Geschichte der Manuellen Therapie

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Geschichte der Manuellen Therapie
1.1. Geschichte
GESCHICHTE DER MANUELLEN THERAPIE UND MEDIZIN
Der Vater der modernen Medizin – Hippokrates – spielt auch für die Anfänge der
Manuellen Therapie eine große Rolle. Er setzte die axiale Traktion ein und untersuchte die
Zusammenhänge zwischen der Wirbelsäule und internistischen Krankheiten.1 Er und
seine Nachfolger hatten großen Einfluss auf das ärztliche Verständnis von der Manuellen
Therapie – bis über das Mittelalter hinaus. In der Neuzeit aber, zwischen 1700 und 1900,
geriet diese Behandlungsform in der Medizin in Vergessenheit.2 Sie wurde jedoch durch
die Laienbehandler der Volksmedizin weitergeführt, die viele manuelle Techniken zur
Linderung von Beschwerden der Wirbelsäule einsetzten. Bis zu den beiden Weltkriegen
konnte man sich z.B. in Preußen durch die sog. Gliedersetzer mit Tretkuren und
Traktionen behandeln lassen.3 Einige dieser Laientechniken fanden später wieder den
Weg zurück in das ärztliche Repertoire!4
Im 19. Jahrhundert dann entwickelten sich in den USA zwei Behandlungsrichtungen, die
maßgeblich werden sollten für das weitere Schicksal der Manuellen Therapie: Osteopathie
und Chiropraktik. Der Chirurg A.T. Still, der Begründer der Osteopathie, betrachtete die
gestörte Funktion der Bewegungseinheit als Ursache für Schmerzen und Krankheiten und
setzte Mobilisationen (auch Weichteilmobilisationen) und Manipulationen zur Behandlung
von Wirbelsäulen-Deformierungen ein sowie von Krankheiten, die auf Schädigungen von
Nerven und Gefäßen im Foramen intervertrebrale zurückgingen.5 Sein Fachkollege - und
teilweise Konkurrent - D.D. Palmer hielt dagegen die Fehlstellungen der Gelenke, die sog.
Subluxationen, für zentral und behandelte sie durch Manipulationstechniken; er etablierte
die Chiropraktik.6 Beide Schulen gelangten zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch nach
Europa.
In Europa begründeten vor allem drei Männer die Manuelle Therapie:
-
James Menell war Leiter der physikalischen Abteilung an St. Thomas Hospital in
London. Menell verfasste Bücher über Gelenkbehandlungen auf osteopathischer
Grundlage und stellte den Bezug zu den Extremitäten her: „The Science and Art of
Joint Manipulation“ Vol. I The Extremities (1949) und Vol. II The Vertrebral Column
(1952).7
-
Cyriax, sein Nachfolger, systematisierte die Untersuchung des Bewegungsapparates
und die Weichteiltechniken, verfeinerte die Behandlung mit Traktion und Translation
und setzte sich mit der Trennung der Strukturen in kontraktil und nicht kontraktil
auseinander: „Textbook of Orthopaedic Medicine“ Vol. I Diagnosis und Vol. II
Treatment (1982, 8. Auflage).8
1
Vgl. Schomacher, Jochen (2001). Manuelle Therapie. Bewegen und Spüren lernen. 2. unveränd. Aufl.
Stuttgart: Thieme, S. 2 und Brokmeier (2001). Kursbuch Manuelle Therapie. Biomechanik, Neurologie,
Funktionen. 3. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Hippokrates, S. 2.
2
Vgl. Kaltenborn, Freddy M. (1995). Wirbelsäule. Manuelle Untersuchung und Mobilisation. 2. Aufl., Oslo: Olaf
Norlis Bokhandel, S. 24.
3
Vgl. Kaltenborn (1995). Wirbelsäule. a.a.O., S. 24.
4
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2.
5
Vgl. Brokmeier, A.A. (2001). Kursbuch Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2.
6
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2.
7
Vgl. Kaltenborn (1995). Wirbelsäule. a.a.O., S. 26.
8
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2; Kaltenborn (1995). Wirbelsäule. a.a.O., S. 26.
-
Der Londoner Osteopath Alan Stoddard entwickelte die funktionelle Behandlung und
untersuchte die Zusammenhänge zwischen Gelenk, Weichteil und Funktion: „Manual
of Osteopathic Practice“ (1980) und „Manual of Osteopathic Technique“ (1980, 3.
Auflage).9
Die Grundlagen, die diese drei Männer geschaffen hatten, wurden nach dem zweiten
Weltkrieg von Kaltenborn, Evjenth und ihren Kollegen in Norwegen zusammen mit
Inhalten aus der Chiropraktik und der physikalischen Therapie zu einem
physiotherapeutischen Behandlungssystem verdichtet.10 Durch ihre Nähe zur
Chiropraktik, die sich in den 1950ern unter den europäischen – und auch den deutschen
- Ärzten im Kontakt mit amerikanischen Chiropraktoren verbreitete, entstand die
Zusammenarbeit der Gruppe um Kaltenborn mit der FAC11 und der MWE12. Ab 1958
unterrichtete Kaltenborn auch in Deutschland nach seinem Konzept – allerdings nur für
Ärzte. Doch erst 1967 erlaubten die Ärzte auch Krankengymnasten, an den Kursen
teilzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Kurse bereits durch die DGMM13
durchgeführt, die 1966 aus dem Zusammenschluss von FAC und MWE entstanden war.
Es dauerte jedoch weitere zwölf Jahre bis die Ärzte den derart ausgebildeten
Krankengymnasten auch tatsächlich zugestanden, die Behandlungen an der Wirbelsäule
durchzuführen – was in England bereits seit 1907 gang und gäbe war!14 Die Konkurrenz
zwischen den Ärzten und den Krankengymnasten in Deutschland im Bereich der
Manuellen Therapie lebt fort in den unterschiedlichen Kompetenzen: Die
Krankengymnasten führen die Manuelle Therapie durch, während die Ärzte die Manuellen
Medizin ausüben, welche die chiropraktischen Techniken der Manipulation umfasst.
Manuelle Therapie (IKK) 15
Von Therapeuten durchgeführter Teil der manuellen Medizin auf der Grundlage der
Biomechanik und Reflexlehre zur Behandlung von Dysfunktionen der
Bewegungsorgane mit reflektorischen Auswirkungen. Sie beinhaltet aktive und
passive Dehnung verkürzter muskulärer und neuraler Strukturen, Kräftigung der
abgeschwächten Antagonisten und Gelenkmobilisationen durch translatorische
Gelenkmobilisationen. Anwendung einer gezielten impulslosen Mobilisation oder von
Weichteiltechniken. Die krankengymnastische manuelle Therapie enthält keine
passiven Manipulationstechniken von blockierten Gelenkstrukturen an der
Wirbelsäule.
Therapeutische Wirkung: Gelenkmobilisation durch Traktion oder Gleitmobilisation,
Wirkung auf Muskulatur, Bindegewebe und neurale Strukturen, Kräftigung
abgeschwächter Muskulatur, Wirkung auf Gelenkrezeptoren, Sehnen- und
Muskelrezeptoren durch Hemmung oder Bahnung.
9
Vgl. Brokmeier (2001). Kursbuch Manuelle Therapie. a.a.O.,S. 2; Kaltenborn (1995). Wirbelsäule. a.a.O., S.
26.
10
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2; Ähnliches leistete parallel dazu in Australien
Maitland.
11
FAC = Ärztliche Forschungs- und Arbeitsgemeinschaft für Chiropraktik e. V., 1962 umbenannt in
Forschungsgemeinschaft für Arthrologie und Chirotherapie e.V.
12
MWE = Gesellschaft der Ärzte für Manuelle Wirbelsäulen- und Extremitäten-Therapie e.V.
13
DGMM = Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin.
14
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 3; vgl. zu diesem Punkt auch die Tatsache, dass in
Deutschland die erste KG-Schule in Deutschland erst 1902 in Kiel eröffnet wurde.
15
Anlage 1a zu den Rahmenempfehlungen nach § 125 Abs. 1 SGB V vom 1. August 2001 in der Fassung vom
1. Juni 2006 Leistungsbeschreibung Physiotherapie (Quelle: http://www.ikk.de/ikk/generator/ikk/fuermedizinberufe/heilmittel/3546.pdf, gesehen am 24.07.08).
Manuelle Medizin/Chirotherapie (DGMM)
16
Die Chirotherapie benutzt manuelle diagnostische und manuelle therapeutische
Techniken an der Wirbelsäule und an den Extremitätengelenken, die zur Auffindung
und Behandlung der reversiblen Funktionsstörungen dienen. Folgen solcher
Funktionsstörungen können Schmerzen und Bewegungseinschränkungen an der
Wirbelsäule und den Extremitäten, Taubheits- und Kribbelgefühle, im Bereich der
Halswirbelsäule Kopf- und Nackenschmerzen, Schwindel, Seh- und Hörstörungen,
Ohrgeräusche, Schluck- und Stimmstörungen, Halsschmerzen und Fremdkörper-,
Kloß- und Engegefühle im Hals, Schweißausbrüche und Schlafstörungen sein.
Die Manuelle Medizin umfasst verschiedene Behandlungstechniken, die die
Funktionsstörungen und damit auch deren Folgen mildern oder beseitigen:
Weichteiltechniken, Mobilisation, Manipulation, neuromuskulären Therapien (NMT),
stabilisierende neuromuskuläre Therapien.
Während die Manuelle Therapie so in Deutschland erst unter den Ärzten und langsam
auch unter den Krankengymnasten Fuß fasste, begann auf internationaler Ebene ein
Prozess der 1974 zur Gründung der IFOMT als Zusammenschluss verschiedenerer
nationaler MT-Verbände führte. Dem war vorausgegangen, dass die Pioniere der MT ein
immer breiteres Verständnis von der Manuellen Therapie gewonnen hatten, die zu der
Zeit landläufig oft nur als Behandlungsmethode hypomobiler Gelenke gesehen wurde.17
Dieser umfassendere Ansatz schlug sich im Konzept der OMT nieder, die als Ansatz zur
Untersuchung und Behandlung des gesamten Gelenks inklusive aller Strukturen, die
damit verbunden sind, betrachtet wird. Die Ausbildung in der OMT unterliegt den
Standards, die die IFOMT definiert hat und umfasst unter anderem Hospitanzen bei
aktiven OMT-Therapeuten.
16
Definition Manuelle Medizin/Chirotherapie der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) e.V. Ärzteseminare Berlin (AMM), Hamm-Boppard (DGMSM) lsny-Neutrauchburg (MWE) (Quelle:
http://www.dgmm.de/DGMMpatinform.htm, gesehen am 24.07.08).
17
Vgl. Schomacher (2001). Manuelle Therapie. a.a.O., S. 2.

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