Verbrecherjagd im Datennetz - Max-Planck

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Verbrecherjagd im Datennetz - Max-Planck
FOKUS
GESELLSCHAFT IM KONFLIKT
Verbrecherjagd
im Datennetz
avid ist ein Besessener. Tagelang hockt er in seinem Zimmer vor dem schwarzen Bildschirm
mit der grün leuchtenden Schrift.
Wieder und wieder tippt er kryptische
Buchstaben und Zahlenkolonnen in
seinen Computer. Eigentlich ist David
Lightman Schüler. Zu Hause aber
wird er zum Hacker. Der respektlose
Schlaukopf wählt sich in den Schulcomputer ein, frisiert das Zeugnis
seiner Freundin Jennifer. Er überrum-
Für die meisten Internetnutzer ist Google Earth ein
faszinierendes Spielzeug, doch Terroristen kundschaften
damit Anschlagsziele aus.
pelt ein Flugbuchungssystem und reserviert zwei Tickets nach Paris – ein
Teenager-Spaß. Irgendwann überschreitet er die Grenze. David will das
Computersystem eines VideospielHerstellers knacken und landet direkt
in der Nordamerikanischen Verteidigungszentrale Norad. David glaubt,
ein virtuelles Spiel zu spielen – „Global thermonuclear war“ – und löst
damit fast einen Atomkrieg aus.
Die Rolle des naiv-genialen Hackers David im Spielfilm WarGames
bringt dem jungen Schauspieler
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Matthew Broderick 1983 seine erste
Oscar-Nominierung ein – und dem
Rest der Welt erstmals das ungute
Gefühl, dass wild gewordene Computer über das weltweite Datennetz gewaltigen Schaden anrichten können.
Zu der Zeit kennen sich nur wenige
Fachleute mit der Computerei aus.
Mit befremdeter Bewunderung begegnen Laien Hackern – Exoten, die
auf unsichtbaren Pfaden durch einen
seltsam abstrakten Kosmos navigieren. Mit Atari und Commodore 64
diffundiert die virtuelle Welt erst zaghaft in die Jugendzimmer und Wohnstuben.
Heute, fast 25 Jahre später, sieht
die Welt anders aus. Digital verknüpft
sind nicht mehr nur Firmen und Behörden. Längst umspannt ein dichtes
Datennetz den Globus. Es verbindet
weltweit Milliarden Menschen. In
Deutschland ist der Klick ins Internet
bereits für 75 Prozent der 18- bis 34Jährigen selbstverständlich. Information rast in Sekundenschnelle um die
Erde. Milliarden E-Mails, Dokumente,
Grafiken täglich. Röntgenbilder flitzen zwischen Kontinenten hin und
her, von Spezialist zu Spezialist. Ingenieure warten sogar Kraftwerke via
Datenleitung aus der Ferne.
Mit einer einfachen Tastenkombination kann jeder sich das Wissen der
Welt ins Haus holen. Mitunter aber
auch ungebetene Gäste. Denn unter
Milliarden rechtschaffener Internetnutzer tummeln sich Tausende mit
bösen Absichten. Die dunkle Seite des
Internets hat inzwischen einen Namen
– Cybercrime. Die Täter sind vermummte Terroristen, die in InternetVideos ihre Waffen schwenken und
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gern. Die Justiz ist gegen Verbrechen in der virtuellen Welt oft machtlos. ULRICH SIEBER,
Direktor am MAX-PLANCK-INSTITUT
STRAFRECHT,
FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES
erforscht, wie sich das Strafrecht an die neuen Gefahren anpassen muss –
ohne dass dabei Informationsfreiheit und Bürgerrechte auf der Strecke bleiben.
zum Glaubenskrieg aufrufen. Mit ihren martialischen Websites rekrutieren
sie neue Kämpfer. Oder Betrüger, die
Trojaner verschicken, um PIN-Nummern für Internetkonten zu ergaunern.
Oder Verbrecher, die in geheimen Online-Börsen Bilder von missbrauchten
und gequälten Kindern verbreiten. Die
Hackerei der frühen 1980er-Jahre
wirkt da fast harmlos.
BAUANLEITUNGEN
FÜR BOMBEN
Inzwischen bietet der Cyberspace
Platz für das gesamte Spektrum
transnationaler Kriminalität. Darauf
ist die Justiz nicht vorbereitet. An
ihre Grenzen kommt sie vor allem
dann, wenn die Delikte komplex
werden, wenn die Behörden dem organisierten Verbrechen und Wirtschaftskriminellen über den ganzen
Globus folgen oder terroristische
Netzwerke entwirren müssen. Organisierte Verbrecher und Terroristen
kommunizieren in verschlüsselter
Form über das Internet. Terroristen
veröffentlichen Bauanleitungen für
Bomben. Im Datennetz planen sie
Anschläge, kundschaften mit Suchmaschinen und Google Earth potenzielle Angriffsziele aus.
Die Verbrecher im anonymen,
flüchtigen und superschnellen Internet aufzuspüren gestaltet sich schwer
genug. Noch schwieriger ist, sie
strafrechtlich zu verfolgen und zu
verurteilen. Das Problem liegt vor
allem beim Strafrecht: Das Internet
ist global, das Strafrecht aber grundsätzlich auf das jeweilige nationale
Territorium beschränkt. Meist verurteilt ein Gericht einen Täter in dem
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Das Internet bietet ungeahnte Möglichkeiten – auch Terroristen, Pädophilen und Betrü-
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Per Kreditkarte identifiziert: In der Operation
Mikado ermittelte die Polizei Sachsen-Anhalts
322 Bezieher von Kinderpornografie.
Land, in dem er straffällig wurde.
Beim Internet aber können zwischen
Täter und Tatort 10 000 Kilometer
liegen. Viele Gerichtsverfahren haben die Ohnmacht der Justizbehörden in solchen Fällen gezeigt.
Ulrich Sieber, einer der beiden Direktoren des Max-Planck-Instituts
für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau, kennt die juristischen Grenzen
und auch die kriminellen Aktivitäten
auf der Weltbühne. Er ist Spezialist
für grenzüberschreitende Kriminalität – für organisiertes Verbrechen,
für internationalen Terrorismus, für
grenzenlose Wirtschaftskriminalität
und für Cybercrime. Mit seinen
Mitarbeitern der Forschungsgruppe
Strafrecht analysiert der Jurist, was
sich die Kriminellen dieser Welt einfallen lassen – „Neue Formen der
Delinquenz in der globalen Informations- und Risikogesellschaft“ heißt
das im neuen Forschungsprogramm.
Sieber prüft, ob und wie weit das
geltende Strafrecht auf der Welt das
kriminelle Verhalten überhaupt abdeckt. Er will vor allem auch herausfinden, wie sich die neue Art der Kriminalität effektiver verhindern lässt.
Worin die Herausforderung des Internets für das Strafrecht besteht,
machte 1999 der Fall des HolocaustLeugners Frederic Toeben klar. Von
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Australien aus hatte Toeben im Internet jahrelang scheinbare Beweise
gegen den Holocaust veröffentlicht.
Toeben ließ sich in ehemaligen
Konzentrationslagern fotografieren,
schwafelte Haarsträubendes. Freilich
ließ sich Toebens Internetauftritt auch
von Deutschland aus erreichen. In
Deutschland waren die Inhalte strafbar, in Australien nicht. Toebens
Treiben wäre ungesühnt geblieben,
wäre er nicht für einen Kurzbesuch
nach Deutschland gereist. Dort versuchte er persönlich, den zuständigen
Staatsanwalt von seinen Geschichten
zu überzeugen. Der Staatsanwalt zögerte nicht lang und ließ den Australier festnehmen.
In diesem Fall ist es für die Justiz
gut gelaufen. „Doch in vielen Fällen
kommt man mit nationalstaatlichen
Lösungen bei der Kriminalität im
globalen Cyberspace nicht weit“,
sagt Sieber. „Wir brauchen ein transnational wirksames Strafrecht.“ Zwei
Wege führen dorthin – eine gute
zwischenstaatliche Zusammenarbeit
oder aber ein supranationales Strafrecht. Für beide Lösungsmodelle ist
freilich ein gewisser gemeinsamer
Nenner im Strafrecht nötig, auf den
sich die Staatengemeinschaft einigen
muss. Ein Schwerpunkt in Siebers
Forschungsprogramm liegt darauf,
die Modelle für ein transnationales
Strafrecht zu entwickeln und Grundlagen eines solchen Nenners zu finden. Für das Internet ist das beson-
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ders schwierig. Sieber: „Im globalen
Cyberspace kulminieren die Probleme des internationalen Verbrechens. Cybercrime ist geradezu ein
Lehrstück für die Probleme der transnationalen Kriminalität.“
Das hat mehrere Gründe. Zum einen die technische und wirtschaftliche Globalisierung. Dank Internet
rückt die Welt näher zusammen. Zunehmend wickeln Unternehmen und
Privatpersonen Geschäfte über das
Internet ab. Ständig wandern Informationen durch dieses Netz, die für
Kriminelle interessant sind. Zum anderen hat die zunehmende Technisierung nicht nur Erleichterungen für
den Alltag gebracht, sondern auch
neue Risiken: Flugzeuge können
Hochhäuser einstürzen lassen und
mehrere tausend Menschen töten.
Via Internet können Verbrecher
Technik noch einfacher missbrauchen, sekundenschnell Stromnetze
lahmlegen oder Kommandozentralen
verrückt spielen lassen. Der Mensch
ist von der Informationstechnik abhängig wie nie und entsprechend
verwundbar. Sieber findet es daher
keineswegs selbstverständlich, dass
der große Cyber-Terroranschlag bisher ausgeblieben ist.
VERBRECHEN IN DER
GLASFASERLEITUNG
In der Vorsilbe Cyber kommt all das
zum Ausdruck, was der staatlichen
Kriminalitätskontrolle Kopfzerbrechen bereitet: Wie nur soll man in
einem virtuellen, von Technik beherrschten und globalen Raum kriminelles Verhalten kontrollieren und
verfolgen? Verbrechen versteckt sich
hinter Technik, in Glasfaserleitungen,
in Serverräumen. Schon Dialer sind
dem unbedarften Internetnutzer rätselhaft. Unmerklich schalten sie die
Internetleitung auf teure ServiceRufnummern um. Dem Ahnungslosen flattern horrende Telefonrechnungen ins Haus.
Wie will ein Wissenschaftler in den
unergründlichen Tiefen des Internets
erforschen, was sich in Sachen Verbrechen tut? Wie findet ein Jurist
heraus, welche neuen Techniken auf-
kommen, welche betrügerischen Machenschaften? Wie erfährt die Justiz,
ob das Strafrecht und die internationalen Abkommen diesen Dingen
gewachsen sind? Ulrich Sieber und
seine Mitarbeiter gehen da ganz pragmatisch vor. In einem aktuellen Projekt durchforsten sie zunächst Zeitungen und Informationsdienste nach
aktuellen Fällen. Dann beginnen sie
die Analyse. Sie interviewen die Opfer, Täter und Ermittler, haken nach,
ermitteln Details. Sie analysieren nationale und internationale Regelungen
zur Computerkriminalität auf Übereinstimmungen und Unterschiede.
Manchmal laden sie Experten ein
– ehemalige Hacker etwa, die aus
dem Nähkästchen plaudern. „Vor
zwei Jahren hatten wir einen der
weltweit besten Hacker und einen
Ermittlungsbeamten in unserem Institut, die uns gezeigt haben, wie man
Sicherheitslücken in Computersystemen findet, wie man Passwörter ausspäht oder Datenverbindungen abhört.“ Das beunruhigende Fazit des
Top-100-Hackers: Noch heute können Spezialisten mehr als 90 Prozent
aller Sicherheitssysteme knacken.
Kein Zweifel: Wer auf diesem Feld
forscht, braucht technisches Verständnis. Sieber arbeitete bereits als Werkstudent bei IBM und durfte schließlich
bei einem Ausbildungsprogramm mitmachen – zwischen lauter Informatikern und Physikern, die sich wunderten, was der Jurist da zu suchen
hatte. Siebers Mitarbeiter zum Thema
Cybercrime haben ebenfalls Erfahrungen zum Beispiel als Systemadministratoren und kennen Technik und
Strafrecht gleichermaßen. Juristischer
und technischer Sachverstand sind für
das komplexe Cybercrime eine perfekte Mischung. Damit brachte Sieber
im Jahr 1999 auch das Urteil gegen
den ehemaligen Chef von CompuServe Deutschland, Felix Somm, zu Fall.
Somm war im Jahr zuvor vom
Amtsgericht München wegen angeblicher Mittäterschaft bei der Verbreitung von Kinderpornografie zu zwei
Jahren Bewährungsstrafe und einer
Zahlung von 100 000 Mark verurteilt
worden. Der Grund: Auf dem Daten-
server des US-Mutterkonzerns in
Ohio hatten Newsgroups kinderpornografische Darstellungen und neonazistische Informationen gespeichert. Der Richter machte Felix Somm
dafür verantwortlich, dass die Daten
auch von Deutschland aus abrufbar
waren. Zwar sperrte die US-Mutter
die Seiten. Auf Somm aber lastete der
Vorwurf, nichts gegen die Verbreitung in Deutschland getan zu haben.
DEUTSCHES BIER
IM GULLY
Das erstinstanzliche Urteil des
Münchner Richters sorgte für weltweite Aufregung. Die NEW YORK TIMES
berichtete auf der Titelseite. Vor dem
Goethe-Institut in San Francisco
schütteten Demonstranten deutsches
Bier in den Gully und protestierten:
„Deutsche Weltpolizisten wollen das
globale Internet zensieren.“ Ulrich
Sieber sah in dem Urteil den eher
hilflosen Versuch eines deutschen
Gerichts, mit nationaler Technik und
nationalem Strafrecht internationale
Probleme bekämpfen zu wollen. Ihn
interessierte an dem Fall die grundlegende Frage, inwieweit nationale
Kontrollstrategien
transnationale
Kriminalität überhaupt verhindern
können.
Sieber übernahm Somms Verteidigung und demontierte das Urteil –
nicht zuletzt wegen „einer ganzen
Reihe von Fehlern im technischen
Verständnis von internationalen Datennetzen“. Zum einen zeigte Sieber,
dass es technisch nicht möglich war,
den Zugriff der deutschen Nutzer auf
die amerikanischen Inhalte zuverlässig zu sperren. Zum anderen habe
das Gericht nicht einmal den Versuch
unternommen, einen „in den USA
handelnden Mittäter festzustellen“.
Das Ergebnis: Somm wurde in zweiter Instanz freigesprochen.
Das Urteil hallte nach. Es beeinflusste nicht nur das Recht in
Deutschland, sondern in der ganzen
Europäischen Union. So wurde vielen Justizbehörden erstmals der
strafrechtlich relevante Unterschied
zwischen Access- und Host-ServiceProvidern klar. Access-Provider – wie
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FOKUS
Eskalation in der Cyberwelt:
David Lightman (oberes Bild und mittleres Bild) löst
im Film WarGames fast einen Atomkrieg aus.
die ehemalige Firma CompuServe
Deutschland – leiten Daten lediglich
weiter. Für sie ist es technisch unmöglich, alle Informationen zu überprüfen. Für die Inhalte können sie
daher strafrechtlich auch nicht verantwortlich gemacht werden.
Host-Service-Provider hingegen –
Anbieter, die Daten speichern – können und müssen rechtswidrige Inhalte sperren, sobald sie davon
erfahren. Eine entsprechende Noticeand-take-down-Procedure ist inzwischen in vielen Staaten anerkannt.
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VERWISCHTE SPUREN
IM DATENNETZ
Hacker-Angriffe wandern über viele
Computer von Kontinent zu Kontinent. Damit verwischt der Angreifer
seine Spur. Für die Fahnder wird es
auf diese Weise schwer, den Weg zurückzuverfolgen, weil Verbindungsdaten nur selten länger gespeichert
werden. Da ein Hackerangriff die Hoheitsgebiete mehrerer Staaten berührt, ist die Ermittlung der Täter bislang ausgesprochen mühsam. Dank
der nationalen Kontaktstellen können
die betroffenen Länder die Fahndungen und die internationalen Ermittlungen jetzt schnell und unbürokratisch abstimmen. Damit erweist
sich die Bekämpfung des Cybercrime
als vorbildhaft für internationale
Strafrechtskooperation. Die hier eingesetzten Modelle und Lösungen las-
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Hinweise erhält der Host-ServiceProvider beispielsweise über ein internationales Netz von Hotlines.
Internetnutzer melden dort verdächtige Websites. Entfernt der Host-Service-Provider die Daten nicht, macht
er sich strafbar. Staatlich-private
Koregulierung nennt Sieber das. Auf
solche Alternativen und Ergänzungen zum Strafrecht setzt der
Max-Planck-Wissenschaftler in der
Kriminalpolitik.
Ein weiteres Beispiel dafür ist die
technische Prävention. Derzeit untersuchen die Freiburger Forscher
zusammen mit Informatikern, inwieweit es sinnvoll ist, dass Behörden
darüber hinaus nationale Sperren
gegen ausländische Internetinhalte
anordnen. Das Resultat: Nationale
Sperrverfügungen schirmen verbotene Inhalte in vielen Fällen nur so gut
ab wie ein Gartenzaun einen Einbrecher. Darüber hinaus beeinträchtigen
derartige Sperrungen häufig auch
den legalen Datenverkehr.
Dennoch können deutsche Behörden derartige – auch symbolische –
Maßnahmen anordnen, weil es auf
nationaler Ebene bislang meist keine
besseren Konzepte gibt. Die Forschungen machen damit deutlich,
warum die Wissenschaftler intensiv
an der Entwicklung international
wirksamer Maßnahmen und Regelungen arbeiten, die weniger in die
Meinungsfreiheit eingreifen als die
wenig wirksamen Sperrverfügungen.
Bislang scheitern internationale
Zusammenarbeit im Strafrecht und
sen sich dann später auch auf andere
Bereiche übertragen.
Vor Kurzem hat der Europarat das
Freiburger Institut mit einer Analyse
der Cybercrime-Konvention und anderer internationaler Konventionen
beauftragt. Die Forscher sollten die
internationalen Regelungen in Sachen Cyberterrorismus auf den aktuellen Stand bringen. Sieber kommt zu
dem Ergebnis, dass noch einiges zu
tun ist. So wurden die Konventionen
bislang noch nicht ausreichend ratifiziert. Zudem fehlt in den internationalen Konventionen „eine allgemeine
Verpflichtung zur strafrechtlichen Erfassung von allgemeinen terroristischen Drohungen“, wie sie kürzlich
in Deutschland durch die Medien tickerten. Auch die Ermittlungsmaßnahmen in der Cybercrime-Konvention müssten aktualisiert werden.
Was dazu gehört, finden die Forscher vor allem durch Strafrechtsvergleichung heraus: Regelmäßig
durchstöbern sie das Strafrecht verschiedener Länder, vergleichen, registrieren, welche Eigenarten, welche
Neuerungen es gibt. 1700 Fachzeitschriften ruhen in den Regalen des
Instituts und dazu etwa 400 000 Bücher. Genug Stoff für ausgiebige Recherchen. „Für wichtige Länder haben wir spezielle Landesreferate.
Damit können wir aber nicht alle
Sprachen und Rechtsordnungen der
Welt abdecken“, sagt Sieber. „Deshalb bitten wir häufig die Fachkollegen in anderen Ländern, uns detaillierte Berichte mit den entscheidenden
Informationen zu erstellen.“ Die Vergleiche liefern wichtige Hinweise
darauf, welche Strafrechtsregelungen
möglich und vielversprechend sind.
Daraus gewinnen die Wissenschaftler Erkenntnisse, die am Ende auch
der nationalen Gesetzgebung und internationalen Konventionen zugute
kommen können.
In vielen Fällen begnügt sich der
Gesetzgeber allerdings nicht damit,
ein transnationales Strafrecht zu
schaffen. Die aktuellen Risiken führen
zu prinzipiellen Veränderungen des
Strafrechts. Denn oft versagt die traditionelle Abschreckung: Terroristen
F OTOS :
Auf dem Weg ins Gericht: Ulrich Sieber (Mitte), der
frühere Chef von CompuServe Deutschland, Felix Somm
(rechts), und der Rechtsanwalt Wolfgang Dingfelder.
eine Strafrechtsharmonisierung oft
am Souveränitätsdenken der Nationalstaaten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) darf beispielsweise
keinem ihrer Mitgliedsstaaten Vorschriften machen. Stattdessen veröffentlicht sie kurzerhand nationale
Defizite. Naming and shaming nennt
Sieber das. Die nichtstrafrechtliche
Methode hatte oft Erfolg: Das nationale Recht wurde häufig geändert.
Inzwischen haben viele Staaten damit begonnen, ihre Strafgesetze zum
Cybercrime in diversen Punkten aufeinander abzustimmen. Der weltweit
wohl wichtigste Konsens ist die Cybercrime-Konvention des Europarats,
der sich unter anderem auch Kanada
und die USA angeschlossen haben.
Die Konvention schreibt unter anderem vor, bestimmte Delikte einheitlich zu ahnden: etwa den unbefugten
Zugriff auf Daten, die unbefugte
Datenlöschung oder die Verbreitung
von Kinderpornografie. Darüber hinaus wollen die Staaten die Ermittlungsmaßnahmen im Internet vereinheitlichen. Und noch etwas verlangt
die Cybercrime-Konvention von ihren Mitgliedsstaaten: Nationale Kontaktstellen, die sieben Tage in der
Woche rund um die Uhr besetzt sind.
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FOKUS
fürchten Strafe nicht. Um Selbstmordanschläge zu verhindern, will man
den Märtyrern mit vorbeugenden
Maßnahmen zuvorkommen. Die neuen Gefahren der modernen Risikogesellschaft verändern damit das klassische strafrechtliche Paradigma der
Repression: Von alters her reagiert
das Strafrecht erst auf begangenes
Unrecht. Die neuen Gefahren der
komplexen Kriminalität aber fördern
stattdessen ein präventiv ausgerichtetes Sicherheitsrecht. Mit neuartigen
Überwachungsmethoden soll es Straftaten bereits im Planungsstadium entdecken und verhindern.
Die Gruppe um Ulrich Sieber will
herausfinden, wie sich das neue
Sicherheitsrecht auf die gesamte
Rechtsordnung und also auch auf
das Strafrecht auswirkt – nicht nur
im Hinblick auf die Cyberkriminalität, sondern auch bei der Reaktion
auf Terrorismus, organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität.
Eine der großen Fragen im Hintergrund lautet dabei: Wo liegen die
funktionalen und territorialen Grenzen des Strafrechts, das den Bürger
auch vor übermäßigen Eingriffen
schützen muss. Das Internet bietet
dafür besonders interessantes Anschauungsmaterial.
Speziell im Hinblick auf die moderne Informationstechnik sieht Sieber
dabei ein grundsätzliches Problem der
transnationalen Kriminalität und des
transnationalen Strafrechts: Mit der
Informationstechnik könnten tatsächlich Orwell’sche Visionen zur Realität
werden. „Mit Lösungen wie Sperrverfügungen schränken wir automatisch
unser Recht auf Informationsfreiheit
ein. Letztlich müssen wir uns überlegen, wie viel Sicherheit wir brauchen
und wie viel Freiheit wir dafür zu opfern bereit sind“, sagt Ulrich Sieber.
Die Prävention von Cybercrime berühre daher gesellschaftliche Grundlagen. Das Freiburger Institut erforscht
deshalb nicht nur, inwieweit sich
Cybercrime effektiv bekämpfen lässt,
sondern auch wie stark dabei Freiheitsrechte betroffen sind – die Anonymität und die Privatsphäre der Bürger im Internet etwa.
Wie wichtig das ist, machen neue
zum Teil stark umstrittene Pläne
für weitere staatliche Kontroll- und
Verfolgungsmaßnahmen im Internet
klar. Ein aktuelles Beispiel ist die Online-Durchsuchung, die der Bundesgerichtshof soeben für rechtswidrig
erklärte – nicht zuletzt unter Berufung auf einen Beitrag von Sieber:
Bei einer klassischen Durchsuchung
werden Büros auf richterlichen Beschluss hin nur einmal und in einer
offenen Weise durchwühlt.
WARNUNG VOR
TERRORHYSTERIE
Die Online-Suche nach flüchtigen
digitalen Informationen greift da
ungleich schwerer in die Privatsphäre des Bürgers ein, der in seinem Computer möglicherweise jahrelang persönliche Daten wie
Steuererklärungen, Krankenkassenabrechnungen oder vielleicht sogar
Tagebuchaufzeichnungen
gespeichert hat. Von dem staatlichen
Hackingangriff bekommt er auch
überhaupt nichts mit. Entsprechendes gilt für die Rasterfahndung
und neue zentrale Datenbanken, auf
die Strafverfolger, Geheimdienste
und zahlreiche andere Behörden gemeinsam Zugang haben.
Keine Frage: Die neuen Risiken
und die technischen Veränderungen
der Informationsgesellschaft erfordern neue strafrechtliche Konzepte
und Regelungen sowie neue alternati-
Getarnt als Mail vom Bundeskriminalamt - der Wurm Sober Y.
ve Lösungsansätze. Doch die Freiburger Forscher warnen davor, in der
großen Terrorismushysterie die Rechte der Bürger mehr als nötig zu beschneiden – so wie es die gegenwärtige US-Regierung mit ihrem War on
terror vormacht. Verdächtige dürfen
dort ohne den Nachweis einer konkreten Straftat lange gefangen gehalten werden. Bürger werden ohne richterlichen Beschluss abgehört und
überwacht – rein präventiv.
Ulrich Sieber zufolge sollten die
neuen Herausforderungen nicht nur
die Fantasien über neue Eingriffsund Überwachungsmaßnahmen beflügeln. Genauso wichtig sei es, neue
Schutzmechanismen für die Freiheit
der Bürger zu entwickeln.
Auch das tun die Max-PlanckWissenschaftler. „Wir machen hier
vor allem Grundlagenforschung“,
sagt Sieber. Dabei beziehen er und
seine Mitarbeiter meist auch konkrete Probleme des strafrechtlichen
Alltags ein. Das Internet liegt Sieber
besonders am Herzen. „Es ist eine gigantische Wissensquelle und ein
wertvolles Gut“, sagt er. Eine seiner
Visionen ist es, das Internet zu einem
weltweit geschützten Rechtsgut zu
machen, behütet durch eine globale
Konvention. Ganz so, wie man es
schon bei der hohen See, der Antarktis und dem Weltraum gemacht hat.
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