Katja Köhler NACH 45 JAHREN FÄNGT DIE RENTE AN
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Katja Köhler NACH 45 JAHREN FÄNGT DIE RENTE AN
23 Erschienen am 28.4.14 in der Eßlinger Zeitung NACH 45 JAHREN FÄNGT DIE RENTE AN HOFFENTLICH Die politische Debatte über das Paket ist für Arbeiter wie Francesco Damato ein Ärgernis Von Katja Köhler Neckartenzlingen/Stuttgart – 14 Jahre alt war Francesco Damato, als er nach Abschluss der Volksschule in Italien nach Deutschland kam, um Geld zu verdienen, und schließlich in Neckartenzlingen landete. Dort heuerte er im Januar 1970 beim Antennenhersteller Hirschmann an und begann sein Arbeitsleben damit, jeden Morgen zwischen 7 und 9 Uhr für die Belegschaft als „Vesperjunge“ die Boten- und Besorgungsgänge zu erledigen, den Müll zu leeren und den Boden zu fegen, ehe er bis Feierabend den Arbeitern zur Hand ging, um die Maschinen zu bestücken. 44 Jahre und fast vier Monate später arbeitet Damato, inzwischen 58, noch immer auf dem Firmengelände in Neckartenzlingen. Noch immer werden hier Produkte für die Signal- und Datenübertragung gefertigt und noch immer ist er hier, weil mit schwerer Arbeit gutes Geld zu verdienen ist. Aber sonst hat sich im Berufsleben des einstigen Einwanderers vieles verändert. Denkt Andrea Nahles (SPD) an die Gründe für die von ihr vorangetriebene Rente mit 63, denkt die Bundesarbeitsministerin wohl an Fälle wie Damato. Nach Nahles’ Plänen sollen Menschen wie er nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in den Ruhestand gehen können. Dagegen regt sich bei einigen Unionspolitikern Widerstand. Das wiederum stößt bei Damato auf Unverständnis. Stress durch Arbeitsverdichtung Längst ist der Italiener kein „Vesperjunge“ mehr; er hat es zum stellvertretenden Schichtführer gebracht. Bis vor fünf Jahren hat er viel getragen und geschleppt, Maschinenteile, Werkzeug, oft von massivem Gewicht. Jetzt hat der durchaus muskulöse Mann „Malheur mit dem Kreuz“ und überlegt sich, ob er dem Rat des Arztes folgen und sich eine künstliche Hüfte einsetzen lassen soll. Der Betrieb firmiert nach wie vor unter dem Namen Hirschmann, hat aber einige Umbrüche erlebt und gehört nun zur US-amerikanischen Belden-Gruppe. Die Arbeitsbedingungen sind spürbar härter geworden, jeder einzelne Werktag ist streng durchgetaktet. Optimierung nennt das der Betriebswirtschaftler. Die Gewerkschaft sagt Arbeitsverdichtung dazu. Für die Arbeiter selbst heißt es schlicht: mehr Stress. Damato formuliert es zugespitzt: „Man kann kaum zur Toilette gehen.“ Für Menschen wie ihn, die weit mehr als vier Jahrzehnte lang schwere Arbeit verrichtet haben und die ihren Körper täglich enorm belastet haben, ist die öffentliche Debatte über vermeintliche Frühverrentungen nicht nachvollziehbar. „Jeder, der so lange gearbeitet hat, sollte nach 45 Jahren in Rente gehen können“, findet Damato. Die abschlagsfreie Rente mit 63 soll von Juli an gelten, jedoch nur für die Jahrgänge 1953 bis 1963. Für jeden nachfolgenden Jahrgang steigt die Altersgrenze um zwei Monate. Angehörige des Geburtsjahrgangs 1964 sind die ersten, die – bei 45 Beitragsjahren – frühestens mit 65 in die abschlagsfreie Rente gehen können. Nach Angaben der Bundesregierung können zum Start 200 000 von 700 000 Neurentnern von der Regelung profitieren. Für Baden-Württemberg liegen laut IG Metall Südwest keine genauen Zahlen vor. Die Regelung ist eine Herzenssache der SPD. In den Koalitionsverhandlungen mit der Union stellte dieser Punkt ein Kernanliegen dar. In Frage kommt das Modell nur für jene Arbeitnehmer, die mindestens 45 Jahre Katja Köhler Jahrgang 1970. Abitur in Esslingen, dann Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, anschließend ein Jahr lang in der dortigen Öffentlichkeits- und Presseabteilung tätig. Ab 1993 Studium der Germanistik, Geschichte und Empirischen Kulturwissenschaften in Tübingen, nebenher freie Mitarbeiterin der Stuttgarter Zeitung. 1997 vorzeitige Beendigung des Studiums zugunsten eines Volontariats bei der Eßlinger Zeitung. Seit 1998 dort Redakteurin im Ressort Politik und Nachrichten, auch zuständig für Reportagen. 24 lang in die Rentenkasse eingezahlt haben, also bereits als Jugendliche ins Erwerbsleben eingetreten sind. Ende Januar billigte die Bundesregierung das Rentenpaket von Arbeitsministerin Andrea Nahles. Seitdem flammt der Streit über die Anrechnung der Beitragszeiten immer wieder auf. Einem Teil der Unionspolitiker missfällt unter anderem der Plan, Phasen von Kurzzeitarbeitslosigkeit – während der Rentenbeiträge bezahlt werden – unbegrenzt auf die 45 Beitragsjahre anzurechnen. Sie wollen die Zeiten der anerkannten Erwerbslosigkeit auf fünf Jahre begrenzen. Dem hält Andreas Streitberger von der IG Metall in Esslingen entgegen: „Erwerbsbiografien laufen nicht stets glatt ab. Oft handelt es sich bei der Arbeitslosigkeit auch nur um eine kurze Phase.“ Ohnehin trügen die meisten Menschen daran keine Schuld. Verantwortlich dafür sei das Wirtschaftssystem. Belastungen für Gehör und Knie Robert Bürger (59) ist Karosseriebauer in der Daimler-Niederlassung Stuttgart. Im Bereich Nutzfahrzeuge werden in erheblichem Umfang große Teile getragen und eingebaut. Entsprechend kennt sich Bürger mit den Folgeerscheinungen harter Arbeit auf den menschlichen Körper aus. Probleme mit dem Gehör, den Knien und der Wirbelsäule beschreibt er als typisch. Seine jahrelange Mitgliedschaft im Betriebsrat des Konzerns ist ihm anzuhören; routiniert spielt er auf der Argumentations-Klaviatur eines Gewerkschafters. Bürger selbst erfüllt wie auch Damato die Voraussetzungen für die Rente mit 63 – er steht seit 1969 im Berufsleben. Die Einwände der Unionspolitiker kann er nicht nachvollziehen. „Wenn man 45 Jahre gearbeitet hat, war man eine riesige Zeit im Arbeitsleben, und man hat ein Recht darauf, gesund in Rente zu gehen“, sagt er. „Man hat ja dann weit mehr als zwei Drittel seines Lebens gearbeitet.“ Auch das Argument des demografischen Wandels greift seiner Ansicht nach nicht. Zum einen müsse den Jüngeren Platz gemacht werden. „Der Facharbeitermangel ist selbst produziert“, sagt Bürger. Denn viele Auszubildende würden nach dem Abschluss ihrer Lehre von den Unternehmen nicht übernommen, und wegen der fehlenden Möglichkeit der Arbeit könnten sie sich dann nicht weiterbilden. Zum anderen hielten viele Ältere dem Leistungsdruck nicht mehr stand. „Eine Verunglimpfung“ Die IG Metall Baden-Württemberg ärgert sich darüber, dass der Streit über die Rente mit 63 immer wieder hochkocht. Bezirksleiter Roman Zitzelsberger kritisiert: „Damit hat eine Verunglimpfung der Menschen begonnen, die ihre Lebensleistung erbracht und 45 Jahre oder länger in den Betrieben gearbeitet haben. Ihnen jetzt vorzuwerfen, die Rentenkasse zu Lasten der Jüngeren zu plündern, ist eine Unverschämtheit. Die meisten werden mehr in die Rentenkasse eingezahlt haben, als sie herausbekommen.“ Unterdessen wechselt sich Damato bei der Einrichtung von Spritzgussmaschinen mit seinen Kollegen bei der Früh- und Spätschicht wöchentlich ab, zudem arbeitet er jedes Vierteljahr einen Monat lang in Nachtschicht. „Das Schlafen am Tag ist manchmal schwierig“, sagt er. Trotzdem will der Vater zweier erwachsener Töchter so lange weiter arbeiten, wie er „das liebe Geld“ eben braucht und er abschlagsfrei in Rente gehen kann. Den Politikern, die sich wegen einer möglichen Frühverrentungswelle Sorgen machen, schlägt Damato indes vor: „Die sollen einmal vorbeikommen und schauen, wie wir arbeiten.“