Tito-Personenkult hielt Jugoslawien zusammen und

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Tito-Personenkult hielt Jugoslawien zusammen und
Marc Halder
Der Titokult
Charismatische Herrschaft im sozialistischen
Jugoslawien
Oldenburg Wissenschaftsverlag 2013
227 Seiten
ISBN: 3-486-72289-1
49,80 Eur[D] / 70,20 CHF
Themen- und Buchbesprechung
Tito-Personenkult hielt Jugoslawien zusammen und kostete Milliarden
Mit dem Ableben Josip Broz Titos im Jahre 1980 ´verlor´ die Welt eine der letzten charismatischen
Ausnahme-Gestalten des 20. Jahrhunderts, denen es nicht nur gelang, ihre unversöhnlichen Feinde zu
besiegen (Faschisten und Nazis), mit den Alliierten freundschaftliche Kontakte zu pflegen, um sich nicht
zuletzt auch von übermächtigen Vorbildern und bevormundenden Lehrmeistern (Stalin) politisch zu
emanzipieren, sondern auch eine eigene und dauerhafte Hausmacht aufzubauen (Jugoslawien). Dieses
Kunststück ist zumindest in Europa eigentlich nur dem jugoslawischen Kommunistenführer Tito
gelungen. Ansonsten wiederholte sich auch bei ihm dasselbe Muster von typischen Verhaltensstörungen
und Fehlern, das man schon bei Hitler und Stalin und anderen Führern des Ostblocks einschlägig
beobachten konnte: Verschlagenheit, Herrschsucht, Rachsucht, Eifersucht, Habsucht, Prunksucht,
Verschwendungssucht, Starrsinn, Eigenwilligkeit, Dogmatismus, Intoleranz, Misstrauen, Brutalität,
Eitelkeit, Anfälligkeit für Missbrauch aller Art, Ausbeutung und Schadenfreude, Zynismus,
Gleichgültigkeit, Desinteresse, Inkompetenz, Verwantwortungslosigkeit. Auch wenn Tito trotz seines
Bruchs mit Stalin (1948) sein Leben lang Stalinist aus Leib und Seele geblieben ist, schaffte es der
jugoslawische Duce, sich als ´positive´ Alternative darzustellen und weltweite Anerkennung zu finden.
Marc Halder (geb. Zivojinović), Historiker beim Wissenschaftsrat zu Köln, hat sich die Aufgabe gestellt,
die Faktoren, Kriterien und historischen Gegebenheiten herauszuarbeiten, die den Kult um die Person
Titos ausmachten und ihn als weitgehend unumstrittenes charismatisches Oberhaupt seines Landes
erscheinen liessen. Ferner zeigt Halder die Hintergründe auf, die auch zur Krise, zum Zerfall und
schliesslich zum Untergang des südosteuropäischen Vielvölkerstaats führten, als der Mythos Tito
verblasste und das kommunistische System einige Jahre nach seinem Tod unweigerlich kollabierte.
Die Voraussetzungen und theoretischen Konzepte, die bei der Etablierung von Führerkulten eine
entscheidende Rolle spielen, erwähnt Halder im einleitenden Kapitel seines Buches. Dabei stützt sich der
Autor auf die Charisma-Theorie der „Veralltäglichung“ Max Webers, die er in seinem Werk „Wirtschaft
und Gesellschaft“ (1922) formuliert hatte. Weber verstand den Begriff des Charismas nicht in erster Linie
als eine göttliche Gnade, wie dies noch bei den antiken Autoren der Fall gewesen war, sondern entwickelte
den „Charismatismus“ zum soziologischen Terminus, indem er ihn auf die Erklärung des Zusammenhangs
mit der politischen Herrschaft ausdehnte. Damit Charisma bei einer Führergestalt auch entstehen kann,
stünden in der Regel besondere historische Umstände im Vordergrund, die es zu berücksichtigen gelte. In
gleichem Masse entscheidend sei dann zusätzlich, ob im Rahmen einer sozialen Beziehung einer
bestimmten auserwählten Person von einer Anhängerschaft Charisma zugeschrieben werde, die
eschatologisch Heil bringende Wirkung verspricht. Wichtig sei den Soziologen gemäss die Konstruktion
des Vertrauens, das ein Charismatiker bei anderen geniessen müsse, um von allen ohne Ausnahme nicht
nur anerkannt, sondern auch „grenzenlos geliebt“ zu werden. Entscheidend für die Dauerhaftigkeit des
Charismas einer Führerfigur sei sodann die Notwendigkeit, eine allgemein anerkannte charismatische
Herrschaft mit rationalen oder traditionellen Elementen durchsetzen zu können. Wenn aber die
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Führerperson als Inkarnation des Volkswillens dargestellt und nicht mehr rational begründet werde, so sei
dies der Anfang der Mythologisierung eines bestimmten Charismatikers.
Was die von Halder angeführten Theorien Webers, Cassirers und Eliades für die Analyse des Falls
Tito wert sind, versucht der Autor im Laufe seiner Studie zu rechtfertigen. Sinnvoller wäre es wohl
gewesen, Titos Stellung mit den Führerkulten anderer kommunistischer und nicht-kommunistischer
Charismatiker seiner Zeit im Vergleich zu ergründen. Im Falle Titos ist es wichtig zu betonen, dass er
bereits in den 30er Jahren bei seinem Lehrmeister und Mentor Stalin eine exklusive Führungsrolle unter
den jugoslawischen Kommunisten im Rahmen der Komintern angestrebte hatte, wobei er das stalinistische
Handwerk zur Ausschaltung von Rivalen und Gegnern verinnerlichte und daraus Profit schlagen konnte.
So gesehen ist aus Tito eigentlich nichts anders als ein analoges Produkt, eine fast exakte Kopie, ein
authentisches Abbild Stalins geworden; der Sowjetdiktator schien früh auf ihn aufmerksam geworden zu
sein, um ihn als aussergewöhnlichen Parteigenossen schätzen und respektieren zu lernen.1 Den Beginn
des Charismas Titos setzt Halder aber erst in den Kriegsjahren an, genauer in den Frühling 1942, als die
Gefolgsleute Titos im Zuge des jugoslawischen Partisanenkampfes begannen, ihn unter sich und bei der
Bevölkerung als Führer propagandistisch hochzustilisieren.
Mythologie des Titoismus
Im Falle Jugoslawiens, dessen Geschichte quasi fast nur aus Mythen und Legenden bestand,
spielte ein Mythenträger wie Tito die zentrale Rolle bei der Identitätsbildung. So kam, wie Halders
Prämisse richtig lautet, vor allem dem Partisanenkampf als Vorlage für den Gründungsmythos des
kommunistischen Jugoslawien natürlich herausragende Bedeutung zu. Der Rest ergab sich sozusagen von
selbst. Obwohl Titos Partisanen zahlreiche, allgemein wenig bekannte Kriegsverbrechen an internen
Kontrahenten und ethnischen Minderheiten (wie den eigenen Volksdeutschen) begangen hatten, die in
Jugoslawien nicht nur verschwiegen und tabuisiert, sondern auch niemals gesühnt wurden (hier hat die
westliche Wertegemeinschaft, die nach 1945 entstand, kläglich versagt), ist es klar, dass Lügen dieser Art
nicht von ewiger Dauer sein können. Im Falle Jugoslawiens wurden die Mythen immer wieder der neuen
Situation angepasst, und alte Mythen wurden von neuen überlagert. Sie haben sich bis heute hartnäckig
gehalten und erleben 30 Jahre nach Titos Tod vor allem in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens eine
eigenartige Konjunktur. Natürlich eignete sich der Marxismus-Leninismus als ideologischer Kitt und als
politische Ersatz-Religion in idealer Weise, um eine konkrete eschatologisch-charismatische Botschaft
mit angeblich heilsbringender Wirkung zu transportieren. Mit diesem ideologischen Rüstzeug sollte die
Mythologisierung Titos und des Titoismus gestärkt und die entsprechenden rituellen Handlungen
institutionalisiert werden. Dass diese scheinbare Heilsbotschaft für viele Jugoslawen aber mit
Unterdrückung der elementaren Menschenrechte, Gefängnis und Tod endete, wurde und wird bis heute
gerne übersehen. Die verfügbaren Massenkommunikationsmittel (v.a. Zeitungen, Radio und TV), die auch
in Jugoslawien im grossen Stil manipuliert wurden, um diverse Lügen zu verbreiten und die Realität zu
verzerren, wurden von den Kommunisten als Verstärker des Charismas und zur Zurschaustellung der
Macht schamlos ausgenutzt und für Propagandazwecke missbraucht, während die objektive Information
das Nachsehen hatte. Im Falle des titoistischen Jugoslawien ist es angebracht, von einer gigantomanischen
Inszenierungsdiktatur zu sprechen, die es auch im Innern verstand, sich gegen aussen in rosaroter Farbe
darzustellen. Beim Titoismus handelte es sich also weitgehend um eine geniale Täuschung der Massen,
die mit einer fatalen Selbsttäuschung verbunden war. Selbst der glühende Tito-Apologet Milovan Đilas
erkannte in seinem sensationellen Buch „Die neue Klasse“ den Charakter und die Folgen der
Bürokratisierung und Patrimonialisierung des jugoslawischen Systems2 und wagte es, diese unheilvolle
Entwicklung zu verurteilen. Dieser unübliche Wagemut brachte ihm unter den Bedingungen dieses
totalitären Regimes, in dem Đilas selbst agierte, zwangsläufig den Zorn Titos und seiner einstigen
Weggefährten ein, die es als Opportunisten, Mitläufer oder Feiglinge vorzogen, sich die Gunst Titos zu
sichern, obwohl der eine oder andere später bei ihm ebenfalls in Ungnade fiel. Trotz eines gewissen
Bekanntheitsgrades und Einflusses Rankovićs, Kardeljs, Pijades und des Hofhistorikers Dedijer blieb am
Zum stalinistischen Charakter J.B. Titos s. Pero Simić, Tito – Geheimnis des Jahrhunderts. Ljubljana 2011.
Obwohl sehr persönlich verfasst, sind die Bücher von Milovan Đilas, v.a. seine Tito-Biographie, die auch auf Deutsch
vorliegt, auch heute noch lesenswert.
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Ende im Grunde nur noch Tito selbst übrig, der in Jugoslawien wie der Papst in Rom als unfehlbar galt
und nicht kritisiert werden durfte.
Halders eigentliche Analyse der Charismatik und des Personenkults Titos erfolgt in vier
chronologisch abgehandelten Phasen, die folgende Abschnitte umfassen: Genese des Personenkults bei
Tito, der Personenkult während der Regimephase, postcharismatische Phase; viertens wird die Phase des
Restcharismas und der Stigmatisierung bzw. der Nostalgie beleuchtet.
Anfänge des Titokults im Partisanenkrieg
Wie bereits erwähnt, verfügte Tito vor dem Zweiten Weltkrieg noch über kein öffentliches
Charisma. Dennoch waren die Grundlagen zur Herausbildung eines solchen bereits gelegt: Sohn eines
Kroaten und einer Slowenin, Teilnahme am ersten Weltkrieg auf der Seite Österreich-Ungarns (gegen
Serbien!), russische Gefangenschaft, Mitgliedschaft in der KPJ, Ausübung konspirativer und wohl auch
krimineller Aktivitäten in den 20er Jahren, langjährige Gefangenschaft, Stigma des illegalen
kommunistischen Kämpfers, usw. In den 30er Jahren hielt sich Josip Broz in der Sowjetunion auf, wo er
sich das Pseudonym „Tito“ zulegte und den leibhaftigen Stalin von nächster Nähe kennenlernte, dessen
Säuberungsterror er auf Kosten anderer Parteigenossen unbeschädigt überstand. Vieles was in dieser Zeit
passierte liegt noch im Dunkeln.3 Mit dem in Moskau erhaltenen stalinistischen Rüstzeug kehrte Tito nach
Jugoslawien zurück, um sich im Partisanenkampf gegen die Achsenmächte als Kommunistenführer und
Kriegsheld (so beim „Wunder“ von Drvar), zu bewähren. Zwar stand in Jugoslawien noch längere Zeit
die Glorifizierung Stalins und der Sowjetunion im Vordergrund. Erst im Frühjahr 1942, als erste Gedichte
und Lieder über den jugoslawischen Partisanenführer veröffentlicht wurden, setzte allmählich ein
Personenkult um Tito alias Josip Broz ein, der von den Jugoslawen bewusst und immer intensiver gepflegt
wurde. An der zweiten legendären Vollversammlung des „Antifaschistischen Rates der Nationalen
Befreiung Jugoslawiens“ (AVNOJ) vom November 1943 in Jajce, die den Grundstein für die künftige
jugoslawische Ordnung legte, wurde eine Büste Titos aufgestellt, er selbst zum Marschall ernannt und als
„genialer“ Führer mit eigenem Charisma vom Kollektiv bestätigt. Nun hatten die Jugoslawen ihren
eigenen Stalin bekommen, dem von nun an die entsprechenden Huldigungen zu zollen waren. Zwar konnte
dieser ´geniale´ Führer nicht verhindern, dass den Kämpfen etwa 300´000 Partisanen zum Opfer fielen,
was wohl ein viel zu hoher Blutpreis für die Unabhängigkeit war (nach Schätzungen starben etwa 9000
Kommunisten bzw. Mitglieder der KPJ, die nach dem Krieg ersetzt werden mussten). Über diese Tragödie
sprach im kommunistischen Jugoslawien kaum jemand, denn diese Diskussion wurde unterdrückt, das
Thema gehörte zu den Tabus. Mit Stalin, einem von Anfang an schwierigen und unberechenbaren
„Verhandlungspartner“,4 gab es bereits während des Krieges einige „Missverständnisse“, die beide Seiten
unweigerlich voneinander entfremdeten. Die jugoslawischen Kommunisten, die erkannt hatten, welche
immensen Verbrechen im Namen des Stalinismus in der Sowjetunion begangen wurden, schienen sich
allmählich von Stalin und der Sowjetunion distanzieren zu wollen. Trotz anfänglicher Skepsis änderte sich
nach der Konferenz von Teheran im Dezember 1943 auch die Haltung der Alliierten, die von ihrer
antikommunistischen Stellung heraus zur wundersamen internationalen Anerkennung Titos führte – und
logischerweise neue unüberwindbare Konflikte mit der Sowjetunion zur Folge hatten.
Wie Halder weiter schlüssig erklärt, entwickelte sich das Phänomen des Titokults also während
des Krieges spontan aus der charismatischen Beziehung zwischen Tito und den Partisanen und war
Ausdruck derselben. Nach dem Krieg konnte Titos Charisma, das als Katalysator der Aufbaueuphorie zu
wirken begann, für propagandistische Anliegen nutzbar gemacht werden, denn es fiel vor allem bei der
jüngeren Generation auf fruchtbaren Boden. Natürlich spielte der Titokult auch als Stabilisator der
Parteiherrschaft, einschliesslich der Diskreditierung und Unterdrückung der ideologischen und politischen
Gegner eine wichtige Rolle. Zum Titokult gehörten geräuschvoll organisierte Massenauftritte des Volkes,
bei denen die Einwohner regelmässig ihre Dankbarkeit für den Sieg über den Faschismus zum Ausdruck
Pero Simić, der die Zeit Titos in den 30er Jahren in Moskau aufgearbeitet hat, fand heraus, dass Tito den Terror gegen die
jugoslawischen Kommunisten aktiv unterstützt hatte.
4 S. z.B. M. Đilas: Gespräche mit Stalin. Zürich 1962.
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bringen sollten. Sowohl der 1. Mai wie auch der (neue) Geburtstag Titos, der 25. Mai,5 waren Tage, an
denen der Titokult jeweils ihren Höhepunkt erreichte; diese Tage wurden dazu benutzt, um die Loyalität
und die „Liebe und Treue“ der werktätigen Massen zum ihrem Volkshelden zu bezeugen. Dabei erhielt
der selbsternannte Marschall, der nun auch als jugoslawischer Ministerpräsident auftrat, routinemässig die
höchsten Orden, die der Staat zu vergeben hatte. 6 Tito wurde gleichgesetzt mit dem Vaterland und
umgekehrt, er galt als Synonym für Jugoslawien schlechthin. Die Huldigungsrituale entsprachen eindeutig
den Traditionen in der stalinistischen Sowjetunion wie auch in anderen Ländern Osteuropas und Asiens,
die nach dem Krieg kommunistisch wurden. Sogar ein Asteroid, der von einer jugoslawischen Sternwarte
entdeckt wurde, erhielt den Namen Titos, ebenso verschiedene Strassen, Plätze und Städte – so wurde die
montenegrinische Hauptstadt Podgorica schon früh in Titograd umbenannt; typische Städtenamen waren
Titov Veles, Titova Mitrovica, Titovo Užice usw. Vor allem Serbien und Montenegro verwandelten sich
in fanatische Tito-Hochburgen, während das muslimische Bosnien und vor allem das katholische Kroatien
in schwere Konflikte mit dem atheistischen Sozialismus gerieten. Deshalb wurde nicht zuletzt aus
propagandistischen Gründen vor allem das rückständige und multikulturelle Bosnien einer rigorosen
titoistischen Gleichschaltung unterworfen. Diese emotionale Bindung, die in diesen Ländern zwischen
dem Führer und dem Volk künstlich hergestellt wurde, sollte bis heute nachwirken. Obwohl der nicht
hinterfragte Glaube an Stalin in Jugoslawien bis 1948 weiterhin frenetisch propagiert wurde, stand bei der
Bezeichnung öffentlicher Orte und Stätten nach jugoslawischem Verständnis Tito in der Kulthierarchie
über Stalin. Das bedeutete, dass nur Tito als einziger lebender Mensch in der jugoslawischen Toponymie
namensgebend sein durfte. In jeder Amtsstube und in jedem Schulzimmer musste ein Tito-Bild hängen,
bis nach Rumänien hinüber.7 Auch der typisch jugoslawische Slogan der „Brüderlichkeit und Einheit“
(bratstvo i jedinstvo) wurde zum wichtigsten mythopoetischen Ideologem und zu einer Art
Herrschaftsmotto Titos. Mit der Inbesitznahme ehemaliger Königspaläste, in denen Tito wohnen und
regieren sollte (denn Belgrad war durch die vielen Bombenangriffe schwer zerstört worden),8 vermischten
sich kommunistische Herrschaftsformen mit altbourgeoisen Machattributen. Tito liebte den luxuriösen
Lebensstil und liess seine Person durch umfangreiches Sicherheitspersonal schützen. Gegen aussen gab
er sich freilich bescheiden und verneinte die Existenz eines Personenkults, der ein Tabuthema in der
jugoslawischen Selbstdarstellung bleiben musste.
Personenkult und Demokratiefeindlichkeit
Mit verschiedenen Autoren jugoslawischer Herkunft geht Halder in der Ansicht einig, dass der
Kult um Tito infolge des sowjetisch-jugoslawischen Zerwürfnisses, das 1948 mit dem Ausschluss der KPJ
aus dem Kominform-Büro seinen Höhepunkt erreichte, neuen Auftrieb erhielt. Das Charisma Titos habe
sich in der Krise von 1947/48, die nach Kardelj ein „Kampf um Leben oder Tod“ gewesen war, erneut
bewährt und sei nun mit der mythifizierten Aura eines nationalen „Retters“ aufgeladen worden. Die
jugoslawische Selbstbehauptung sei zum zweiten Gründungsmythos des Staates und zu einem Faktor
geworden, der die am 29. November 1945 proklamierte „Jugoslawische Föderative Volksrepublik“
gestärkt habe. Sowohl die Mehrheit der jugoslawischen Kommunisten wie auch das Gros der
jugoslawischen Bevölkerung entschied sich, Tito im Kampf gegen Stalin zu unterstützen. Dabei verblüffte
das schlaue Verhalten der Jugoslawen durchaus, die trotz der unfreundlichen Behandlung durch die
Sowjets formal überhaupt nicht auf die Glorifizierung Stalins verzichten wollten. So wurde die
Lobpreisung Stalins etwa am V. Kongress der KPJ vom Juli 1948 im Gegenteil auf bizarre Weise
fortgesetzt. Spätestens aber mit dem Tod Stalins im März 1953 wurde diese Notwendigkeit hinfällig.
Gleichzeitig schreckte Tito nicht davor zurück, die Genossen, die ihn kritisierten oder mit den
Sowjets und dem Kominform-Büro gemeine Sache machten, mit dem Ausschluss aus der KPJ, mit
Gefängnisstrafen oder sogar mit Lagerhaft zu sanktionieren. Prominente Opfer waren Andrija Hebrang
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Der genaue Geburtstag Titos ist bis heute nicht genau geklärt und es zirkulieren x-verschiedene Daten. Die neuere Forschung
geht jedoch vom 7. Mai 1892 aus. Der 25. Mai entspricht dem Tag, an dem Tito während des Partisanenkampfes eine Schlacht
überlebt hat. (Halder, S. 41).
6 Insgesamt erhielt Tito 106 Orden von 61 Staaten (Halder, S. 229).
7 Auch in Bulgarien war Tito, ein Freund Georgi Dimitrovs, populär.
8 Später wohnte Tito in einem relativ einfachen Haus an der Rumunjska 15 in Belgrad.
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und Sreten Žujović, beide nach dem Krieg Minister in der Regierung Titos.9 Später wurden auch Đilas,
Ranković und andere von Tito verstossen (s. weiter unten). Tausende „fehlgeleitete“ Jugoslawen wurden
in dieser Zeit auf den Adriainseln Goli Otok und Sveti Grgur eingesperrt, wo für sie spezielle Arbeitslager
errichtet wurden. Dort konnten die Tito-Gegner die ihnen zugedachte Strafe ´angemessen´ verbüssen, um
nach einigen Jahren wieder „geläutert“ in die Gesellschaft entlassen zu werden. Bis in die 50er Jahre
hinein trug das jugoslawische System also deutliche Züge einer stalinistischen Diktatur.10 Was damals an
Verfolgung von Menschen sowie an Einrichtung und Unterhaltung von Unterdrückungsinstrumenten
üblich war, war einzigartig und würde heutzutage wohl als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
geahndet.
Grösseres internationales Aufsehen erregte damals, wie erwähnt, das Buch „Die Neue Klasse“
von Milovan Đilas, das Ende der 50er Jahre vor allem im Westen die Runde machte und wegen seiner
Fundamentalkritik der jugoslawischen Parteibürokratie, der der Autor Karrieresucht, Extravaganz und
Korruption vorwarf, ja sogar die Rolle eines Ausbeuters unterstellte, eine harrsche Reaktion Titos
hervorrief und für den Autor, immerhin ein bekannter ehemaliger Apologet des Titoismus, schlimme
Folgen hatte. Đilas´ häretische Analyse gegenüber seiner eigenen Partei zeigte schnell die Grenzen der
Toleranz von Kritik in Jugoslawien auf, das ebenso wie die anderen kommunistischen Staaten an der
Krankheit der Einschränkung des Meinungspluralismus litt. Das Verbot von Đilas´ publizistischem Werk
beendete die begonnene Liberalisierung des jugoslawischen Staatswesens. Allerdings blieb des Kritikers
Einfluss auf die intellektuelle Opposition begrenzt, und die Gefahr einer innerparteilichen Krise oder eines
antikommunistischen Aufstands konnte von den Hardlinern der Partei, die keine grundsätzliche
schonungslose Fundamentalkritik an ihrem charismatischen Herrschaftsmonopol ertrugen, erfolgreich
unterdrückt und abgewendet werden. Đilas´ Kritik an den ausufernden Missbrauchszuständen in
Jugoslawien blieb dennoch nicht ganz ohne Konsequenzen, aber Titos Charisma schien (noch) nicht
gefährdet. Freilich war es damals in Jugoslawien, das gerade im Begriff war, sich vom Krieg zu erholen
und eine neue, angeblich bessere Gesellschaft aufzubauen, noch zu früh, Đilas als einen herausragenden
Pionier der Kommunismus-Kritik zu sehen und zu respektieren, der in einer fernen Zukunft im Prinzip
Recht erhalten sollte. Als Tito am 6. Mai 1962 in Split aber vor 100´000 Anwesenden Bereicherung,
Missbrauch, Einkommensunterschiede, Parteiprivilegien und Klientelismus öffentlich anprangerte, stellte
er sich gewissermassen selbst an die Spitze der Kritik, um der Bevölkerung zu zeigen, dass er die Sorgen
des kleinen Bürgers ernst nimmt. Dieselben Punkte, die Đilas in seiner „Neuen Klasse“ thematisiert hatte,
wurden dann im Prinzip auch Gegenstand von Diskussionen und Untersuchungen im Zentralkomitee
selbst. Welche Folgen diese nichtöffentliche Debatte hatten, wird vom Autor nicht weiter ausgeführt.
Wie alle Stalinisten und Kommunisten sowjetischer Prägung hatte auch Tito seine Probleme mit
der Demokratie, denn dieser Sozialismus vertrug keine Demokratie. 1969 konkretisierte er seine Position
in Bezug auf die Demokratie wie folgt: „In unserer sozialistischen Gesellschaft besteht eine Demokratie,
in der die Leute frei reden und bewusst ihre eigene Initiative entfalten können. Aber es ist klar, dass es für
diejenigen, die aus einer antisozialistischen Position heraus handeln, keine Demokratie geben darf, denn
das wäre falsch.“ Der Titostaat verfügte in seinem Strafrecht über ein genügend grosses Arsenal an
Paragraphen, um Kritiker zu verfolgen und mundtot zu machen; die entsprechenden jugoslawischen
Gesetzesartikel ähneln durchaus der Praxis während der Stalinzeit in der Sowjetunion (wo von Spionage,
Sabotage, Diversion, Terrorismus usw. die Rede war). Selbst „feindliche Propaganda“ konnte geahndet
werden, womit faktisch jede kritische Äusserung als strafrechtliches Vergehen angeklagt werden konnte.
Zwar sprach man von demokratischen Wahlen, aber es war klar, dass Jugoslawien sich nicht als
demokratischer Staat entwickeln würde. So zeitigte die totale Pervertierung des Demokratiebegriffs durch
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Hebrang, ein Kroate jüdischer Herkunft, der für die Gestapo und die Ustascha und den NKVD tätig gewesen sein soll,
verschwand im Juni 1948 spurlos und wurde wahrscheinlich vom Geheimdienst OZNA liquidiert. Hebrangs Familie war
danach schweren Repressionen ausgesetzt. Žujović wurde nach dem Sturz Rankovićs als einfaches Parteimitglied rehabilitiert
und lebte bis 1976 in Belgrad.bür
10 Selbst noch 1963 wurden allein im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die vermeintlichen Gegner der
Kominformbüro-Resolution 30´313 Personen verhaftet. (Halder, S. 304f.). In Jugoslawien, das den Ruf eines „besonders
liberalen kommunistischen Regimes“ hatte, wurden zu allen Zeiten Verfolgungen und Verhaftungen aus politischen Gründen
vorgenommen, so vor allem mal gegen Kroaten und Serben (70er Jahre), mal gegen Albaner (80er Jahre) u.a. Freilich war
Jugoslawien viel weniger repressiv als seine Nachbarländer Albanien und Rumänien, wo der (Neo-)Stalinismus bis zuletzt
groteske Blüten trieb, während Ungarn und Bulgarien eine gewisse Liberalisierung erlebten, um ihre fatale Isolation zu
überwinden.
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die Sowjetkommunisten fatale Folgen auch für die Zeit nach der kommunistischen Ära in Osteuropa, vor
allem in Miloševićs Serbien und in Putins Russland.
Unterdrückung von Krisen
In den Jahren 1966 bis 1971 hatte Jugoslawien mehrere Krisen zu bewältigen, die teilweise auch
den Führungsanspruch Titos bedrohten. Tito reagierte auf diese Vorgänge instinktiv, aber nicht
ungeschickt. Zunächst wurde der berüchtigte und zu mächtig gewordene jugoslawische Geheimdienstchef
Alexandar Ranković gestürzt; er war es, der die bisher gescheiterte Liberalisierung des Systems
erfolgreich blockiert hatte. Im Juni 1968 kam es in Belgrad zu Studentenprotesten, die nicht nur Titos
Politik nicht mehr unterstützten, sondern auch den Rücktritt des Staatschefs selbst forderten. Die Proteste
artikulierten sich auf dem Hintergrund der prekären Arbeitsmarktlage, die gut qualifizierten Studenten
wenig Berufsperspektiven versprachen. Überraschend stellte sich Tito hinter diese Protestbewegung und
beschuldigte die Staatsbürokratie der Misere auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Reformpolitik im Rahmen
des „Prager Frühlings“ fand zunächst die Anerkennung Titos, der seine Niederschlagung durch den
Warschauer Pakt als ungerechtfertigt verurteilte. Wer Jugoslawien angreife, drohte Tito, müsse mit einem
neuen Partisanenkrieg rechnen. Als sich 1971 aber in Kroatien ähnliche national(istisch)e Reform- und
Emanzipationsbestrebungen ereigneten, wartete er die Entwicklung zunächst geduldig ab, um den
„Kroatischen Frühling“, der von Intellektuellen, Kulturaktivisten, Studenten und Arbeitern ausging und
mehr Rechte für Kroatien forderte, schliesslich dann doch gewaltsam niederzuschlagen. Zehntausende
„Fraktionisten“, „Technokraten“ und „Karrieristen“, die eine „chauvinistische, nationalistische
Konterrevolution“, angezettelt hätten, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Unter Parteichef Bakarić
wurde dieses Ereignis beschwiegen. Der Abrechnung mit Kroatien folgten entsprechende Kampagnen
gegen den „Liberalismus“ in Slowenien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Obwohl sein
Krisenmanagement nicht unumstritten war, ging Tito aus dieser krisenhaften Periode, die die Existenz
Jugoslawiens zu bedrohen schien, gestärkt hervor, und sein Handeln fand die Anerkennung in Teilen der
Bevölkerung. Als Reaktion wurde in dieser Phase die Militarisierung des Staates wieder forciert. Freilich
wurden dadurch keine Probleme gelöst, und auch das jugoslawische System, das nur eine Variante des
orthodoxen stalinistischen Regimes darstellte, erwies sich im Grunde wie alle stalinistischen und
kommunistischen Regime als nicht reformfähig, weil der Wille der Kommunisten zu seiner Reform nicht
existierte, denn eine grundsätzliche Reform diese Systems hätte unweigerlich sein Ende und die Rückkehr
zum Kapitalismus bedeutet. Trotz einer gewissen politischen Verhärtung galten die 1970er Jahre dennoch
sozusagen als die „Goldene Zeit“ Jugoslawiens, bevor die Wirtschaftsmisere der 80er Jahre das Land
vollends ins Chaos stürzte.
Titokult in der Aussenpolitik
Während innenpolitisch Titos Potential sich mit der Zeit abzunutzen und zu erschöpfen begann,
war es noch im Bereich der Aussenpolitik vorhanden, wo neue Kräfte entstanden. Aussenpolitisch
zeichnete sich in Jugoslawien also insofern eine interessante Entwicklung ab, als Tito nach dem Schisma
mit dem Ostblock neue Partner suchen musste, die er vor allem in den politisch noch nicht vergebenen
Entwicklungsländern der Dritten Welt fand. Der Schwerpunkt der jugoslawischen Diplomatie wurde so
auf die Länder Afrikas und Asiens gelegt, die Tito, der die Position des Oberkommandierenden der Armee
innehatte und ab 1953 auch als Staatspräsident auftrat, regelmässig und oft besuchte. Seine Sympathien
galten vor allem Ländern wie Birma, Indien, Sudan, Äthiopien, Libyen und Ägypten, das er 17 mal
besuchte. Dass er dabei mit den umstrittensten Staatschefs und einigen schlimmen Potentaten dieser Erde
zusammenkam, war offenbar kein Problem für ihn. In Rumänien war er insgesamt 12 mal, obwohl er
Ceaușescu einmal einen Speichellecker nannte. Bulgarien hingegen besuchte er nur zweimal, trotz der
angeblichen Intimfreundschaft mit Dimitrov. So absolvierte Tito zwischen 1945 und 1972 170
Staatsbesuche, die ihn in 70 Länder, auch einige westliche, führten. Aus der Liste, die im Buchanhang zu
finden ist, geht hervor, dass Tito nach dem Tod Stalins wiederholt auch die UdSSR besuchte. Umgekehrt
konnte der Besuch Chruschtschows in Jugoslawien vom Sommer 1955 von der jugoslawischen
Propaganda zu Gunsten Titos herzhaft ausgeschlachtet werden. Mit der Bundesrepublik Deutschland
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wurden die diplomatischen Beziehungen gemäss der Hallstein-Doktrin unterbrochen, nachdem Belgrad
die DDR als Staat anerkannt hatte.11 Eine neue Dimension erhielt die jugoslawische Aussenpolitik und
Titos Charisma, als 1961 in Belgrad mit Nehru und Nasser die Bewegung der Blockfreien gegründet
wurde. Ihr schlossen sich bis 1979 90 Länder an. Dieser Bewegung, die von den Mitgliedern als
Friedenswerk zwischen den Blöcken des Kalten Krieges idealisiert wurde, mangelte es im Grunde jedoch
an integrativer politischer, wirtschaftlicher und militärischer Substanz; sie diente weitgehend der
Propagandarhetorik der betroffenen Mitgliedstaaten, die eine neue politische Heimat ausserhalb der
bestehenden Blöcke suchten. Es ist auch kein Geheimnis, dass die meisten dieser Länder auf der linken
Seite standen und antiamerikanisch gesinnt waren. Zweifellos stärkte das Projekt das Ansehen
Jugoslawiens und Titos im Ausland.
Neben seiner intensiven internationalen Reisetätigkeit vernachlässigte Tito aber auch
Jugoslawiens Regionen nicht, die er häufig bereiste. Dabei wurden sein Charisma und der Personenkult
ungemein gestärkt. In Titovo Užice wurde eine übergrosse Tito-Statue aufgestellt und in Belgrad ein TitoMuseum eröffnet, das der jugoslawische Autokrat zu seinem 70. Geburtstag geschenkt erhielt. Als
weiterer Höhepunkte des immer bizarrere Züge annehmenden Personenkults um Tito wurde im November
1974 sein Geburtsort als Teil eines Museumsdorfes für die Geschichte der Partisanen eingerichtet, und so
wurde Kumrovec quasi der Status einer nationalen Wallfahrtsstätte verliehen. Ferner wurde die
Lebensleistung Titos in der Verfassung der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ (SFRJ)
festgeschrieben. Ausserdem wurde er als Kandidat für den Friedensnobelpreis ins Gespräch gebracht.
Diese Ambition war jedoch eine Nummer zu gross für einen Staatsmann, in dessen Namen bzw. Auftrag
auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschheit begangen wurden (ob dies der eigentliche
Grund für die Nichtverleihung des Preises an Tito war, ist unklar). Wie Dedijer und Ivanij bemerkten,
habe sich Tito mit diesem Kult nicht immer ganz wohl gefühlt.
Hagiographische Biographik
Zur Mythifizierung Titos trug auch eine eigens von ihm autorisierte Biographie hagiographischen
Charakters bei, die von Vladimir Dedijer, einem jugoslawischen Kommunisten, Partisanen, Journalisten,
Politiker und Historiker verfasst, 1953 in Ljubljana veröffentlicht und in zahlreiche Sprachen übersetzt
wurde. Die Legenden, die in diesem unkritischen Machwerk dargeboten wurden, klingen märchenhaft
und wurden von Generationen von Jugoslawen und Ausländern gelesen, wörtlich geglaubt und
weitergegeben. Dedijers offiziöse Tito-Biographie leidet an zahlreichen Beschönigungen und
Auslassungen und wurde nach Titos Tod von demselben Autor teilweise revidiert und relativiert.12
Die Feierlichkeiten zu Titos 85. Geburtstag im Jahr 1977 können als Höhepunkt des Titokults
angesehen werden, der danach aus welchen Gründen auch immer abflaute. Im hohen Alter wurde Tito
von der Öffentlichkeit und seiner privaten Umgebung immer mehr abgeschottet, nur einige wenige hohe
Funktionäre wie Kardelj, Ljubičić und Dolanc bildeten den Kern der Vertrauten, die zu ihm persönlich
vorgelassen wurden. Von seiner Frau Jovanka, mit der Tito immerhin über 20 Jahre verheiratet gewesen
war, lebte er seit geraumer Zeit getrennt. Der einstige Frauenschwarm Chruschtschows wurde von Tito
verstossen. Ein spezielles Gesetz regelte die bildliche Darstellung Titos und stellte Zuwiderhandlungen
unter Strafe. So wurde die Person Titos auch juristisch aufgewertet und sozusagen unter das Urheberrecht
gestellt. Aber so schnell wie es mit Titos Gesundheit abwärts ging, so plötzlich raste auch Jugoslawien
selbst in den wirtschaftlichen Abgrund, zumal der proletarische Marschall sich für die Fragen der
Ökonomie nie wirklich interessiert hatte. Im Laufe der 80er Jahre erreichten die Auslandsschulden
Jugoslawiens mit über 20 Mia. USD ein volkswirtschaftlich gefährliches Ausmass und heizten die
Inflation an, die schliesslich zum Kollaps der jugoslawischen Währung führte.
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Erst 1968 wurden die Beziehungen zwischen YU und BRD wieder normalisiert.
Etwa in „Neue Beiträge zur Biographie Josip Broz Titos“. Belgrad 1984 (nur in sbkr. Sprache vorhanden).
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Höhepunkt des Titokults an Festtagen
Nach dieser synchronen Analyse untersucht Halder im diachronen Verfahren ausgewählte
Bereiche, in denen der Titokult im besonderen Masse gefördert wurde. Insbesondere werden die
jugoslawischen Massenmedien, die Schulbücher und die Filmproduktion beleuchtet, die allesamt
regelrecht im Dienste der Propaganda des Titokults zu stehen hatten. Wie verschiedene Beispiele von
Briefen, Zuschriften, Eingaben, Gesuchen und Beschwerden aus der Bevölkerung zeigen, wirkte sich der
allumfassende Titokult bis in die Privatsphäre der Jugoslawen aus. So holte etwa der Geheimdienst UDBA
detaillierte Informationen ein, um mehr über die Briefeschreiber zu erfahren und um ihre Loyalität
gegenüber dem Staatschef zu überprüfen. Was die Beschwerden betraf, förderte das untersuchte Material
die Erkenntnis, dass direkte Angriffe auf Tito die Ausnahme bildeten und der Personenkult nur äusserst
selten kritisiert wurde. In den meisten Schreiben wurde die charismatische Herrschaft Titos letztlich
anerkannt und bestätigt. Obwohl die Jugoslawen angehalten wurden, Tito, der auch Patenschaften für
Neugeborene übernahm, als Vaterfigur und Volksheld zu lieben, liessen sich in den eingesehenen
Aktenbeständen keine eigentlichen Liebesbriefe im erotischen Sinn auffinden.
Wie das Kapitel über die 1. Mai-Feiern aufzeigt, wurde auch kein finanzieller Aufwand gescheut,
um den Titokult am Leben zu halten. Jedes Jahr wurde mehr Geld ausgegeben als zuvor. So verschlangen
die Maiumzüge des Jahres 1957 ganze 35 Millionen Dinar, die Militärparade nicht mitgerechnet. Nach
1965 wurde die 1.-Mai-Feier zugunsten eines Charakters als Volksfest für die Arbeiter entmilitarisiert,
der Titokult etwas reduziert, bis er in den letzten Lebensjahren Titos noch einmal erheblich aufgebauscht
wurde. So richtig erlebbar gemacht werden sollte das Charisma Titos am 25. Mai, eines exponierten
Festtags, der extra zum ´neuen´ Geburtstag Titos in Jugoslawien eingeführt wurde. In durchaus sportlicher
Form wurde er mit einem Staffellauf durch das ganze Land begangen, um die Verbundenheit des Volkes
und der Jugend mit dem Genossen Tito und dem Zentralkomitee der KPJ auszudrücken. Dass in den elf
Jahren zwischen 1945 und 1956 bei diesen Staffelläufen über zehn Millionen Teilnehmer 860 Tausend
Kilometer zurücklegten, illustriert die enorme Mobilisierungskraft, die diese Tradition auszulösen
vermochte. Daneben wurden auch „Partisanenmärsche“ organisiert, um bei abenteuerlichen Jugendlichen
eine konkrete Atmosphäre der Partisanenromantik aufkommen zu lassen und die Kriegserinnerung im
kollektiven Gedächtnis der nachfolgenden Generationen zu verankern. 1957 wurde der 25. Mai zum „Tag
der Jugend“ umfunktioniert. Es versteht sich von selbst, dass diese ritualisierten Festivitäten politischkulturell-sportlichen Typs, an denen bis zu 50% der Gesamtbevölkerung teilnahmen, von schrillen
Pressekampagnen ideologischen und aussenpolitischen Charakters begleitet waren, um die Einzigartigkeit
des jugoslawischen Weges zum Sozialismus und die militärische Verteidigungsbereitschaft Jugoslawiens
zu betonen sowie dem unaufhörlichen Titokult neue Nahrung zu geben. Je älter Tito wurde, desto
intensiver wurde der 25. Mai mit entsprechend pompösen Inszenierungen betrieben, seit Anfang der 70er
Jahre auch mit der Unterstützung des Farbfernsehens. Wie aufmerksame Beobachter bemerkten, drohte
die Intensität des medialen Titokults schon in der zweiten Hälfte der 60er Jahren graduell nachzulassen,
zumal der 25. Mai vor allem in ländlichen Gebieten wegen der altmodischen Zeremonielle der älteren
Parteigenossen nur bedingt Anklang fand. In den Kreisen der Organisatoren dieser Veranstaltungen gab
es durchaus Stimmen, die den Sinn der politischen Kundgebungen mit Sorge hinterfragten, aber es scheint,
dass aus ihrer Kritik kaum Konsequenzen mit nachhaltiger Wirkung gezogen wurden.
Ausser diesen beiden Festtagen wurden noch andere historische Ereignisse gebührend gefeiert, so
die Erinnerung an die 2. AVNOJ-Sitzung (29.11.) oder der 40. Jahrestag der Parteigründung, der zum
„Jubiläumsjahr“ ausgedehnt wurde und über 62 Millionen Dinar kostete, was damals umgerechnet etwa
330´000 DM entsprach. Das Jahr 1961 lieferte den Anlass für das Gedenken an den 2. Jahrestag des
„Aufstands“ gegen die Okkupation, der in der Partisanenmythologie als Beginn der Revolution gewertet
wurde. Die Feiern und baulichen Massnahmen, unter anderem die Enthüllung eines Tito-Denkmals in
Titovo Užice, liess sich der Staat über 345 Millionen Dinar, also umgerechnet etwa 1,28 Mio. DM, kosten.
Gleichzeitig verödeten ganze Landstriche und viele Jugoslawen verarmten oder mussten ihr Einkommen
ausserhalb der Heimat suchen. Weitere überschwänglich gefeierte Gedenktage und Jahresjubiläen, die die
Historisierung der eigenen Vergangenheit bezweckten, folgten etwa mit dem 25.-jährigen Jubiläum der
Sutjeska-Schlacht im Jahr 1968 (veranschlagt waren 50 Mio. Dinar), dem 50. Jahrestag der
Parteigründung 1969, der Wiederholung des Gedenkens an die Sutjeska-Schlacht 1973 (2,23 Mio. Dinar),
um nur die wichtigsten Exzesse zu nennen. Dabei kam es teilweise auch zu schweren organisatorischen
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Pannen, die die Teilnehmenden erboste, vor allem weil Tito nicht immer persönlich anwesend war,
obwohl dies vorgesehen war.
Titokult nach Titos Tod
Am 4. Mai 1980 verstarb Tito nach längerer Krankheit nicht ganz unerwartet in einem Spital von
Ljubljana. Wie zu erwarten war, löste die Nachricht vom Tode des als unsterblich geltenden Volkshelden
bei vielen Jugoslawen eine Massenpsychose aus. Titos Begräbnis wurde zum grössten medialen
Spektakel seiner Art in der modernen Zeit und das letzte kollektive emotionale Ereignis der Volksmassen
Jugoslawiens. Das Belgrader Tito-Mausoleum wurde dann auch zur neuen historischen Pilgerstätte für
Millionen von Menschen, die entweder aus emotionalen Gründen Titos letzte Ruhestätte besuchen wollten
oder einfach in Gruppen organisiert herangekarrt wurden. Der Kult erinnerte an das Pilgertum zu den
Mausoleen Lenins und Stalins in der Sowjetunion, Mao Tsetungs in China und Ho Chi Minhs in Vietnam,
zumal sie auch zahlreiche ausländische Touristen anzuziehen vermochten. Selbst der eingeschworene
Tito-Kritiker Dobrica Ćosić gestand, mit seinen „antititoistischen Gefühlen allein“ gewesen zu sein,
nachdem er nach sechs oder sieben Stunden des geduldigen Wartens in der Schlange endlich an Titos Sarg
vorbeikam.
Nach Titos Tod wurde der Titokult unter dem Motto „Nach Tito, Tito!“ zwar einige Jahre lang
weitergetrieben. Die Jugoslawen mussten aber frustriert feststellen, dass die sozialistischen Ideen nicht
nur eine billige Illusion gewesen waren, die es galt so rasch wie möglich zu überwinden, sondern dass es
in Jugoslawien auch nie mehr so wie früher sein werde. Titos Rest-Charisma, das nun in einen Totenkult
transfiguriert wurde, liess sich im Sinne der Popkultur höchstens noch nostalgisch für kommerzielle
Zwecke verwenden (vermarkten), bis auch dies allmählich von neuen Lebensformen überholt wurde. Als
neues Element des Titokults wurde ab 1981 im ganzen Land am Todestag des verstorbenen
jugoslawischen Führers um 15 Uhr 05 eine Schweigeminute durchgeführt, bei der das gesamte öffentliche
Leben für einige Minuten zum Stillstand kam. Integraler Bestandteil des Totenkults wurde die straffe
Organisation der obligatorischen Trauerkundgebungen in sämtlichen Republiken Jugoslawiens, die eine
Kranzniederlegung durch die Mitglieder des Staatspräsidiums der SFRJ, der Militärführung und der
Massenorganisationen beinhalteten. Auch Kinder, die Tito kaum noch aus eigener Erfahrung kannten,
mussten ihre Gefühle in Gedichten und Aufsätzen zum Ausdruck bringen. Die Bilanz des Sozialistischen
Bundes des arbeitenden Volkes Jugoslawiens (SSRNJ) vom April 1982 lässt Züge der Heiligenverehrung
des postumen Titokults erkennen, wenn überschwänglich erklärt wurde: „Das Andenken an den Genossen
Tito, einer der strahlendsten Pesönlichkeiten nicht nur unserer, sondern auch der internationalen
Arbeiterbewegung, der Blockfreienbewegung, deren Ideengeber er war, müssen wir im Herzen tragen,
schützen und pflegen. (…) Der Name und das Werk Josip Broz Titos ist unverbrüchlich mit unserer
Revolution, dem sozialistischen Aufbau und der Politik der Blockfreiheit, verbunden, was uns alle
verpflichtet.“ 1982 wurde in Moskau ein Platz nach Titos Namen benannt. In der Tat blieb Titos
Erscheinungsbild im post-titoistischen Jugoslawien allgegenwärtig, und die Nachfrage nach TitoDevotionalien war riesig. Wegen des immensen Besucherstroms musste der Tito-Gedenkkomplex in
Belgrad vergrössert werden. Eine Wanderausstellung sollte das Andenken an Tito wach halten, die
Volksarmee liess qualitativ hochwertige Bildbände über Tito drucken, und am 1. Mai 1985 wurde eine
5000-Dinar-Banknote mit dem Konterfei Titos herausgegeben (die im Zuge der galoppierenden Inflation
schnell an Wert verlor und Ende 1991 wieder aus dem Verkehr gezogen wurde). Im Hinblick auf die sich
verschärfende Wirtschaftskrise stellte sich in Jugoslawien aber zunehmend die Frage nach der
Nachhaltigkeit der Politik Titos und der Verantwortung für die Probleme, die seine unumschränkte,
Monarchie-ähnliche Herrschaft hinterlassen hatte.13
13
Um zu sparen musste der Haushalt der Armee um die Hälfte gesenkt, Tito-Residenzen in Hotels mussten umgebaut und seine
Luxusjacht „Möwe“, die keinen geeigneten Verkäufer fand, musste veräussert werden. (Halder, S. 242f.)
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Tito-Geschichte wird revidiert
Wie noch in den 50er Jahren Vladimir Dedijer (1914-90) mit seiner offiziösen Tito-Biographie
die Mythifizierung Titos untermauerte, trug nach Titos Tod ausgerechnet derselbe Autor mit seinen 198084 erschienenen Neuen Beiträge zur Biographie Josip Broz Titos14 zur Erosion des titoistischen Mythos
bei, indem er mit der Enthüllung brisanter Fakten seine hagiographische Geschichtsschreibung von früher
revidierte und relativierte, sodass sich die Historiker dazu veranlasst sahen, das Leben und Werk Titos
neu zu bewerten und umzuschreiben. Die Partei reagierte mit Unbehagen auf diese Enthüllungen und
ergriff Sanktionen gegen Tito-kritische Schriftsteller. Dedijer, der in den USA lebte und keine
Repressionen zu befürchten hatte, entfesselte aber vor allem in Serbien eine geschichtsrevisionistische
Debatte, deren Teilnehmer begannen, sich mit der Verfolgung der Kominformisten und den Zuständen
auf der Lagerinsel Goli Otok zu befassen und überhaupt zentrale Teile des Werks Titos anzuzweifeln.15
So koexistierte in den 80er Jahren der Titokult, der systemrelevant blieb und mit einer Sakralisierung Titos
verbunden war, neben einem dynamischen Erosionsprozess, der unweigerlich zur Aufgabe des Titoismus
führte. Um zu verhindern, dass das Ansehen und die Würde des verstorbenen Staatschefs nicht beschädigt
werden, wurden im September 1984 der Name und das Bild Titos durch die Bundesversammlung unter
gesetzlichen Schutz gestellt; entsprechende Missbräuche wurden mit hohen Geldstrafen geahndet. Ferner
schrieb das Gesetz vor, dass in offiziellen Räumlichkeiten ein Bild Titos hängen müsse. Den
Antititoismus, der zunehmend in nationalistische Regungen umschlug, wussten die Hüter des Titokults
noch zu bremsen, indem sie missliebige Kritiker wie die Kroaten Tuđman und Veselica ins Gefängnis
werfen liessen und die Werke revisionistischer Politologen wie diejenigen des Serben Koštunica aus dem
Verkehr zogen. Auch aus Bosnien liessen sich Stimmen vernehmen, die einen Teil der Schuld für die
missliche Situation im Lande bei Titos Lebensstil sahen. Zweifellos haben auch die Slowenen ihren
Beitrag zum Ende des Titokults beigetragen. Aber die Vorreiterrolle des Anti-Titoismus spielte
ausgerechnet Serbien unter dem Populisten Slobodan Milošević, dem es gelang, sich als neuer
charismatischer Führer, sozusagen als Tito-Ersatz, mit dem Ziel aufzubauen, die historische Opferrolle
Serbiens zu betonen, denn aus dieser Sicht sei das serbische Volk in der Titozeit benachteiligt und
unterdrückt worden. Miloševićs ultranationalistische Politik, die zwar eine „anti-bürokratische
Revolution“ einleiten sollte, führte nicht nur in die Sackgasse, sondern schliesslich zu den furchtbaren
(Bürger-)Kriegen und Völkermorden der 1990er Jahre und ihn selbst später ins Kriegsverbrechertribunal
von Den Haag, wo der „zweite Tito“ in seiner Gefängniszelle mit dem Status eines „mutmasslichen
Kriegsverbrechers“ unrühmlich aus dem Leben schied. Die Stigmatisierung Titos als „Kroate“, Feind
Serbiens u.ä. führte in Serbien aber nicht dazu, dass sein Charisma völlig schwand. Im Gegenteil schlug
der „Bund der Vereinigungen der Kämpfer der Volksbefreiungskriege Jugoslawiens“ (SUBNOR) eine
vierte Verleihung des „Ordens des Volksheldens“ an Tito vor. Dennoch scheiterte dieses Ansinnen,
während aggressive Demonstranten in Belgrad das Ende des Titokults forderten und die Politika den
Mythos Tito für im Grunde tot erklärte. Am 4. Mai 1990 wurde die traditionelle Schweigeminute zu Ehren
Titos zum letzten Mal durchgeführt. Die Ehrenwache am Tito-Mauseoleum, das bisher von 14 Millionen
Menschen besucht worden war, wurde abgezogen. An der Pflege des Tito-Mythos waren die politischen
Eliten nicht mehr interessiert, und mit dem Zerfall des Bundes der Kommunisten verlor er auch seine
wichtigste Lobby. Titos Bild verschwand sowohl aus dem öffentlichen Raum wie auch aus den
Schulbüchern. Die Tito-Statue von Titovo Užice wurde 1991 geschleift. Dieser Denkmalsturz sollte
symbolisch das Ende der Tito-Ära einläuten. Titos Vermächtnis wurde sogar zum Symbol für die Fehler
und Schwächen des zweiten jugoslawischen Staates umgedeutet. Verschwörungstheorien aller Art wie
diejenige, Tito sei gar nicht der eigentliche Josip Broz gewesen, wurden in die Welt gesetzt. Dennoch
legten auch 1991 noch Vertreter gesamtjugoslawischer Einrichtungen wie der JNA am Grab Titos Kränze
nieder. Šešeljs Radikale Serbenpartei forderte die Überführung der sterblichen Überreste Titos nach
Kumrovec und es wurde die Schliessung des Mausoleums diskutiert. Nach dieser dezidierten Absage an
Tito versank Jugoslawien in den blutigsten Völkerkriegen seit dem 2. Weltkrieg. Alte Wunden wurden
wieder aufgerissen, und Jugoslawien löste sich in seine einzelnen Bestandteile auf. Erst im Jahr 2010
erschien wieder eine offizielle Delegation des serbischen Innenministeriums an der Grabstätte Titos in
Belgrad.
14
Leider nur in sbkr. Sprache verfügbar. S. Dedijer, V.: Novi prilozi za biografiju Josipa Broza Tita. Beograd 1984. 645 S.
In der 1985 erschienen revidierten Parteigeschichte des BdKJ wurde die Zahl der Inhaftierten auf Goli Otok erstmals mit
16´312 beziffert, wobei eine Überprüfung dieser Zahl Schwierigkeiten bereitet. (Halder, S. 247).
15
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Nationale Historisierung in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens
Im Kapitel über die post-titoistische Historisierung in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens zeigt
Halder die Konsequenzen und Nachwirkungen des Titokults auf. Im Zuge dieser nationalen
Neuausrichtung wurden im neuen selbständigen Kroatien Tausende Tito-Denkmäler und -Gedenktafeln
entfernt, zahlreiche Museen, die dem 2. Weltkrieg und der Arbeiterbewegung gewidmet waren,
geschlossen und die Historiker auf die Apotheose der kroatischen Nation ausgerichtet. Andererseits spielte
die „Jugonostalgie“ (bzw. Tito-Manie) in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens insbesondere für den
Tourismus eine gewisse Bedeutung (Kumrovec, Brioni, Bled, Belgrad, Drvar, Jajce, Jasenovac). Es
scheint, dass die Regierung in Zagreb die Figur Titos als Bestandteil der kroatischen Kultur betrachtet und
Gewaltanschläge auf sein Andenken verurteilt, trotz weit verbreiteter Ablehnung des Kommunismus im
Volk. In Bosnien-Herzegowina bezieht sich die Tito-Nostalgie paradoxerweise vor allem auf das
weitgehend friedliche Zusammenleben der Ethnien vor dem blutigen Bürgerkrieg der 90er Jahre, wo er
am meisten Opfer verursachte (Mostar, Sarajevo, Srebrenica usw.), und weniger auf die Verbrechen der
Partisanen während und nach dem 2. Weltkrieg oder auf den repressiven Charakter des Titoismus. Zwar
verschwand das Bild Titos auch aus dem öffentlichen Raum in Slowenien, aber wie Umfragen belegen,
scheinen in dieser ehemaligen Teilrepublik die (heimlichen) Sympathien für ihn noch immer zu bestehen.
Weil Mazedonien seinen Status als territoriale Einheit und selbständige Nation mit eigener Sprache dem
Werk Titos zu verdanken hat, ist es konsequent, dass der Umgang mit Tito und dem Sozialismus in dieser
Republik ungebrochen ist. Auch in Montenegro, wo die Hauptstadt Titograd zwar wieder Podgorica
heisst, gibt es aktive Jugonostalgiker. Obwohl ein Teil der Kosovo-Albaner Tito privat in positiver
Erinnerung behielt, dürfte die kollektive Ablehnung des als oktroyiert empfundenen
„Serbokommunismus“ im Kosovo am stärksten ausgeprägt sein. Die Partisanendenkmäler wurden im
Kosovo durch UÇK-Denkmäler ersetzt. Diese Beispiele zeigen, dass die allgemeine Akzeptanz Titos bei
allen Völkern Jugoslawiens trotz politischer und Wirtschaftskrisen und im Vergleich mit Leadern anderer
sozialistischer Staaten hoch gewesen sein muss. Wie Halder abschliessend erklärt, scheint in der
pluralisierten Erinnerungskultur der Nachfolgestaaten Jugoslawiens die Einschätzung der historischen
Rolle Titos zwischen Stigmatisierung, Desinteresse und nostalgischer Verklärung zu oszillieren.
Was der Titokult für die jugoslawische Kohäsion bedeutet hatte, diskutiert Halder in einem
weiteren Kapitel, um zum Schluss zu gelangen, dass die Etablierung des Jugoslawentums
(Jugoslawismus) im nationalen oder ethnischen Sinn zugunsten des Sozialismus scheiterte, vor allem weil
die Kommunisten seit den 60er Jahren darauf verzichtet hatten, es mit Gewalt durchzusetzen. So konnte
man nicht ohne Ironie darauf verweisen, dass Tito, der auch ein eigentümliches „Jugoslawisch“ sprach,
sozusagen der erste, letzte und einzige Jugoslawe geblieben sei. Als ´Übervater´ fungierte Tito als
Inkarnation der jugoslawischen Gemeinschaftswerte; der ehemalige kroatische Parteichef und HebrangNachfolger Vladimir Bakarić (gest. 1983), bezeichnete jeden Jugoslawen nicht ohne rhetorische
Überreibung als „Titos Schüler“. Aber wie man sehen konnte, genügte die Figur Titos nach dessen Tod
als Bindekraft nicht mehr wirklich, um den gemeinsamen Staat zusammenzuhalten. Es musste in
Jugoslawien trotz der führenden Rolle des Marxismus-Leninismus (als quasi-Ersatz-Religion) und des
Slogans von der „Einheit und Brüderlichkeit“ letztendlich halt doch an einer echten und nachhaltigen
Integrationsideologie gefehlt haben. Wie eine solche Ideologie hätte beschaffen sein können, bleibt unklar.
Der Vergleich mit der Schweiz als Modell für Jugoslawien, wie er in der Vergangenheit immer wieder
herangezogen wurde, scheint unrealistisch. Dass Jugoslawien nach dem 2. Weltkrieg in den Sog des
Kommunismus geriet, war offenbar nicht zu vermeiden. Über den integrativen Charakter der
Kohäsionswirkungen des Titoismus herrscht in der Literatur kein Konsens. Während die einen Autoren
meinen, dass es bis zum Staatszerfall ein jugoslawisches Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben habe,
vertreten andere die Ansicht, die Losung der „Einheit und Brüderlichkeit“ sei eine von oben künstlich
aufgezwungene Doktrin gewesen. Immerhin werden dem Charisma Titos mobilisierende Effekte
zugesprochen. Da für die jugoslawische Periode keine empirischen Umfragen und soziologischen Studien
vorliegen, ist das Ausmass, in dem der untergegangene Staat Legitimität genoss, entsprechend
hochumstritten und methodisch schwer zu fassen. Wie Halder richtig akzentuiert, spielten neben dem
Titokult als Umsetzungsmodus des synergetischen Charismas Titos auch die Partei, die Armee, die
Massenorganisationen und die Selbstverwaltung eine zentrale Rolle für die Sozialisierung der Menschen
in Jugoslawien. Trotz allem sollten die zentrifugalen Kräfte, die Jugoslawien immer kennzeichneten und
während des Kommunismus vorübergehend weitgehend unterdrückt werden konnten, nicht unterschätzt
11
werden. Nach dem Ende des Kommunismus sind diese Kräfte ja in allen „föderativen“ sozialistischen
Staaten jäh ausgebrochen und haben das gemeinsame Staatengebilde endgültig zerstört.
Ambivalenter Titoismus
Ausser der Verwendung der umfassenden Sekundärliteratur in verschiedenen Sprachen, die vor
und nach dem Zerfall Jugoslawiens zum Thema Tito entstand, konnte der Autor die relevanten Bestände
einiger einschlägiger Archive in Belgrad und Zagreb einsehen. Während die Akten der serbischen Archive
einer Sperrfrist von 30 Jahren unterlagen, konnte der Forscher in Kroatien eine partielle Aufhebung der
Sperrfrist erwirken. Ferner wurden die Zeitungen Borba und Politika stichprobenweise auf relevante
Daten bezogen ausgewertet.
Marc Halders exzellentes Buch enthält eine ausgezeichnete Abhandlung, die sich in ihrer
aussergewöhnlich objektiven Art der Analyse von der traditionellen ideologischen Einseitigkeit der TitoHistoriographie und -Biographik radikal abhebt, sich erfolgreich jeglicher Naivität entzieht und sich von
jeglichem Pathos dem Titothema gegenüber distanziert. Bei aller Fragwürdigkeit der Persönlichkeit Titos
und des Titokults, ein Eindruck, der während der Lektüre entsteht, hinterlässt der Autor im Prinzip kein
negatives Bild Titos, so dass die Frage, ob Tito gut oder schlecht für Jugoslawien war, letztendlich
schwierig zu beantworten ist und offen bleibt. Über 30 Jahre nach Titos Tod besteht bei der Behandlung
dieser charismatischen Figur offenbar auch heute noch die Versuchung ihrer Idealisierung. Dies ist
gefährlich. Bei aller Sympathie, die man für das titoistische Jugoslawien haben konnte (oder kann), sollte
nicht vergessen werden, dass es sich auch bei diesem Staat um eine totalitäre kommunistische Diktatur
mit einem Unrechtssystem und einem autokratischen Potentaten als Staatschef gehandelt hat. Schon der
geringste Versuch, ein solches System zu verherrlichen und seine Mängel schönzureden, muss bereits im
Ansatz scheitern, weil er schlicht inakzeptabel ist. Vor einer Romantisierung der Zustände in Titos
Jugoslawien, einer naiven Schwärmerei für den Kommunismus und einer Rehabilitierung des
geschehenen Unrechts kann also nur gewarnt werden. Trotz einer Kultur der (pseudo-)pazifistischen
Losungen, die in der Politik des Sozialismus begründet war, hat Tito zumindest aus strafrechtlicher Sicht
wenig zur Humanisierung der jugoslawischen Gesellschaft beigetragen, sondern im Gegenteil, alle
freiheitlichen (oder demokratischen) Regungen, die in seinem Reich aufkamen und nicht in das Konzept
des Titoismus passten, stets zu unterdrücken vermocht, wie die zahlreichen Beispiele zeigen. Auch in
Jugoslawien, dem angeblich besseren sozialistischen Staat, wurden die Menschenrechte in grossem Stil,
systematisch und auf unterschiedliche Weise verletzt. Fast niemand hat dies in Jugoslawien zu Titos
Lebzeiten kritisiert, niemand hat sich damit befasst, sondern die meisten Bürger haben sich als Mitläufer
mit diesem System arrangiert, weil es ausser der Gastarbeiter-Emigration in den Westen für die
Jugoslawen keine Alternative gab.16 Auch viele westliche Akademiker und Politiker waren aus Rücksicht
auf Jugoslawien, das sie in der Rolle des Bollwerks gegen den Sowjetkommunismus sahen, teilweise in
die Versuchung geraten, dem Charme Titos zu erliegen. Gerade weil viele Probleme in Jugoslawien
ungelöst blieben, ist Tito für die vielen Krisen des Landes mit- oder sogar hauptverantwortlich zu machen,
von den blutigen Konflikten, die nach seinem Tod ausbrachen und denen unzählige Menschen zum Opfer
fielen, ganz zu schweigen.
Insgesamt handelt es sich bei dem vortrefflich formulierten Text von Marc Halders Band also um
einen willkommenen Beitrag für das bessere Verständnis des Funktionierens des titoistischen Jugoslawien
und der Bewährungsproben der kommunistischen Herrschaft in diesem südosteuropäischen Land. Die
zahlreichen Beispiele und Episoden, die der Autor aus der Geschichte des Titokults anführt, machen
Halders Werk zu einer interessanten und wichtigen Lektüre.
© www.osteuropa.ch, Juni 2014.
16
Aus heutiger europäischer Sicht war diese Form der Emigration inhuman, weil die südländischen Gastarbeiter jeweils lange
Zeit von ihren Familien getrennt leben mussten.
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