BR Bayern Manuskript Katholische Welt DIE PÄPSTIN JOHANNA
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BR Bayern Manuskript Katholische Welt DIE PÄPSTIN JOHANNA
BR Bayern Manuskript Katholische Welt DIE PÄPSTIN JOHANNA WUNSCH ODER WIRKLICHKEIT? Autor/in: Georg Denzler Redaktion: Wolfgang Küpper / Religion und Kirche Sendedatum: Sonntag, 30. Oktober 2011 / 08.05 – 08.30 Uhr www.br-online.de/bayern2/religion Die amerikanische College-Lehrerin Donna Woolfolk Cross ist Autorin des 1996 erschienenen und in zahlreiche Sprachen übersetzten bestseller „Die Päpstin“. Dem Regisseur Sönke Wortmann diente dieser phantastische Roman als Vorlage für seinen 2009 angelaufenen gleichnamigen Kinofilm. Vom 3. Juni bis 14. August dieses Jahres wurde im Schlosstheater Fulda das Musical „Päpstin“ von Dennis Martin, wiederum unter der Regie von Sönke Wortmann, aufgeführt. Der spannend geschriebene Roman der Woolfolk Cross, von dem inzwischen mehr als 50 Auflagen vorliegen, zeugt von immenser Phantasie und utopischen Geschichtsvorstellungen. In einem Nachwort zur illustrierten Ausgabe des Aufbau-Verlags von 2009 beantwortet die Autorin die Frage, ob ihre Romanheldin, die Päpstin Johanna, über die nicht ein einziges historisches Dokument vorliegt, wirklich gelebt habe, mit der völlig unbewiesenen Behauptung, die katholische Kirche habe „die peinlichen historischen Unterlagen über Johanna“ vernichten lassen, konkret: der Vatikan habe „Hunderte von Büchern und Manuskripten eingezogen“. Wie sollten wir dann heute noch etwas von einer Päpstin wissen? Die katholische Theologie- und Philosophieprofessorin Elisabeth Gössmann gibt der Romanautorin in ihrem grundlegenden Werk „Die Päpstin Johanna. Der Skandal eines weiblichen Papstes“, übrigens im selben Verlag erschienen wie der Roman von Donna Cross, den wohlgemeinten Rat: „Rewrite it, Donna, rewrite it!“ Schreib’ es noch einmal, aber besser und richtiger. Bei der Päpstin Johanna handelt es sich in Wahrheit um eine Person, die Mitte des 9. Jahrhunderts gelebt haben soll, deren Lebensgeschichte aber erst im 13. Jahrhundert, also ganze 400 Jahre später, zum ersten Mal niedergeschrieben wurde. Drei Dominikanerpatres waren es, die in unterschiedlichen Versionen von einer Frau berichten, die sich in Männerkleidung unter Klerikern eingeschlichen und bis zur Erhebung auf den päpstlichen Stuhl Karriere gemacht habe. Nach der am meisten verbreiteten Legende folgte Johanna im Jahr 855 Papst Leo IV. im Amt. Gesicherte Daten aber lassen keinen Zwischenraum zwischen Papst Leo IV., der von 847 bis 855 als Papst regiert hat, und Papst Benedikt III., dessen Pontifikat zwei Monate nach Leos Tod begonnen hat. Benedikt blieb bis 858 Papst, erhielt aber am Anfang in dem von seinem Vorgänger exkommunizierten Anastasius Bibliothecarius einen Gegenpapst. Die mit diesem Schisma verbundenen Wirren könnten Anknüpfungspunkte für die viel später entstandene Fabel von einer Päpstin Johanna geboten haben. Für Benedikt III., zu dessen Regierungszeit Johanna Päpstin gewesen sein soll, gibt es historische Zeugnisse: Münzen, einen Rundbrief an Bischöfe, ein Schreiben an die Abtei Corvey vom 7. Oktober 855, seine Korrespondenz mit dem Erzbischof von Rennes, und noch viele andere. Erste Notizen über eine noch namenlose „Papissa“, wie sie in der Weltchronik des Marianus Scotus im 11. Jahrhundert und in der um 1250 entstandenen Universalchronik des Dominikaners Jean de Mailly sowie in dem davon abhängigen Handbuch für Prediger seines Ordensbruders Etienne de Bourbon vermutlich als Volkserzählung zu finden sind, gelten in der Forschung als spätere Zusätze bzw. als Nachträge von Kopisten. Dasselbe gilt für die Chronica minor eines unbekannten Erfurter Franziskaners. Darin findet sich unter dem Papstschisma von 897 (Formosus bzw. Sergius) ein pseudopapa, dessen Name und Pontifikatsjahre nicht bekannt sind, der aber nach römischer Tradition „eine Frau von schöner Gestalt, großem Wissen und vorgetäuschter guter Lebensführung“ gewesen sein soll. Aus solchen Notizen oder beiläufigen Anekdoten dürfte jene Story entstanden sein, die der schlesische Dominikaner Martin von Troppau wahrscheinlich erst 1278 in die 3. Auflage seiner berühmten Kaiser- und Päpstechronik aufnahm und die in der Folgezeit vielen Autoren als Hauptquelle diente. Martin von Troppau, genannt Martinus Polonus, weil er aus dem damals zum Königreich Polen gehörenden Troppau stammte, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens an der päpstlichen Kurie in Rom und starb vor 1279 als designierter Erzbischof von Gnesen. In der 3. Redaktion seiner viel benützten „Chronik der Päpste und Kaiser“ – es steht aber nicht fest, ob er sie selbst noch herausgegeben hat – findet sich folgende Legende von einer Päpstin: „Nach diesem Leo (gemeint ist Papst Leo IV., der von 847-1855 als Papst regierte) hatte den Stuhl der Engländer Johannes von Mainz zwei Jahre, sieben Monate und vier Tage inne und starb zu Rom und das Papstamt ruhte einen Monat. Dieser war, wie versichert wird, ein Weib; im Mädchenalter von einem Liebhaber in Männerkleidern nach Athen geführt, machte sie in verschiedenen Wissenschaften solche Fortschritte, dass keiner ihr gleich gefunden wurde, so dass sie nachher in Rom das Trivium bestand, große Lehrer als Schüler und Zuhörer hatte. Da das Weib in der Stadt bezüglich seines Wandels und seiner Wissenschaft in hohem Ansehen stand, wurde es einmütig zum Papst gewählt. Aber im Papstamt wurde es durch seinen Vertrauten geschwängert. Da es übrigens die Zeit der Geburt nicht kannte, wurde es, als es von St. Peter nach dem Lateran zog, von den Wehen befallen und gebar zwischen dem Colosseum und der Kirche des Heiligen Clemens, und da es darauf starb, wurde es ebendaselbst, wie man sagt, begraben. Weil der Herr Papst aber diesen Weg stets mied, glaubten sehr viele, er tue dies aus Verabscheuung des Vorfalls. Er wird aber nicht in das Verzeichnis der heiligen Bischöfe gesetzt wegen der Untauglichkeit des weiblichen Geschlechts zu diesem Amt.“ Diese Schilderung erfuhr im Laufe der folgenden Jahrhunderten inhaltlich viele Veränderungen. Allein dies ist schon Beweis genug dafür, dass kein historisches Zeugnis vorliegt, auf das man sich mit Sicherheit hätte stützen können. Nach einer besonders makaberen Version wurde Johanna beim Besteigen ihres Pferdes von einem Kind entbunden, anschliessend geschleift, vom Volk gesteinigt und am Todesort sofort begraben. So gibt es noch andere Berichte über dieses angebliche Faktum. Man muss kein glühender Gegner der katholischen Kirche und vor allem des Papsttums sein, um die ganze Story reizend und makaber zugleich zu finden. Deshalb ist es keineswegs verwunderlich, dass eine sensationslüsterne Leserschaft, die in die Millionen geht, an diesem Roman heute noch ihre Freude hat. Es gibt aber nicht eine einzige zeitgenössische Quelle, die über die Existenz einer Päpstin Johanna im 9. Jahrhundert Zeugnis geben würde. Auch der hochgeschätzte, als offizielle Quelle geltende „Liber Pontificalis“, in dem Kurzbiographien aller Päpste bis zum Ende des Mittelalters enthalten sind, weiss nichts von einer Päpstin. Es bleibt festzustellen, dass quellenmässig eine 400 Jahre Lücke zwischen dem angeblichen Ereignis im 9. Jahrhundert und der Entstehung des PäpstinLegende im 13. Jahrhundert besteht. Verteidiger einer Päpstin Johanna verweisen auf ein paar Sachzeugnisse, die für die Historizität der Erzählung sprechen sollen. Da ist als erstes eine heute nicht mehr vorhandene steinerne Tafel mit der rätselhaften Inschrift von fünf P in Großbuchstaben, die ausgeschrieben und übersetzt gelautet haben sollen: Pater Patrum, papissae prodito partum. (Vater der Väter, enthülle die Niederkunft der Päpstin.) Doch nach dem Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799-1890), dem wir die gründliche Studie „Papstfabeln“ (1863) verdanken, sind diese fünf P als „Pater Patrum, proprie pecunia posuit“) zu lesen und sollen zum Ausdruck bringen, dass ein Papirius Mittel für den Bau eines Heiligtums des Gottes Mithras – er wurde tatsächlich „Vater aller Väter’ angeredet – aufgewendet hat. Noch größere Bedeutung wird einem Stuhl zugerechnet, dessen Sitzfläche durchbrochen war und der deshalb vom Volk als Prüfstuhl dafür angesehen wurde, ob der neugewählte Papst männlichen Geschlechts war. Tatsächlich aber kam ein solcher Stuhl erstmals bei der Inthronisation Papst Paschalis’ II. im Jahre 1099 zur Verwendung, um öffentlich zu dokumentieren, dass der neugewählte Papst Besitz ergreift vom Lateranpalast. Diese Deutung begegnet uns schon bei dem Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger. Wenn wir auch die Echtheit der Fabel von einer Päpstin bestreiten müssen, dann bleibt immer noch die interessante Frage, seit welcher Zeit und vor allem zu welchem Zweck diese Legende als historische Wahrheit vorgestellt wird. Eine Antwort versuchte bereits im 13. Jahrhundert der Dominikaner Martin von Troppau. Vermutlich nahm er selbst noch die im Umlauf befindliche Erzählung in seine im Auftrag von Papst Clemens IV. verfasste Kaiser- und Päpstechronik auf, allerdings nicht als feste historische Behauptung, sondern als ein Wissen vom Hören-Sagen. Deshalb bemerkt er ausdrücklich: „wie man sagt.“ Mit der Aufnahme in seine Chronik verband er die Meinung, dass eine Frau, selbst wenn sie völlig legitim ins höchste Amt der Kirche gekommen sein sollte, niemals rechtmäßige Päpstin sein könnte. Man kann vermuten, dass die Fabel zu seiner Zeit einen willkommenen Gesprächsstoff bot für theologische Diskusssion an der päpstlichen Kurie, in der er viele Jahre als Beichtvater (Poenitentiar) verbrachte. Die Erzählung mag besonders zu Krisenzeiten des Papsttums willkommen gewesen sein. In Konflikten zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern und dem in Avigon residierenden Papst Johannes XXII. nahm der gelehrte Franziskaner Wilhelm von Ockham, ein rigoroser Gegner des Papstes, die Existenz einer Päpstin zum Beweis dafür, dass kein Irrlehrer ein wahres Oberhaupt der Kirche sein könne, selbst dann nicht, wenn man ihn für einen solchen halte. Dasselbe gelte für die Frau, die zwei Jahre lang Papst gewesen sein soll. Der englische Häretiker John Wycliff wollte die Existenz einer Päpstin gegen die Urteilssicherheit des Kollegs der Kardinäle ausspielen. Wenn nämlich ein derart hochrangiges Kollegium sich bei der Wahl eines Papstes so täuschen könne, dass es eine Frau auf den Stuhl Petri berufe, dann sei es auch imstande, so folgerte Wycliff nicht ohne Sarkasmus, selbst den Teufel zum Oberhaupt der Kirche zu erwählen. Die im 15. Jahrhundert sich entwickelnde Geschichtswissenschaft kam immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich bei der Erzählung von einer Päpstin um eine Legende handele. Trotzdem begegnet uns die Päpstin Johanna noch in der ersten offiziellen Papstchronik des Bartolomeo Platina, der mit Unterstützung des Kardinals Francesco Gonzaga 1464 Anstellung in der päpstlichen Kanzlei gefunden hatte. Platina, ein kritischer Humanist im Dienst der Vatikanischen Bibliothek, vollendete 1475 sein im Auftrag von Papst Sixtus IV. erarbeitetes „Buch vom Leben Christi und aller Päpste.“ Ungeachtet mancher Zweifel, die er als Gelehrter wegen „unsicherer und obskurer Autoren“ am Wahrheitsgehalt der Erzählung von einer Päpstin hegte, wollte er die auf den einflussreichen Martin von Troppau zurückgehende Überlieferung doch nicht ganz ignorieren und nahm die zu seiner Zeit verbreitete „Sage“ von der Päpstin mit einigen Veränderungen in sein Geschichtswerk auf. Die Päpstin figuriert jetzt unter dem Namen Johannes Anglicus, gemeint ist ein Johannes aus England, der aber in Mainz geboren wurde und später den Pontifikatsnamen Johannes VIII. erhielt. Dieser Papst, ein gebürtiger Römer, regierte jedoch schon von 872 bis 882. Auch Platina führte die uns bereits bekannten Sachargumente ins Feld: „Einige schreiben zweierlei, dass der Papst selbst, wenn er sich zur Lateransbasilika begibt, wegen des Abscheus vor dieser Begebenheit sowohl diesen Weg absichtlich umgeht, als auch, dass er, um einen solchen Irrtum zu vermeiden, wenn er sich zum ersten Mal auf den zu diesem Zweck durchlöcherten Stuhl Petri setzt, seine Genitalien vom letzten Diakon betasten lässt.“ Während Platina ersteres nicht abstreitet, bietet er zu dem zweiten vielfältig gedeuteten Argument eine eigene Interpretation: „Ich denke, dass jener Stuhl dazu gemacht sei, damit derjenige, der in eine solche Würde eingesetzt wird, wissen möge, dass er nicht Gott, sondern Mensch sei und den Notwendigkeiten der Natur wie der Verdauung unterworfen, weshalb der Stuhl mit Recht Kotstuhl heisst. Was ich hier erzählt habe, wird im Volk überliefert, jedoch von unsicheren und obskuren Autoren.“ Erwähnenswert ist noch die Begründung für das Weitertradieren der von ihm selbst bezweifelten Sage, weil sie uns den objektiv und kritisch arbeitenden Gelehrten vor Augen führt: „Ich habe dies kurz und nüchtern hierherzusetzen beschlossen, damit ich nicht den Anschein erwecke, das, was fast alle bestätigen, allzu hartnäckig und widerwillig ausgelassen zu haben. Lasst auch uns in dieser Sache mit dem Volk irren, obwohl es offenkundig ist, dass das Erzählte zu dem gehört, was alle für möglich halten.“ Nicht minder großer Einfluss auf die Rezeption und Verbreitung der Päpstin-Legende ging am Ende des Mittelalters von der berühmten Weltchronik des Nürnberger Humanisten Hartmann Schedel aus. Die Päpstin erscheint hier als Johann VII. Die deutsche Ausgabe stimmt freilich in vielen Punkten nicht überein mit der lateinischen Vorlage. Bei den Anhängern für eine Historizität der Päpstin standen Angriffe gegen die Institution des Papsttums oder die ganze katholischen Kirche im Mittelpunkt ihres Interesses. Dies gilt auch für den beim Konzil von Konstanz der Häresie angeklagten Kirchenreformer Jan Hus und noch mehr für den Reformator Martin Luther. Hus, der sich beim Konstanzer Konzil (1414-1418) wegen Häresie verantworten musste, streifte bei seiner Verteidigung die Sage von der Päpstin Johanna nur kurz, um zu behaupten, dass der Papststuhl während ihrer Zeit als vakant angesehen werden müsse, da dem Papst „das männliche Geschlecht“ gefehlt habe. Auch ihm ging es vorrangig um die Illegitimität der Päpstin. Ernster zu nehmen ist die Einstellung des Reformators Martin Luther in unserer Sache. Bei seinem Rom-Aufenthalt im Jahr 1510 will ihm eine angebliche Statue der Päpstin aufgefallen sein. Jedenfalls erzählte er bei Tisch dieses phantastische Erlebnis: „Zu Rom hab ich gesehen in einer grossen Gassen, so stracks nach S. Peters Münster gehet, offentlich in einen Stein gehauen einen Papst, wie ein Weib mit einem Scepter, päpstischen Mantel, trägt ein Kind am Arme; durch dieselbe Gasse zieht kein Papst, dass er solch Bilde nicht darf sehen. Denn ein Weib mit Namen Agnes, so von Mainz bürtig war, ist etwa von einem Cardinal knabenweise in Engeland geführt und endlich gen Rom bracht. Da ist sie von Cardinälen zum Papst gewählet worden, aber sie ist zu Schanden und offenbar geworden, dass sie offentlich in derselben Gasse ein Kind gehabt. Es ist den Buben eben recht geschehen; der Teufel hat ihrer fein gespottet mit seinem Creatürichen. Es nimmt mich Wunder, dass die Päpste solch Bilde leiden können; aber Gott blendet sie, dass man sehe, was Papstthum sei: eitel Betrug und Teufelswerk!“ An der Schilderung fällt nicht nur Luthers Hass auf das Papsttum auf, sondern auch, welche abweichende Version der Text des Martin von Troppau im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Der reformatorischen Geschichtsschreibung diente die Päpstin Johanna Jahrhunderte hindurch als Beweis dafür, dass das ganze Papsttum auf Lügen beruhe und deshalb eine Gefahr für das Seelenheil darstelle. Bei dem einflussreichen protestantischen Geschichtsschreiber Flacius Illyricus lesen wir in seinen mehrbändigen „Magdeburger Centurien“: „Gott hat in diesem 9. Jahrhundert durch ein denkwürdiges, besonderes Ereignis die Schande des Papststuhls offenbart und jene babylonische Hure dem Blick aller unterworfen, damit die Frommen erkennen sollten, dass die von der ganzen Welt verehrte, heilige päpstliche Würde die Mutter aller geistlichen und leiblichen Unzucht sei, damit sie lernen sollten, sie zu verabscheuen. Denn Johannes Anglus war eine Frau und gebrandmarkte Hure.“ Hier haben wir ein unmoralisches Motiv, das die Aufnahme und Verbreitung der Legende von der Päpstin Johann mächtig förderte. Reichlich amüsant klingt die Auffassung, die der bekannte Humanist Johannes Thurmair (1477- 1534), wegen seines Geburtsortes Abensberg gewöhnlich Aventinus genannt, in seiner viel gelesenen „Baierischen Chronik“ niedergelegt hat. Er greift für die Geschichte unserer Päpstin nicht, wie Martin von Troppau, in das 9. Jahrhundert zurück, sondern konzentriert sich auf das „pornokratische Papsttum“ in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts unter der römischen Adelsfamilie Theophylakt und Theodora sowie deren Tochter Marozia, mit der Papst Sergius III. (904-911) den späteren Papst Johannes XI. (931-936) gezeugt haben soll. Hier will er die Anfänge für die Entstehung der Fabel von einer Päpstin Johanna sehen. Er bezeichnet Theodora als „eine adlige und herrschsüchtige Hure“, die Rom beherrscht und ihren Geliebten Sergius auf den Papststuhl gebracht habe. Aus alldem schliesst er nicht ganz zu Unrecht: „Von daher, so möchte ich glauben, ist jenes Fabelchen entstanden …, zu dieser Zeit sei der Papst eine Frau gewesen, die Johannes genannt worden sei.“ Nur nebenbei sei bemerkt, daß Aventinus sich bei seiner negativen Einschätzung Theodoras auf Bischof Luitprand von Cremona stützte, dessen um 960 verfasste Schrift mit dem Titel „Vergeltung“ aber wenig Glaubwürdigkeit besitzt. Der Jesuit und Kirchenhistoriker Friedrich Kempf sah die damaligen Verhältnisse, ähnlich auch der evangelische Historiker Johannes Haller, folgendermassen: „Papst Johann X. (bzw. XI.) war zweifellos eine starke Persönlichkeit. Dass er früher mit Theophylakts Gemahlin Theodora in buhlerischem Verhältnis gestanden hätte, wird man dem skandalsüchtigen Berichterstatter Luitprand von Cremona ebensowenig glauben dürfen wie die von demselben behauptete Liebschaft zwischen Sergius III. und Marozia.“ Bei Aventinus begegnet uns ein Frauenbild, das von Geringschätzung durch den Mann zeugt und das sich bis zur Stammmutter Eva als Verführerin des Mannes im Buch Genesis zurückführen lässt. Diese Linie zieht sich durch alle Jahrhunderte der Kirchengeschichte, verstärkt sich im 13. Jahrhundert, als die Legende von einer Päpstin entstand, und ist heute noch nicht an ihr Ende gekommen. Ideengeschichtlich begegnet uns diese pejorative Sicht der Frau besonders anschaulich bei dem Augustinereremiten und Kardinal Aegidius von Viterbo um 1525 in seiner „Geschichte von 20 Jahrhunderten“. Nach der üblichen Erzählung von der Päpstin spricht er über das von der Stammmutter Eva ausgehende „Unglück“ der Feminisierung, die in der Degenerierung der Menschheit ins Tierische erst noch ihren Höhepunkt erreichen werde. Die Seuche, die Eva über die ganze Menschengeschlecht gebracht habe, vergleicht Aegidius mit der Schande, die die Päpstin für das „göttliche Papsttum“ darstelle. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich der bereits erwähnte Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger wissenschaftlich mit der seit dem 13. Jahrhundert in vielen Abwandlungen überlieferten Geschichte der Päpstin Johanna, deren Existenz aber in das 9. Jahrhundert zurückreichen soll. Wie der ein Jahr nach ihm verstorbene Historiker Ferdinand Gregorovius verwies er die merkwürdige Erzählung von der Päpstin Johanna in das Reich der Fabeln. Auch wenn die seit acht Jahrhunderten weitergegebenen höchst unterschiedlichen Erzählungen von einer Päpstin Johanna keine Historizität besitzen, ist damit noch nicht geklärt, warum diese Fabel schon seit ihrer Entstehung in der Mitte des 13. Jahrhunderts auch bei durchaus seriösen Historiographen den Rang eines historischen Faktums erreichen konnte. Dass dabei apologetische Absichten im Spiel waren, überrascht nicht. Den Anfang der Fabel dürften in Rom mündlich kursierende Erzählungen in verschiedenen Variationen bilden. Wenn später Einfügungen oder Zusätze in Chroniken oder in ähnlichen Schriftwerken auftauchen, heisst das nicht, dass sie jetzt als historische Fakten bewiesen sind. Aufschlussreich kann es sein zu wissen, zu welcher Zeit und in welchem Zusammenhang die Geschichte von der Päpstin bekannt gemacht wird. Allererste Erwähnungen verlegen ihre Existenz in das Ende des 11. Jahrhunderts. Der bereits zitierte Dominikaner Martin von Troppau liess die Regierungzeit der angeblichen Päpstin, für die er noch keinen Namen hat, nach dem Pontifikat Leos IV. im Jahr 855 beginnen. Sein Hauptanliegen als kurialer Beamter war, wie für viele andere Chronisten auch, das Ansehen der Kirche, speziell des Papsttum, zu verteidigen. Für ihn stand ausser jedem Zweifel, dass eine weibliche Person selbst bei gültiger Papstwahl niemals eine legitime Päpstin sein konnte. Deswegen berichtet er in einer späteren Version, dass sie nach ihrer Dechiffrierung abgesetzt und in ein Kloster eingewiesen wurde. Der Poet Hans Sachs konstatiert in seinem Gedicht über die Päpstin Johanna aus England zu Beginn der Reformationszeit, dass der kein Ketzer sei, der die Legende von der Päpstin nicht für wahr halte. Reformatorische Geschichtsschreiber hielten freilich weiterhin an der Echtheit der Überlieferung fest. Erst die im 19. Jahrhundert einsetzende kritische Geschichtsforschung meldete Zweifel an der Existenz einer Päpstin an. Neben Verteidigung des Papsttums stand bei vielen Autoren das Thema Frau im Mittelpunkt ihres Interesses. Dass eine Frau im Mittelalter als Transvestitin in Erscheinung trat, das heisst sich als Mann gerierte, um Ansehen und Einfluss zu gewinnen, ist in der damals patriarchalischen Gesellschaft nicht verwunderlich. Ein solches Auftreten war erst recht notwendig, wenn man im durch und durch maskulinen Kirchensystem höhere Stufen erklimmen wollte. Solche literarische Geschlechtstäuschung erfolgte selbst noch in der Neuzeit. Mary Ann Evans nahm im Viktorianischen Zeitalter Englands das männliche Pseudonym George Eliot an, um vom Leserpublikum ernst genommen zu werden. Nur wenige dürften heute wissen, dass es sich in ihrem Fall tatsächlich um eine Frau, die eine angesehene Schriftstellerin war, handelt. Der Fuldaer Bischof Algermissen, in dessen Bischofsstadt das Musical „Die Päpstin“ erst kürzlich aufgeführt wurde, erklärte in einer öffentlichen Stellungnahme mit Recht, dass dem Inhalt des Stückes keinerlei historische Wahrheit zukomme. Allerdings hätte der Oberhirte das im Grunde frauenfeindliche Stück zum Anlass nehmen sollen, um die in unseren Tagen viel kritisierte negative Stellung der Frau in Theologie und Kirche vom Stand der heutigen theologischen Wissenschaft aus unvoreingenommen und losgelöst von negativen Traditionen zu diskutieren – bis hin zur theologischen und praktischen Möglichkeit der Weihe von Frauen zu Diakoninnen und Priesterinnen. Befreiung von Irrtümern käme der Glaubwürdigkeit der Kirche zugute. Die Mediaevisten Klaus Herbers (Erlangen) und Max Kerner (Aachen) bringen schon im Titel ihrer gründlichen Studie „Die Päpstin Johanna – Biographie einer Legende“ (2010) zum Ausdruck, dass für sie die historischen Existenz der Päpstin Johanna nicht in Betracht kommt. Nicht ohne Ironie stellen sie am Ende ihrer Untersuchung die Frage „Brauchen wir eine Päpstin“ und bieten in ihrer sibyllinischen Antwort ein Bündel von Motiven und Gründen, die im Laufe der Jahrhunderte bis heute für eine Päpstin Johanna vorgebracht werden: „Eine Päpstin Johanna des 9. Jahrhunderts gibt es nicht, aber sie existierte und existiert als Wunschoder Gegenbild, fasste Kritik an der Kurie, an männlicher Dominanz, an Entscheidungen der römischen Kirche zusammen, in ihrer Person bündelten sich auch Vorstellungen von weiblichen Fähigkeiten. Insofern sind eine Biographie ihrer Legende oder die zahlreichen mythologischen Überhöhungen dazu angetan, die Bedürfnisse und die sich wandelnden Sehnsüchte und Kritikpunkte zu verdeutlichen. Deshalb kann man mit Fug und Recht sagen: Hoch lebe der Mythos der Päpstin Johanna! Wie andere Mythen brauchen wir auch ihn.“