prinzessin Maha Chakri Sirindhorn in Tübingen für
sie und alle Beteiligten ein voller Erfolg wurde.
© Christoph Mischke,
BLICK Redaktion, Göttingen
© Christoph Mischke,
BLICK Redaktion, Göttingen
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Göttingen, BLICK
Abdruck des Artikels und der vorstehenden beiden Bilder nach freundlicher
Genehmigung von Christoph Mischke, BLICK Redaktion
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Reutlinger
General-Anzeiger
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Reutlinger
General-Anzeiger
Reutlinger
General-Anzeiger
Abdruck der vorstehenden drei Artikel mit freundlicher Genehmigung des
Reutlinger General-Anzeigers
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100 Jahre Carl Werner Drewes
Arnd D. Kumerloeve
Das Stipendienprogramm der DTG ist somit nur
eine der – wenn auch für uns besonders wesentlichen – Konsequenzen dieses überzeugten und
beispielhaften Handelns. Seit 1982 gibt das Programm jungen Menschen aus Thailand, die
Deutsch im Haupt- oder Nebenfach studieren, die
Gelegenheit, Deutschland kennenzulernen. Am
Anfang besuchen sie einen vierwöchigen Intensivkurs an einem hiesigen Goethe-Institut und vertiefen dann anschließend als Praktikanten in zwei
Monaten ihre jeweiligen beruflichen Kenntnisse.
Es soll dieses oft behandelte DTG-Programm hier
nicht weiter vertieft werden (vgl. www.dtg.eu).
Stellen wir uns die Deutsch-Thailändische Gesellschaft (DTG) als einen Tisch vor, rechteckig im
klassischen Stil mit vier Beinen, vier Pfeilern. Jede
Organisation wird von Menschen getragen und
ausgehend von diesem Bild sind es vier Personen,
die als die wichtigsten Eckpunkte für das Leben
der DTG gelten können: Hellmut Girardet, Gerta
Tzschaschel, Carl Werner Drewes und Hans
Christian Lankes. Es gibt eine Reihe weiterer wichtiger Namen, die in fast 50 Jahren eine große Rolle gespielt haben (und sie werden zu gegebener
Zeit an anderer Stelle gewürdigt), aber diese vier
Personen haben sich in ganz besonderem Maße
in die Arbeit der DTG „eingebrannt“.
Hier und jetzt gilt es, an Carl Werner Drewes zu
erinnern und ihn zu ehren. Er wurde am 19. November 2010 vor 100 Jahren geboren und verstarb
am 14. August 1987 in Österreich. Er war Thailand
in ganz außerordentlicher Weise verbunden und
hat gegen Ende seines Lebens mehr und mehr
Aktivitäten dem Ziel gewidmet, eine feste und krisensichere Grundlage der deutsch-thailändischen
Beziehungen zu schaffen, womit er genau das
getan hat, was auch die DTG in ihrer Arbeit zu
erreichen versucht. Es hat ihn der Gedanke geleitet, daß er seine Erfolge mit anderen teilen müsse
- „Ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt. Das Geld, das ich in Thailand erworben habe, soll auch in Thailand bleiben“. Bildung war für
ihn – wohl begründet - der wichtigste Ansatzpunkt
und so ermöglichte er durch seine Spenden das
Stipendienwerk der DTG und hat aus diesem Gefühl heraus bei vielfältigen anderen Anlässen im
Sinne des erwähnten Ziels gewirkt und gespendet.
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Carl Werner Drewes gehörte zu jenem Kreis von
Geschäftsleuten, die schon vor dem 2. Weltkrieg
enge Beziehungen zu Thailand aufgebaut haben.
Im Alter von 26 Jahren verlegte er seinen Wohnsitz von Hamburg nach Bangkok, arbeitete kaufmännisch für verschiedene Firmen, u.a. für Agfa
und wurde schließlich führender Gesellschafter der
Fa. „Kosmos Ltd. Part.“, die er später in „Eurothai
Industrial Supply Co., Ltd.“ umbenannte und die
sich in erster Linie auf den Einkauf und Vertrieb
von Hopfen, Malz sowie Brauereimaschinen und
entsprechendem Zubehör spezialisierte (Kooperation mit Singha-Bier, Boon Rawd Brewery). So
wurde er im Laufe der Zeit auch zu einem der
wichtigen Mitglieder der Deutsch-Thailändischen
Handelskammer (GTCC) und damit der BusinessCommunity von Bangkok. Er lebte insgesamt mehr
als 50 Jahre in Thailand und war unter den deutschen Geschäftsleuten zum Schluß einer der legendären „Old-Timer“. Seine Verbundenheit mit
Thailand – man kann es gar nicht oft genug sagen
– war enorm und so verwundert es nicht, daß er
nach seinem Tode in einer großen Würdigung der
‚Bangkok Post‘ als „Adopted Son of Thailand“ bezeichnet worden ist. Ein großartigeres Kompliment
einer wichtigen Zeitung des Gastlandes ist kaum
vorstellbar.
Alle, die mit ihm zu tun hatten, schildern Carl Werner Drewes als einen sehr liebenswürdigen und
geistreichen Gastgeber und Gesprächspartner. Im
Kreise seiner „Peers“ in Bangkok war er berühmt
für seine Fertigkeiten im Schach und im Skat – aus
diesem Umfeld gibt es eine ganze Reihe von köstlichen Anekdoten. Auch eine fundierte Bildung hat
ihn ausgezeichnet – es wird berichtet, daß er z.B.
ohne Unterbrechung lange Texte von Goethe oder
Gedichte von Christian Morgenstern zitieren konnte. Thailand war für ihn nie nur ein geschäftlicher
oder gesellschaftlicher Standort, sondern er liebte
das Land, seine Menschen und ihr Wesen. Mit viel
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Gespür und Behutsamkeit hat er hanseatische
Werte mit asiatischen Verhaltensweisen verbunden. Unterhält man sich mit Menschen, die ihn
gekannt haben, so sieht man in ihm eine seltene
Mischung aus Gelassenheit und Souveränität, aus
Würde und Ironie. Nachdem 1982 seine erste Frau
Clara in Bangkok verstorben war, heiratete er
1984 erneut und lebte dann bis zu seinem Tode
abwechselnd in Bangkok und Wien mit seiner
zweiten Frau Edeltraud E. Drewes-Strieve. Sie
besuchte die DTG anläßlich der Mitgliederversammlung 1999 und erzählte einiges aus dem
gemeinsamen Leben. Im Jahre 2008 ist sie in
Wien verstorben.
Carl Werner Drewes blieb der Arbeit der DTG bis
zu seinem Tode verbunden, ohne sich jedoch jemals in die Durchführung des Programms einzumischen. Überzeugend und souverän wie hier war
er es auch in seiner sonstigen Spendenbereitschaft. So ließ er 1983 anläßlich der Internationalen Gartenbauausstellung in München im Westpark eine neun Meter hohe Thai-Sala aufstellen, in
der u.a. bis heute regelmäßig das SongkranNeujahrsfest gefeiert wird. So spendete er mehrere Millionen für die Renovierung des Turms von St.
Michaelis, dem Wahrzeichen seiner Heimatstadt
Hamburg. Und ganz in dieser Tradition eines Mäzenatentums finanzierte er ein Grundstück für die
Thai-Deutsche Kulturstiftung an der Kreuzung Sri
Ayuthaya/Piyathai in Bangkok und ließ dort ein
Haus für die Stiftung und das Goethe-Institut restaurieren. Heute steht an diesem Ort seine Büste
gemeinsam mit einer Erinnerungstafel an den Beginn der Bauarbeiten 1986. Bundeskanzler Helmut
Kohl war zu jener Zeit vor Ort und sagte u.a. in
einer Rede: „Im Leben der Völker sind die kulturellen Beziehungen …. von größter Bedeutung. Deshalb ist dieser Tag auch für uns ein guter Tag, der
ohne die großartige und uneigennützige Geste von
Ihnen, Herr Drewes und Ihrer Gattin überhaupt
nicht möglich gewesen wäre. Ich möchte dafür
unseren herzlichen Dank aussprechen.“ So wie
Carl Werner Drewes in Thailand vielfach geehrte
wurde, versteht es sich vor diesem Hintergrund
fast von selbst, daß ihm in Deutschland das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen worden
ist. Anläßlich seines hundertsten Geburtstages
denkt die Deutsch-Thailändische Gesellschaft
voller Dankbarkeit an ihn.
Bangkok – Blick über die heterogene Megastadt
Zum Titelbild der aktuellen Thailand-Rundschau
Der Blick von einem Hotel an der Yaowarat Road nach Nordosten zeigt eine faszinierende
Aussicht auf Bangkok: Im Vordergrund, vor allem auf der linken (nördlichen) Seite bis weit
über die Bildmitte hinaus sind an den markanten gelben und roten Staffeldächern zahlreiche
Kloster- und Tempelgebäude erkennbar - Zeugen aus der Zeit der Entstehungsgeschichte
Bangkoks, als die Kloster- und Tempelanlagen, damals zumeist noch am Rand der damaligen
Bebauung gelegen, einen großen Teil der Fläche der thailändischen Hauptstadt einnahmen.
Im Zuge der Stadtausdehnung, vor allem in der 1960er und 1970er Jahren, wurden die vormaligen ein- und zweistöckigen Wohngebäuden und Shophouses dann durch mehrstöckige
Häuser ersetzt. Diese bauliche Nachverdichtung erfolgte in sehr unterschiedlicher Weise, mit
verschiedenartigsten Baustilen, -materialien, -höhen, durch individuelle Bauherren oder Investorengemeinschaften: Ein sehr heterogenes Bebauungsmosaik entstand. Seit der 1980er Jahren und vor allem seit dem Einsetzen des enormen Wirtschaftsbooms 1987/88 erfolgte dann
eine weitere Nachverdichtung durch erneut höhere, moderne Wohn- und Bürohochhäuser
(linke Bildmitte und außen-rechter Bildvordergrund) bzw. eine völlig neue Hochhausbebauung
im großen Stil (Bildhintergrund), weitflächig im Bereich zwischen Rama IV- und Petchaburi
Road sowie um die Sukhumvit Road und den Makkasan-Bahnhof. Rechts neben dem höchsten Gebäude, dem Baiyoke II-Tower, sieht man, verdeckt hinter einem schwarzen Baukörper,
die Spitze des Baiyoke I-Tower, der 1988 das seinerzeit höchste Gebäude Thailands war.
Seither wurden mehr als 250 Hochhäuser ähnlicher Höhe gebaut. Insgesamt entstanden in
Bangkok seit 1988 mehr als doppelt soviel Büro- und Wohnfläche wie in der ganzen 200jährigen Geschichte Bangkoks vor 1988. Dieser Bauboom war zugleich Anlass und Beschleunigungsfaktor der sog. Asienkrise von 1997 sowie Motor der zunehmend globalisierten
Entwicklung der thailändischen Hauptstadt. Bangkok ist über die Hauptstadt hinaus heute eine der führenden Megastädte im Großraum Südostasiens, wichtiges Infrastruktur-Drehkreuz
in Asien, Knotenpunkt wirtschaftlichen Wachstums – und zweifellos Motor auch der gesellschaftlichen wie politischen Entwicklungen des gesamten Königreichs.
Frauke Kraas
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Bangkok: Megastadt auf dem Weg in die Postmoderne
Frauke Kraas
Die thailändische Hauptstadt Bangkok ist seit
Jahrzehnten die Megastadt mit dem weltweit ausgeprägtesten Primatstadtcharakter: In der Provinz
(Changwat) Bangkok lebte 2007 mit offiziell ca.
5,72 Mill. Einwohnern (NSO 2008), realistischen
Schätzungen zufolge mehr als 8 Mill. Menschen,
knapp ein Zehntel der Landesbevölkerung; für
2010 wird die Zahl auf 6,98 Mio. Einwohner geschätzt (UN 2010: 44). Im gesamten megaurbanen
Großraum Bangkok (Bangkok Metropolitan Region, d.h. in der Provinz Bangkok, Samut Prakan,
Nonthaburi, Pathum Thani, Nakhon Pathom und
Samut Sakhon) konzentrieren sich mehr als 10,07
Mio. Menschen (2007; NSO 2008). Alle höherrangigen politischen, wirtschaftlichen, administrativen
und zivilgesellschaftlichen Institutionen sowie der
weitaus größte Teil der Industrieunternehmen befinden sich im Großraum Bangkok (Bronger/Strelow 1996, Kraas 1996, McGee 1995). Weitere
regional bedeutsame Städte, darunter Chiang Mai,
Khon Kaen, Hat Yai, Chon Buri, Nakhon Sri
Thammarat, treten an Größe und Bedeutung demgegenüber erheblich zurück.
Wie sensibel die Megastadt als Gesamtsystem auf
wirtschaftliche Veränderungen reagierte, zeigte
sich sowohl im Wirtschaftsboom seit 1987/88 als
auch 1997/98 während der sog. „Asienkrise“: Die
sozioökonomischen Auswirkungen des enormen
wirtschaftlichen Wachstums konzentrierten sich
räumlich fast ausnahmslos auf den Ballungsraum
Bangkok. Innerhalb des vor den 1980er Jahren
bereits bebauten Stadtgebietes setzte ein rasanter
Neubau von Büro- und Wohngebäuden ein und
innerhalb des äußeren "Wachstumsgürtels" fand
eine großflächige Ausweitung der Bebauung in die
fruchtbare Schwemmlandebene des Maenam
Chao Phraya statt, während die übrigen Provinzen
Thailands fast nur in Tourismuszentren am
Wachstum teilhaben konnten. Aber auch die Konsequenzen der „Asienkrise“ wurden überwiegend
im Großraum Bangkok beobachtet: Die mit Abstand meisten Unternehmensschließungen und
Entlassungen von Arbeitskräften erfolgten hier,
unzählige Bauvorhaben wurden eingestellt, und
massive Leerstände im Büro- und Wohnungssektor konzentrierten sich auf Bangkok.
Bangkoks Modernisierung seit 1987/88
Fasst man die Entwicklung des Großraums Bangkok seit Einsetzen des Wirtschaftsbooms 1987/88
zusammen, so sind vor allem folgende Charakteristika hervorzuheben: Zweifellos erfuhr die
Abb. 1: Heterogene Bausubstanz und -alter südlich der Altstadt
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Abb. 2: Kontrast zwischen Tradition und Moderne am
World Trade Center
thailändische Hauptstadt im Zuge des rasanten
Wirtschafts- und Infrastrukturwachstums durch
Kapital-, Wissens- und Bevölkerungszustrom eine
ungeheure Reorganisation und Modernisierung
(Abb. 1). Aus der thailändischen Metropole wurde
eine international wettbewerbsfähige Megastadt,
deren Bedeutung und Reichweite innerhalb Südostasiens enorm gewachsen ist. Seit 1987/88 verdoppelte sich nicht nur die Zahl der Wohneinheiten
und es verbreiterte sich die gesamte industrielle
Produktion, sondern es veränderten sich massiv
mit diversifizierter Einkommens- und Bildungssituation auch die städtischen Lebensstile: Internationalisierung von Handel und Konsum (Abb. 2), globales Freizeit- und Erholungsverhalten sind
ebenso anzutreffen wie moderne Architektur und
eine reiche Kunstszene.
THAILAND-RUNDSCHAU
Dabei verlief die Stadtentwicklung in den letzten
zwei Jahrzehnten weitgehend ohne steuernde
Lenkung. Obwohl seit Ende der 1950er
Jahre von mehreren thailändischen Behörden, zumeist im Rahmen ausländisch
unterstützter Entwicklungszusammenarbeit konkrete Pläne und Zonierungsvorschläge zur Steuerung der Entwicklung
ausgearbeitet waren, wurde kein Plan je
offiziell als verbindlich beschlossen oder
umgesetzt. Zur schwachen ordnungspolitischen Steuerung trugen eine sehr hierarchische, überwiegend personengebundene Entscheidungsfindung (ausgeprägte Patron-Klient-Beziehungen), ein
stark zersplitterter Verwaltungsapparat
ohne klare Aufgabenverteilung und mangelnde Kooperation der behördlichen
Abteilungen sowie eine erhebliche Zunahme privatwirtschaftlicher Investoren
aus dem In- und Ausland bei. Die räumliche Ausdehnung des Stadtgebietes erfolgt seit
Anfang der 1980er Jahre vor allem entlang von
Verkehrsachsen in die südöstlichen und nördlichen
Nachbarprovinzen.
Abb. 4: Verkehrsstau auf dem Autobahnring um
Bangkok
Abb. 3: Sozio-ökonomische Disparitäten auf engstem
Raum am Westufer des Maenam Chao Phraya
Mangelnde Reglementierung sowie Bodenspekulation ohne Erschließung oder
geschlossene Bebauung von Flächen
führten dazu, dass ein ungeregeltes Nutzungsmosaik entstand, d.h. ein unmittelbares Nebeneinander unterschiedlichster
Flächennutzungen und mit großen baulichen Gegensätzen (Abb. 3): Landwirtschaftlich genutzte Flächen liegen somit
heute direkt benachbart zu industrieller
Produktion, Freizeitparks und Wohngebieten, oft in sehr kleinräumiger Vermischung, so dass Flächennutzungskonflikte nahezu „vorprogrammiert“ sind.
Zu den größten Problemen Bangkoks
zählen trotz Modernisierungsprozessen
auch weiterhin unterschiedlichste Überlastungserscheinungen: Verkehrsstaus
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THAILAND-RUNDSCHAU
Abb. 5: Sukhumvit Road: Verkehrsträger auf zwei
„Stockwerken“
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und Nahrungsmittel) sowie die Art der Nutzung
von Raum und Zeit. Die neuen Sozialschichten
prägen und tragen, bestimmen und finanzieren das moderne Bangkok. Aber erhebliche, wachsende sozio-ökonomische Disparitäten und soziale Polarisierung sind
nicht nur innerhalb Bangkoks sowie vor
allem zwischen den ländlichen Peripherien
und der Hauptstadt zu beobachten – wie in
den politischen Auseinandersetzungen
unübersehbar wirksam ist, die letztlich
auch aus zunehmender Ungleichheit zwischen städtischen Eliten und der ländlichen Bevölkerung erwachsen.
Vor dem Hintergrund der jüngsten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen
im Großraum Bangkok, die teilweise
durchaus an vergleichbare Entwicklungen
in anderen Megastädten der Industrie- und
Schwellenländer erinnern (Kraas 2004,
2007), stellt sich die Frage, ob Bangkok
sich nicht bereits auf dem Weg zu einer
postmodernen Stadtentwicklung befindet?
Mit dieser Frage verbinden sich die Entscheidungen, in welcher Weise die für die
weitere Entwicklung der thailändischen
Hauptstadt verantwortlichen Akteure ihre
raumentwicklungspolitischen Präferenzen
ausrichten könnten. Auch lassen sich gewisse Zukunftsvisionen und -szenarien
ableiten.
Bangkoks Übergang zur Postmoderne?
(Abb. 4), hohe Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung, Abwasser- und Abfallentsorgungsprobleme, Landabsenkungen durch starke Grundwasserentnahme und Hochhausbebauung sowie
erhebliche Verkehrsstaus, selbst wenn sich durch
den Bau von modernen Massenverkehrssystemen
die Situation etwas entspannt hat (Abb. 5). In den
letzten 20 Jahren verschärften sich zudem die
Unterschiede zwischen den Lebenswelten: Zur
angestammten Bevölkerung traten durch Zuwanderung neue Bevölkerungsgruppen aus den ländlichen Provinzen, neue ethnische und sprachliche
Minderheiten sowie neue Sozial-, Einkommensund Verhaltensgruppen mit eigenen Lebensstilen
und –präferenzen hinzu (Askew 1994, 2002, Sopon 1992).
Mit steigendem wirtschaftlichem Wohlstand verändern sich besonders für die Mittel- und Oberschichten die Ansprüche an die Wohnfläche, den
Ressourcenverbrauch (vor allem: Wasser, Energie
96
Der US-amerikanische Geograph Edward
Soja stellte in einer visionären Monographie zur Theorie postmoderner Urbanisierung (2000) sechs charakteristische Prozesse heraus, die symptomatisch für eine
postmoderne Stadt sind. Sinngemäß sind
dies: (1) der Umbau vormals fordistisch geprägter
Produktion zu flexiblen Produktionssystemen, (2)
der Umbau einer Stadt zu einer sog. „global city“,
(3) die Errichtung urbaner Großinfrastrukturen, (4)
die Zunahme städtischer Polarisierung und sozialer Segregation, (5) die Sicherung der Ordnung in
der Stadt durch private Sicherheitssysteme und (6)
ein Bruch mit ursprünglichen Vorstellungen über
das „Urbane“. Für Soja dient die global ausgerichtete Megastadt Los Angeles als Paradebeispiel
insofern, als hier die vom Konsum geprägte und
von ihm abhängige Stadt mit künstlichen Konsumund Freizeitwelten und ausgeprägter Konsumarchitektur sehr augenfällig zutage tritt.
Gemessen an den genannten Kennzeichen befindet sich auch Bangkok auf dem Weg in die Postmoderne:
1. Teile der thailändischen Wirtschaft beginnen
sich seit wenigen Jahren jenseits der dominierenden, arbeitsintensiven industriellen Pro-
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THAILAND-RUNDSCHAU
duktion – die von hohen
Beschäftigtenzahlen mit oft Abb. 6: Neue Großinfrastrukturen sollen die Verkehrsüberlastung in
Bangkok lindern helfen
nur
geringem
Ausbildungsgrad und Massenproduktion gekennzeichnet
ist - einer dienstleistungsorientierten Produktion zuzuwenden, bei der höhere
Bildung, Forschungs- und
Entwicklungsinvestitionen
sowie Konsum- wie Telekommunikationsorientierung gefragt sind (Schiller/Mildahn/ Revilla Diez
2009). So hat sich beispielsweise ein humankapitalintensiver
Sektor
der Automobil- und Elektronikindustrie
etabliert;
aber auch hochqualitative
Design- und Kosmetikprodukte, erzeugt in flexibler
Marktanpassung,
erreichen inzwischen international wettbewerbsfähiges
großregional bedeutsame Institutionen. GleichNiveau.
zeitig sind zunehmende Polarisierungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt erkennbar.
2. In Bangkok haben sich inzwischen, wenn auch
bisher erst wenige Funktionen einer großregio3. Deutlich tritt in Bangkok seit einigen Jahren ein
nal, weniger bisher auch global bedeutsamen
erheblicher Umbau der städtischen Gliederung
Stadt angesiedelt. Zu diesen gehören etwa inhervor: Nicht mehr ein einziger Kern bildet das
ternationale Finanz- und Versicherungsunterwirtschaftliche Zentrum (etwa die Altstadt oder
nehmen, wenige „Kommandozentralen“ internaein „central business district“), sondern mehrere
tional operierender Unternehmen, das Konwirtschaftliche Zentren entwickelten sich - etwa
gresszentrum, der internationale Flughafen oder
die Bereiche um Central, Sukhumvit, Silom oder
Sathorn. Große Infrastrukturneubauten, wie
Abb. 7: Heterogenes Landnutzungsmosaik im "urban fringe" von Bangkok:
der neue Flughafen SuLandwirtschaft und Brachflächen in direkter Nachbarschaft zu dichter Wohnbebauung und Industrieunternehmen
vannabhumi, neue Autobahnkreuze oder Hafenneubauten
wurden
errichtet (Abb. 6). Moderne, großflächige - innenstädtische wie suburbane - Wohnquartiere
wurden gebaut, die oft
quasi wie Satellitenstädte mit einem hohen
Grad an wirtschaftlicher
und
organisatorischer
Unabhängigkeit ausgestattet sind, d.h. mit eigenen Einkaufszentren,
Schulen, Krankenhäusern oder Freizeit- und
Erlebniswelten. Großprojekte, wie etwa Muang Thong Thani, belegen die eingeschränkte
Handlungsfähigkeit des
Staates
bzw.
einer
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THAILAND-RUNDSCHAU
3 / 2 0 1 0
bachten, so etwa durch kontrollierten bzw. kontrollierbaren Zugang zu Wohngebieten, Einkaufszentren und Freizeiteinrichtungen. Auch
eine Kontrolle von zumindest Teilen der Stadt
durch private Sicherheitssysteme ist zu finden –
wie etwa in sog. „gated communities“ (Abb. 8)
und Apartmenthochhäusern, z.B. entlang der
Sukhumvit Road oder großflächigen Wohnkomplexen entlang der Ausfallachsen zum Eastern
Seaboard. Was speziell das Merkmal der Konsum- und Freizeiteinrichtungen angeht, so ist
Bangkok ungewöhnlich gut ausgestattet: Das
Einkaufszentrum Central World z.B. ist mit mehr
als 550.000 m2 der derzeit größte „lifestyle
shopping complex“ in Südostasien, in dem über
500 Geschäfte, mehr als 50 Restaurants und 20
Kinos sowie zwei Department Stores, zudem in
Verbindung mit dem Bangkok Convention Centre und dem World Hotel Bangkok zu finden sind.
Weitere große Komplexe, wie das Siam Paragon oder das Mah Boon Krong Shopping Centre, The Emporium, Siam Centre oder Amarin
Plaza, belegen die mehrkernige Struktur der
Konsumzentren in der Stadt.
Stadtverwaltung und sind Elemente postmoderner Fragmentierung der Städte in multizentrische Strukturen und unabhängige Siedlungsbereiche („Heteropolis“).
Wenn auch in Bangkok sog. „gated communities“, d.h. bewachte und nur für autorisierte Bevölkerungsgruppen zugängliche Wohngebiete,
bisher im Vergleich zu anderen Weltregionen
(etwa Nord- und Südamerika) noch wenig anzutreffen sind, und auch „High-tech“-Korridore, wie
z.B. Silicon Valley/USA, Orange County/USA
oder Cyberjaya/Malaysia, bisher nicht errichtet
wurden, so wird doch deutlich, wie sehr eine
„Verinselung“ der Stadtstruktur in völlig unterschiedliche Nutzungen auch in Bangkok längst
eingesetzt hat (Abb. 7). Hierzu zählt auch die
Zunahme städtischer Polarisierung zwischen
Teilräumen und Angehörigen unterschiedlicher
Einkommens-, Bildungs- und Lebensstilgruppen
sowie Bevölkerungsgruppen unterschiedlichster
Herkunft, Machtbefugnisse und Integrationschancen. Gerade die unteren Einkommensgruppen werden hierdurch – allen Aufwertungsund sozialen Hilfsprojekten zum Trotz – letztlich
zunehmend marginalisiert, selbst wenn es Beispiele gelungener Vorgehensweise gibt, die von
gewisser Teilhabe am Wirtschaftswachstum
zeugen mögen.
4. Zumindest teilweise ist auch in Bangkok bereits
eine Privatisierung öffentlichen Raumes zu beoAbb.8:
98
5. Am wenigsten greifbar ist in Bangkok noch der
Bruch mit gängigen Vorstellungen über die Aufgaben und Funktionen sowie den Verständnis
von „Urbanität“: Während diese im „traditionellen“ Sinne die Stadt als einen Inbegriff wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Entfaltung
und Freiheit verstand („Stadtluft macht frei“), so
Postmoderne Luxusvillen in einer "gated community"
THAILAND-RUNDSCHAU
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beginnen sich aktuelle städtische
Wirklichkeiten inzwischen von
diesem
eher
„europäischbürgerlichen“ Konzept zu entfernen. Der zunehmende Verlust an
Ursprünglichkeit, Authentizität und
urbanem, historischem Kulturerbe
(Tiamsoon 2009; Abb. 9), mangelhafter Fähigkeit zu sozialem
Ausgleich, nachlassende Integrationsfähigkeit und nachlassende
Steuerbarkeit städtischer Entwicklung führen dazu, dass über
„Stadt“ als komplexes Gefüge neu
nachgedacht werden muss. Für
Bangkok bedeutet dies durchaus
konkret, dass sich die für die weitere städtische Entwicklung verantwortlichen Akteure – von Verwaltung, Wissenschaftlern und
Planern über die Entscheidungsträger der Privatwirtschaft bis hin
zu Aktiven in zivilgesellschaftlichen Gruppen (Nicht-Regierungsorganisationen
wie Nachbarschaften) - in Querschnittsgremien
über die unterschiedlichen Vorstellungen über die zukünftige
Entwicklung Bangkoks verständigen müssten.
Abb. 9: Urbanes Erbe im Schatten postmoderner Bauentwicklun-
gen am Maenam Chao Phraya
Entwicklung von
Visionen?
Inwiefern lassen sich aus den vorausgegangenen Gedanken und Beobachtungen Anregungen für die
zukünftige Entwicklung der thailändischen Hauptstadt ableiten und – in
gewissem Maße – Zukunftsvisionen
formulieren?
Zunächst muss gesagt werden, dass
es sich bei der Bezeichnung, dem Konzept und
der Theorie einer „postmodernen Stadtentwicklung“ nicht um eine zwangsläufig „gegebene“ Wirklichkeit, auch nicht eine in sich schlüssige Theorieofferte handelt. Auch kann gefragt werden, ob
es sich nicht eher um eine Konstruktion von Wirklichkeit und eine (zumindest fragwürdige) Übertragung von Beobachtungen in Nordamerika auf
Bangkok handelt?
Bei aller möglichen Zurückhaltung der Konzeption
und Vorsicht einer Übertragbarkeit gegenüber ist
jedoch anzuerkennen, dass sich in Bangkok seit
einigen Jahren in erheblichem Maße Entwicklungen beobachten lassen, die sich auch in anderen
Megastädten der Welt finden. Entsprechend sollte
– wie bei anderen Megastädten weltweit auch –
über einige für die zukünftige Entwicklung Bang-
koks wesentliche Rahmenbedingungen nachgedacht werden:
1. Mehr als früher sind Städte und Megastädte
das Ergebnis von Entscheidungen und Handlungen vielzähliger Akteure – Individuen,
Gruppen, Interessensgemeinschaften, strategischen Allianzen, Parteien etc. Und so wäre
es auch für Bangkok sinnvoll, dass überinstitutionell legitimierte Vertreter aus den Bereichen
von Verwaltung, Planung, Aristokratie, Militär,
Sangha, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft
in einen Dialog über Rolle und Entwicklungsrichtung der thailändischen Hauptstadt im internationalen und nationalen Rahmen eintreten würden – als ein räumlich fokussierter Teil
der längst die gesamte thailändische Gesellschaft betreffenden Diskussion. Dies würde
einem (post)modernen, multiperspektivischen
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THAILAND-RUNDSCHAU
Verständnis von Stadtentwicklung entsprechen
– auch wenn es zumindest für Bangkok ein
neuer, unkonventioneller Weg des Austausches von Vorstellungen und Interessen wäre.
In Zukunft kann es weder allein um die Stärkung reglementierenden Eingreifens von Verwaltungen und Regierungen „von oben“ noch
allein um Strategien der Befähigung und
Machtverstärkung („enabling“ und „empowerment“) bereits bestehender Formen der
Selbstorganisation und Selbststeuerung „von
unten“ gehen, wie sie z.B. als private-publicpartnerships,
Nachbarschaftsverbindungen
und community-based networks (squatters
movements, women´s refuges etc.) auch in
Bangkok existieren. Vielmehr sind komplexe,
übergreifende Ansätze zu entwickeln, die vor
allem auf die Abwendung sozialer Verwundbarkeit, die Entwicklung und Stärkung sozial
angepasster Steuerungsformen und die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen zielen. Das aus europäischer Sicht nahe
liegende Ziel, neben offiziellen Verwaltungen
eine breite und ausreichende Partizipation
demokratisch legitimierter Akteure sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen zu sichern,
wird aber angesichts stark hierarchisch strukturierter und handelnder Administration und
Steuerung voraussichtlich auf absehbare Zeit
noch ein nur in geringem Masse realistischer
Wunsch bleiben.
2. Ebenfalls für Bangkok neu wäre es, wenn Entwicklungsvisionen aus einer Balance von „Innen-„ und „Außensicht“ heraus entwickelt würden, d.h. wenn Bedürfnisse der städtischen
Bevölkerung – unter Einbeziehung der Mittelebenso wie der Unterschichten – ebenso einfließen würden wie Kenntnisse über die notwendige Ausstattung einer wettbewerbsfähigen
globalen Metropole. Hierzu zählen Mindeststandards an Lebensqualität ebenso wie ein gewisses Maß an Authentizität der Stadtentwicklung,
Kultur- und Kunstszene sowie Konsum- und
Freizeitangebote.
3. Voraussichtlich werden sich bei Zukunftsvisionen absehbar tradierte, unterschiedliche Grundvorstellungen der Landesentwicklung an der
zentralen Frage scheiden, ob man (a) vorrangig
die Hauptstadt stärken soll, damit Thailand international wettbewerbsfähiger wird, und zugleich dann für einen regionalen Ausgleich zwischen den Provinzen sorgen soll, oder ob man
(b) vorrangig eine Dezentralisierungsstrategie
wählt, bei der Finanzmittel und Entscheidungs-
3 / 2 0 1 0
befugnisse gezielt von der Hauptstadt weggeleitet werden, damit die peripheren Landesteile eine verstärkte direkte Chance auf Teilhabe an
den sozioökonomischen Entwicklungen Thailands erhalten.
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Abb. 1-9: © Frauke Kraas
Prof. Dr. Frauke Kraas arbeitet als Stadt- und Sozialgeographin an der Universität zu Köln. Seit 1989 engagiert sie sich für die Deutsch-Thailändische Gesellschaft, 1991-1993 im Beirat, seit 1993 Mitglied des Vorstands, von 1997 bis 2009 als Vizepräsidentin, seit 2009 als Präsidentin.
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»Essen wie die Tiger«
Die Regionalküche des Isaan und die Politik der Ernährung in Thailand
Marin Trenk
In kulinarischer Hinsicht durchzieht
Thailand eine Linie, die die südliche
Landeshälfte, also Bangkok und die
Zentralprovinz sowie den eigentlichen
Süden, vom Norden und Nordosten
scheidet. In den beiden südlichen
Regionalküchen ist Reis das Grundnahrungsmittel,
Fischsauce
(nam
plaa) ist als Gewürz unverzichtbar,
und viele Gerichte werden mit Kokosmilch zubereitet. In den beiden nördlichen Regionalküchen dagegen bildet
„Klebreis“ die Grundlage jeder Mahlzeit, es wird mit plaaraa, einer Variante der Fischsauce gekocht, und Kokosmilch findet außer bei der
Zubereitung von Süßspeisen keine
Verwendung. Außerdem wird im Norden rohes Fleisch geschätzt, während
es in den anderen Landesteilen verpönt ist. Ein Aspekt steht quer zu dieser kulinarischen Nord-Süd-Teilung:
Während man die chilibegeisterte thailändische
Küche insgesamt als scharf bezeichnen kann, tun
sich zwei Regionen durch besondere Schärfe hervor: der Süden und der Isaan. Demgegenüber tut
sich die Küche Bangkoks und der Zentralprovinz
durch einen verschwenderischen Umgang mit
Zucker hervor, der vor fast keinem Gericht mehr
halt macht. Dieser Trend erfasst allerdings zunehmend ganz Thailand.
Wenn ein Reisender am Busbahnhof von Chiang
Rai, im äußersten Norden Thailands, oder in Krabi,
tief im Süden, ankommt, kann er seinen Hunger an
Essensständen stillen, die typische zentralthailändische Speisen anbieten. An beiden Orten findet
er auch Garküchen des Isaan vor. Gerichte des
Nordens und Südens dagegen findet man außerhalb ihrer Heimatregionen nur gelegentlich. Auf die
zentralthailändische und isaanische Küche dagegen stößt man in allen Landesteilen. Bei diesen
beiden expansiven Küchen haben wir es freilich
mit zwei sehr unterschiedlichen Phänomenen zu
tun. Dass einige Speisen aus der Küche des politischen Zentrums des Landes im gesamten Königreich geschätzt werden, ist nicht verwunderlich.
Erstaunlich ist die Verbreitung der Küche des Isaan, Thailands marginalisiertem Nordosten (zu
dessen Geschichte siehe Grabowsky 1995).
Viele Thai sehen im Nordosten eine rückständige
Provinz, und das bäuerliche Essen des Isaan galt
besonders in Bangkok lange Zeit als ungenießbar.
Trotzdem hat sich ahaan Isaan, die regionale Ess-
kultur, über ganz Thailand verbreitet. In jüngster
Zeit konnten sich Isaan-Restaurants sogar am
Siam Square in Bangkok etablieren, dem kommerziellen Herz der Mega-Metropole. Wie konnte es
soweit kommen?
Die „extreme Cuisine“ des Isaan
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts notierte der
Bischof Pallegoix (1976: 16), dass sich die Ernährung der „Lao“ von jener der Thai unterscheide.
Das Grundnahrungsmittel der Lao, wie man damals neben den heutigen Laoten auch die Bewohner des Isaan sowie ganz Nordthailands nannte,
sei Klebreis und ihr Lieblingsessen fermentierter
Fisch; mit Chili vermischt, verstünden sie daraus
eine Sauce zu bereiten, die sie zu ihrem Reis essen würden. Daneben schätzten sie den Genuss
von Schlange, Eidechse, Frosch und Ratte so
sehr, dass sie sich damit begnügten, diese Tiere
einfach auf den Grill zu legen. Der Franzose hat
mit dieser knappen Bemerkung zwei wesentliche
Aspekte der Isaan-Küche benannt und bereits
deren Neigung zur „extreme cuisine“ erkannt (vgl.
Hopkins 2004).
Seither wurde zur lokalen Esskultur wenig geschrieben und noch weniger geforscht. Besucher
aus dem Westen, farang, die es als Entwicklungshelfer (Comeaux 2002: 135-142) oder, in steigender Zahl, als Ehemänner in den Isaan verschlagen
hat, delektieren sich gerne an den vermeintlich
abstoßenden Facetten der Esskultur vor Ort. Der
Wahl-Isaaner Ruffert etwa meint, dass einem nach
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THAILAND-RUNDSCHAU
dem Verzehr von Papayasalat „die Flammen aus
dem Hals schlagen“ (Ruffert o. J.: 80) würden.
Auch scheinen ihm gewohnte Beschränkungen
und Tabus zu fehlen, so dass der lokale Appetit
vor kaum etwas das Kreucht und Fleucht Halt mache, seien es Ratten, Reptilien oder Insekten: „Auf
den Märkten und am Straßenrand bieten fliegende
Händler all das, was wir normalerweise mit der
Fliegenklatsche erschlagen oder mit der Spraydose erledigen, als Delikatesse an“ (Ruffert o. J.: 82).
Sehr gründlich sind dagegen die Studien zweier
französischer Wissenschaftler ausgefallen, die
eine Bestandsaufnahme der Alltags- und Festtagsküche zweier Dörfer in der Provinz Khon Kaen
bieten (Levy-Ward 1993; Formoso 1993).
Am nachhaltigsten könnte aber ein Roman die
Wahrnehmung der Ernährungsgepflogenheiten
des Isaan geprägt – und in die Irre geführt haben.
A Child of the Northeast von Kampoon Boontawee
(1976/1991) spielt im frühen 20. Jahrhundert und
handelt von einer Zeit der anhaltenden Trockenheit und folglich großen Not für die Bevölkerung
eines Dorfes in der Provinz Ubon. In dieser Erzählung, die ähnlich behäbig wie die Flüsse des Isaan
daherkommt und dabei eine Fundgrube für die
lokale Essordnung ist, scheinen die Menschen
schlichtweg alles Essbare zu vertilgen. Neben
Grillen und Zikaden werden mit gutem Appetit
auch deren Eier verspeist, laab wird nicht nur von
Fröschen, Geckos oder Chamäleons, sondern
auch vom Skorpion und der Tarantula zubereitet,
ja selbst Eulen werden für ein Curry nicht verschmäht.
Kampoon betont zwar, für wie köstlich den Isaanern diese Speisen gelten (1991: 35, 179, 239,
403). Trotzdem kann beim Lesen das Missverständnis entstehen, die schiere Not habe die Menschen des Isaan in eine besonders hemmungslos
omnivore Spezies verwandelt, und nicht vielmehr
die lokalen Geschmackspräferenzen. Der amerikanische Ethnologe Marvin Harris (1988) hat in
seinem populären Werk Wohlgeschmack und Widerwillen den recht ethnozentrischen Fehlschluss,
dass „dem Menschen“ Insekten eigentlich nicht
schmecken würden, sogar zur einzig angemessenen wissenschaftlichen Sichtweise erklärt (1).
Ahaan Isaan: Das rohe und das gekochte Laab
Der Isaan, die Volksrepublik Laos und der Norden
Thailands um Chiang Mai herum bilden die einzige
Region der Welt, deren Grundnahrungsmittel Klebreis (kao niao) ist. Klebreis wird nicht gekocht,
sondern gewöhnlich über Nacht in Wasser eingeweicht und dann morgens als erstes in jedem
Haushalt im Dampf gegart. Er wird zu allen Mahlzeiten in geflochtenen Körbchen aufgetragen und
daraus mit der Hand gegessen, wobei er zu kleinen Bällchen geformt wird, mit denen die übrigen
Speisen aufgenommen werden, sofern sie nicht zu
flüssig sind.
102
3 / 2 0 1 0
Neben Klebreis als der Grundlage jeder Mahlzeit
stellt paa daek (auf Thai plaa raa genannt, „vergammelter Fisch“) das prägende Ingredienz der
Isaan-Küche dar. Dabei handelt es sich um fermentierten Fisch oder eine fermentierte Fischsauce, die eine intensiv riechende und schmeckende
Variante der herkömmlichen thailändischen nam
plaa darstellt. Im Isaan werden beide Fischsaucen
verwendet, wobei paa daek vielen lokalen Gerichten eine dunkle Färbung und fast erdige Geschmacksnote verleiht, die sich deutlich von dem
vergleichsweise lieblichen Ton vieler thailändischer Speisen abhebt.
Wenn thailändisches Essen ein sehr gewürzintensives Zusammenspiel von Schärfe, Säure und
Süße ist, dann gilt für die Küche des Isaan, dass
sie nicht nur schärfer und säuerlicher ist, sondern
einen ausgesprochenen Zug zum Herben und
Bitteren aufweist. Sogar die Verwendung von Galle als Gewürz kennt diese Küche. Deswegen erschließt sich die Isaan-Küche dem Neuling nicht
so leicht.
Im Isaan steht somtam täglich auf dem Speiseplan, es ist das bekannteste und beliebteste Gericht. Som tam (wörtlich: sauer, gestampft) ist ein
Salat auf der Basis von grüner Papaya und wird
mit paa daek in einem Mörser angemacht. Somtam ist ein herber und wahrlich scharfer Genuss,
da gewöhnlich fünf bis zehn Chili pro Portion verwendet werden. Papayasalat mit Klebreis gilt als
Alltagsessen; wenn es dazu noch mariniertes gegrilltes Huhn gibt, haben wir eine Kombination vor
uns, die vielfach als der Inbegriff des kulinarischen
Isaan gilt. Obwohl es sich bei somtam um einen
Salat handelt, wird das Gericht nicht als Salat (yam) klassifiziert, sondern bildet eine eigene Kategorie von Speisen. Dies unterstreicht den besonderen Status, der dem Gericht zukommt.
Die für die zentralthailändische Küche wichtige
Kategorie yam oder Salat, zu der einige der markantesten Gerichte des Landes zählen, spielt im
Isaan eine bescheidene Rolle. Salate klassifiziert
man im Isaan gewöhnlich nicht als yam. Ein Beispiel ist sup noomai, ein Salat aus fermentiertem
Bambus, der eine eigene, sup genannte Speisenkategorie begründet. Wichtiger ist, dass viele Salate auf der Basis von Fleisch oder Fisch im Isaan
nicht als yam gelten. Darunter sind viele Gerichte,
durch die sich die Küche des Isaan hervortut und
die zum Kern ihrer kulinarischen Identität gehören,
allen voran laab.
Marco Polo berichtete, Bewohner der südchinesischen Provinz Yunnan würden aus kleingehackter
roher Leber und anderen Innereien mit viel Pfeffer,
Knoblauch und Kräutern ein Gericht zubereiten,
das bei allen sozialen Gruppen sehr beliebt sei
(vgl. Brennan 1981: 19f.). Da die Thai aus Südchina stammen, könnte dies der erste Hinweis auf
den Genuss von laab unter den dortigen Taisprachigen oder benachbarten Völkern sein.
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Laab gibt es in zwei Arten, entweder gekocht oder
roh. Für gekochtes laab (laap suk) wird Fleisch
gehackt, kurz aufgekocht und schließlich mit getrocknetem Chili, Fischsauce und Limettensaft
abgeschmeckt, wobei reichlich Minze dem Gericht
seinen frischen Geschmack verleiht. Dabei werden
Schärfe und Säure durch kao khua ausgeglichen,
Klebreis, der ohne Fett geröstet und dann zerstoßen wird. Erst kao khua, der überraschend nussig
schmeckt, macht laab zu dem großen und charakteristischen Gericht des Isaan. Laab, das meist
lauwarm serviert wird, lässt sich aus allen Fleischsorten herstellen, wobei zur Herstellung nur Chili,
Limetten und kao khua unverzichtbar sind, ansonsten aber zahllose Variationen davon existieren. Bei dem nam tok („Wasserfall“) genannten
Gericht handelt es sich um eine Version von laab
auf der Basis von gegrilltem Fleisch und bei tap
waan auf der Basis von Leber.
Das rohe laab (laap dip; auch goy genannt), das
Carpaccio des Isaan, wird aus dem Fleisch von
Rind oder Wasserbüffel und bisweilen von Fisch
und sogar Schwein (aber keinesfalls von Huhn)
zubereitet. Bei rohem laab, das traditionell eine
den Männern vorbehaltene Festspeise gewesen
war, zu der man reichlich Selbstgebrannten (lao
kao) trank, tobt sich die Neigung zum extremen
Essgenuss aus: So ist es nicht unüblich, das fertige Gericht durch den Zusatz von Blut, Galle oder
kii pia, einer grünlichen Magenflüssigkeit, abzuschmecken (wobei mit Galle und kii pia bisweilen
auch das gekochte laab gewürzt wird). Die Zubereitung dieser virilen Sorte von laab gilt als Männersache. Zu rohem wie zu gekochtem laab isst
man immer reichlich Kräuter und rohes Gemüse.
Während die im Wok gerührten Gerichte, wie sie
für die Zentralprovinz typisch sind, in der Küche
des Isaan fehlen, spielen Curries (gaeng), ähnlich
wie in den anderen Regionalküchen, eine wichtige
Rolle. Curries sind häufig rein vegetarisch, andere
dagegen mischen (wenig) Fleisch mit (viel) Gemüse, und sie werden immer mit der intensiven
Fischsauce plaa raa und häufig mit herben und
bitteren Kräutern abgeschmeckt, die ihnen einen
unverwechselbaren Geschmack geben. Die Curries des Isaan würden bei uns eher als Suppen
gelten, sie haben nichts mit dem thailändischen
Curry gemein, das mit Kokosmilch zubereitet wird.
Daneben gibt es noch Gerichte vom Typ der thailändischen tom yam (wörtlich: „gekochter Salat“,
weil sie zwar gekocht, aber scharf und sauer wie
ein Salat sind), die sich nicht immer klar von einem
Curry abgrenzen lassen, und die im Isaan einfach
tom („Gekochtes“) heißen. Am bekanntesten ist
tom saeb, eines der raren Gerichte der Region,
das eine lange Garzeit benötigt. Dabei handelt es
sich um eine Art Saures Lüngerl oder Beuschel,
Isaan-style. Lunge, sowie Herz, Magen und Därme
werden zu einer reichhaltigen, säuerlich und scharf
schmeckenden Suppe gekocht. Tom saeb zählt
man im Isaan zu den großen Delikatessen, die bei
THAILAND-RUNDSCHAU
keiner wichtigen Feier fehlen dürfen. Auch tom
saeb wird gelegentlich mit Gallenflüssigkeit (dii)
abgeschmeckt.
Mit somtam, laab, sup, gaeng und tom haben wir
einige der wichtigsten, aber noch keineswegs alle
Speisetypen der Isaan-Küche kennen gelernt.
Neben den zahlreichen Dips (nam prik, wörtlich:
Chiliwasser), die zumeist mit der Fischsauce paa
daek angemacht werden und häufig so gehaltvoll
sind, dass sie als eigenständige Gerichte angesehen werden müssen, spielt noch Gegrilltes (yaang), im Dampf Gegartes (neung) und in Blättern
Gedünstetes (mok) eine wichtige Rolle, die hier
nur angedeutet werden kann.
Und die Insekten, für deren Verzehr der Isaan so
verschrien ist? Insekten finden nur bisweilen Eingang in die erwähnten Speisen, etwa wenn die
begehrten Ameiseneier zu einem Curry verarbeitet
werden. Zwar isst man im Isaan begeistert und
ganz selbstverständlich vielerlei Arten von Insekten, aber sie gelten eher als Snacks, die man zwischen den Mahlzeiten genießt.
Reis auf den Feldern, Fische im Wasser & Coke
im Kühlschrank
Die Bedeutung des Essens für die Menschen des
Isaan kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Als Fremder wird man immer wieder darauf
angesprochen, ob man die einheimischen Speisen
essen könne – ahaan gin pen bo? Das Seltsame
an dieser Frage ist, dass sie nicht darauf zielt, ob
einem das Essen schmeckt, sondern ob man im
Stande ist, es zu sich zu nehmen. Dabei mag die
Schärfe eine Rolle spielen, aber mehr noch die
Erfahrung, dass Fremde ihre Küche, die über die
Schärfe hinaus zu extremen Geschmäckern neigt,
häufig in Bausch und Bogen ablehnen. Es gehört
zu den erstaunlichen Erfahrungen einer Feldforschung im Isaan, dass viele der dort eingeheirateten Fremden selbst nach Jahren die Küche kaum
kennen und sich weigern, von den meisten Speisen, die in ihren Familien täglich gegessen werden, überhaupt zu probieren.
Heute ist diese Cuisine allerdings tiefgreifenden
Prozessen des Wandels ausgesetzt. Bevor ich
mich diesen zuwende, muss ich zunächst einen
Faktor der Beharrung ansprechen.
Auf der berühmten Stele von Sukhotai aus dem
Jahr 1292, die von der Macht des Königs und vom
Wohlstand seines Königreichs kündet, heißt es:
„Zur Zeit König Ramkamhaengs blüht Muang Sukhotai. In den Gewässern gibt es Fische, in den
Feldern gibt es Reis.“ Mit Reis und Fisch haben
wir das alte thailändische Ernährungsmuster vor
uns, das im Isaan seine Gültigkeit nicht verloren
hat. Obwohl es sich häufig nicht rechnet, baut auf
dem Lande so gut wie jede Familie ihren Reis an,
und darüber hinaus bieten die überfluteten Reisfelder mit den benachbarten Gewässern einen
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THAILAND-RUNDSCHAU
kaum versiegenden Strom von Essbarem an. In
der bäuerlichen Kultur des Isaan kommt dem Jagen und Sammeln kulinarisch noch eine erstaunliche Bedeutung zu.
Dennoch zeichnen sich bei der alltäglichen Ernährungsweise drastische Veränderungen ab. Auch
wenn die herkömmliche Struktur der Mahlzeiten
weitgehend intakt ist, sind Prozesse ihrer Auflösung unübersehbar. In traditionellen Agrargesellschaften, stellt Sidney Mintz (1992) fest, besteht
eine Mahlzeit immer aus einem Grundnahrungsmittel in Gestalt eines komplexen Kohlenhydrats,
dem eine oder mehrere geschmacksintensive Beilagen zugeordnet werden, die diese kohlehydratreiche Speise überhaupt erst schmackhaft machen. Mintz nennt dies das Core-Fringe-Model der
menschlichen Ernährung, wie es über Jahrtausende hinweg Bestand hatte. Im Isaan ist dieses „core“ natürlich der Klebreis, zu dem gewöhnlich einige Gerichte als „fringe“ gereicht werden, die man
in Thailand pauschal gap kaao (wörtlich: mit Reis)
nennt. Während sich früher der Tag in drei Mahlzeiten dieser Art gliederte, kann dies heute nicht
mehr als selbstverständlich gelten. Manche Erwachsenen und viele Kinder bevorzugen ein
schnelles Frühstück nach westlichem Vorbild und
trinken morgens Kaffee oder Milch und essen dazu
Cornflakes. Schulkinder bekommen in Thailand
neben Milch auch eine Schulspeisung, und das
bedeutet im Isaan, dass sie mittags zumeist ein
thailändisches Essen mit Reis vorgesetzt bekommen, und nicht Klebreis mit den gewohnten Speisen (vg. Hetzelt 2009).
Aber auch die verbliebenen Mahlzeiten haben sich
geändert. Während es Fleisch früher nur zu festlichen Anlässen gab, sind heute Schweinefleisch,
Geflügel und Zuchtfische billig zu haben. Nach
meinem Eindruck wird im Isaan zwar nicht zu allen
Mahlzeiten, aber zumindest einmal täglich Fleisch
gegessen, wenn auch bei weitem nicht in den aus
dem Westen vertrauten Mengen. Die lokale Vorliebe für rohes und gekochtes Gemüse ist von
dieser Entwicklung unbeeinflusst geblieben. Ein
weiterer Effekt dieser Entwicklung ist, dass die
ausgesprochenen Festspeisen des Isaan, wie laab
oder tom saeb, ihren exklusiven Charakter eingebüßt haben und heute im Alltag gegessen werden.
Manche Mütter klagen, wie Nora Hetzelt (2009) bei
ihrer Feldforschung in der Provinz Nong Bua Lamphu zu hören bekam, dass ihre Kinder abends
kaum noch Appetit hätten und keinen Klebreis
essen wollten. In den Regalen der kleinen Dorfläden nehmen Snacks bereits den meisten Raum
ein, und die Kühltruhen quellen über vor Coke und
Limonaden. Selbst in den ärmeren Familien scheinen Kinder selten auf die täglichen Softdrinks,
Snacks und Süßigkeiten verzichten zu müssen. Da
Snacks in Thailand nicht als richtiges Essen gelten, nehmen sie die Eltern nicht ernst und schreiten nicht ein, wenn sich ihre Kinder vor dem A-
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bendessen noch Tüten davon einverleiben. Eher
scheinen viele Erwachsene ähnlich unbekümmert
mit dem steigenden Angebot an Süßem umzugehen. Die gravierendste Folge dieser mehrfachen
Veränderungen ist mit dem bloßen Auge erkennbar: Auch im Isaan, mit seinen eher schmalgliedrigen Menschen, sind in der Zwischenzeit immer
mehr Kinder übergewichtig.
Während sich also die Grundstruktur der Mahlzeit
im großen Ganzen kaum gewandelt hat, finden
immer mehr Fleisch und Fett den Weg in die Küche, wodurch sich das Verhältnis von Reis (kaao)
zu Beilagen (gap kaao) zum Teil drastisch verschoben hat. Die ehemaligen Festtagsspeisen
haben viel von ihrer Exklusivität verloren und sind
alltäglich geworden. Im öffentlichen Raum hat die
thailändische Küche neben der einheimischen
einen festen Platz, und der Schulspeisung kommt
eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und Verankerung thailändischer Essmuster zu. Schließlich
übernehmen industriell erzeugte Snacks einen
wachsenden Anteil an der täglichen Kalorienzufuhr. Dadurch erhöht sich der Anteil von Zucker
und Fett an der Ernährung noch mehr, was zu
einer weiteren Auflösung der alten Ernährungsmuster beiträgt. Zukünftig wird die Küche des Isaan sicher keine so uneingeschränkte Rolle wie
in der Vergangenheit mehr spielen.
Ausgrenzung und Aneignung: “If you can’t
beat them – eat them!”
Mit der Herausbildung des modernen thailändischen Nationalstaats ging eine Fixierung von Reis
(kaao jao) und Fischsauce (nam plaa) als den
Grundlagen der „thailändischen Küche“ einher.
Folglich stießen insbesondere die Säulen der laotischen Küche, Klebreis und fermentierter Fisch
(plaaraa), auf Ablehnung. Sie wurden – und werden zum Teil bis in die Gegenwart hinein – mit den
unterschiedlichsten Argumenten bekämpft, darunter zunehmend auch medizinischen (vgl. Lefferts
2005). Die Kanadierin Marilyn Walker, die in den
1980er Jahren die kulinarische Kultur von Bangkoks besserer Gesellschaft einer gründlichen Studie unterzog, kommt zu dem Schluss, dass der
Isaan, den sie Bangkoks „barbaric ’other’“ nennt,
kulinarisch vor allem mit Unterschicht (1991:
190ff.) assoziiert werde. Daneben aber konnte sie
beobachten, wie die vermeintlich simple und rustikale Esskultur anfing, eine erstaunliche Verführungskraft auf sämtliche Bevölkerungsschichten zu
entfalten (2).
Wie es zu diesem Sinneswandel und Siegeszug
kommen konnte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit
sagen. Natürlich kam ahaan Isaan zunächst mit
der Migrationswelle gen Süden, die seit den
1950er Jahren ungelernte Arbeitskräfte in steigender Zahl nach Bangkok spült. Was aber geschah
dann? Brachten die „Maids“ ihr Essen von der
Straße in die feinen Häuser, oder fütterten die
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Kindermädchen bereits die Kleinen mit ihren heimischen Spezialitäten? Wahrscheinlich konnten
viele Thai, die neuen Genüssen gegenüber aufgeschlossen sind, über kurz oder lang dem Duft von
grüner Papaya und würzig gegrilltem Huhn auf
ihren Straßen einfach nicht widerstehen. Sicher ist,
dass das Paradegericht des Isaan, somtam mit
Klebreis und gegrilltem Huhn, spätestens seit den
1970er Jahren „extrem populär in Bangkok“ (Walker 1991: 191) ist. Auch dauerte es nicht lange, bis
Isaan-Food zunehmend als schick und sanuk erachtet wurde. Auf Matten sitzen, Klebreis mit der
Hand essen und dazu Gerichte genießen, die mit
wenig Fett (keine Kokosmilch!) und ohne Zucker
zubereitet werden, erschien gesünder und authentischer als die gewohnte Nahrung. Vielen galt die
Küche des Isaan deswegen geradezu als Thai tae,
„echt Thai“ (Walker 1991: 195f.).
Doch ähnlich, wie man im gleichen Zeitraum in
Deutschland von der italienischen Küche vor allem
Pizza, Spaghetti und Tiramisu übernahm, wurden
auch aus der Küche des Isaan nur einige wenige
Gerichte übernommen und gleichzeitig „thai-isiert“.
An erster Stelle steht die Metamorphose von somtam Lao zu der somtam Thai genannten Version.
Somtam Thai wird ohne die charakteristische plaaraa und mit weniger Chili zubereitet und schmeckt
durch die Zugabe von getrockneten Garnelen,
gerösteten Erdnüssen und Palmzucker in der Regel fast lieblich. Die beiden Varianten entsprechen
somit recht gut dem Charakter ihrer jeweiligen
Cuisine. Mit dem Papayasalat ging die Verbreitung
von gegrilltem Huhn einher. Daneben fand mit koo
muu yaang, Schweinenacken, der in einer Mischung aus gestampftem Knoblauch, Pfeffer, Kori-
THAILAND-RUNDSCHAU
hai („Der Tiger weint“) genannt wird. Zu Gegrilltem
gibt es Dippsaucen (nam jim), die, nicht anders als
die Marinaden, zunehmend süßer ausfallen. Auch
dies ist eine weitgehende Konzession an den vorherrschenden thailändischen Geschmack.
Außerdem wurde laab übernommen. Das laab des
Isaan, sei es aus Geflügel, Schwein oder Rind,
besteht gewöhnlich aus einer Mischung von Muskelfleisch und Innereien. Gerade die Innereien
aber, wie auch die Haut bei laab aus Schweinefleisch, gelten zunehmend als verzichtbar. Außerdem lassen sich natürlich auch hier der Schärfegrad reduzieren und die verwendeten Kräuter
variieren. Aber es wäre undenkbar, laab mit Galle
oder kii pia anzumachen, den im Isaan beliebten,
extremen Ingredienzien. Vor allem aber wird laab
unter keinen Umständen roh verzehrt!
Hand in Hand mit diesen Speisen verbreitete sich
Klebreis. Noch vor nicht langer Zeit als schlechterdings ungenießbar abgelehnt und bekämpft (Lefferts 2005), haben neuerdings viele Thai an kao
niao Geschmack gefunden. Dazu hat sicher beigetragen, dass Klebreis sich als praktisches Fingerfood erweist.
Während der älteren Generation jeder Papayasalat nach wie vor als ein Isaan-Gericht gilt, sehen
die Jüngeren darin – in den Worten einer jungen
und beruflich selbständigen Frau aus Bangkok –
einfach „a Thai national dish“. Neben somtam,
gegrilltem Huhn und Klebreis zählt auch laab zu
den anerkannten Nationalgerichten, mit denen
neuerdings das Thailändische Fremdenverkehrsbüro für die kulinarische Kultur des Königreichs
wirbt. Ähnlich wie es Appadurai (1988) für Indien
analysierte, ist im heutigen Thailand
eine „Nationalküche“ im Entstehen begriffen, in die einige Gerichte des Isaan
Eingang gefunden haben. Durch diesen
Prozess freilich wurden gewisse Speisen zunehmend „ent-ethnisiert“ und
„ent-regionalisiert“, wie man es vor
allem an der Dreier-Combo um somtam
herum beobachten kann. Wenn Thai
heute dieses verbreitete und äußerst
beliebte Gericht bestellen, tun sie es
zunehmend weniger im Bewusstsein,
ein Regionalgericht des Nordostens vor
sich zu haben.
Lasst uns Gekochtes essen!
anderwurzel, Fischsauce und Palmzucker eingelegt wurde, eine weitere Spezialität des Isaan
breiten Anklang. Ähnlich beliebt ist ein vergleichbares Grillgericht aus Rindfleisch, das seua rong
In den vergangenen Jahrzehnten wurde
eine Phase der pauschalen Ausgrenzung der „barbarischen foodways“ des
Isaan (Walker 1991: 191) durch eine
Phase der selektiven Aneignung abgelöst, die zur Thai-isierung einiger ausgesuchter Gerichte führte. Dabei wurde aus der
laotischen Küche des Isaan, mit ihrer Lust an rohen Speisen, gerade das Rohe verbannt.
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THAILAND-RUNDSCHAU
Für somtam Thai etwa wurde die „rohe“ plaaraa
des Isaan durch die „gekochte“ thailändische
Fischsauce nam plaa ersetzt. Allerdings haben in
der Zwischenzeit viele Thai an plaaraa und somtam Lao Geschmack gefunden. Folglich wurde
plaaraa insgesamt vom einem rohen in ein gekochtes Nahrungsmittel überführt, und heute
kommt sie gewöhnlich pasteurisiert auf den Markt.
Schwieriger war es bei laap. Hier fand eine Aufspaltung in ein gutes (gekochtes!) und ein schlechtes (rohes!) laab statt. Während das gekochte laab
zu einem Nationalgericht aufstieg, wurde das rohe
laab zum Ziel nationaler Kampagnen. Heute wird
in Thailand der Kampf gegen die „laotischen“ Andersesser und Rohfleischfresser des Isaan allerdings nicht mehr mit kulturellen, sondern mit medizinischen Argumenten geführt.
Seit über 30 Jahren bekämpft das Gesundheitsministerium das als unverantwortlich wahrgenommene Essverhalten der Bewohner des Isaan. Aber
wie die Statistik zeigt, geschah dies bislang ohne
nennenswerten Erfolg. Man schätzt, dass bis zu 6
Millionen Menschen im Land von Parasiten befallen sind, die durch den Verzehr von rohem Süßwasserfisch übertragen werden können. Durch
diese Infektion mit Leberparasiten (es handelt sich
um opisthorchis viverrini, den Leberegel) kann es
zu einem bösartigen Tumor der Gallenwege kommen, dem Cholangio- oder Gallengangskarzinom.
Während in der westlichen Welt auf 100.000 Menschen ein bis zwei solcher Fälle kommen, sind es
im Isaan bei Männern 80 und bei Frauen 40 (wobei die doppelt so hohe Rate bei Männern deutlich
deren Präferenz für Rohes reflektiert). Damit hat
Thailand die meisten Patienten weltweit mit diesem Krebstypus – und fraglos ein echtes Gesundheitsproblem.
Deswegen startete im Sommer 2009 die National
Cancer Institute Foundation zusammen mit dem
Pharmakonzern Bayer Thai die Pilotkampage „Kin
Sook Saeb Lai – Than Pai Ma-Reng Tub (Let’s eat
cooked food to prevent Liver Cancer)“(3). Wörtlich
übersetzt lautet der laotische Name der Kampagne
etwa „Das Essen von Gegartem/ Gekochtem
schmeckt gut – zur Verhinderung von Leberkrebs“.
Aber wieso geht es hier pauschal um Gekochtes,
und nicht einfach um die Meidung von rohem
Süßwasser-Fisch?
Die nationale Kampagne „Lasst uns Gekochtes zur
Verhinderung von Leberkrebs essen!“ wird in der
Öffentlichkeit auch wesentlich als gegen alle rohen
und fermentierten Speisen der Isaan-Küche gerichtet verstanden. Ein Artikel in der Bangkok Post
vom 11. September 2009 fängt unter der Überschrift Overcoming a raw deal mit den Worten
„Forking into uncooked Isan fare comes with the
risk of getting liver cancer“ an und warnt am Ende
pauschal vor dem Verzehr von plaaraa.
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Leedom Lefferts, ein seit 40 Jahren über Thailand
arbeitender amerikanischer Ethnologe, hat die
Geschichte der offiziellen „Stigmatisierung“ von
Klebreis und fermentiertem Fisch durch die thailändische Politik untersucht. Er sieht auch im Falle
des Klebreises die „Medizin im Dienste der nationalen politischen Integration“ (Lefferts 2005: 254).
Als nämlich Ende des 20. Jahrhunderts Diabetes
vom Typ II immer verbreiteter auftrat, rieten Ärzte
ihren Patienten aus dem Isaan, doch weniger
Klebreis und mehr gewöhnlichen Reis zu essen.
Denn Klebreis enthalte viel Zucker. Bedauerlicherweise aber, so Lefferts, habe man sie nicht
vor dem übermäßigen Konsum von Softdrinks
oder den zunehmend süßer ausfallenden Gerichten der thailändischen Küche gewarnt. Unübersehbar ging es um eine Politisierung von Ernährung und Essen in Thailands Nordosten.
Essen wie die Tiger
Zur Kernidentität der khon Isaan gehören die laotische Sprache, die eigenständige Küche und ihre
Musik. Neben der Küche ist in den letzten Jahren
auch diese Musik in ganz Thailand immer beliebter
geworden. In den Liedern stößt man auf eine weitere Art, wie mit diesem Angriff auf die eigenen
Esstraditionen umgegangen wird. Die unter dem
Künstlernamen „Saomaat Mega Dance“ bekannt
gewordene Sängerin verkörpert selbstbewusst und
selbstironisch den neuen Isaan. Ihr Lied Sao Lad
Phrao, „Mädchen aus Lad Phrao“ (einem Stadtteil
von Bangkok), in dem sich der Isaan selber auf die
Schippe nimmt, wurde 2008 ein Riesenerfolg. „Das
Mädchen aus Lad Phrao“ ist eine Putzhilfe, die
beim Familienbesuch wie eine Diva durch den
ländlichen Isaan stöckelt. Das Lied ist in einem
wilden Gemisch aus Thai, Lao und Englisch verfasst, mit dem Refrain baan nook, baan nook. So
nennt man in Bangkok das flache Land jenseits
der Metropole, und besonders die Isaaner gelten
als khon baan nook, also als Provinzler und Hinterwäldler. Da hier der Isaan sich und seine Eigenwilligkeiten verspottet, darf das Essen nicht
fehlen. In dem Song etwa wird aus ahaan peun
baan (wörtlich: Essen des Hauses), dem Ausdruck
für einheimisches, lokales Essen, durch ein Wortspiel – peun heißt auch Fußboden – die Übersetzung Food Floor House. Davon heißt es: Taan mai
daai, taan mai daai, kann ich nicht essen, kann ich
nicht essen! Warum sie das lokale Essen verschmäht, verrät ihre Frage „What is sleep in the
Hai, ti sai somtam Lao?“ (was schläft im Hai – dem
Tonkrug, in dem traditionell fermentierter Fisch,
plaaraa, aufbewahrt wird – , das man in somtam
Lao gibt?). Dieser Satz wurde durch das Lied in
ganz Thailand bekannt. Am Ende freilich wird klar,
dass das Mädchen aus Lad Phrao seiner Küche –
und damit dem Isaan, seinen Wurzeln, seiner Identität – keineswegs entfremdet ist. Denn kaum
zurück im geliebten Bangkok, stärkt sie sich als
erstes in einem „Raan Laab“, einem kleinen Lokal
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THAILAND-RUNDSCHAU
in aller Öffentlichkeit Bier und Schnaps, wie man
dies bislang nur von den Männern kannte. Dabei
scheint das von thailändischer Seite weiterhin
ausgegrenzte rohe laab, und hier besonders das
laab von Rind und Wasserbüffel, auf dem besten
Weg zu sein, zum identitätsstiftenden Gericht zu
werden. Die khon Isaan, erzählte mir der Koch
eines kleinen Lokals in Pha Kao in der Provinz
Loei, essen nun einmal wie die Tiger, gin meuan
seua. Sie bräuchten für die Zubereitung ihrer
Speisen nicht unbedingt Feuer, denn wie den Tigern schmecke es ihnen auch roh.
Allen Kampagnen zum Trotz: Der kulinarische
Isaan bleibt in Thailand auf dem Vormarsch. Die
Schlacht gegen Klebreis etwa ist verloren (4).
Klebreis findet man in ganz Thailand als praktische
Beilage zu allerlei Snacks. Das einst anrüchige
Grundnahrungsmittel des Isaan ist selbst zu einem
gesamtthailändischen Snack geworden und hat
einen neuen Platz in der nationalen Esskultur gefunden. Die Kette 7Eleven bietet neuerdings sogar
Klebreis-Hamburger in den Geschmacksnoten
muu yaang oder laab an.
in dem laab serviert wird, und zwar mit einer Portion somtam Lao, die mit ganzen plaaraa-Stücken
angemacht ist!
Der selbstironische Song erfreut sich im Isaan
großer Beliebtheit. Als aber im März 2009 bei einem Konzert in Kalasin eine Sängerin aus Bangkok Sao Lad Phrao anstimmte, erstarrten die zuvor
ausgelassen agierenden Zuhörer. Anscheinend
war den Musikern nicht klar, dass das populäre
Lied als geradezu beleidigend empfunden werden
musste, wenn eine thailändische Band es spielte.
Plaaraa wird eigentlich roh gegessen, auch wenn
zunehmend mehr Leute aus gesundheitlichen
Gründen „gekochte“ plaaraa vorziehen. Andere
dagegen reagieren wie französische Bauern, denen EU-Bürokraten vorschreiben wollen, ihren
Käse aus pasteurisierter Milch herzustellen. Während in der thailändischen Küche aus dem Tierreich eigentlich nur Garnelen und Austern als tauglich für den rohen Verzehr gelten (und neuerdings
natürlich Sushi!), kommt rohem Fleisch und Fisch
im Isaan ein hoher Stellenwert zu. Dabei war Rohes traditionell eher den Männern vorbehalten und
bildete den Höhepunkt der Festspeisen. Frauen
dagegen, vor allem wenn sie noch im gebärfähigen Alter waren, mieden rohes Fleisch und vor
allem laab, dem frisches Blut beigegeben wurde,
laab leuat (vgl. Formoso 1993). Eine der bemerkenswertesten Veränderungen im Essverhalten
der Bewohner des Isaan betrifft diese Zuordnung
von Gekochtem zu den Frauen und Rohem zu den
Männern. Zunehmend mehr Frauen, ältere als
auch jüngere, essen rohes laab und trinken dazu
Bereits das sorgfältig aufbereitete Kochbuch The
Food of Thailand: Authentic Recipes from the Golden Kingdom (Hutton 1994: 18) bemerkte, dass in
Bangkok zunehmend auch die besten Köche nach
ihrer Fähigkeit beurteilt würden, somtam und laab
zu bereiten. Heute gibt es nicht nur nach laab
schmeckende Kartoffelchips oder laab als Pizzabelag, sondern der Geschmack des Isaan – und
das heißt vor allem: laab – fasziniert die kreativen
Köche des Landes. Ein Restaurant in Bangkoks
schickem Suan Lum Night Bazaar serviert „Laap
Toot“, das sind kleine Kügelchen aus laab, die
zuvor frittiert wurden. Ein für sein Fusion Food
bekanntes Lokal experimentiert mit Sushi à la Isaan, wobei verschiedene, nach der Art von laab
gewürzte Fleischsorten auf Röllchen aus Klebreis
serviert werden. Und die Gastronomie des Sheraton Pattaya offeriert ihren Gästen „Thai-style (!)
spicy tuna laab“ (wie in der Bangkok Post vom 4.
Dezember 2009 zu lesen). Das Restaurant
„Bo.lan“ (bolan lässt sich mit traditionell übersetzen) stand im Sommer 2009 im Rampenlicht des
kulinarischen Bangkok. Obwohl nicht auf die Küche des Isaan spezialisiert, gibt es dort Klebreis,
und auf der Karte stehen Gerichte wie nam tok
neua. Dabei handelt es sich um eine laab-Version
auf der Basis von gegrilltem Rindfleisch. Während
man im Isaan dafür das Fleisch gründlich gart,
ziehen die Köche des „Bo.lan“ ein Filetsteak vor,
das gerade einmal „rare“ gebraten wird, innen also
noch roh ist. Einen Schritt weiter geht der Starkoch
Ian Chalermkittichai, der es in New York mit dem
Restaurant „Kittichai“ zu Ruhm und Vermögen
brachte und heute ein „Resort“ in dem bei Thai
und ausländischen Touristen gleichermaßen beliebten Badeort Hua Hin betreibt. Dort kommt sogar das rohe Fisch-laab auf den Tisch – er nennt
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THAILAND-RUNDSCHAU
es Goy Tuna. Als goy bezeichnet man im Isaan
das rohe laab.
Isaan-Sushi, fast blutiges nam tok sowie laab und
goy aus Thunfisch. Es ist eine schöne Ironie, wie
hier die kulinarische Globalisierung einer Regionalküche zur Seite springt. Da rohe Speisen wie
Carpaccio oder Sushi in der gehobenen Abteilung
der globalisierten Gastronomie zurzeit hoch im
Kurs stehen, scheint es durchaus möglich, dass
auf diesem Umweg die verfemten rohen Gerichte
des Isaan auch in Thailand zu neuem Ansehen
kommen.
Anmerkungen
(1) Wie Harris (1988) glaubt, neigen an tierischen
Proteinen Unterversorgte dazu, wahllos über
alles herzufallen, seien dies nun Insekten oder
die eigenen Artgenossen. Sobald sich aber mit
geringerem Aufwand Fleisch oder Geflügel erzeugen lasse, würden sie sich davon abwenden. - Nach dieser Theorie dürften heute im Isaan niemandem mehr Insekten schmecken. In
Wirklichkeit nimmt der Verzehr von Insekten in
ganz Thailand zu.
(2) Die Geschichte der USA bietet reiches Anschauungsmaterial, wie einzelne Gerichte aus
verachteten Einwandererkulturen - sei es China, Italien oder Mexiko - übernommen wurden
und zu Lieblings- und sogar Nationalspeisen
aufstiegen, wie Chop Suey, Pizza und Chili con
Carne.
(3) Folgenden beiden Webseiten wurden alle Informationen entnommen: www.nci.go.th sowie
www.bayer.co.th
(4) Leedom Lefferts erzählte mir beim Essen in
einer „Soi“ Bangkoks am 3. April 2010, dass er
in einer Schule in Khon Kaen Plakate gesehen
habe, die für drei Sachen warben: Vor dem Essen die Hände zu waschen, nicht mit der Hand
zu essen und nur Gegartes zu essen. Die beiden letzten Punkte führen also ungerührt die
Kampagne gegen Isaans Esskultur weiter, obwohl Klebreis heute im ganzen Land beliebt ist.
Literatur
Appadurai, Arjun (1988): How to Make a National
Cuisine: Cookbooks in Contemporary India.
Comparative Studies in Society and History 30:
3-24.
Brennan, Jennifer (1981) The Original Thai Cookbook. New York. GD/Perigee Book.
Comeaux, Blaine L.(2002): Two Years in the Kingdom. The Adventures of an American Peace
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York u. a.: Writers Club Press.
Formoso, Bernard (1993): Les Repas de Fete des
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N. Krowolski (ed.), Autour Du Riz. Le repas
chez quelques populations d'Asie du Sud-Est ;
pp. 83-118. Paris: Editions L’Harmattan.
Grabowsky, Volker (ed.) (1995): Regions and National Integration in Thailand 1892-1992. Wiesbaden: Harrassowitz.
Harris, Marvin (1988): Wohlgeschmack und Widerwille. Die Rätsel der Nahrungstabus. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hetzelt, Nora-Marie (2009): “Ma gin kao” - Globalisierungsprozesse und Erhalt der Traditionen in
der Küche des Nordostens Thailands. Unveröffentlichter Forschungsbericht. Institut für Ethnologie. Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Hopkins, Jerry (2004): Extreme Cuisine. Singapore: Periplus.
Hutton, Wendy (ed.) (1994): The Food of Thailand.
Authentic Recipes from the Golden Kingdom.
Introduction by William Warren. Bangkok: Periplus.
Kampoon Boontawee (1991): A Child of the Northeast. Translated by Susan Fulop Kepner.
Bangkok: Editions Duang Kamol.
Lefferts, Leedom (2005): Sticky Rice, Fermented
Fish, and the Course of a Kingdom: The Politics
of Food in Northeastern Thailand. Asian Studies Review 29: 247-258.
Levy-Ward, Annick (1993): Etes-vous capable de
manger la nourriture Isan? In: N. Krowolski
(ed.), Autour Du Riz. Le repas chez quelques
populations d'Asie du Sud-Est; pp. 17-72.
Paris: Editions L’Harmattan.
Mintz, Sidney (1992): Die Zusammensetzung der
Speise in frühen Agrargesellschaften. Versuch
einer Konzeptualisierung. In: M. Schaffner
(Hg.), Brot, Brei und was dazugehört. Über
sozialen Sinn und Physiologischen Wert der
Nahrung; pp. 13-28. Zürich: Chronos.
Mgr. Pallegoix (1976): Description du Royaume
Thai ou Siam. Bangkok: DK Book House.
Ruffert, Günther (o. J.): Ein Fenster zum Isaan.
Der Alltag in Thailands unbekanntem Nordosten. Banglamung (Chonburi): Farang Edition.
Walker, Marilyn Diana (1991): Thai Elites and the
Construction of Socio-Cultural Identity Through
Food Consumption. Unpublished PhD-Thesis,
York University, Ontario.
Marin Trenk ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach einer insgesamt
18monatigen Feldforschung in den letzten Jahren schreibt er zurzeit an einer Kulinarischen Ethnographie
Thailands.
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THAILAND-RUNDSCHAU
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Nachhaltige Landnutzung und ländliche Entwicklung
in Bergregionen Südostasiens – SFB564
Ein Sonderforschungsbereich der
Deutschen Forschungsgemeinschaft stellt sich vor
Holger Fröhlich und Karl Stahr
Seit zehn Jahren arbeitet der Sonderforschungsbereich 564 (SFB), ein Verbundforschungsprojekt
der Deutschen Forschungsgemeinschaft, an der
Universität Hohenheim für die wissenschaftliche
Grundlage einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und verbesserter Lebensbedingungen in den Bergregionen Südostasiens. Der
vorliegende Artikel gibt einen Überblick über das
Projekt. Beiträge in kommenden Ausgaben werden
einzelne Schwerpunkte der Forschungsarbeit vorstellen.
Die Bergregionen Südostasiens – Hot Spots in
Umweltfragen und ländlicher Entwicklung
Während der letzten 20 Jahre haben viele Länder
Südostasiens eine rasche ökonomische Entwicklung erlebt; Thailand seit Anfang der 1980er Jahre
bis zur Finanzkrise 1997 mit seither stetiger aber
moderater Wachstumsdynamik. Vietnam erlebte
ebenso seit Beginn der 1980er Jahre eine rasche
Entwicklung. Das Land durchlief nach dreißig Jahren kollektiver Agrarwirtschaft eine landwirtschaftliche Transformation, als Landnutzungsrechte
nach und nach an private Haushalte vergeben
wurden. Dieser Prozess erfuhr eine Beschleunigung, als die Regierung 1986 mit dem Reformprozeß „Doi Moi“ (lit. Erneuerung) einen deutlichen
Wechsel in Richtung marktorientierter Ökonomie
auf Basis privater Besitzrechte vollzog. Südostasien konnte vom Wirtschaftswachstum profitieren,
für Agrarprodukte erschlossen sich neue Märkte,
die Nachfrage nach hochwertigen Agrarprodukten
wie tropische Früchte, Gemüse und Fleisch stieg,
während die Verdienstmöglichkeiten außerhalb der
Landwirtschaft zunahmen.
Ländliche Entwicklung in Nordvietnam
(Bachmann 2006).
Dennoch ist bis heute die ländliche Armut ein weit
verbreitetes Problem der Bergregionen, deren
Einwohner, oftmals ethnischen Minderheiten zu-
gehörig, nicht gleichermaßen vom wirtschaftlichen
Aufschwung profitieren konnten. Dies liegt zum
einen in der ökonomischen und sozialen Isolation
der Bergregionen, zum anderen daran, dass die
traditionellen Reisanbauregionen, also die Tiefländer, die Zielgebiete der Grünen Revolution waren.
Gleichzeitig kreierte die ökonomische Integration
zuvor noch isolierter ländlicher Regionen neuen
Bedarf an Konsumgütern, Transport und Bildung,
welcher die Bedeutung von Geldmitteln in der
ländlichen Wirtschaft deutlich erhöhte. Auch das
Bevölkerungswachstum der Bergregionen ist bis
heute sehr hoch. Ursachen dafür sind hohe Geburtenraten und Migration aus weniger entwickelten
Ländern, wie Myanmar und Laos und speziell in
Vietnam ein Umsiedlungsprogramm der Regierung. Dadurch wanderten in Nordvietnam zwischen 1960 und 1975 etwa 1 Millionen Kinh, eine
Bevölkerungsgruppe aus dem Tiefland in die Berge, wo die Bevölkerung zwischen 1960 und 1984
um 300% anwuchs.
Umsiedlung in Muong Lum, Son La,
Nordvietnam (Fröhlich 2008).
Der hohe Bevölkerungsdruck und die zunehmende
Marktanbindung der Bergregionen haben zur Aufgabe des traditionellen Wanderfeldbaus geführt:
Ein System kurzzeitiger Ackerkultur einer Fläche
mit langjährigen Phasen der Brache, die den Wiederaufwuchs der natürlichen Vegetation erlaubt, in
welchen sich die durch den Feldbau beanspruchten Böden erholen können. An dessen Stelle ist im
Zuge der Intensivierung die permanente Ackernutzung der Steillagen getreten, während die Talsohlen und Unterhänge der Bergregionen traditionell
für Nassreisanbau genutzt werden. Die Verkürzung und schließlich die Aufgabe der Brachezeiten
führt bis heute vielerorts zum Verlust von wertvollem Boden, Pflanzennährstoffen, und damit Ertragseinbußen, Ernährungsunsicherheit, Armut
und weiterer Landverknappung. In Vietnam wird
109
THAILAND-RUNDSCHAU
die Hälfte der Landesfläche für Ackerbau in den
zum Teil sehr steilen Bergregionen genutzt. In der
Son La Provinz, der Untersuchungsregion in Vietnam, gibt es noch 10% Wald und etwa 80% der
Böden sind degradiert.
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keine allgemeingültigen Lösungen um die ländliche Existenzgrundlage zu verbessern und dabei
zugleich den Ressourcenschutz in den Bergregionen zu entwickeln.
The Uplands Program
Feldbau (hier Mais Monokultur) auf
Steilhängen fördert Bodenerosion.
(Schreinemachers 2009)
Die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen
für eine nachhaltige Land- und Ressourcennutzung und nachhaltige ländliche Entwicklung bearbeitet der Hohenheimer SFB, in Südostasien unter
dem Namen „The Uplands Program“ bekannt,
gemeinsam mit seinen Fachkollegen an PartnerUniversitäten in Thailand und Vietnam mit je einem
Hauptuntersuchungsgebiet in Nordvietnam in der
Son La Provinz und in Nordthailand in der Chiang
Mai und Mae Hong Son Provinz, neben weiteren
weniger intensiv beforschten Gebieten.
Überschwemmungen sind die regelmäßige Folge
geringerer Wasserspeicherkapazität der Böden.
Die Übernutzung der natürlichen Ressourcen wirkt
sich so schließlich auf die ökonomische Entwicklung der Bergregionen aus.
In den stärker marktorientierten Bereichen der
Bergregionen im Umfeld größerer Städte, wie Chiang Mai in Nordthailand, konzentrieren sich die
Umweltprobleme sehr viel stärker durch den starken Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln
in Folge der Intensivierung der Landwirtschaft,
dem damit verbundenen Verlust an Biodiversität
und der Schadstoffkontamination der Gewässer
und Grundwässer mit Eintritt in die Nahrungskette.
Hier bewirken geänderte landwirtschaftliche Managementsysteme eine Vielfalt rechtlicher Rahmenbedingungen (Rechtspluralismus). Z.B. besteht
traditioneller
Nassreisanbau
mit
gemeinschaftlichem Wassermanagement neben
Gewächshäusern für Gemüse und Blumen mit
individuellem Wassermanagement.
Der starke Einsatz von Pestiziden
im Gemüseanbau stellt ein Risiko
für Mensch und Umwelt dar.
(Schreinemachers 2005)
Die Bergregionen Südostasiens sind fragile Ökochoren hoher natürlicher Biodiversität, Vielfalt der
Böden und des Klimas, sowie von ethnischer, kultureller und sozialer Vielfalt. Die Probleme der
ländlichen Armut und die Ökologie sind weit komplexer, als hier angedeutet werden kann. Es gibt
110
Forschungsregionen des SFB in Thailand
und Vietnam (dunkelgrau).
Die Landwirtschaft in den Hauptuntersuchungsgebieten unterscheidet sich im Grad der Marktintegration und den Herausforderungen für nachhaltige
Landnutzung: Im marktfernen Arbeitsgebiet,
Chieng Koi, in Vietnam haben die Farmer den
traditionellen Wanderfeldbau zugunsten permanenter Ackerkultur aufgegeben. Die Degradation
der Böden läuft rasch ab, das Ausmaß der Produktionsverluste wird derzeit noch und auf kurze Sicht
durch hohe Düngergaben und robustere Neuzüchtungen abgepuffert. Im stärker marktorientierten
Hauptuntersuchungsgebiet in Thailand, Mae Sa,
haben Obstplantagen und saisonales Gemüse vor
etwa 20 Jahren Mais und Maniok als Hauptkulturen abgelöst. Die Intensive Anwendung von Agrochemikalien ist ein Hauptproblem für nachhaltige
Landnutzung.
Grundsätzliche Forschungshypothese des SFBs
ist dabei, dass Fortschritt nur möglich ist, wenn
gleichzeitig die Agrarproduktivität steigt, Ressour-
3 / 2 0 1 0
censchutz langfristig betrieben wird, außerlandwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten in den vorund nachgelagerten Bereichen des Agrarsektors
entstehen und geeignete institutionelle und infrastrukturelle Rahmenbedingungen in ländlichen
Räumen geschaffen werden.
Die speziellen Ziele des Sonderforschungsbereichs sind die Schaffung wissenschaftlicher
Grundlagen für:
•
•
•
die Entwicklung nachhaltiger Landnutzungssysteme, Produktionsverfahren und
Verarbeitungsprozesse in den ökologisch
empfindlichen und ökonomisch benachteiligten Bergregionen,
die Erforschung von Agrarökosystemen
mit vielfältigen Bezügen zwischen Ressourcenmanagement, ethnischer Vielfalt
der Bevölkerung und heterogenen institutionellen Rahmenbedingungen
Konzepte für ländliche Institutionen, die
Probleme der ländlichen Armut und Unterernährung nachhaltig bearbeiten und die
Anpassungsfähigkeit ländlicher Haushalte
in einem dynamischen ökonomischen Umfeld verbessern.
Verbesserte Lebensbedingungen in den Bergregionen und der Schutz der Umwelt können langfristig nur gemeinsam bestehen. Innovationen, welche
die Situation verbessern sollen, können nur langfristig Bestand haben, also nachhaltig sein, wenn
ökologische, soziale und ökonomische Aspekte
miteinander abgestimmt werden. Weil das ein
hochkomplexes Unterfangen ist, bringen die SFB
Wissenschaftler ihre Fachkenntnis aus der Bodenkunde, Hydrologie, Agronomie, der Tierzucht, der
Nahrungsmitteltechnologie, der Soziologie, Ökonomie und Innovationsforschung ein um so die
komplexen Beziehungen zwischen Agrarökosystemen, dem Menschen und Innovationen interdisziplinär zu verstehen (Systemansatz).
THAILAND-RUNDSCHAU
in Vietnam eine typische Nutzung an steilen Hängen Maismonokultur, die aufgrund der geringen
Bodenbedeckung zu Beginn des Wachstums sehr
erosionsfördernd wirkt. Sind die Böden aufgrund
von Erosion verarmt an Nährstoffen und fruchtbarem Oberboden, wird Maniok angebaut, weitere
Degradation führt zu Grasland und schließlich zu
unbrauchbaren Badlands und der damit endgültigen Aufgabe der Flächen. Die Forscher des SFBs
entwickeln basierend auf der Erfassung der Erosionsdynamik, der Kenntnis von den Böden der
Untersuchungsregion Anbauempfehlungen und
Erosionsschutzmaßnahmen. Aber erst die erfolgreiche Entwicklung der Schutzmaßnahmen für
eine nachhaltige Landnutzung unter den lokalen
Gegebenheiten mit allen beteiligten Akteuren ermöglicht eine Praktizierung dieser „Innovationen“.
Die Innovationsforscher des SFB haben z.B. herausgefunden, dass unsichere Besitzverhältnisse
in Vietnam die Landwirte davon abhalten in den
Schutz ihres Landes zu investieren.
Partizipative Methoden – Farmer analysieren mit
Forschern ihre ökonomischen Strategien und
diskutieren Änderungen in der Landnutzung.(Neef
2007)
Der SFB hat bei der Verfolgung seiner Ziele Forschungsschwerpunkte gebildet:
Die Landwirtschaftliche Intensivierung in den Bergregionen Thailands aber auch Vietnams hat einen
intensiven Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden zur Folge, mit beträchtlichen Gefahren für die
Umwelt und die menschliche Gesundheit. Die
SFB-Forscher untersuchen neben dem Wasserund Stoffhaushalt der Berglandschaften den
Verbleib von Pestizidrückständen in Reisterrassensystemen mit integrierter Fischzucht (Vietnam)
und in Thailand die Auswirkungen des erhöhten
Pestizideinsatzes insbesondere durch den in letzter Zeit verstärkten Gewächshausanbau. Oftmals
besteht zwischen den Bewohnern der Bergregionen und der Tiefländer ein Konflikt, in dem die
Bergvölker als Verursacher von Überschwemmungen, Bodenerosion und Wasserverschmutzung
gesehen werden, die Bergvölker aber selbst unter
ökonomischem Druck stehen und den Fortschritt
aus dem Tiefland importieren.
Im Bereich des Ressourcenschutzes der Bergregionen ist die Bodenerosion und Bodenschutz ein
Hauptthema. An den steilen, übernutzten Hängen
der Bergregionen, wo früher Wanderfeldbau z.B.
mit Trockenreisanbau mit langen Brachezeiten und
Wiederbewaldung praktiziert wurde, ist heute z.B.
Das aufkommende Bedürfnis der Bevölkerung
nach Umweltstandards wächst (Good Agricultural
Practice, GAP). Hydrologen und Sozioökonomen
des SFB arbeiten gemeinsam an diesem facettenreichen Problem, z.B. an Konzepten für Umweltkompensationsprogramme, die vorsehen kön-
Die unterschiedlichen Akteure in den Bergregionen, das sind die Bauern, Landwirtschaftsberater,
Vertreter der Agrarverwaltung und politische Entscheidungsträger, nehmen an der Arbeit der Wissenschaftler aktiv teil (Partizipation). Das ermöglicht es den Wissenschaftlern die entscheidenden
Probleme aus Sicht der Beteiligten zu erfassen,
und stellt sicher, dass die Ergebnisse der Wissenschaftler (Methodenentwicklung) genutzt werden
können.
111
THAILAND-RUNDSCHAU
nen, dass Landwirte in den Bergländern für den
Schutz von Umweltgütern, wie Boden und Wasser
vergütet werden, weil sie dafür Ihren kurzfristig
ertragssichernden Pestizideinsatz einschränken
müssen oder Aufwand mit Bodenschutzmaßnahmen haben, die langfristig ihre Erträge sichern. Die
Zahlungsbereitschaft (Willingness to Pay) der davon profitierenden Bevölkerung für sauberes Wasser und Nahrungsmittel ohne Rückstände aber
auch den Schutz der Umweltgüter muss dafür
ebenso untersucht werden.
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auf die Umwelt. Basierend auf dem Ertrag bilden
sozioökomische Modelle die unternehmerischen
Entscheidungen der Landwirte ab, z.B. die Anbaukulturen im folgenden Jahr.
Veredlung landwirtschaftlicher Produkte (hier:
Litchitrocknung) in bäuerlichen Kooperativen.
Überschwemmung und Hangrutschungen in
Nordvietnam entlang der Nationalstraße 6, Son La.
(Röttgers, Grafiti 2007)
Besonders in den Bergregionen Nordthailands ist
der Anbau tropischer Früchte eine Haupteinkommensquelle. Der SFB forscht für Innovationen im
Anbau, der Weiterverarbeitung und der Vermarktung tropischer Früchte, insbesondere Litchi,
Mango und Longan. Innovationen zur Wassereinsparung, zur Fruchtreifebestimmung, Veredelung
und Flexibilisierung der Erntesaison können helfen, dass Einkommen der Obstbauern zu sichern.
Die in den Steillagen Nordthailands weitverbreiteten Litchiplantagen bieten durch einen hohen Bedeckungsgrad der Böden einen besseren Bodenschutz, als einjährige Kulturen, wie Bergreis und
Mais. Derzeitig zeichnet sich aber ein Trend zur
Aufgabe von Obstplantagen ab. Die Steillagen
werden zunehmend von erosionsfördernden Anbausystemen wie dem Gemüseanbau eingenommen. Ursache ist die Einkommensunsicherheit der
Bauern angesichts stark fluktuierender Weltmarktpreise für Litchis. Können Innovationen, wie Wassereinsparungsmethoden in der Bewässerung von
Obstbäumen oder Produktveredelung durch Litchitrocknung in bäuerlichen Kooperativen diesen
Trend aufhalten?
Dieser und ähnlichen Fragen, wie sich Innovationen für die ländliche Bevölkerung und die Agrarökosysteme auswirken, wie sie sich in der Fläche
ausbreiten und welche Anpassungen zusammen
mit den beteiligten Akteuren vorgenommen werden müssen, gehen die SFB Forscher mit Hilfe
von sozioökonomischen und agrarökologischen Modellen zur Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien nach:
Landnutzungsmodelle ermitteln den Effekt von
Innovationen auf den Ertrag und die Auswirkung
112
Die kleinbäuerliche Tierzucht stellt für Vietnam das
Rückgrat der inländischen Fleischproduktion dar
und ist eine der Hauptursachen für die Anhebung
der Lebensstandards in der Bergbevölkerung.
Schlechter Marktzugang verhindert jedoch eine
Ausschöpfung dieses Potentials. Gleichzeitig ist
Vietnam durch den Anstieg des Fleischkonsums in
den letzten zwei Dekaden zum Bruttofleischimporteur geworden. Der SFB erforscht die Potentiale in
der Tierzucht und Tierhaltung, insbesondere mit
lokalen Schweinerassen der entlegenen Bergregionen für die kleinbäuerliche Tierhaltung. Ein
Schwerpunkt liegt neben Zuchtprogrammen auf
den Wissens- und Innovationsnetzwerken der
unterschiedlichen ethnischen Gruppen, also z.B.
deren Verknüpfungsgrad mit Institutionen. Unsere
Marktanalysen haben z.B. eine hohe Preiselastizität von Fleisch des an die harten Bedingungen der
Bergregionen angepassten Ban-Schweins ergeben. Diese Schweinerasse ist in den urbanen Regionen Nordvietnams, insbesondere Hanois wegen seiner geschmacklichen Qualitäten sehr
beliebt, die Bereitschaft für dieses Fleisch mehr zu
zahlen ist hoch. Im Allgemeinen werden Produkte
aus lokaler Produktion industriellen Produkten
vorgezogen.
SFB 564 – Zwölf Jahre Agrarforschung in Südostasien. Was bleibt?
Der SFB arbeitet seit zehn Jahren an den oben
kurz angerissenen Forschungsthemen gemeinsam
mit seinen Partnern. Dies sind neben anderen,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen, in
Thailand die Chiang Mai University (CMU), die
Kasetsart University (KU), Mae Jo University
(MJU) und Silpakorn University (SU), in Vietnam,
THAILAND-RUNDSCHAU
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Entwicklung von Sensorsystemen für ein effizientes Bewässerungsmanagement, Prozesstechnik
für die Verwertung von Rückständen in der Nahrungsmittelproduktion und Optimierung der Fruchttrocknung.
Die besonderen Schweinerassen der Bergregionen
gelten in den urbanen Regionen als Delikatesse.
(Röttgers Grafiti 2007)
die Hanoi University of Agriculture (HUA), die Thai
Nguyen University of Agriculture and Forestry
(TUAF) und das National Institute of Animal Husbandry (NIAS). In dieser Partnerschaft hat der SFB
564 über 30 Wissenschaftler ausgebildet, die in
ihren Universitäten in Südostasien weiterforschen
und lehren. In Hohenheim haben bisher 42 Nachwuchswissenschaftler promoviert und die Liste der
Publikationen (über 150 Artikel in referierten wissenschaftlichen Zeitschriften) wächst stetig.
Extraktion von Pektin aus getrockneten Mangoschalen. Pektin ist ein weltweit nachgefragtes und knapp
verfügbares Geliermittel.(Nagel 2009)
Ausblick
In den kommenden Ausgaben der Thailand-Rundschau sind die folgenden Themenbeiträge aus der
Arbeit des Uplands Program vorgesehen:
Vom Litchi-Erzeuger zum Litchi-Unternehmer –
Potential kleinbäuerlicher Kooperativen im Umgang mit niedrigen Marktpreisen.
Bodenschutz in Steillagen – die Folgen der Bodenerosion sind weitreichend, aber die Umsetzung
von Bodenschutzmaßnahmen bleibt gering. Bodenschutz in Bergländern braucht mehr als gute
Technologien.
Ausbildung von
Nachwuchswissenschaftlern.
Der Transfer von Wissen und Innovation ist von
Anfang an ein wichtiges Anliegen des SFB 564
gewesen. Die Forschungsergebnisse fließen auch
in die fortbestehende Lehre ein. So haben die
Universität Hohenheim und CMU in 2009 einen
gemeinsamen Masterstudiengang „Sustainable
Agriculture and Integrated Watershed Management“ (SAIWAM) zu den Themen und wissenschaftlichen Arbeitsmethoden des SFB 564 eingerichtet, der mittlerweile internationalen Zuspruch
findet.
Neben dem Transfer der Ergebnisse an die Partner und die Akteure in den Bergregionen zur Verstetigung seiner Forschung, arbeitet der SFB 564
in sogenannten Transferprojekten mit überregionalen und internationalen Unternehmen und nationalen Forschungseinrichtungen und Regierungsorganisationen daran, die Forschungsergebnisse für
die Praxis aufzubereiten. Die Entwicklung von
Prototypen steht dabei im Vordergrund: z.B. die
Das Pestiziddilemma der Bergregionen – Die
Agrarproduktion unterläuft eine Transformation in
Richtung hochwertiger Feldfrüchte. Das erhöht das
bäuerliche Einkommen, aber auch den Einsatz von
Pestiziden mit nachteiligen Effekten in den Anbauregionen und den vorgelagerten Tiefländern. Alternative Strategien der Schädlingsbekämpfung
und daran geknüpfte ökonomische Anreize für
deren Umsetzung zeigen einen Ausweg auf.
Weitere Themen sind „Potentiale kleinbäuerlicher Tierzucht in den Bergregionen Nordvietnams“ und „Innovationen in Bergländern Südostasiens – Wie Mensch und Ökosystem
miteinander interagieren“.
Einen umfassenden Einblick in die Thematik gibt
das Buch des SFB 564: Heidhues et al. (Eds.).
2007. Sustainable Land Use in Mountainous regions of Southeast Asia. Meeting the Challenges
of Ecological, Socio-Economic and Cultural Diversity. Springer, Berlin. 404p. Eine Einführung in die
Forschungsarbeit gibt der Film „Research On Sustainable Development in Mountainous Regions of
Southeast Asia“, auf der Homepage des SFB 564:
www.uni-hohenheim.de/sfb564/
Prof. Dr. Karl Stahr ist Professor am Institut für Bodenkunde und Standortslehre der Universität Hohenheim
und Sprecher des SFB 564. Dr. Holger Fröhlich ist seit 2007 Geschäftsführer des SFB 564.
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THAILAND-RUNDSCHAU
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Thailands Demokratie in der Krise:
Ursachen und Konsequenzen
Tagung der Forschungsgruppe Asien (FGA) an der Universität Trier
Holger Alisch
Vom 26. bis 27. Juni 2010 fand in den Räumen der
Volkshochschule Trier eine Tagung zur aktuellen
Thailand-Krise statt. Die Veranstaltung zu diesem
in Deutschland meist nur selten beachteten Thema
wurde unter der Leitung von Dr. Patrick Ziegenhain und Jun.-Prof. Dr. Martin Wagener von den
studentischen Mitgliedern der Forschungsgruppe
Asien (FGA) an der Universität Trier organisiert.
Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt durch
den Lehrstuhl von Prof. Dr. Sebastian Heilmann,
die Juniorprofessur, die Volkshochschule Trier und
die Südostasien Informationsstelle im Asienhaus
Essen.
Dr. Ziegenhain stellte zunächst in einem Einführungsvortrag die Entwicklung Thailands als konstitutioneller Monarchie mit parlamentarischem Regierungssystem besonders seit Beginn der
Regierung des ehemaligen Premierministers
Thaksin Shinawatra (2001) vor. Er beschrieb dabei
den tief greifenden Wandel der thailändischen
Innenpolitik nach dem Militärputsch von 2006,
wobei schnell deutlich wurde, dass das politische
System Thailands trotz des theoretischen demokratischen Anspruches in der Praxis viele autoritäre und teilweise korrupte Züge aufweist.
In der folgenden ersten Diskussionsrunde, die
unter der Leitfrage, ob denn Thailand verloren sei,
geführt wurde, zeigte sich, dass die Teilnehmer
mehrheitlich zumindest in dem breiteren politischen Verständnis und der größeren Politisierung
der thailändischen Gesellschaft einen positiven
Effekt der seit 2006 nahezu ununterbrochen andauernden Auseinandersetzungen sahen. Dennoch resümierte Dr. Ziegenhain, dass die Schädigung der Demokratie durch den anhaltenden
Vertrauensverlust gegenüber Regierung und Eliten
keine kurzfristige, sondern eher eine dauerhafte
Erscheinung sei.
Nina Wiesel von der Universität Trier verglich in
ihrem Vortrag die beiden Verfassungen von 1997
und 2007. Sie untersuchte dabei eingangs deren
Legitimation und erklärte, dass zwar die Verfassung von 2007 bei einer Volksabstimmung unter
Aufsicht des Militärs angenommen wurde, dass
aber erhebliche Mängel bei der Legitimation der
verfassungsgebenden Versammlung und des Verfahrens der Ausarbeitung auch im Vergleich zur
Verfassung von 1997 bestünden. Bei beiden Entwürfen wären diverse Bürgerrechte wie die Versammlungs- und Redefreiheit eingeschränkt wor-
114
den. Zudem habe der Entwurf von 2007 das
Parlament zugunsten unabhängiger Verfassungsorgane wie dem Verfassungsgericht geschwächt.
Während auf der horizontalen Ebene der Gewaltenteilung demokratische Zugewinne in der aktuellen Verfassung zu verbuchen wären, würden diese
aber durch die vertikalen Einbußen bei der Mitbestimmung deutlich übertroffen.
Auch Dr. Wolfram Schaffar von der Universität
Hildesheim setzte sich bei seinen Ausführungen
mit Fragen des politischen Systems auseinander.
Er behandelte hierbei die immer stärkere Juridifizierung der thailändischen Politik, die er in Anlehnung an die kritische Demokratietheorie als ein
Problem des Systems an sich und nicht nur als
funktionale Frage begriff. Der Referent schilderte
in der Folge, wie es zu einer bewusst herbeigeführten Fragmentierung der Souveränität auf Kosten des Parlaments gekommen sei. Diese Ansätze
für eine Zurückstufung der Legislative wären dabei
in beiden Verfassungen, der von 1997 und der von
2007, zu finden. Die Diskussion, welche sich an
die Erläuterungen von Dr. Schaffar anschloss,
thematisierte besonders die Rolle des Verfassungsgerichts. Der Referent zog den Schluss,
dass nur eine fundamentale Veränderung der Zustände der weiter wachsenden Juridifizierung Thailands Abhilfe schaffen könnte.
Corinna Johannsen von der Universität Trier
machte in ihrem Vortrag auf die Zerstrittenheit der
thailändischen Eliten aufmerksam. Diese hätte
einen erheblichen Anteil am Zustandekommen der
kritischen Situation im Land gehabt. Zwar wäre die
relative Einigkeit der Oberschichten, die durch die
Asienkrise von 1997 hervorgerufen wurde, schnell
wieder hinfällig gewesen, der innere Dauerkonflikt
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sei aber erst nach dem Militärputsch von 2006
wieder wirklich offen zutage getreten. In der nachfolgenden Fragerunde wurde zwar die Notwendigkeit einer nicht geeinten Elite für den Beginn eines
Transformationsprozesses von autokratischen hin
zu demokratischen Systemen festgestellt, aber
auch auf die Bedeutung einer Konfliktbeilegung
innerhalb der Führungsschichten hingewiesen,
ohne die eine langfristige politische Stabilität nicht
zu erreichen wäre.
Dr. Paul Chambers, Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, widmete sich bei seinen Ausführungen dem Einfluss des Militärs in der thailändischen Politik. Er hob dabei vor allem die
Wichtigkeit des von Militärs geführten Thronrates
hervor und verwies auf die seit den frühen 1990er
Jahren gesunkene Rolle der Streitkräfte, die erst
durch den Putsch und die damit erfolgte Ablösung
von Premierminister Thaksin wieder deutlich angewachsen sei. Im Anschluss wurde auch die innere Zersplitterung der Armee thematisiert. Dr.
Chambers verwies auf die große Rolle der verschiedenen Klassen der Militärakademie, deren
Absolventen innerhalb von Heer und Polizei wichtige Seilschaften bilden würden.
Bei der Gesprächsrunde, die zum Ende des ersten
Tages der Veranstaltung stattfand, wurde zeitweise sehr emotional über die jüngsten Demonstrationen in Bangkok diskutiert. Dr. Oliver Pye von der
Universität Bonn berichtete aus erster Hand von
seinen Interviews mit Rothemden vor Ort. Außerdem wurde von Dr. Alexander Horstmann vom
Max-Planck-Institut die politische Farbenlehre der
beiden rivalisierenden Lager genauer betrachtet
und eine teilweise Republikanisierung des sehr
heterogenen roten Lagers festgestellt.
Der zweite Teil der Tagung begann mit dem Vortrag von Jun.-Prof. Dr. Martin Wagener von der
Universität Trier, der sich intensiv mit dem Grenzkonflikt Thailands und Kambodschas auseinandersetzte. Er erinnerte an den historisch aufgeladenen Streit der beiden Länder um die Tempelanlage
von Preah Vihear und thematisierte die verschiedenen Schusswechsel an der Grenze, die bislang
insgesamt acht Tote und zahlreiche Verwundete
gefordert hätten. Als treibende Kraft bei der Eskalation des Konfliktes machte er den autoritär regierenden kambodschanischen Premierminister Hun
Sen aus. In der anknüpfenden Debatte wurde auf
die innenpolitische Dimension des Streites in Thailand selbst aufmerksam gemacht. Sowohl die Rothemden wie auch die People’s Alliance for Democracy (PAD) hätten klar nationalistische Töne
THAILAND-RUNDSCHAU
angeschlagen und die zeitweise von der Regierung Samak Sundaravej gezeigte Kompromissbereitschaft gegenüber Phnom Penh heftig angegriffen.
René Jaquett von der Universität Trier fasste bei
seinen Ausführungen die Zusammenhänge zwischen den Grundsätzen der „Good Governance“
und der Ausstattung und Verfügbarkeit des Internets in Thailand zusammen. Er problematisierte
die teilweise repressive Überwachungspolitik der
thailändischen Regierung, die vor allem versuche,
den Straftatbestand der Majestätsbeleidigung im
Internet zu verfolgen. Im Zuge der anschließenden
Gesprächsrunde wurde deutlich gemacht, dass die
regionalen Unterschiede bei der Ausrüstung mit
funktionsfähigen Internetzugängen eine beträchtliche Rolle spielen würden. Auch die thailändische
Regierung hätte aber unter Sicherheitsmängeln zu
leiden, was sich beispielsweise an den gegenwärtigen Problemen der Internetpräsenz des thailändischen Senates äußern würde.
Zuletzt stellte Karoline Herrmann (Universität Trier)
den Ansatz einer Power-Sharing-Politik zur Lösung der ethnischen Konflikte in Süd-Thailand vor.
Als grundlegendes Problem zur Anwendung einer
solchen Strategie zur Konfliktbeilegung identifizierte sie den zentralstaatlichen und mehrheitsdemokratischen Charakter der Verfassung Thailands. In
der Stärkung von konsensdemokratischen Elementen wie der Verhältniswahl sowie in der Etablierung einer demokratischen islamischen Partei,
die als Gesprächspartner der Regierung in Bangkok fungieren könnte, sah die Referentin die wichtigsten Maßnahmen bei der Schaffung von Grundlagen für die Aufteilung der Regierungsgewalt mit
dem Ziel einer längerfristigen Versöhnung der
Konfliktparteien.
Obwohl auch der Gedanke einer Föderalisierung
und Machtaufteilung in Thailand von der überwiegenden Zahl der Tagungsteilnehmer als zumindest
in den kommenden Jahren unwahrscheinlich zurückgewiesen wurde, machten in der Abschlussdiskussion noch einmal mehrere Referenten auch
auf die gestärkte politische Streitkultur im Gefolge
der Politisierung des ganzen Landes aufmerksam.
Ob Thailand besonders nach dem möglichen Tod
seines lange Zeit allgemein anerkannten aber
schwer kranken Königs auf einen Bürgerkrieg zusteuert oder ob sich nach einer Krisenzeit doch
noch eine stabilere demokratische Gesellschaft
etablieren könnte, war natürlich auch abschließend
von keinem Teilnehmer mit Sicherheit vorherzusehen.
Holger Alisch ist wissenschaftliche Hilfskraft an der Juniorprofessur für Internationale Beziehungen/Außenpolitik an der Universität Trier. Aus dem Kreis der DTG nahm Dr. Kumerloeve an der Tagung teil.
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Abdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Auswärtiges Amt Intern, Ausgabe Juni 2010
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"Die zweite Generation - Wo bin ich Zuhause?"
Seminar der Deutsch-Indonesischen (DIG) und
der Deutsch-Thailändischen Gesellschaft (DTG) in Köln
Frauke Kraas
Am 4.9.2010 veranstalteten DIG, DTG, Agisra und
das Philippine Women's Forum unter der Leitung
von DIG-Präsidenten Karl Mertes ein sehr gut
besuchtes Seminar zur Frage der "zweiten Generation" - gemeint: zu den Kindern der seit den
1960er Jahren nach Deutschland gekommenen
Migranten aus Südostasien. Während die Angehörigen der "ersten Generation" als Studierende oder
als Ehepartner von Deutschen nach Deutschland
kamen, sich hier einlebten und eine Familie gründeten, sind deren Kinder, zur "zweiten Generation"
zählend, zumeist in Deutschland aufgewachsen
und sind beruflich und familiär integriert – oft ihrerseits bereits wieder Eltern. Ihre Sozialisation unterscheidet sich erheblich von derjenigen der sog.
Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum.
Das Seminar richtete sich auf Fragen, welche Erfahrungen die Angehörigen der "zweiten Generation" in Deutschland gemacht und welche Verhaltensweisen sie aus den Herkunftsländern ihrer
Eltern übernommen haben sowie darauf, in welcher Weise sie ihre binationalen Wurzeln empfinden, bewahren und in ihre persönliche Identität
einbeziehen. Eigene Erfahrungen, aber auch Hoffnungen und Erwartungen sowie gesellschaftliche
Forderungen wurden diskutiert - zudem auch die
bisher ungewöhnliche, da selten gestellte Frage,
welche spezifischen Wünsche und Erwartungen
die deutsche Gesellschaft an sie hat.
Bei den einführenden Darstellungen konzentrierte
sich Jae-Soon Joo-Schauen (agisra; Informationsund Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen) auf die schwierige Pioniersituation
vieler Frauen der „ersten Generation“, die durch
Probleme in Bezug auf ihre Integration, Konflikte in
den Familien, mangelnde Netzwerkbildung, Stigmatisierung und Vorurteile belastet ist. Wichtig
wird für die „zweite Generation“ vor allem die Frage, welche Sprachkenntnisse, Netzwerke und
Qualifikationen deren Kinder benötigen.
Dagmar Dahmen, Leiterin der Abteilung für Ausländerangelegenheiten der Stadt Köln, erläuterte
die aktuelle Situation der Umsetzung des EURechts in Bundes- und Landesrecht – mit allen
Problemen des Spagats zwischen Integration und
Abwehrrecht. Zentrale Bedeutung bei der geregelten Zuwanderung kommt der Frage der Sprachkenntnisse und der Berufungsberatung für Zuwanderer zu. Für die „zweite Generation“ werden
Bilingualität und interkulturelle Fähigkeiten zu einer
vorteilhaften Schlüsselqualifikation in einer sich
zunehmend globalisierenden Welt.
Frauke Kraas (DTG/Universität zu Köln) erläuterte
die wesentlichen Veränderungen der Migrationsprozesse während der letzten 20 Jahre, die
von verstärkter internationaler Arbeitsteilung, zunehmender Urbanisierung der Migration, diversifizierteren Formen von Migration, Transnationalität
sozialer Beziehungen, Translokalität, wachsenden
ethnischen Ökonomien und zunehmend globalisierter Bildungsmigration gekennzeichnet sind. Der
„zweiten Generation“ kommt innerhalb dieser
Trends zentrale Bedeutung insofern zu, als sie
internationale und interkulturelle Brücken bauen,
vermitteln und Verständnis stärken kann.
Anschließend erläuterten fünf Angehörige der
„zweiten Generation“ aus ihrer Sicht die Erfahrungen: Wechselnde Zugehörigkeitsgefühle im Verlauf des Lebens zu den kulturellen Wurzeln ihrer
Eltern, große Internationalität des Freundeskreises, eine positive Sicht von als natürlich erfahrener
Integration sowie ein großes Verständnis für die
Notwendigkeit einer vorurteilslosen, enttabuisierten Diskussion aktueller Integrationsthemen standen im Vordergrund. Und: Die Frage „woher
kommst Du?“ wurde von ihnen – anders als oft
angenommen – nicht als unbehaglich empfunden,
sondern vielmehr als Ausdruck eines natürlichen
Bedürfnisses in der Auseinandersetzung mit räumlicher und sozialer Identität.
© Foto: Peter Berkenkopf
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Aus Eka Donner’s Tagebuch
Sicherlich haben unsere Leser die einführenden
Worte zu „Eka Donner’s Tagebuch“ und die erste
Kostprobe aus dem Tagebuch auf den Seiten
55/56 des letzten Hefts 2/2010 gelesen. Hier nun
eine weitere Passage und wir erinnern uns: Es
geht um die Jahre 1969-1972, es geht um „Kabi-
nettstückchen“, um humorvolle Betrachtungen am
Rande, um Bilder und Einschätzungen jenseits
tagesaktueller Vorkommnisse.
Arnd D. Kumerloeve
Heiraten in Thailand - einige Beobachtungen am Rande.
Der Club der Offiziersfrauen der amerikanischen Streitkräfte hat zu seinem monatlichen Mittagessen eine außergewöhnliche reizende und interessante Sprecherin eingeladen. Frau G. L.
spricht über „Heirat in eine Thai-Familie“ und beginnt gleich mit einem Sinnspruch:
„Der Mann ist wie die Teekanne in einem Teeservice, Die Frauen sind die Teetassen.
Ein ordentliches Service sollte nur eine Kanne und viele Tassen haben.“
Wie würde es aussehen, wenn wir nur eine Tasse mit vielen Teekannen hätten?“ sagt ein Thai
und bezog sich dabei auf ein altes chinesisches Sprichwort.
Die Gäste werden von nah und fern kommen, um am heutigen Hochzeitsempfang für Herrn ***,
Sohn des Herrn ***, und Fräulein ***, Tochter des Herrn ***, dem neuernannten Gouverneur von
***, teilzunehmen. Das Fest für tausend Leute wird im Ballsaal des Narai-Hotels stattfinden.
Der Verkehr geriet stundenlang durcheinander, als sich mehr als eintausendachthundert Gäste in
etwa eintausendfünfhundert Autos den Weg zum Hotel Siam Inter-Continental bahnten, um an
der großen Hochzeit von *** , dem Sohn des Präsidenten der ***-Bank und Fräulein *** teilzunehmen. Der zehnstöckige Hochzeitskuchen, der fast bis zur Decke reichte, wurde von dem
glücklichen Brautpaar mit einem Schwert durchteilt.
Während dessen feiern Herr *** und Fräulein ***, beide in derselben Firma tätig, ihre Verlobung.
Das Datum ihrer Hochzeit steht noch nicht ganz fest, beide warten noch darauf, dass ihr Astrologe die rechte Zeit herausfindet.
Jeder, der jemand ist, war da. Viertausend Gäste hatte man zu der großen Hochzeit ins Dusit
Hotel eingeladen und dreitausendneunhundertneunundneunzig kamen. Das mit Gold verzierte
Kleid mit Seide und Wolle, mit einem hohe Kragen und langen Ärmeln, das die Braut zur Zeremonie getragen hatte, fand sie zu heiß. So vertauschte sie es gegen eines aus weißem, mit Perlen bestickten Satin Lamé. Der Stoff kam aus Frankreich, aber das Kleid war in Hongkong gearbeitet worden. Dem Brautpaar gelang es, nach einigen Stunden unbemerkt das Fest zu
verlassen, und sich für eine „Rund um die Welt in dreißig Tagen“-Hochzeitsreise fertig zu machen. Die Gäste konzentrierten sich inzwischen auf das Vertilgen des zehnstöckigen Hochzeitskuchens.
Wir möchten dem Chef des Steuerbüros einen dicken Kuss geben, weil er auf seinen Steuerformularen so wundervoll diskret ist. Eines der Formulare verlangt Auskunft über die Familie des
Steuerzahlers und fügt hinzu, dass Einzelheiten über ALLE seine Familienangehörigen äußerst
vertraulich behandelt werden. „Als Familienangehörige“, hören wir, „gelten bis zu zehn Frauen“.
Und „Jemanden wie den Sohn einer Nebenfrau zu behandeln heißt, ihn abschätzig und schlecht
zu behandeln“.
Herr Muangsuwarn Wongsri, ein Wunderheiler, 19, ist in den nördlichen Provinzen wegen seiner
Künste wohlbekannt. Einige der Leute, die er geheilt hat, haben ihm ihre Tochter zur Belohnung
gegeben. Herr Chuam Polchoo jedoch ging, als er ein Bild des Wunderheilers mit seinen sechs
Frauen sah, zur Polizei und sagte, die eine Frau sei seine seit einigen Jahren von zu Hause verschwundene Tochter. Er verlangte, dass die Polizei einschreite und sie zurückgebe.
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