Der "Salomon-Effekt" - Journalistisches Seminar
Transcrição
Der "Salomon-Effekt" - Journalistisches Seminar
Prof. Dr. Karl N. Renner Journalistisches Seminar Johannes Gutenberg-Universität Mainz [email protected] Der "Salomon-Effekt" als Herausforderung der Fernseh-Macher Zur Gestaltung von Magazin-Beiträgen [Publiziert in: Arbeitshefte Bildschirmmedien 48, 1994. Universität - GH - Siegen. S. 61 - 78] 1. Der Salomon-Effekt Vermutlich hat dies jeder Fernseh-Zuschauer schon einmal erlebt: Dass man nach einer Sendung im Vollgefühl, gut informiert worden zu sein, plötzlich feststellt, dass man sich an kaum etwas von dem erinnern kann, was man soeben gesehen hat. Seit den Untersuchungen von Gavriel Salomon ist dieses paradoxe Phänomen als "Salomon-Effekt" in die Literatur eingegangen. Pointiert formuliert besagt dieser Effekt: "Die tatsächlichen Verstehungsleistungen <der Zu1 schauer> sind um so geringer, je positiver die Bewertung ausfällt", d.h. je besser der Film den Zuschauern gefallen hat. Nach Salomon hängt die Verstehensleistung - also das, was die Zuschauer von einer Sendung behalten - von der mentalen Anstrengung ab (=aime), die sie in die Rezeption zu investieren bereit sind. Ausschlaggebend dafür sind wiederum das Anforderungsprofil des Mediums (= pdc) und der persönliche Gewinn, den sich die Rezipienten vom Medienkonsum versprechen (= pse). Diese Faktoren beeinflussen sich wechselseitig, wobei der Rezeptionserfahrung der Zuschauer eine wichtige Rolle zukommt. pdc learning pse aime aime = amount of invested mental effort pdc = perceived demand characteristics pse = perceived self efficacy Skizze: Einflußfaktoren auf die Verstehensleistung von Medien-Benutzern ( nach Salomon )2 So ergab ein interkultureller Vergleich des Fernsehverhaltens israelischer und amerikanischer Schulkinder, daß sich die amerikanischen Kinder an deutlich weniger Inhaltsdetails erinnern konnten, obwohl sie wesentlich länger vor den Fernsehgeräten saßen als die israelischen Kinder. Zum Zeitpunkt der Untersuchung, Ende der 70er Jahre, war das 1 2 LUMIS-TÄTIGKEITSBERICHT 1991. Siegen 1991. S.22 Gavriel Salomon: Television Is "Easy" and Print Is "Tough": The Differential Investment of Mental Effort in Learning as a Function of Perceptions and Attributions. - In: Journal of Educational Psychology. Vol. 76, 1984. S. 650. - Salomon-Effekt- 2 Fernsehen in Israel noch relativ neu. Die Bevölkerung verstand es als bedeutende Informationsquelle und nicht als Unterhaltungsmedium. Dies galt auch für die israelischen Schulkinder. Sie bemühten sich die Sendungen zu verstehen, während die amerikanischen Kinder sofort den Kanal wechselten, wenn ihnen etwas unverständlich erschien. Die Bereitschaft der Kinder, geistige Anstrengung in das Medium Fernsehen zu investieren, unterschied sich also genauso 3 wie ihre Verstehensleistung. Eine zweite Untersuchung zum inzidentellen und intentionalen Lernen durch das Fernsehen führte unter anderem zu folgendem Resultat: Die hochintelligenten Kinder brachten in der Unterhaltungsbedingung schlechtere Ergebnisse als die weniger intelligenten Kinder. ... Wenn die Kinder aber ausdrücklich angewiesen wurden, geistige Anstrengung zu investieren (d.h. unter Lernbedingungen KNR), zeigten intelligentere Kinder ein deutlich besseres 4 Verständnis der Sendung als die weniger intelligenten. Die Korrelation zwischen Intelligenz und Testergebnis lag in der Unterhaltungssituation bei 0.09, während sie bei 5 Anstrengungsbedingungen 0.49 betrug. Befragungen ergaben, dass die hochintelligenten Kinder Fernsehen als ein "dummes Medium" betrachtet hatten, das keine Aufmerksamkeit verdient. Dies galt besonders für die Unterhaltungssituation. Nach einer entsprechenden Lernvorgabe änderte sich dies. Das Fernsehen wurde zu einer ernst zu 6 nehmenden Informationsquelle, und damit stiegen auch ihre Verstehensleistungen. 2. Das Dilemma des Salomon-Effekts Salomons Untersuchungen machen auf eine Verständnisbarriere aufmerksam, die den Verständnisbarrieren vorgeordnet 7 ist, die man normalerweise bei der Produktion von Fernsehfilmen berücksichtigt. Sie stellt sich so dar: Entweder die Zuschauer finden einen Film gut, dann rezipieren sie ihn nach Unterhaltungskriterien und behalten nur einen Bruchteil der Informationen - sie verstehen ihn nicht; ist ein Film aber anstrengender gestaltet als sonstige Beiträge, dann finden ihn die Zuschauer schlecht und schalten um. Ein klassisches Dilemma. Damit bildet der Salomon-Effekt eine ernste Herausforderung für jeden Fernsehschaffenden, egal ob Programm-Macher oder Filmautor - vorausgesetzt, es geht ihnen um mehr als nur um Einschaltquoten. Ich möchte nunmehr dieses Problem aus Sicht der Filmemacher angehen, wohl wissend, dass das Profil des Mediums Fernsehen nachhaltig von den Programmgestaltern bestimmt wird und dass Filmautoren hierauf kaum Einfluss haben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma scheinen mir Filme aufzuzeigen, die so strukturiert sind, dass sie eine aktive Rezeption der Zuschauer erfordern. Solche Filme können dabei Informationsstrategien von Textgattungen übernehmen, deren Strukturen ein korrektes Text-Verstehen als Rezeptions-Voraussetzung erfordern. Beispiele dafür sind die Textgattungen "Rätsel" und "Witz". Einen Witz hat man verstanden, oder man hat ihn nicht 8 verstanden. Etwas Drittes, eine Wissensillusion wie sie das Fernsehen zulässt , gibt es nicht, denn der Witz spielt mit dem korrekten Textverständnis der Zuhörer. Sie müssen die erhaltenen Informationen zu einer Verstehens-Hypothese integrieren, die die Erwartungen über den weiteren Fortgang bestimmt. So lockt sie der Witz auf eine falsche Fährte, bis er in der Pointe diese primäre Verstehens-Hypothese zerstört und eine Restrukturierung der erhaltenen Informationen zu 9 einem neuen Verstehensschema erzwingt. Ähnliches gilt für das Rätsel. 3 4 5 6 7 8 9 Vgl. dazu: Gavriel Salomon: Kognitionswissenschaft und Bildungsfernsehen. - in Dietrich Meutsch, Bärbel Freund (Hrsg.): Fernsehjournalismus und die Wissenschaften. Opladen 1990. S.181 Gavriel Salomon: Kognitionswissenschaft und ..., S.183 vgl. Gavriel Salomon: Kognitionswissenschaft und ..., S.183 Vgl. Gavriel Salomon: Kognitionswissenschaft und ..., S.183 So z.B. der Gebrauch von Fremdwörtern, Nominalstil, Text-Bild-Scheren Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Wirkung der Massenmedien. - in: E.Noelle-Neumann u.a. (Hrsg.): Publizistik, Massenkommunikation. <=Das Fischer Lexikon>. Frankfurt a.M. 1989. S. 366 Vgl. Karl N. Renner: Witz. - in: K. Kanzog, A.Masser (Hrsg.): Reallexikon d. Dtsch. Literaturgeschichte. 2. Aufl. 4.Bd. Berlin: de Gruyter Verl. 1984, S. 919-930 - Salomon-Effekt- 3 - 3. Interaktiv gestaltete Magazinfilme Die Erfahrung zeigt, dass man nicht nur Texte, sondern auch Filme - und zwar durchaus attraktive Filme - so gestalten kann, dass sie die Zuschauer aktiv in die Rezeption mit einbeziehen. Geradezu exemplarisch demonstriert dies der Magazin-Beitrag "Wie fährt ein Schlittschuh?", den Heinz von Mathey für "Abenteuer Wissenschaft" gedreht hat, das ist 10 das Wissenschaftsmagazin des Süddeutschen Rundfunks. Dieser Film unterscheidet sich deutlich von den üblichen Filmbeiträgen, wie sie zu Dutzenden in den Magazinen unserer Fernsehprogramme laufen. 3.1. Die additive Struktur üblicher Magazinbeiträgen Ein typischer Magazinfilm, egal ob für ein politisches Magazin, Regionalmagazin, Wirtschafts- oder Wissenschaftsmagazin, ist etwa 4 - 10 Minuten lang. Magazin-Beiträge vermitteln ihre Informationen bevorzugt durch Kommentar und Interview, ihre Struktur entspricht dabei sehr oft diesem additiven Aufbau-Schema: Oberflächenstruktur: Attraktive Bilder - Person - weniger attraktive Bilder - Interview - Bilder - Interview - Bilder ...- Schlußbild Argumentationsstruktur: Aufreißer - Vorstellung von Person und Situation - Problem - Lösung - Problem - Lösung ... - Schlussresümee Schaut man näher hin, so erkennt man, dass dieses Schema das Frage-Antwort- Muster von Interviews reproduziert. Diese Filme entstehen auch durchwegs so, dass fast nur Interviews gedreht werden und dass dann beim Schnitt die Fragen durch mehr oder minder passende Bilder ersetzt wurden. Zusammen mit dem Kommentar verbinden sie dann 11 eine Interview-Antwort mit der nächsten. Dieses Verfahren liefert nicht zwangsläufig schlechte Filme. Allerdings besitzen sie eine sehr einfache Struktur, die durch ihre häufige Verwendung ziemlich verbraucht ist. Ihre Rezeption verlangt damit vom Publikum keine Aufmerksamkeit (=wenig pdc) mehr. Diese Filme "rauschen an den Zuschauern vorbei", ohne dass der Eindruck entsteht, irgendetwas Wichtiges zu versäumen. 3.2. Interaktive Elemente in: "Wie fährt ein Schlittschuh?“ Heinz von Matheys Film enthält keine Interviews, doch es wäre sicher zu einfach gedacht, führte man die Qualität dieses Films allein darauf zurück. Der Film erreicht eine aktive Zuschauerbeteiligung vielmehr dadurch, daß er eine Informationsstrategie entwickelt, die sich an der Textgattung "Rätsel" orientiert, daß er mit impliziten Sehanweisungen arbeitet und dass er die Rezeptionsleistungen der Zuschauer durch positive Verstärker belohnt. "Wie fährt ein Schlittschuh?" hat eine Länge von 4:40 Minuten und besteht aus 33 Einstellungen (Vgl. dazu das Filmprotokoll im Anhang). Zunächst zeigt der Film einige Schlittschuhläufer und ein Kamerateam auf einer Eisbahn. Diese Aufnahmen sind zum Teil aus der sehr ungewöhnlichen Perspektive einer Kamera gedreht, die an einer Schlittschuhkufe befestigt ist. Dann führt der Film in ein Labor: Mit Hilfe eines elektronischen Thermometers und einer Polarisationskamera wird demonstriert, wie beim Schlittschuhlaufen Druck aufs Eis ausgeübt wird und wie dieser Druck das Eis zum Schmelzen bringt. Der letzte Teil des Films spielt wieder auf der Eisbahn. Beeindruckende 10 11 Erstsendung am 8.12.89, wiederholt in: "Prisma", NDR, Dez.91; in: "EINS PLUS WISSENSCHAFT", ARD EINS PLUS, 13. 1.92. Filmprotokoll nach der Ausstrahlung in EINS PLUS WISSENSCHAFT. Diese Struktur entsteht nicht zufällig, sondern erwächst geradezu zwangsläufig aus dem Produktionsbedingungen der Fernsehanstalten. Die Beiträge müssen ja möglichst schnell fertig werden, die Autoren können sich gerade in das Thema einlesen und müssen sofort drehen. Zeit, eine individuelle optische Umsetzung des jeweiligen Themas zu erarbeiten, haben sie meist nicht. Anderseits lassen sich diese Filme sehr gut redaktionell weiterverarbeiten. Man kann sie leicht schneiden und damit sehr einfach kürzen bzw. verlängern, gerade wie es die zur Verfügung stehende Sendezeit eben erfordert. - Salomon-Effekt- 4 Makroaufnahmen halten fest, wie unter einer Schlittschuhkufe das Eis auftaut und einen dünnen Wasserfilm bildet, auf dem der Eisläufer dahin gleitet. 3.2.1. Kameraführung Die Einsatzmöglichkeiten der beiden Spezialkameras bestimmen die Kameragestaltung des gesamten Filmbeitrags. Kufenkamera und Polarisationskamera gewinnen dem altbekannten Vorgang "Schlittschuhfahren" völlig neue Perspektiven ab. Eine übliche Reportagekamera hält dann Ort und Ablauf des jeweiligen Geschehens fest. Ihre Bilder erklären die Aufnahmen der Spezialkameras, verbinden sie zu einem Ganzen und übernehmen so die Orientierung der Zuschauer. Den stärksten Eindruck hinterlässt wohl bei allen Zuschauern die ungewöhnliche Kameraperspektive der Anfangseinstellungen: die Fahrt über die Eisbahn aus dem subjektiven Blickwinkel der Kufenkamera. Diese Bilder besitzen durch ihre Dynamik eine hohe künstlerische Qualität. Der ungewöhnliche Anfang verspricht den Zuschauern 12 weitere ungewöhnliche Seherlebnisse und erweckt zugleich die Neugierde, wie diese Bilder aufgenommen wurden. Bezogen auf das Modell von Salomon bedeutet dies: Der Faktor pse wird verstärkt, die Zuschauer sehen den Film bewusster und investieren mehr geistige Anstrengung in seine Rezeption. Diese Anstrengung wird bereits in den nächsten Einstellungen belohnt. Sie zeigen, wie das Filmteam die Kufenkamera für ihren Einsatz präpariert und dann die Spezialaufnahmen dreht (vgl. E 3,4,6,7). Der Film erfüllt die von ihm 13 erweckten Zuschauererwartungen und verstärkt sie positiv. Damit, so die These, wird die Abschalt- bzw. UmschaltGefahr verringert. 3.2.2. Gestaltung des Kommentars Auffallendes Merkmal des Kommentars sind die häufigen Fragesätze (vgl. Satz 2, 5, 7, 8, 21, 23). Die Fragen werden aber nie beantwortet, statt einer Antwort folgt ihnen vielmehr eine Pause. Dies verletzt übliche 14 Gesprächskonventionen , zugleich verletzen Fragen in einem TV-Kommentar aber auch die Erwartungshaltungen der Zuschauer. Denn gewöhnlich sind Kommentare mehr oder minder allwissend und erklären alles, zumindest stellen sie nichts in Frage. Diese Verletzung üblicher Text-Strukturen und gewohnter Erwartungshaltungen erschwert die FilmRezeption; im Salomon-Modell: der pdc-Faktor nimmt zu. Auffällig sind andererseits die zahlreichen und langen Pausen, fast ein Drittel des Films steht frei. Verglichen mit der Informationsfülle und der Textdichte durchschnittlicher Magazinbeiträge ist dies eine bemerkenswerte Ausnahme. In der ersten Filmhälfte ersetzen die Pausen Antworten, die der Kommentar auf seine Fragen geben müßte. Der Kommentar stellt nur Fragen und läßt sie unbeantwortet. Die Informationsvergabe des Films orientiert sich deutlich an der Informationsstrategie der Text-Gattung "Rätsel". Wie bei einem Rätsel werden aber auch hier die Rezipienten bei der Suche nach ihrer Antwort nicht allein gelassen, vielmehr erhalten sie verschlüsselt alle Informationen, die zur Beantwortung der Fragen erforderlich sind. Exemplarisch lässt sich dies an den Sätzen 21-23 (Einstellungen 14 - 17 ) vorführen: S. 21: Was passiert mit der Eissäule unter hohem Druck? S. 23: Steigt sie um mehrere Grade bis in den Plus - Bereich? 12 13 14 Überträgt man das von Roman Jacobson entwickelte Modell der verschiedenen sprachlichen Funktionen auf den Film, so ist dies eine Folge der poetischen Qualität dieser Bilder. Vgl. Roman Jacobson: Linguistik und Poetik. - in: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972. Vgl. Walter Edelmann: Lernen. - in: Roland Asanger, Gerd Wenninger (Hg.): Handwörterbuch der Psychologie. 4.Aufl. München 1988, S. 393-397 Vgl. Teun A. van Dijk: Textwissenschaft. München 1980. S.250 - Salomon-Effekt- 5 - Die Antwort, auf die es ankommt, heißt: Das Eis wird wärmer und schmilzt. Dieser Satz kommt im Film nicht vor, stattdessen finden sich diese Hinweise, aus denen er zu folgern ist: S 17: Druck erzeugt Wärme. Dies erlaubt eine Antwort auf Satz 21: Das Eis wird wärmer. S 21: "Plusbereich" Der Begriff "Plusbereich" legt ebenfalls nahe, daß das Eis wärmer wird. Er verlangt aber, daß der Zusammenhang zwischen Wärme und Temperaturmessung realisiert wird. S 20: Wasser wird "gefroren". Dieser Begriff erlaubt unter Bezug auf die semantischen Relationen "Wasser vs. Eis" und "gefrieren vs. schmelzen" den Schluss, dass das erwärmte Eis schmilzt. 15 Die Pausen lassen den Zuhörern bzw. Zuschauern die notwendige Zeit, damit sie die Leerstellen des Kommentars auffüllen können. Die Rezipienten können die erhaltenen Informationen rekapitulieren und sie entsprechend der gesuchten Antwort restrukturieren. Ähnlich wie die Textgattung "Witz" verführt auch dieses Frage-Pause-Spiel das Publikum zu einer aktiven Mitarbeit. Im Modell von Salomon: Dieses Spiel steigert den Faktor pdc und belohnt zugleich die erbrachten Leistungen. 3.2.2 Implizite Sehanweisungen Dieses Rätselspiel unterbleibt in der zweiten Hälfte des Films, der Kommentar enthält mit Ausnahme des letzten Satzes keine Fragesätze mehr. Die Pausen erfüllen nun eine andere Funktion, die in Zusammenhang mit den impliziten Sehanweisungen des Films steht. Solche impliziten Sehanweisungen können Sätze sein, die ankündigen, was demnächst zu sehen ist. Etwa Satz 18: "Wir wollen sie <d.i. die Temperatur> messen". Als ein ähnlicher Vorausverweis ist auch die folgende Besonderheit der Text-Bild-Relation zu interpretieren. Die Einstellungen E 14 - 17 zeigen wie die Versuchsanordnung für die Druck-Wärme-Messung zusammengebaut wird. Die im Kommentar erwähnten Gegenstände erscheinen dabei im Bild: "Temperaturfühler", "Plastikwürfel", "Wasser in der Bohrung". Dieser unmittelbare Text-Bild-Bezug16 gilt jedoch nicht für die Aktionen. Es geschieht mit den Dingen etwas völlig anders, als im Kommentar gesagt wird. Gezeigt wird, dass ein Mann eine Versuchsanordnung zusammenbaut, der Kommentar spricht aber davon, was mit dieser Versuchsanordnung später gemessen wird. Ähnlich den Psychologen in Salomons Rezeptionsuntersuchungen, die ihre Testkinder auffordern: "Schaut genau hin, wir fragen euch später ab, was ihr alles wisst", steigern auch derartige implizite Sehanweisungen die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf das, was im Film zu sehen ist. Funktion der Kommentarpausen ist es nun, den Zuschauern Zeit zu lassen, sich das in Ruhe anzusehen, worauf sie durch vorangegangen Sehanweisungen aufmerksam gemacht wurden. Exemplarisch dafür ist die 7 Sekunden lange Pause in E 21. Die dazugehörigen Sehanweisungen stecken zum einem im Satz 27 ("Die Druckunterschiede demonstriert wieder die Spannungsoptik..."), zum anderen ergeben sie sich aus den vorausweisenden Elementen der vorhergehenden Einstellungen. Dort wurde die Vorbereitung des jetzt stattfindenden 15 16 Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. München 1977 S.237 Vgl. Manfred Muckenhaupt: Text und Bild. Tübingen 1986, S.238 Vgl. Karl N. Renner: Die Wahrheit der Tagesschau. Zur Text-Bild-Beziehung in Nachrichtenfilmen. Referat auf d. 5.Kongreß f. Semiotik. Essen 1987 - Salomon-Effekt- 6 Versuchs gezeigt, zusätzlich wurde den Zuschauern mit Hilfe des Fragen-Pausen-Spiels nahe gebracht, dass Eis unter Druck schmilzt. Nun kann man in aller Ruhe zusehen, was passiert, wenn 500 Kilogramm aufs Eis drücken. Schaut man das Protokoll durch, so zeigt sich, dass die Pausen im zweiten Teil generell mit den Makro-Aufnahmen der Spezialkameras korreliert sind. Die Pausen lenken die Aufmerksamkeit auf eine bewusste Wahrnehmung der Bilder. Dabei verlangt der Film folgende kognitiven Leistungen: Die Zuschauer müssen ihre sprachliche Kompetenz aktivieren, um Schlüsse zu ziehen; und sie müssen sich ihrer visuellen Wahrnehmungen bewusst werden, um diese Schlüsse "empirisch" überprüfen zu können. Haben sie dies geleistet, dann wird nach den jeweiligen Pausen die Zuschauerbeobachtung bestätigt. Es wird mitgeteilt, dass das Eis schmilzt und dass der Schlittschuh auf Wasser fährt. Es wird demonstrativ gezeigt, wie die Temperaturanzeige in den Plusbereich springt und wie Schmelzwasser unter einer Schlittschuhkufe in Supermakro aussieht.( Vgl. E 24; E 26; E 30) 3.2.4. Oberflächen- und Tiefenstruktur Die Oberflächenstruktur dieses Films sperrt sich also gegen eine passive Rezeption. Den Zuschauer wird nicht gesagt, was sie sehen. Sie erhalten vielmehr implizite Sehanweisungen und müssen diese selbst umsetzen. Um dem Film folgen zu können, wird eine mentale Anstrengung verlangt (aime nach Salomon). Wird sie geleistet, dann wird sie immer wieder belohnt, was einem Abschalten vorbeugt. Der Film "Wie fährt ein Schlittschuh?" konfrontiert die Zuschauer also nicht mit einer fertigen Wahrheit, sondern lässt sie beim Finden der Wahrheit selbst mitsuchen. Dies wird bei einem Blick auf die Tiefenstruktur des Films besonders deutlich. Die Tiefenstruktur des Films "Wie fährt ein Schlittschuh?" erschließt sich über die Funktion der Kamera. Die Kamera filmt nicht irgendetwas ab, sie ist vielmehr das Instrument, das die Hypothesen bestätigt, die durch die fortwährenden Sehanweisungen aufgebaut werden. Dies wird explizit thematisiert. Denn der Film erzählt nicht nur die Geschichte, wie Eis unter Druck schmilzt. Er erzählt noch eine zweite Geschichte, in der die Kamera der Hauptdarsteller ist. Es ist die Geschichte einer Recherche, die sich am Schema "Wirkung - Ursache" orientiert. Diese Geschichte beginnt mit dem dritten Satz, in dem die Akteure eingeführt werden: "Uns interessiert die Physik des Eislaufens". Im vierten Satz werden die Akteure näher vorgestellt. Zum "Uns" gehören der Filmautor, das Team und die ganze Technik: "Wir begeben uns aufs Glatteis mit einem tragbaren Rekorder und einer Spezialkamera". Die beiden unscheinbaren Sätze gewinnen ein zusätzliches Gewicht, indem sie Frage-Antwort-Konventionen verletzen. Die Frage bezieht sich ja auf die Ursache des "schwerelosen Gleitens auf dem Eis". Es geht, wie Satz 3 präzisiert, um "die Physik des Eislaufens". Anstatt einer Antwort wird in Satz 4 aber erklärt, dass sich "Dazu" das Team "aufs Glatteis begibt." Was also trägt ein Kamerateam auf einer Eisbahn zum Verständnis der Physik des Eislaufens bei ? Der Film verspricht Ungewöhnliches zu einem eher banalem Thema, genauso wie die Anfangseinstellungen bereits ungewöhnliche Bilder gezeigt haben. So lädt dieses Versprechen die Zuschauer zu einer Entdeckungsreise in die Welt des Schlittschuhfahrens ein, aus der sie erst nach der letzten Einstellung, nach der Erfüllung des gegebenen Versprechens, entlassen werden. Damit unterscheidet sich dieser Magazinbeitrag gründlich von der Konfektionsware, die derzeit die Kanäle überschwemmt. Geht man ins Detail, so stellt man fest, daß die Zuschauer nicht nur Zeugen der Recherche sind, sondern daß sie sich sogar selbst an der Recherche beteiligen müssen. So werden sie nach E 11 mit einer Blende ins Labor hinein geführt, müssen die dort gewonnenen Erkenntnisse aber dann selbständig auf die Situation des Schlittschuhfahrens übertragen. Denn bei Rückkehr auf die Eisbahn, in E 27, meint der Kommentar nur ganz salopp: "Ein Eisläufer wiegt natürlich weniger als 500 Kilo". Die weiteren Schlußfolgerungen über den Zusammenhang von Gewicht und Physik des Eislaufens sind dann jedoch dem Scharfsinn der Zuschauer überlassen. 4. Ausblick - Salomon-Effekt- 7 - Sieht man von den konkreten Einzelheiten meines Beispiels ab, so zeigt sich folgender Ausweg aus dem Dilemma des Salomon-Effekts: Filme, die informieren wollen, dürfen ihren Zuschauern nicht alles "vorkauen", sie müssen vielmehr auf ihre aktive Beteiligung abzielen. Dies kann z.B. durch eine versetzte Informationsvergabe über die beiden Kanäle Bild und Ton erreicht werden. Andererseits muss diese erschwerte Rezeption durch eine besondere Qualität der Filme ausgeglichen werden, die etwa ästhetische Erlebnisse oder wertvolle Recherche-Ergebnisse verspricht. Dieser Ausweg steht nicht nur Beiträgen von Wissenschaftsmagazinen offen. Auch andere Fernseh-Filme, ob in politischen Magazinen oder als selbständige Features, können sich an diesen Kriterien orientieren. Die großen Sendungen der letzten Jahre - etwa die Filme von Fechner - zeigen denn auch, dass sie ihren Zuschauern durchaus etwas abverlangt haben. Die Möglichkeit, ein Fernsehprogramm zu produzieren, das nicht nur vorbeirauscht, besteht durchaus. Letztlich ist es also nichts anderes als eine medienpolitische Entscheidung, ob man dies auch möchte. - Salomon-Effekt- 8 Wie fährt ein Schlittschuh? Autor: Sendungen: Heinz von Mathey 8.12.89 in "Abenteuer Wissenschaft" SDR 13. 1.91 in "Prisma" NDR 13. 1.92 in "EINS PLUS WISSENSCHAFT" ARD EINS PLUS Auszeichnungen: Makro- und Spezialkamera Fragesätze Pausen Abkürzungen: Bild: wie üblich Ton: M - Eisbahn-Musik; A - Atmo (Brumm im Labor); OT markante O-Töne Zeit: Time Code und Einstellungsdauer Protokoll EN Zeit Format Inhalt Ton 1 0:00 14" total geführte Fahrt Kufenkamera tief "subjektiv" Auf Eisbahn. Schlittschuh fährt über Eis. Eisläufer. M Auf Eisbahn. Schlittschuhe fahren übers Eis. MA fast mühelosem Gleiten? 3 Uns interessiert die Physik des Eislaufens, uns interessiert die Grenzschicht zwischen Schlittschuh und Eis. 3" Pause 0:07 Text 7" Pause 1 Eislauf einmal anders gesehen: aus der Schlittschuhperspektive. 2 Wie kommt es zur scheinbaren Schwerelosigkeit, zum 2 0:14 12" total geführte Fahrt Kufenkamera 3 0:26 10" total Auf Eisbahn. geführter Schwenk Kamerateam auf "objektiv" Schlittschuhen. M 4 Dazu begeben wir uns aufs Glatteis mit einem tragbaren Rekorder und einer Spezialkamera -direkt hinter der Ferse d. Schlittschuhläufers. 4 0:36 5" nah Beine Kameramann geführter Schwenk Schlittschuh mit "objektiv" Kufen-Kamera M - hier unser Kameramann. 5 Was genau passiert unter und hinter dem Schlittschuh? 1" Pause 5 0:41 4" total - Schwenk "objektiv" Auf Eisbahn M Eisläuferin "macht Bild zu". 4" Pause 6 0:45 5" halbtotal Eigen-Schwenk o u Kameramann an Bande. MA Assis montiert an Kufenkamera. 2" Pause 6 Die Kamera, eine Weiterentwicklung aus der medizinischen 7 0:50 6" groß Stand Finger justieren die Kufenkamera. MA Endoskop-Technik muss immer wieder neu justiert werden. 7 Was spielt sich ab zwischen Schlittschuh und Eis? 2" Pause 8 0:56 4" groß Stand Finger schalten Kamera-Rekorder ein. MA 8 Laufen die Kufen vielleicht gar nicht auf - Salomon-Effekt- 9 EN Zeit Format Inhalt Ton 9 1:00 10" groß fahrt Kufenkamera Schlittschuh fährt über das Eis. Einst. von hinten MA M M 1:04 Text Eis, sondern auf Wasser? 7" Pause 10 1:10 6" total Beine Kameramann mit MA geführter Schwenk Kufenkamera auf Eis. 10 Die Kamera zielt jetzt genau auf eine Kufenspur. 2" Pause 11 1:16 4" ganz groß Fahrt Kufenkamera 1:19 / 1" BLENDE / 12 1:20 13" 13 Spur auf Eis. M 11 Der Druckstreifen wird deutlich. 12 Es sind zwei helle Spuren im Eis, /BLENDE/ ganz groß von unten Stand Laborkamera Kufen - Hohlschliff auf Plastikblock; polarisiertes Licht zeigt Drücke. A zwei Spuren, weil jede Kufe in der Regel zwei Aufsetzkanten besitzt, hohl geschliffen. 13 Im Labor demonstrieren wir die Druckverteilung im Eis mit Hilfe der Spannungsoptik. 14 Die nach innen gewölbte Kufe, 1:33 11" groß hnah Zoom rück Schlittschuh auf A Plastikblock --> Hände drücken Schlittschuh beim Versuch auf Block frontal gesehen. 15 Je nach Neigung, z.B. beim Kurven fahren, belastet sie das Eis unterschiedlich. 16 Hier drücken die messerscharfen Außenkanten statt auf Eis auf Plastik. 1" Pause 14 1:44 7" ganz groß Stand Zusammensetzen des Wärmefühlers A 17 Druck erzeugt Wärme. 18 Wir wollen sie messen. 19 Zu diesem Druckversuch brauchen wir einen Temperaturfühler 15 1:51 17 " 1:56 groß Stand Hände bauen Fühler in Würfel ein, füllen Wasser in Würfel ein. A in einem Plastikwürfel. 2" Pause 20 Das Wasser in der Bohrung wird anschließend gefroren. 4" Pause 21 Was passiert mit der Eissäule unter hohem Druck? 1" Pause OT 2:05 16 2:08 6" nah Stand Mann baut mit OT Schraubenzieher den A Versuchsblock zusammen. 22 Der Messfühler registriert die Temperatur. 23 Steigt sie um mehrere Grad bis in den 17 2:14 5" ganz groß Stand Kabel Messfühler werden angeschraubt Hände nehmen Würfel Plus-Bereich ? 3" Pause 18 2:19 12" htotal Stand Mann: Gang in VG Im Labor. Mann nimmt OT Würfel aus Kühlschrank stellt ihn unter die Presse, beginnt zu OT pressen 2:27 OT A OT 24 Nach zwei Stunden im Eisfach ist das Wasser im Plastikklotz gefroren, auf -6o. 25 So kalt ist auch das Eis das Eis in der Halle. 26 Mit der Handpresse können wir einen Druck von einigen 100 Kilo erreichen. - Salomon-Effekt- 10 - EN Zeit Format Inhalt Ton 19 2:31 4" groß Stand Pol-Aufnahme Würfel wird gepresst: Block mit farbigen Kraftlinien A 27 Die Druckunterschiede demonstriert wieder die 20 2:35 2" groß Stand Kamera-Objektiv von vorne A Spannungsoptik mit polarisiertem Licht und Polfilter 21 2:37 12" ganz groß Stand Plastikblock mit farbigen Kraftlinien zweimaliges Drücken A <28> 500 Kilogramm drücken aufs Eis. 7" Pause 22 2:49 6" Makro Stand Presse drückt auf Eis im Zylinder A 29 Am rechten Zylinderrand beginnt das Eis schon etwas zu schmelzen. 2" Pause 23 2:55 4" Makro Stand Kontakte am Messfühler A 2" Pause 30 Der Messfüh- 24 2:59 5" Makro Stand Digitale ZahlenanA zeige: -0003,7; -0002,7;-0002,6; -0001,7;+0000,5;+0000,6; +0001,6;+0001,7; +0002,1 ler unterm Eis registriert einen raschen Temperaturanstieg auf bis + 2,1o . 1" Pause 25 3:04 3" nah Stand Hand an der Presse drückt Hebel A 31 Bei jeder neuen Belastung 26 3:07 17" Makro Stand Eiszylinder Eis wird gepresst A bildet sich in den Schwächezonen und am Rand immer mehr Wasser, das bei Druckentlastung sofort wieder gefriert3" Pause 32 - Druck - Entlastung 1" Pause 33 - Druck - Entlastung 4" Pause 3:17 A 3:20 A Text 27 3:24 7" htotal Stand An Bande: Assi über prüft Kufenkamera vg. E 6 MA 34 Ein Eisläufer wiegt natürlich weniger als 500 Kilo, aber immerhin: 35 Sein ganzes Gewicht verteilt sich je nach 28 3:31 9" ganz groß Fahrt Kufenkamera Schlittschuh gleitet übers Eis. Blick n. hinten, auf Spur MA Belastung und Eishärte auf nur etwa 1 qcm. 36 Die Druckspur mit ihrem hauchdünnen, gefrorenem Schmelzwasserfilm. 1" Pause Format Inhalt Ton EN Zeit M Text - Salomon-Effekt- 11 29 3:40 7" nah Auf Eisbahn. Beine geführter Schwenk Kameramann mit Hauptkamera Kufenkamera MA 37 Jetzt sitzt die Kamera direkt über dem Druckpunkt der Kufe, nur knapp über der Eisfläche. 30 3:47 11" Makro Kufenkamera M 38 Und da ist das Wasser. 39 Die Kamera zeigt die Kufe, einen Ausschnitt in Pfenniggröße. 4" Pause 31 3:58 7" groß Schlittschuhe des geführter Schwenk Kameramann. K. Hauptkamera fährt auf Eisbahn MA 40 Wir wollen noch näher ans Wasser; 41 die Kufenkamera sitzt jetzt noch tiefer und berührt fast das Eis. 2" Pause 32 4:05 15" extremes Makro Kufenkamera Schlittschuhkante gleitet über Eis. dazwischen: das Schmelzwasser MA 42 Der Bildausschnitt ist nicht größer als ein Streichholzkopf. 43 Selbst winzige Luftblasen im Schmelzwasser sind sichtbar, wegen der Oberflächenspannung können sie nicht sofort entweichen. 3" Pause 33 4:20 20 " extremes Makro Kufenkamera Schlittschuhkante gleitet über Eis dazwischen: das Schmelzwasser M 44 Der Hohlschliff kanalisiert das Druckwasser. 4" Pause M 45 Laufen wie geschmiert: auf Eis, auf Wasser ? 10" Pause ENDE ENDE 4:27 4:40 ENDE Schlittschuhkante gleitet über Eis. Schmelzwasser