Küssen erlaubt
Transcrição
Küssen erlaubt
MARKENFÜHRUNG 125 JAHRE LIPPENSTIFT MARKENARTIKEL 9/2008 HANDEL RECHT 84 Küssen erlaubt Aufregend und verführerisch ist er – auch noch nach 125 Jahren. Der Lippenstift ist heute ein wichtiges Utensil in den Handtaschen der Damenwelt. Vom anrüchigen Phallussymbol hat er sich zum unverzichtbaren Begleiter entwickelt. WOHLGEFORMT UND WUNDERSCHÖN SIND SIE. Sinnbild für Verführung, Sinnlichkeit und Erotik. Sie gehören zu den Waffen der Frau, mit denen sie »Ihn« um den Verstand bringen kann. Ob leicht geschürzt, schmollend oder zu einem verschmitzten Lächeln verzogen, die Lippen einer Frau können viel über die Gemütslage preisgeben – ohne dass ein Wort gesprochen wird. Der britische Popsängers Cliff Richard widmete ihnen dann auch ein ganzes Lied: »Rote Lippen soll man küssen, denn zum küssen sind sie da, rote Lippen sind dem siebten Himmel ja so nah.« Der Song war ein voller Erfolg und hielt sich 1963 sieben Wochen lang auf Platz eins der deutschen Hitparade. In diesem Jahr feiert ein wichtiger Wegbegleiter der Lippen seinen 125. Geburtstag – der Lippenstift. Verführungshilfe und Scheidungsgrund zugleich gehört er heute zu den meist verwendeten Make-up-Artikeln. Jede Sekunde wandern weltweit 23 Stück über die Ladentheke. Und Umfragen des VKE – Kosmetikverbandes belegen, dass ihn allein in Deutschland pro Tag 16 Millionen Frauen zwischen 16 und 64 Jahren benutzen. »Der einfachste Grund für diesen Erfolg ist sicher, dass ein Lippenstift eine große Wirkung hat«, sagt Martin Ruppmann, Geschäftsführer VKE-Kosmetikverband. »Er sieht einfach gut aus – ohne besonderen Aufwand.« Der Lippenstift sei zudem ein kleines Stück Luxus, mit dem sich eine Frau etwas Besonderes gönne. »Lippenstifte – mit ihren heutzutage aufwändig designten Verpackungen – sind Prestigeobjekte, die jede Frau ständig dabei hat und die sie öffentlich verwendet.« Anfänge eines Verführungskünstlers Der Aufstieg des Lippenstifts begann 1883, als zwei Pariser Parfümhersteller ihn erstmals auf der Weltausstellung in Amsterdam präsentierten. Er war damals noch eine Art Wachsmalstift bestehend aus Ri- zinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs und wurde in Seidenpapier eingewickelt. Der Drehlippenstift, wie wir ihn heute kennen, wurde erst 1948 in Amerika entwickelt und ersetzte die bis dahin gebräuchliche Schiebehülse-Variante. Aber schon lange vor der Präsentation des Schönheitsutensils auf der Weltausstellung war es üblich, sich die Lippen zu färben. So soll sich bereits die ägyptische Pharaonen-Gattin Nofretete die Lippen angemalt haben. Die älteste bisher gefundene »Lippensalbe« stammt sogar etwa aus dem Jahr 3500 vor Christus. Auch in anderen Ländern bekannte man schon früh Farbe, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Was in einem Land die Prostituierten kennzeichnen sollte, wurde anderswo von den Damen der Oberschicht getragen. Und was heute Mode war, war ein Jahrhundert später schon wieder verpönt. Schminkte sich beispielsweise Elisabeth I. im 16. Jahrhundert noch ganz unverzagt die Lippen, entschied das britische Parlament 1770, dass Frauen, die mit Wangen- und Lippenrouge ihren Auserwählten bezirzten, sich strafbar machten und die Ehe annulliert werden durfte. Stift der Liebe Bis zum endgültigen Durchbruch des Lippenstifts in der Neuzeit sollte es auch nach der Vorstellung in Amsterdam noch einige Jahrzehnte dauern. Zunächst waren es vor allem leichte Mädchen, Tänzerinnen und Schauspielerinnen, die sich die Lippen färbten. Bei den Damen der feinen Gesellschaft und dem Bürgertum war das kleine Schönheitsutensil verpönt, vielleicht wegen der anrüchigen und leicht obszönen Note, die dem Lippenstift, dem Phallussymbol, anhaftete. Das hat sich geändert. Mit der Verbreitung des Films in den 1920er Jahren wurde das Lippenrot populärer. Heute begeistert das auch »Zauberstift des Eros« oder »Stylo d’Amour« (»Liebesstift«) genannte Schön- Fotos: fotolia; Sammlung René Koch; Dior; Sans Soucis SERVICE MARKENARTIKEL 9/2008 125 JAHRE LIPPENSTIFT MARKENFÜHRUNG HANDEL RECHT SERVICE 85 Bei Dior ist Lippenstift ein wichtiger Umsatzträger. heitsutensil die Massen. Schätzungen zufolge werden pro Jahr rund 600 Millionen Dollar für Lippenstifte ausgegeben. »Die Hauptgründe des weltweiten Erfolges, unabhängig von länderspezifischen Vorlieben, liegen wahrscheinlich darin, dass mit der Farbveränderung der Lippen verschiedene Stimmungen und Träume erzeugt werden können«, meint René Koch, der schon als Chefvisagist beim Kosmetikunternehmen Charles of the Ritz und bei Yves Saint Laurent tätig war und Stars wie das Model Claudia Schiffer oder die Schauspielerinnen Jodie Forster und Hildegard Knef geschminkt hat. So mache ein kräftiges Rot aus jeder Frau eine extravagante Diva, rosé sei romantisch verspielt und mädchenhaft, während bräunliche Töne die sportliche und natürliche Schönheit unterstreichen und schwarze Lippen provokant wirken. »Dieser kleine Winzling entfaltet eine enorme Wirkung, sofern er richtig eingesetzt wird.« Winzling mit enormer Wirkung Eine Einschätzung, die auch Christine Hopp, Marketingleiterin bei der Baden-Badener Fribad Cosmetics Group, bestätigt. »Der Lippenstift steht wie kein anderes Dekorativprodukt für Selbstbestimmtheit und Emanzipation – er verwandelt nach Wunsch jede Frau in Sekunden vom Mauerblümchen in eine Diva.« Kein Wunder, dass Firmengründer Walter Friedmann schon früh an das Potenzial des Zauberstiftes glaubte. Es war laut Hopp eines der ersten Produkte, die er 1939 in seinem damaligen Privatlabor herstellte. Auch bei Dior hebt man die Stärken des Lippenstiftes hervor. Christina Sennlaub, die als Senior Communication Managerin LVMH Parfums + Kosmetik Deutschland für die Marke Dior zuständig ist, betont: »Es gibt kein Make-up-Produkt, mit dem eine Frau so schnell und effektvoll ihre Weiblichkeit unterstreichen kann. Viele Frauen fühlen sich ohne Lippenstift ‚nackt’ und würden daher niemals ohne geschminkte Lippen das Haus verlassen.« Das Couturehaus setzte schon früh auch auf das Besondere: So lancierte man 1955 eine Range von acht Lippenstiften, die von klassischem Rot bis hin zu einer Orange-Variante reichten. »Clou der Kollektion: Es gab zwei Ausführungen. Einen Lippenstift in klassischer Metallhülse für die Handtasche und ein echtes Schmuckstück in Obelisk-Form für den Toilettentisch, inspiriert von dem Obelisk auf dem Place de la Concorde in Paris«, sagt Sennlaub. Frauen lieben ihre Marken Heute kämpfen viele Marken in den unterschiedlichen Preissegmenten um die Gunst der Käuferinnen. Visagist Koch rät deshalb, Markenlippenstifte auf den Markt zu bringen, die einen Wiedererkennungswert haben und vom Design her sofort einzuordnen sind. Schon zu den Anfängen des Lippenstiftes in den zwanziger und dreißiger Jahren habe es luxuriösere und aufwändigere Hülsen gegeben als heute. In seiner Lippenstiftsammlung hütet Koch Objekte mit integrierter Puderdose, Zigarettenfach und Spieluhr, eines sei sogar mit Brillanten und Rubinen besetzt. »Das Image spielt eine große Rolle beim Kauf des Lippenstift, weil er das einzige Dekorativprodukt ist, das Frau auch bewusst in aller Öffentlichkeit aufträgt«, weiß Hopp, deren Unternehmen nach eigenen Angaben jährlich circa 100.000 Lippenstifte produziert und verkauft. »In diesem Segment kann man sich folglich nur durch Image oder Qualität, Qualität, Qualität absetzen.« Immer im Trend – die Farbe Rot Auch der VKE-Geschäftsführer betont, dass die Entscheidung für einen Lippenstift abhängig von Marke und Design ist. Aber auch die Farbe sei wichtig. MARKENFÜHRUNG HANDEL RECHT SERVICE 86 125 JAHRE LIPPENSTIFT » MARKENARTIKEL 9/2008 Wenn Frauen sich keine neuen Kleider leisten können, greifen sie zu Lippenstift. Leonard Lauder, Estée Lauder Companies »Kaum etwas ist schlimmer, als die geliebte und vertraute Lippenstiftfarbe nicht mehr zu bekommen«, betont Ruppmann. Bei der Farbwahl gilt dabei: Erlaubt ist, was gefällt. Der Liebling der Damen ist und bleibt aber die Farbe Rot. Nicht ohne Grund steht sie weit oben in der Kundinnengunst, gilt die Signalfarbe doch nach Erkenntnissen der Farbpsychologie als einer der erregendsten Töne überhaupt. Laut VKE – Kosmetikverband verwenden 31 Prozent der Frauen roten Lippenstift, gefolgt von Stiften in transparenten Farben sowie Beige- und Brauntönen (15% bzw. 13%). Bei Dior kann man den Rot-Trend bestätigen: »Der Klassiker Rouge Dior mit seiner seidigen Textur liegt in der Gunst der Lippenstift-Liebhaberinnen ganz weit vorn«, sagt Sprecherin Sennlaub. Dabei kann Frau heute bei Dior unter über 100 Lippenstift-Farben auswählen. Damit biete das Haus die größte Farbvielfalt überhaupt an. »Dior ist führend im Lippensegment, und daher bildet dieser Bereich auch eine wichtige Umsatzsäule – circa 30 Prozent des Umsatzes sind dem Lippensegment zurechenbar.« Prominente Schönheiten als Werbe-Ikonen Nicht alle Frauen aber lieben rot. Die Farbvorlieben sind von Land zu Land unterschiedlich. »In Asien sind Frauen in ihrer Farbwahl für Lippenstifte eher dezent und zurückhaltend und schminken ihre Lippen gerne in unterschiedlichsten Rosé-Nuancen«, sagt Sennlaub. »Dior stellt sich auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Konsumentinnen ein und bietet für Asien, Amerika und Europa unterschiedliche Farbkollektionen an.« Auch das Thema Duft spielt eine große Rolle – so seien beispielsweise viele Lippenstifte für den asiatischen Markt ohne jegliche Duftstoffe. Fribad, zu deren Hauptabsatzmärkten für den Dekorativbereich vor allem Europa sowie die Vereinigten Arabischen Emirate gehören, bestätigt die unterschiedlichen Vorlieben. »Generell dürfen im Farbsortiment die Nuancen Rot und Pink nicht fehlen, diese werden rund um den Globus nachgefragt«, betont aber Marketingleiterin Hopp. Frühe Werbe-Ikone – Hildegard Knef wirbt für den Volkslippenstift. MARKENFÜHRUNG 125 JAHRE LIPPENSTIFT MARKENARTIKEL 9/2008 HANDEL RECHT SERVICE 88 Zur Lippenstiftsammlung von Visagist René Koch gehören Lippenstifte aus dem Nachlass von Argentiniens ehemaliger First Lady Evita Peron. Damit die Produkte nicht austauschbar werden, betont Koch, dass ein eigenes Markenprofil und der Einsatz prominenter Schönheiten wichtig sind. Frauen wie Schauspielerin Penelope Cruz, Sängerin Kylie Minogue, It-Girl Paris Hilton oder Model Heidi Klum sind seiner Ansicht nach perfekte Werbe-Ikonen für die rote Verführung. Eine frühe Werbeträgerin für den Lippenstift ist übrigens ein besonderer Liebling des Visagisten: Hildegard Knef. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs propagierte sie den Volkslippenstift für 1,50 Mark. »Hildegard Knef liebte den Lippenstift in Lachsrosé von Yves Saint Laurent ganz besonders«, erinnert sich Lippenstiftliebhaber Koch. »Wenn ich morgens zu ihr kam, um sie zu stylen, musste ich als erstes die Kunstwimpern ankleben und zum Schluss den Lippenstift auftragen. Ungeduldig wie sie war, kam ihr Spruch: ‚Mach mir mal Farbe ins Jesicht, damit ick weeß, wo vorne is.’« High-Tech für die Lippen Heute müssen Lippenstifte aber mehr können, als einfach Farbe zu zeigen. »Ein Lippenstift muss heute ein wahres Multitalent sein«, sagt Ruppmann. Er soll die Lippen pflegen, geschmeidig machen und schützen, soll aber auch lange perfekt aussehen. Lippenstiftliebhaber Koch berichtet: »Da ich im Fachbeirat der Stiftung Warentest bin, kann ich berichten, dass beim letzten großen Lippenstift-Test die sogenannten ‚Long Lasting Lippenstifte‘ überwiegend mit gut bis sehr gut abgeschnitten haben.« Neuerdings seien auch Mineral-Lippenstifte sehr gefragt, die eine Beimengung von Titandioxid als natürlichen Sonnenschutz haben. »Es geht nicht mehr nur um Farbe oder Haltbarkeit, sondern um den Zusatznutzen: Feuchtigkeit, Anti-Aging, Aufpolsterungseffekte, innovative Moleküle, die ihre Farbe ändern, etc.«, sagt Hopp. Wet und Nude Laut den Expertinnen Hopp und Sennlaub sind in diesem Jahr Lip Gloss und Lippenstifte mit extremen Gloss- und Wet-Effekt ein Trend. Auch der sogenannte Nude-Look mit seinen natürlich-transparenten Farben sei wieder angesagt. Bei der Auswahl weiß Frau kaum noch, welches Produkt sie wählen soll. Koch rät deshalb: »Probeschminken ist die beste und überzeugendste Verkaufshilfe.« A propos Verkauf: »In Zeiten von Krisen war und ist der (rote) Lippenstift sogar Konjunkturindikator«, sagt Ruppmann. »Bei Rezessionen stiegen und steigen die Umsätze für Lippenstift spürbar. ‚Wenn Frauen sich keine neuen Kleider leisten können, greifen sie zum Lippenstift’, erklärte Leonard Lauder, der frühere Firmenchef von Estée Lauder Companies, einmal dieses Phänomen.« Vanessa Göbel