C3.1 Empfehlungen des Expertennetzwerks Essstörungen Schweiz
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C3.1 Empfehlungen des Expertennetzwerks Essstörungen Schweiz
Dr. phil. Erika Toman KompetenzZentrum für Essstörungen und Adipositas, Zürich. [email protected] Experten-Netzwerk Essstörungen. Schweiz (ENES/RESTA) www.netzwerk-essstoerungen.ch Den Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass in der Prävention von Essstörungen und Übergewicht vieles gemacht, einiges auch zielgerichtet evaluiert und wissenschaftlich fundiert begleitet wird, aber wenig davon klar die erwünschten Effekte erzeugt und nachweisbar wirksam ist. Dem Vorstand des Experten-Netzwerks Essstörungen Schweiz ENES/RESTA war es ein Anliegen, den aktuellen Stand des Wissens für Fachleute, die Präventionsmassnahmen planen und durchführen, sowie für weitere Interessierte zusammenzustellen und Empfehlungen zu formulieren. Erika Toman, Dr. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Leitung des ambulanten, multidisziplinären KompetenzZentrums für Essstörungen und Adipositas in Zürich, Dozentin an der ETH und an der Universität Zürich. Leitung des europäischen Forschungsprojekts Cost B6/Psychotherapie bei Essstörungen (1996-2001). Intensive Vortrags- und Lehrtätigkeit zum Thema Essstörungen und Adipositas, Gründungsmitglied und Präsidentin des Experten-Netzwerks Essstörungen Schweiz ENES, Mitglied der American Academy of Eating Disorders AED, Mitglied des Fachrates Schweizerische Adipositasstiftung SAPS, Mitglied des European Council of Eating Disorders, diverse Publikationen zum Thema Essstörungen, Adipositas und Sexualität in Fachzeitschriften und Medien. Buchpublikationen zum Thema: Mehr Ich, weniger Waage (2009), Zytglogge; Sex & Seele (2011), Zytglogge. Bettina Isenschmid, Dr. med. et M.M.E. Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie, speziell Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie FMH, Psychosomatik SAPPM, Chefärztin Kompetenzzentrum für Essverhalten, Adipositas und Metabolismus Spital Zofingen, Oberärztin Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung Inselspital Bern. Präsidentin Kantonale Fachstelle PEP – Prävention Essstörungen Praxisnah am Inselspital Bern, Präsidentin Schweiz. Fachverband Adipositas im Kindes- und Jugendalter akj Aarau. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen zu Essverhaltensstörungen, Adipositas und Komorbiditäten, intensive Vortrags- und Medienarbeit sowie klinische Supervisionsarbeit. Christa Hanetseder, Dr. phil. I Psychologin FSP/SGP. Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schweizerischen Roten Kreuz, Departement Gesundheit und Integration. Zuvor langjährige Lehrtätigkeit an Fachhochschulen und an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Forschungsschwerpunkte im Bereich Genderstudies, Misshandlung und Gewalt (Frauen, Jugendliche, Schule), Alter, Medienbildung. Mitglied der Arbeitsgruppe Betriebliche Gesundheitsförderung an der PH Zürich (2007/2008) und des Fachbereichs Gesundheitsförderung. Mitglied der Arbeitsgruppe Prävention ENES. Dominique Anne Simon, Dr.med. Fachärztin FMH für Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie. Mitglied der Arbeitsgruppe Prävention der ENES. In eigener, freier Praxis als Adoleszentenpsychiaterin in Zürich tätig, Dozententätigkeit in verschiedenen Gremien (u.a. ENES, AES, Elternabende für Essstörungen am ZKJP). Klinische Supervisorin IEF/BSO mit Tätigkeit im ambulanten und stationären/teilstationären Setting (Kinder- und Jugendpsychiatrie, PUK Zürich). Vertrauensärztin der PHZH, Schulärztin am MNG Rämibühl Zürich, Mitglied des Ausbildungsinstituts für systemische Therapie Meilen. Die Arbeitsgruppe war vom Herbst 2007 bis Frühling 2013 tätig und trug nebst den eigenen klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen die wesentlichen wissenschaftlichen Publikationen zusammen, sowohl aus der Schweiz als auch dem deutschsprachigen und dem englischsprachigen Ausland. Im Besonderen galt ihre Aufmerksamkeit Publikationen zur Wirksamkeit (Effektivität) sowie zur Vermeidung von schädlichen Effekten (Harm Effekten) in der Prävention von Essstörungen und Übergewicht. Weniger Übergewicht Mehr Muskelmasse / Fitness Normaleres Essverhalten Weniger Essstörungen Weniger Übergewicht Mehr Muskelmasse / Fitness Normaleres Essverhalten Weniger Essstörungen Bessere Lebensqualität Veränderung des Wissenstand? Veränderung des Verhaltens? Veränderung des Erlebens? Auf dem „gesunden Menschenverstand“ basierende Ansätze, die breite Bevölkerungsschichten, Kinder und Erwachsene, über „gesunde“ Ernährungs- und Bewegungsverhalten informieren, versagen. Sie führen zwar oft zu mehr Wissen über „gesunde“ Ernährung und Bewegung, jedoch kaum zur effektiven Veränderung des Verhaltens. Die Menschen wissen zwar etwas genauer, was sie essen „sollten“, essen jedoch weiterhin, was sie möchten. Die mit Informationsvermittlung arbeitende Prävention der Adipositas zeigt neben oft unklarer Wirkung auch deutliche „Harm Effekte“ Sie fördert die Entstehung gestörten Essverhaltens und in der Folge Gewichtszunahme und / oder die Entwicklung von Essstörungen. Burrows A, Cooper M, 2002; Carter FA, Bulik CM, 2008; Hasler G, Pine DS, Gamma A, Milos G, Ajdacic V, Eich D et al., 2004 Sind schädliche Effekte (Harmeffekte) unumgänglich? Schädliche Effekte Nebenwirkungen Nebenwirkungen können erwünscht /unerwünscht/ schädlich sein. Zu Beginn der präventiven Ansätze wurde zunächst mit Verboten, dann mit Abschreckung gearbeitet. Zwei Beispiele ◦ Sultan Murad IV (1612-1640) verbot Tabak- und Alkoholkonsum bei Todesstrafe. ◦ Zar Michael wandte sich gegen das Rauchen (1634) und liess Raucher auspeitschen und kastrieren. Mit der Alkoholprohibition in den USA begann am 16.01.1920 ein weiteres, wenig erfolgreiches Kapitel gut gemeinter, jedoch letztlich dilettantischer Präventionsbemühungen (Müller, 2007). Im 19. Jh. wurde die Masturbation als Ursache vieler Geisteskrankheiten angesehen, so der Epilepsie, der Hysterie und der Neurosen. Daher wurde die Verhütung der Onanie zum wichtigsten Ziel der präventiven Anstrengungen erklärt. Kleine Jungen und Mädchen wurden mit ausgeklügelten Apparaten aller Art malträtiert, um sie daran zu hindern, ihre Genitalien zu berühren. Eine schmerzhafte, meist traumatisierende Prozedur. Seit Comte hat die Prävention viele Erfolge verzeichnet. Drei Beispiele von vielen: Prävention des Unfall- und Verletzungsgeschehens am Arbeitsplatz Prävention auf dem Gebiet der Arbeits- und Umwelthygiene Impfungen zur Prävention resp. zur Prophylaxe von Infektionskrankheiten in der Prävention von Essstörungen und Übergewicht vieles gemacht, einiges auch zielgerichtet evaluiert und wissenschaftlich fundiert begleitet wenig davon zeigt klar die erwünschten Effekte und ist nachweisbar wirksam Schlank sein ist Gesund Abnehmen ist wichtig Wissen über „gesunde“ Ernährung hilft und lenkt Nutr Res Rev. 2009 Jun;22(1):93-108. A review and meta-analysis of the effect of weight loss on all-cause mortality risk. Harrington M1, Gibson S, Cottrell RC. Overweight and obesity are associated with increased morbidity and mortality, although the range of body weights that is optimal for health is controversial. It is less clear whether weight loss benefits longevity and hence whether weight reduction is justified as a prime goal for all individuals who are overweight (normally defined as BMI>25 kg/m2). Intentional weight loss had a small benefit for individuals classified as unhealthy (with obesityrelated risk factors) especially unhealthy obese, but appeared to be associated with slightly increased mortality for healthy individuals, and for those who were overweight but not obese. There was no evidence for weight loss conferring either benefit or risk among healthy obese. In conclusion, the available evidence does not support solely advising overweight or obese individuals who are otherwise healthy to lose weight as a means of prolonging life. (2009) South Med J. 2014 Jun;107(6):361. Body mass index, mortality, and the obesity paradox in type 2 diabetes mellitus: the effect of hypertension. Santhanam P, Masannat Y In a population with diabetes, hypertension and coronary artery disease, overweight and obese patients had a decreased risk of primary outcome compared with patients of normal weight, which was driven primarily by a decreased risk of all-cause mortality. Our results further suggest a protective effect of obesity in patients with known diabetes and cardiovascular disease in concordance with data in patients with heart failure and those undergoing percutaneous coronary intervention. Die Aktivitäten und Anstrengungen der Prävention von Essstörungen sind vergleichsweise durch Vorsicht, Zurückhaltung und mangelnde finanzielle Ressourcen geprägt, verglichen mit den Präventionsanstrengungen bei Übergewicht. „Prävention von Essstörungen erfolgt bisher eher marginal und punktuell, oft als Teilaspekt im Rahmen von universellen Präventionsaktivitäten. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass Prävention von psychosomatischen Störungen an sich ein schwieriges Unterfangen ist; zum anderen gibt es bisher keine klare professionelle Zuständigkeit für die Präventionsarbeit. „ Essstörungen , Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich, 2011, 18 Wirkung maximieren Nebenwirkung minimieren Schädliche Effekte vermeiden in einer Handlung zugelassene oder verursachte Schaden muss in seiner Menge und Bedeutung klar der angestrebten, positiven Wirkung untergeordnet sein Es muss erwiesen sein, dass die angestrebte, positive Wirkung wirklich nur zusammen mit dem zugelassenen oder verursachten Schaden erreicht werden kann P. Knauer, 2002 Wichtigste Einzelbefunde In den vorhandenen Studien hat sich wiederholt gezeigt, dass sich das Wissen über gestörtes Essverhalten bei den Risikoschülerinnen, nicht aber bei den NichRisiko-Jugendlichen verbesserte. Killen et al. (1993) Inhaltlich gebundene Massnahmen zu Essstörungen (und Übergewicht) haben sich dort als effektiv erwiesen, wo sie sich auf definierte Risikogruppen beziehen. Stice E, Shaw H, Marti CN, 2007 Präventive Massnahmen, die sich an die Bevölkerung als solche richten, sind nur effektiv, wenn sie 1. die generelle Stärkung der Persönlichkeit avisieren 2. keine spezifischen Informationen zum Thema Essen und Essestörungen oder Übergewicht vermitteln Flynn MA, McNeil DA, Maloff B, Mutasingwa D, Wu M, Ford C, Though SC, 2006 richten sich gezielt an spezifische Risikogruppen (selektiv) und sind nicht universell (kein Giesskannen-Prinzip wie z.B. Plakatkampagnen) sind interaktiv im Gegensatz zu didaktisch beinhalten keine Psychoedukation im Bezug auf Essverhalten und Bewegung richten sich vor allem an Frauen, älter als 15 Jahre werden von geschulten Fachleuten durchgeführt und nicht von Laien Buddenberg, 2000; Berger, 2006; Stice 2004; Stice, 2007; Stice et al 2009 finden in Serie, eingebettet und umfassend statt und nicht als einmalige, isolierte Ereignisse beinhalten Medienerziehung (media litteracy) und beziehen neue Medien mit ein Coughlin JW, Kalodner C, 2006 arbeiten mit der Dissonanzinduktion Matusek JA, Wendt SJ, Wiseman CV, 2004: beinhalten körpertherapeutische Elemente, die bessere Akzeptanz des eigenen Körpers zum Ziel haben McVey G, Tweed S, Blackmore E, 2007: Ebenen der Prävention Zielgruppen Primär-Prävention Sekundär-Prävention Tertiär-Prävention Primär-Prävention hat zum Ziel, die Entstehung von Erkrankungen überhaupt zu verhindern, Risikofaktoren zu mindern und protektive Faktoren zu fördern. Sekundär-Prävention besteht in Früherkennung und frühzeitiger Intervention, um ein Fortschreiten der Erkrankung und die Entwicklung einer voll ausgeprägten Störung zu verhindern. Tertiär-Prävention zielt darauf, eine Verschlechterung und Chronifizierung eines voll ausgeprägten Krankheitsbildes zu verhindern und weitere Folgeschäden abzuwenden (Schadensminderung). Caplan (1964) Universelle Prävention Selektive Prävention Hochrisikogruppen Universelle Prävention zielt auf die breite Masse der Gesamtbevölkerung. Selektive Prävention zielt auf asymptomatische Risikogruppen. Indizierte Prävention zielt auf Hochrisikogruppen, die bereits subklinische Symptome oder eindeutige Risikofaktoren aufweisen (primäre Prävention) und bereits Erkrankte (sekundäre und der tertiäre Prävention). Karwautz & Wagner, 2008 Normalbvölkerung Risikogruppen Hochrisikogruppe Erkrankte A B C Universelle Selektive Prävention Indizierte Prävention CC Prävention 1. Primäre Prävention 1A 1B 1C 1 CC 2.Sekundäre Prävention 2A 2B 2C 2 CC 3. Tertiäre Prävention 3A 3B 3C 3 CC 12 Felder Modell : Präventionsebenen und Zielgruppen, Toman, 2007. sich beim Planen und durchführen von Präventionsmassnahmen auf den „gesunden Menschenverstand“ verlassen Sich mit spezifischer Prävention, wie z.B. Informationen und Bildern zu Essstörungen, an die Gesamtbevölkerung richten Wissenszuwachs mit Verhaltensänderung verwechseln Gefahren und Dynamik von Harm Effekten ignorieren Bei der Planung von Interventionen klar definieren 1. die Ebene der avisierten Prävention (1-3) 2. Die Zielgruppe (A-CC) Jede solche Kombination braucht andere Mittel Z.B. Universelle Prävention Life Skills, Indizierte Prävention Informationen zur Früherfassung und Behandlung von Essstörungen Am wirksamsten bei der Primärprävention sind Programme, die grundlegenden Ressourcen der Persönlichkeit stärken, so z. B. das Life Skills Programm. Erfolgreichste selektive und indizierte Präventionsprogramme sind interaktiv im Gegensatz zu frontal didaktisch Beinhalten wenig Psychoedukation in Bezug auf Essverhalten und Bewegung Richten sich an Menschen, vor allem Mädchen und Frauen, die älter sind als 15 Jahre Werden von geschulten Fachleuten durchgeführt und nicht von Laien Finden in Serie statt und sind nicht einmalig Medienerziehung (media literacy) Arbeiten mit der Dissonanz-Induktion Körpertherapeutische Elemente, welche die bessere Akzeptanz des eigenen Körpers zum Ziel haben Sind interdisziplinär angelegt Experten-Netzwerk Essstörungen Schweiz ENES / RESTA www.netzwerk-essstoerungen.ch KompetenzZentrum Essstörungen und Adipositas, Zürich www.essstoerungen-adipositas.ch