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Jahrbuch 2003/2004 | Sieber, Ulrich; Kreicker, Helmut | Strafrechtsvergleichung als Motor der
Strafrechtsentw icklung
Strafrechtsvergleichung als Motor der Strafrechtsentwicklung
Criminal law comparison as the driving force in criminal law
development
Sieber, Ulrich; Kreicker, Helmut
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Unter der Leitung von Ulrich Sieber, dem neuen Direktor der strafrechtlichen Forschungsgruppe, erstellten die
W issenschaftler des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht im Herbst
2003 ein Gutachten im Auftrag des UN-Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslaw ien (ICTY). Das
strafrechtlich-kriminologische Gutachten untersucht rechtsvergleichend, w elche Strafen die Rechtsordnungen
von dreiundzw anzig Staaten für bestimmte schw ere Straftaten w ie Mord, Folter und Vergew altigung vorsehen
und w elche Sanktionen Richter im Gebiet des früheren Jugoslaw ien für solche Verbrechen tatsächlich verhängt
haben. Das Gutachten unterstützt den ICTY bei der Festsetzung gerechter Strafen und verhindert eine
Divergenz zw ischen den Strafen des ICTY und denen nationaler Gerichte. Es bildet zugleich die Grundlage für
zukünftige Forschungen des Instituts zur Strafzumessung.
Summary
Under the guidance of Ulrich Sieber, the new director of the criminal research group, the academic researchers
of the
Freiburg
Max-Planck-Institute
for Foreign and
International Criminal Law
compiled
a
report
commissioned by the UN Criminal Court for the former Yugoslavia (ICTY). The criminal law /criminological report
comprises a comparative law study of the relevant law s of the 23 legal systems applicable to particularly
serious crimes such as murder, torture and rape and the sanctions imposed by judges in the territory of the
former Yugoslavia in relation to such crimes. The report supports the ICTY on the fixation of fair punishments
and advocates the avoidance of divergence betw een the punishments of the ICTY and the relevant national
courts. It further establishes the basis for future studies by the Institute on sentencing.
1. Neue Aufgaben der Strafrechtsvergleichung
Strafrechtsvergleichung verfolgt primär das Ziel der Strafrechtserkenntnis. Als praktische Zielsetzung kommt
oft hinzu, ausländische Gesetzgebungsmodelle und Lösungen für die Reform des eigenen nationalen
Strafrechts zu nutzen. Darüber hinaus führt die Transnationalisierung des Strafrechts in Zeiten der
Globalisierung zu einem großen Bedeutungszuw achs der Rechtsvergleichung als Methode, Recht zu gew innen
und insbesondere Rechtslücken zu schließen. Dies gilt vor allem für den Bereich des europäischen Strafrechts
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und des internationalen Strafrechts (speziell des Völkerstrafrechts).
Ulrich
Sieber,
Leiter
der
strafrechtlichen
Forschungsgruppe
des
Freiburger
Max-Planck-Instituts
für
ausländisches und internationales Strafrecht, formulierte bei seiner Antrittsvorlesung im März 2004 diesen
Bedeutungszuw achs der Strafrechtsvergleichung mit den Worten: "Das 20. Jahrhundert w ar für das deutsche
Strafrecht das Jahrhundert der Strafrechtsdogmatik. Das 21. Jahrhundert w ird das Jahrhundert der
Strafrechtsvergleichung und - in Europa - der Europäisierung des Strafrechts w erden."
Diese veränderte Aufgabenstellung verlangt von der Strafrechtsw issenschaft allerdings, dass sie zeitnah auf
entsprechende Anfragen der Rechtspolitik und der Gerichte reagieren muss, w ill sie politisch w irksam sein.
Dies gilt vor allem dann, w enn es auch Ziel der Strafrechtsvergleichung sein soll, angesichts der Konkurrenz
verschiedener Strafrechtssysteme (insbesondere kontinentaleuropäisches Recht versus amerikanisches Recht)
die Vor- und Nachteile unterschiedlicher nationaler Regelungsmodelle aufzuzeigen und eine vorschnelle
Dominanz eines Strafrechtssystems zu vermeiden.
Eine Chance, aktiv durch Strafrechtsvergleichung an der Entw icklung des Strafrechts auf internationaler Ebene
mitzuw irken, bot sich dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht im Oktober
2003, als der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslaw ien (ICTY) mit der Anfrage nach der
kurzfristigen Erstellung eines rechtsvergleichenden und kriminologischen Gutachtens im Verfahren gegen
Dragan Nikolić (IT-94-02) an Ulrich Sieber herantrat. Da das Gericht sow ohl normative als auch kriminologische
Informationen erfragte, w urde das Gutachten als Gemeinschaftsprojekt der kriminologischen und der
strafrechtlichen Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts angefertigt. Es w urde am 5. November 2003 von
Professor Sieber als "Expert W itness" in dem Verfahren in Den Haag vorgestellt.
2. Das Nikolić-Verfahren: Mord, Folter und Vergewaltigung in einem serbischen Gefangenenlager
Der serbische Angeklagte Dragan Nikolić hatte sich vor dem Jugoslaw ientribunal schuldig bekannt, im Jahr 1992
als
Leiter
des
Gefangenenlagers
"Susica"
in
Bosnien-Herzegovina
diverse
Verbrechen
gegen
die
Menschlichkeit begangen zu haben, namentlich murder (Artikel 5(a) ICTY-Statut), torture (Artikel 5(f) ICTYStatut), rape (Artikel 5(g) ICTY-Statut) und persecutions on political, racial and religious grounds (Artikel 5(h) ICTYS t a t u t ) . Nikolić
hatte
eingestanden,
w illkürlich
inhaftierte
Angehörige
der
bosnisch-muslimischen
Bevölkerungsgruppe ohne konkreten Anlass getötet und gefoltert zu haben sow ie an der Vergew altigung von
w eiblichen Gefangenen beteiligt gew esen zu sein.
Das zur Vorbereitung seiner Strafzumessungsentscheidung erbetene Gutachten sollte im w esentlichen
Auskunft über zw ei Fragen geben. Zum einen sollte dargelegt w erden, w elche Strafrahmen für diese Taten in
den Rechtsordnungen der Staaten des ehemaligen Jugoslaw ien und der Mitgliedstaaten des Europarats sow ie
in anderen w ichtigen Rechtsordnungen vorgesehen sind. Zum anderen sollte die Strafzumessungspraxis der
nationalen Gerichte im Gebiet des ehemaligen Jugoslaw ien bei solchen Straftaten untersucht w erden. Denn
nach Artikel 24 Absatz 1 Satz 2 des ICTY-Statuts hat der Gerichtshof bei der Festsetzung einer Strafe die
allgemeine Praxis der Gerichte im ehemaligen Jugoslaw ien in Bezug auf Freiheitsstrafen zu berücksichtigen.
Zur Vorbereitung des Gutachtens verfassten die Mitglieder der strafrechtlichen Forschungsgruppe sow ie eine
Vielzahl
von
externen
Kooperationspartnern
des
Instituts
zunächst
Landesberichte
zu
insgesamt
dreiundzw anzig Ländern in Europa, Amerika, Afrika, Asien und Australien. Diese anhand eines einheitlichen
Fragenkatalogs angefertigten Länderstudien geben Auskunft über die Strafrahmen für die angeklagten Taten
sow ie über Grundfragen der Strafbemessung in den einzelnen Ländern.
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Parallel hierzu führten die Mitglieder der kriminologischen Forschungsgruppe auf der Grundlage eines
speziellen Fragebogens eine Befragung von Richterinnen und Richtern zu ihrer Strafzumessungspraxis in
Bosnien-Herzegow ina, Kroatien, Mazedonien und Montenegro durch. Aus den Interview s konnten die Forscher
entsprechend der Vorgabe des Artikels 24 Absatz 1 S. 2 ICTY-Statut empirische Daten über die allgemeine
Gerichtspraxis im ehemaligen Jugoslaw ien in Bezug auf Freiheitsstrafen gew innen. Die übersetzten Transkripte
der Befragungen bildeten dann die Basis für die Beantw ortung der Fragen zur Strafzumessungspraxis.
In einem zw eiten Projektstadium erstellte ein aus Mitgliedern beider Forschungsgruppen gebildetes Team auf
der Basis der strafrechtlichen Landesberichte und kriminologischen Erkenntnisse zur Sanktionspraxis das
Gutachten
und
beantw ortete
die
vom ICTY gestellten
Fragen
insbesondere
zum Strafrahmen, zur
Strafzumessung, zum Strafnachlass bei einem Geständnis ("guilty plea") sow ie zur Strafaussetzung.
Die Analyse der Strafrahmen in den Strafrechtsordnungen der in Form von Landesberichten untersuchten
europäischen und außereuropäischen Länder zeigte vor allem, dass in der w eit überw iegenden Zahl der
Staaten für schw erste Straftaten der Art, w ie sie dem Beschuldigten Nikolić zur Last gelegt w urden, zw ingend
langjährige oder sogar lebenslange Freiheitsstrafen vorgesehen sind. Abbildung 1 zeigt dies exemplarisch für
den Fall der dem Beschuldigten vorgew orfenen Tötung eines Gefangenen.
Stra fra hm e n für die Tötung e ine s Ge fa nge ne n durch
a nha lte nde Schlä ge .
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Stra fre cht/Höfe r
Die Untersuchungen zu Bosnien-Herzegow ina, Kroatien, Mazedonien und Montenegro ergaben einerseits,
dass der normative Spielraum für die Richter in Bezug auf die Strafzumessung bei den untersuchten Delikten
überw iegend sehr w eit ist (Abb. 2). Andererseits aber w ürden alle befragten Richterinnen und Richter
langjährige Freiheitsstrafen verhängen, hätten sie über die dem Beschuldigten vorgew orfenen Tötungs-,
Körperverletzungs- und Sexualdelikte zu befinden (Abb. 3).
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Stra fra hm e n na ch de n Stra fge se tze n im Ge bie t de s frühe re n
Jugosla wie n. Stra fe n, die die be fra gte n R ichte r ve rhä nge n
würde n.
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Stra fre cht/Höfe r
Stra fra hm e n na ch de n Stra fge se tze n im Ge bie t de s frühe re n
Jugosla wie n. Stra fe n, die die be fra gte n R ichte r ve rhä nge n
würde n.
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Stra fre cht/Höfe r
Mit dem Gutachten und den Landesberichten w urde w issenschaftliches Neuland betreten. Eine strafrechtlichkriminologische Untersuchung, die rechtsvergleichend Strafrahmen für Straftaten in der Zuständigkeit eines
internationalen Strafgerichts erfasst und die entsprechende Strafzumessungspraxis untersucht, w urde zuvor
noch nicht durchgeführt.
In seinem Urteil vom 18. Dezember 2003, mit dem der Angeklagte Dragan Nikolić zu einer Freiheitsstrafe von
dreiundzw anzig Jahren verurteilt w urde, stützte der ICTY seine Erw ägungen zum Strafausspruch in ganz
erheblichem Maße auf das Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales
Strafrecht. Das Gutachten und die diesem zugrunde liegenden Landesberichte w erden in dem Urteil intensiv
ausgew ertet und über 60-mal zitiert. Aufgrund des Gutachtens konnte der ICTY zum ersten Mal die
Verhängung einer langjährigen Freiheitsstrafe mit einer rechtsvergleichenden Erkenntnis legitimieren. Der
Gerichtshof stellte zum Beispiel darauf ab, dass sow ohl nach dem Recht der Staaten des früheren
Jugoslaw iens als auch nach dem Recht anderer europäischer und außereuropäischer Staaten für Taten, w ie
sie dem Angeklagten vorgew orfen w urden, sehr lange oder sogar lebenslange Freiheitsstrafen zu verhängen
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sind. Auch zur Beantw ortung der im Verfahren bedeutsamen Frage, ob ein "guilty plea" des Angeklagten
strafmildernd zu berücksichtigen ist, knüpfte das Gericht an das Gutachten an. Die rechtsvergleichende
Analyse machte deutlich, dass in den untersuchten Staaten ein "guilty plea" zw ar bei leichteren und mittleren,
nicht aber bei schw eren Delikten durch eine Strafmilderung honoriert w ird.
Die Bedeutung des Gutachtens w ird dadurch unterstrichen, dass es in einem w eiteren Verfahren des ICTY,
dem Prozess gegen Miroslav Deronjić (IT-02-61), mit Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten als Bew eismittel
anerkannt w urde. Im Urteil gegen Deronjić vom 30. März 2004 w urde es erneut umfassend und unter häufiger
Zitierung zur Begründung der Strafzumessungsentscheidung herangezogen.
Das Gutachten und die Landesberichte w urden im Frühjahr 2004 in der Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts
für ausländisches und internationales Strafrecht veröffentlicht [1].
3. Neue Anregungen und Aufgaben für die Forschung des Freiburger Max-Planck-Instituts
Die konkrete rechtsvergleichende Arbeit an dem Gutachten für den ICTY führte zu neuen Anregungen für die
zukünftigen Forschungen des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht: In einem
gemeinsamen Forschungsschw erpunkt der strafrechtlichen und der kriminologischen Forschungsgruppe sollen
in Zukunft die Grundlagen der Strafzumessung im Völkerstrafrecht sow ie die Rolle des Strafrechts in
Postkonfliktsituationen
erforscht
w erden.
Darüber
hinaus
soll
auch
eine
sehr
viel
umfassendere
rechtsvergleichende und kriminologische Erhebung zur Strafzumessung insgesamt stattfinden.
Die Arbeit an dem Projekt zeigte vor allem auch, dass die bislang existierenden Informationssysteme für eine
effektive rechtsvergleichende Forschung verbessert w erden müssen. Die strafrechtliche Forschungsgruppe des
Instituts w ird deshalb ein internetbasiertes Informationssystem entw ickeln, in dem umfassende Informationen
zu den unterschiedlichen Strafrechtssystemen der Welt frei abrufbar sind. Diese Datenbank w ird es
ermöglichen, die verschiedenen Ansätze auf dem Gebiet des Strafrechts zu unterscheiden und systematisch
einzuordnen. Auch soll es möglich w erden, die normativen Grunddaten des Strafrechts mit kriminologischen
Daten zu verknüpfen. Damit w ird eine neue Form der Strafrechtsvergleichung begründet. Auf der Grundlage
dieses Informationssystems können langfristig neue Wege für die w ertende Rechtsvergleichung eröffnet
w erden. Ziel ist
auch, ein
rational begründbares
und
mithilfe
des
Freiburger Informationssystems
nachvollziehbares europäisches oder universales Modellstrafrecht zu entw ickeln. Das Freiburger Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Strafrecht strebt damit eine führende Rolle im Bereich der
Strafrechtsvergleichung und der W eiterentw icklung der Strafrechtsdogmatik an.
Literatur
[1] U. Sieber: The Punishment of Serious Crimes. Volume 1: Expert Report. Schriftenreihe des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Unterreihe "Arbeitsberichte". Freiburg i.Br. 2004. - U.
Sieber (Hg.): The Punishment of Serious Crimes. Volume 2: Country Reports. Schriftenreihe des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Unterreihe "Arbeitsberichte". Freiburg i.Br. 2004.
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