Roma, citta apertà

Transcrição

Roma, citta apertà
Roma, città aperta
(Roberto Rossellini, 1945)
Italienischer Neorealismus
• NR = wichtigste Entwicklung in der Kinoästhetik der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945‐ 1951)
– keine Programmatik, keine organisierte Bewegung, sondern Filme, die zumindest einige der folgenden Merkmale aufweisen:
• eine sozialkritische Botschaft, gekoppelt mit humanistischer Einsicht in die Motive der Charaktere
• historische Ereignisse, nachempfunden auf der Ebene des „kleinen Mannes“
• Fokus auf authentische Details (Kontext)
• Inszenierung von Menschenmengen im Film
• Verwendung von Laiendarstellern
• dokumentarfilm‐ähnliche Sequenzen
• Vermeidung von künstlicher Beleuchtung u.ä., Inszenierung eines „einfachen“
Stils • Drehen an Originalschauplätzen
• frei bewegliche Kamera und Nachsynchronisierung von Ton
– weitreichender Einfluss nicht nur auf das Autorenkino, sondern auch auf Hollywood‐Kino der 50er Jahre
• The Naked City (Jules Dassin, USA 1948)
• Entwicklung des NR in Italien
– erster Film des NR = Roma, città aperta (1945); Ende ca. 1951‐2; Filme mit Restelementen des NR werden aber bis in die 60er Jahre hinein gedreht
• hauptsächlich Autorenfilme, die beim Publikum nicht immer gut ankamen („Roma, città aperta“ eine Ausnahme; Nr. 1 in Italien 1945‐6, fast zwei Jahre Laufzeit in NYC)
• etwa 10% der italienischen Filme, die in der Zeit zwischen 1945 und 1951 entstanden, lassen sich dem NR zuordnen
• Die wichtigsten Filme des italienischen NR:
– Roberto Rossellinis Kriegstrilogie
• Rom, offene Stadt (1945)
• Paisà (1946)
• Germania anno zero [Deutschland im Jahre Null] 1947
– Vittorio de Sica
• Sciuscià [Der Schuhputzer] 1946
• Ladri di biciclette (Die Fahrraddiebe bzw. Der Fahrraddieb, 1948)
• Umberto D. (1951)
– Luchino Visconti
• Ossessione [Obsession] (Luchino Visconti, 1943); wichtiger Vorgängerfilm
• La terra trema (Die Erde bebt, 1948)
Das Erbe des Neorealismus
– wichtige Verfahren, die sich ausgehend vom NR im Autorenkino der 60er Jahre verfestigen:
• Drehen an Originalschauplätzen mit nachsynchronisiertem Ton • Mischung aus Schauspielern und Laiendarstellern
• „unmotivierte“ Handlungsaufbau, die auf zufälligen Begegnungen aufbaut
• Ellipsen
• Filme mit offenem Ende
• Mikrohandlungen (Handlungen ohne Bezug zum Hauptstrang der Erzählung)
(Nach Bordwell and Thompson, Film History. An Introduction, New York 2003, S. 366.)
Was bedeutet „Realismus“ im Kino?
• Realismus im Kino suggeriert die Möglichkeit der Darstellung oder Aufdeckung lebensechter Situationen, Ereignisse usw.
• Wichtige Theoretiker des Realismus im Film:
– Siegried Kracauer (1889‐1966)
– André Bazin (1918‐1958)
• Einige Merkmale des Realismus für Bazin (aus: Was ist Film, Berlin 2004):
 Schärfentiefe, die den Blick für das Dekor öffnet und längere Einstellungen ermöglicht, die dem natürlichen Zeitgefühl entsprechen; Ablehnung der Montage
 Bruchstück der Wirklichkeit als kleinste filmische Einheit (anstelle der Einstellung)
 „Zufälligkeit“ und „Offenheit“ der Handlung
 „Die Handlung existiert nicht schon vorher wie eine Essenz, sie ergibt sich aus der vorausgegangenen Existenz des Erzählten, sie ist das ‚Integral‘ der Realität.“ (351)
 Film liefert keine fertige Thesen, sondern bringt „unseren Geist“ (341) dazu, sie zu entwickeln und zu formulieren
 Transparenz des Ästhetischen: Der Realismus ist das Ergebnis eines „vorhandenen, (wenn auch unsichtbaren) ästhetischen Systems“ (349):
 „Meiner Meinung nach ist es ein Hauptverdienst des italienischen Films, einmal mehr daran erinnert zu haben, daß es in der Kunst nie einen ‚Realismus‘ gab, der nicht zuallererst und zutiefst ‚ästhetisch‘ war.“ (306)
 Film als Zwitterwesen: Elemente des Schauspiels (Verknüpfung einer Aussage an die nächste) und des Romans (Möglichkeit, die Einheit der Zeit zu sprengen); Film soll „die positiven Eigenschaften, die es mit dem Roman verbinden, […] vertiefen.“ (350) Paradoxien des (Neo‐)Realismus
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Der Anschein des „Realismus“ im NR geht auf vielschichtige Faktoren zurück und nicht auf eine geradlinige „Annäherung“ an die wie auch immer geartete „Realität“
Rezeptionsästhetische Problematik
– Der Bruch mit einer Norm kann einem für Innovation offenen Zuschauer als „realistisch“ erscheinen
– Der Bruch mit einer vertrauten Norm kann einem konservativen Zuschauer „unrealistisch“ oder „übermäßig verspielt“ erscheinen
Nach R. Jakobson: „Über den Realismus in der Kunst“ [1921] In: J. Striedter, Russischer Formalismus Bd. I, München 1971.
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Handlung (nach Jakobson, „Über den Realismus“)
– Der Mangel an Motivation erscheint als „realistisch“
– Mann geht aus dem Haus und trifft auf jemanden, der für die Handlung gar nicht wichtig ist und dessen Auftauchen keine Folgen nach sich zieht (im klassischen Hollywood‐Erzählkino motiviert eine Sequenz die nächste usw.)
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Paradoxie: Die „zufällige“, unmotivierte Handlung ist nicht minder inszeniert und durchdacht als die „motivierte“ Handlung; neorealistische Werke hatten stets gut durchdachte Drehbücher Thema
– Neorealisten greifen Themen auf, die während des Faschismus nicht angesprochen werden durften; Bruch mit dem Eskapismus des italienischen Kinos der 30er und 40er Jahre
– Gleichzeitig werden diese Themen häufig sehr melodramatisch inszeniert (Mord, Erotisierung, Personalisierung); eigentliche eine Fortsetzung der traditionellen Erzählweise im ital. Kino
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Kinematographie
– die „freie Beweglichkeit“ der Kamera nur möglich, wenn Ton nachsynchronisiert wird; die „Annäherung“ an die Wirklichkeit war Produkt einer künstlichen Manipulation
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Laiendarsteller sprechen oft mit den synchronisierten Stimmen professioneller Sprecher
– Drehen an Originalschauplätzen, aber die Handlung oft begleitet von melodramatischer, fast
opernhafter Musik
– lange Einstellungen mit einer beweglichen Kamera, aber genau inszenierte Kadrierung und Mise en scène
Roma, città aperta: Produktion, Casting, Vertrieb, Tratsch
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Roberto Rossellini 1945 bereits ein bekannter Regisseur
– Nähe zu Vittorio Mussolini, M‘s Sohn, Filmliebhaber und Chef der staatlichen Filmbehörde
– Rossellini selbst ein eher konservativ gesinnter katholischer Humanist – bereits bekannt wegen seiner sog. „Faschistische Trilogie“, die manches in „Roma“
vorwegnimmt •
Film erschien Sept. 1945; Dreharbeiten begannen erst 4 Monate nach dem deutschen Abzug aus Rom (Juni 1944)
– Schlechte bzw. schwankende Qualität des Filmmaterials geht auf Fehler beim Entwickeln zurück; Filmmaterial wurde auf dem Schwarzmarkt erworben
– die Figuren und Handlung (Hinrichtung von Priester und Tod des Widerstandskämpfers und Pina) sind an tatsächlichen Begebenheiten in der Widerstandsbewegung orientiert •
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Mitautor des Drehbuchs war Federico Fellini, der für etliche humoristische Einlagen verantwortlich war (die Bratpfanne‐Szene im durchsuchten Haus); sein Co‐Autor Amidei war dagegen ein eher humorloser Marxist
Anna Magnani war vor „Roma“ für komische Rollen bekannt; durch den Film wurde sie zum Prototypen der starken, emotionalen italienischen Frau
Aldo Fabrizi (Don Pietro) war ebenfalls ein bekannter komischer Schauspieler, der hohe Gagen verlangen konnte; die „eine Million Lira“, die Don Pietro den Widerstandskämpfern überbringt, ist eine Insider‐Anspielung auf seine erste Gagenforderung (sein Freund Fellini hat es ihm ausgeredet)
Roma, città aperta: Produktion, Casting, Vertrieb, Tratsch (II)
Der Film war in Deutschland in den 50er Jahren verboten, weil man eine „volksverhetzende“ Wirkung befürchtete
• Die in den 60er Jahren entstandene deutsche Fassung des Films (unsere Version) ist auf Verharmlosung angelegt und sollte nur mit Untertiteln angeschaut werden, die den Dialog etwas genauer wiedergeben •
– „Kommunisten“ werden in der Synchronisation zu „Sozialisten“
– Detailaufnahmen von Folterwerkzeug sowie eine Kreuzigungsszene werden nicht gezeigt
– eine Einlage, in der deutsche Soldaten mit einem Schaf ironisch als „Spezialisten für das Schlachten“ bezeichnet werden, wird in einen nichtssagenden Witz verwandelt
Der (erfolgreiche) amerikanische Vertrieb wurde von einem amerikanischen Soldaten organisiert, der beim Bordellbesuch in der Nähe über ein Kabel aus Rossellinis Studio stolperte und begann, sich für die Dreharbeiten zu interessieren (Fellinis Erinnerung). • Rossellinis Filme „Roma, città aperta“ und „Paisà“ bewegten den Weltstar Ingrid Bergman so sehr, dass sie sich spontan an Rossellini mit einem Mitarbeitsangebot wandte. Daraus wurde eine skandalöse öffentliche Liebesbeziehung (beide waren bereits verheiratet), die u.a. zum Einreiseverbot Rossellinis in die USA führte. •
Kirche
Bürgertum
Don Pietro
Giorgio Manfredi (Widerstandskämpfer)
Marina (drogensüchtige
Narzissistin) Ideologie
der
Populären
Front
Agostino (Küster; komisches Pendant zu D.P.)
Das Volk
Francesco
(kommunistischer Drucker) Deutsche
Pina (katholisch)
Major Bergmann
Ingrid (lesbische Begleiterin)
„Anständiger“ Hauptmann
Österreichischer Deserteur
Lauretta (Pinas Schwester; „Flittchen““, das mit Deutschen schläft) Marcello (Pinas Sohn)
Kinderbande
italienische Behörden
Italienischer Polizeikommisar (Kollaborateur)
Italienischer Polizist (unkooperativ)
Francesco und Pina in einer für den Film typischen Zweiereinstellung
(Schuss‐Gegenschuss wird vermieden; Kontext geht vor Dialog); merke auch die keineswegs natürliche Beleuchtung
Nazis als Homosexuelle: Gleichsetzung des National‐
sozialismus mit Dekadenz
Marina und Ingrid in einer lesbisch‐vampirischen Pose Marinas Egoismus, untermauert durch die Mise en Scène
Marina und Ingrid doppelt; Homosexualität als
Narzissmus
Don Pietro (Aldo Fabrizi) in der Klemme zwischen Religion und Erotik;
immer wieder vermischen sich Komik und Tragik scheinbar unmotiviert Francesco und Marcello nach Pinas Tod;
die sehr flache Tiefenschärfe bekräftigt ihre innige Beziehung
Eine der wenigen Großaufnahmen, hier von Marcello; der Kontext ist
insgesamt wichtiger als die Personalisierung und Emotionalisierung
Kleinkind auf dem Topf; eine „sinnlose“ Mikrohandlung, die die Kinderthematik stillschweigend verstärkt
Eine für den Neorealismus typische Massenszene (Plünderung der Bäckerei), die die planmäßige Aufteilung der Stadt durch Major Bergmann konterkariert
Originalschauplatz in der Via Montecuccoli; gedreht wurde auch in und herum Wohnungen der Schauspieler sowie im Studio (Sakristei und Gestapo HQ)
Effektvoller kinematographischer Gebrauch des Treppenhauses
im Parallelschnitt
Pinas Tod, der durch die bloßgelegten Schenkel mit Strapsen und Strumpfhose zunächst erotisch‐weiblich konnotiert wird, sich aber…
gleich in eine Pietà‐artige Szene verwandelt. Der Tod einer Hauptidentifikationsträgerin mitten im Film kommt dramaturgisch völlig überraschend – und wirkt eben „realistisch“. Die schnelle Schnitttechnik in dieser berühmten Sequenz bricht mit den langen und mittellangen Einstellungen des übrigen Films.
Dokumentarfilmtechnik bei der Razzia
(ein im italienischen Film allerdings nicht völlig neues Verfahren; Rossellini hat sie in seiner „Fascistischen Trilogie“ bereits angewandt)
Der ängstliche Deserteur schaut auf das Kreuz; eine Mikrohandlung
mit symbolischer Bedeutung Don Pietro in der Pose eines Märtyrers
Der Kommunist Manfredi als Christus; Verkörperung
der Ideale der Populären Front (politische Einheit der anti‐
faschistischen Kräfte)
Kinder als Zeugen und als Schlusspunkt des Filmes
Die Kinder kehren nach der Hinrichtung zurück: der Gang
nach Rom (vor der Kulisse des Sankt‐Peterdoms) setzt den Schlussstrich
zu Mussolinis „Marsch auf Rom“ (1922)