Prof. Dr. Helga Schwalm Dekanin der Philosophischen Fakultät II

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Prof. Dr. Helga Schwalm Dekanin der Philosophischen Fakultät II
Prof. Dr. Helga Schwalm
Dekanin der Philosophischen Fakultät II
Begrüßungsrede zur Absolventenfeier der Philosophischen Fakultät II der
Humboldt-Universität zu Berlin am 10. Juli 2013
Sehr
verehrte
Damen
und
Herren,
liebe
Kolleginnen
und
Kollegen,
liebe
Absolventinnen und Absolventen,
im Namen der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität darf ich Sie zu
unserer diesjährigen Absolventenfeier herzlich begrüßen. Wie jedes Jahr bei dieser
Feierlichkeit ist mir ein wenig unbehaglich zumute angesichts der Erwartungen, die Sie
in diesem Augenblick hegen: dass ich als Dekanin salbungsvolle Worte sprechen und
Sie ganz in den Mittelpunkt einer feierlichen Rede stellen werde. Da, so sollte man
meinen und so meinte auch ich, liefere die Literatur Vorlagen. Keine systematische
Recherche habe ich nun unternommen, doch innerlich schlecht sortierte Bücherregale
durchstöbert auf der Suche nach dem Studenten, der Studentin als Helden, als
Protagonisten bzw. Protagonistin einer Geschichte, dessen geographischen und
ideellen Mittelpunkt die Universität bildet. Und prompt kam mir als Anglistin das, wenn
man so will, Buch der Bücher meines Fachs in den Sinn: Hamlet war bekanntlich
Student, bevor er nach Dänemark an den Hof zurückkehrt und die Tragödie ihren
bewährten Lauf nimmt. Dass der Prinz von Dänemark sein Studium in Wittenberg
komplett absolvierte, dürfte allerdings ausgeschlossen sein:
"Was Eure Rückkehr/Zur hohen Schule in Wittenberg betrifft,/So widerspricht
sie höchlich unserem Wunsch,/Und wir ersuchen Euch, beliebt zu bleiben,/Hier in dem
milden Scheine unsers Aug's", so äußert König Claudius in der Schlegel-Tiek’schen
Übersetzung, und Hamlets Mutter Gertrude fügt hinzu: "Laß deine Mutter fehl nicht
bitten, Hamlet:/Ich bitte, bleib bei uns, geh nicht nach Wittenberg!" Das klingt, frivol
und
anachronistisch
Shakespeare-Dramas
gesprochen,
nicht
angesichts
nach
einem
des
bekannten
ordungsgemäßen
Ausgangs
des
Abschluss.
Der
zeitgenössische amerikanische Dramatiker David Davalos machte übrigens aus der
studentischen Vorgeschichte Hamlets an der Universität seine überaus witzige
Komödie "Wittenberg" (2008) mit Dr. Faustus und Martin Luther als disputierenden
Hochschullehrern des brillanten jungen Studenten.
Und
um
mein
eigenes
Fach
zu
verlassen
und
–
wiederum
auf
zugegebenermaßen höchst unhistorische und unphilologische Weise – in das Buch der
Bücher der Kollegen aus der Germanistik zu blicken: in Goethes Faust taucht zwar
auch ein Student, oder wörtlich: ein "Schüler", auf, jedoch nur als Randfigur, um vom
gelehrten Helden zu lernen: "Ich bin allhier erst kurze Zeit,/Und komme voll
Ergebenheit,/Einen Mann zu sprechen und zu kennen,/Den alle mir mit Ehrfurcht
nennen". Als begriffsstutzig erweist dieser Schüler sich angesichts der Ausführungen
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des
Mephistopheles,
und
verwirrt
dazu
ob
des
Fächerangebots:
"Zur
Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen", wenig später "Fast möchte' ich
nun Theologie studieren", schließlich erscheint ihm die Medizin vielleicht doch
verlockender; angesichts des Frauenkontaktes, die sie laut Mephistopheles verspricht,
allemal. Was nach der teuflischen spontanen Studienfachberatung aus dem armseligen
Studenten wird, bleibt dahin gestellt; in Auerbachs Keller machen in der Folge die
Studierenden bekanntlich auch keine intellektuell formidable Figur.
Weitere
aufzuzählen;
Studenten
doch
im
Arsenal
Studierende
der
als
großen
Literatur
Protagonisten
wären
ihres
sicherlich
studentischen
Universitätslebens? Zum zentralen Akteur des literarischen Geschehens scheint der
Studierende/die Studierende in seinem/ihren Universitätsalltag selten zu taugen.
Nicht einmal beim Campusroman, der in der Literatur der 2. Hälfte des 20. Jhs.
bis zur Gegenwart mit Autoren wie Vladimir Nabokov, Kingsly Amis, David Lodge,
Malcolm Bradbury, A S Byatt, Jörg Uwe Sauer oder Dietrich Schwanitz solche Erfolge
bei Lesern und Literaturwissenschaftlern feierte, nicht einmal hier wird man sonderlich
fündig. Die kanonischen Texte dieser Gattung stellen Professoren oder Mitarbeiter
bzw. Dozentinnen, die noch auf der Laufbahn in den Professorinnen-Stand sind, in den
Mittelpunkt ihres Geschehens: in der amerikanischen Lebenswelt verirrte Exilrussen,
alternde Soziologieprofessoren oder junge Gender-Theoretikerinnen und feministische
Literaturwissenschaftlerinnen. Bestenfalls ist für junge weibliche Studierende als
Nebenfiguren und Katalysatoren des eigentlichen Geschehens Platz.
Studierende als literarische Helden des Campus sind also, so scheint es
zumindest auf den ersten Blick, fast eine Rarität. Nach der Bologna-Reform mit ihrer
Verschulung, Formalisierung und Disziplinierung des Studiums, das nur noch wenig
Spielraum für persönliche Entfaltung lasse, böten sie sich, so wäre zu vermuten, noch
weniger als literarische Geschöpfe an. Und doch: "Hier kommt Michelle", verkündete
2010 der Titel eines Romans von Annette Pehnt, im Untertitel als Campusroman
identifiziert. (Mein Dank geht an Barbara Gollmer, unsere Referentin für Studium und
Lehre, für diesen Lektüretipp.) Und die Heldin, "eine reizende junge Abiturientin mit
einem
schmalen,
flinken
Körper,
einer
raschen
Auffassungsgabe
und
einer
ausgeprägten Schwäche für Katzen", ist BA-Studierende der Fächer Deutsch und
Englisch mit Lehramtsoption, anfänglich im ersten Semester an der fiktiven Elite- oder
Exzellenzuniverstität Sommerstadt. Die Erzählerin lässt Michelle durchlaufen, was Sie
–
in
Variationen
–
hier
an
diesem
Ort
auch
erlebt
haben
werden:
eine
Begrüßungsveranstaltung an der "traditionsreichen Universität" mitsamt stolzer,
erwartungsvoller, ordentlich gekleideter Verwandtschaft (so wie bei der heutigen
Verabschiedung!), die allererste Seminarsitzung, das Anmelden zu Modulen und die
Module selbst, das Leiden an der fehlenden Fragestellung und Hypothese für ihre
Modulabschluss-Hausarbeit, ein vernichtendes Urteil der Seminarleiterin über eben
diese Arbeit (Letzteres ist Ihnen hoffentlich erspart geblieben), psychologische
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Beratung, ein Auslandssemester, ein Hiwi-Job, Eltern, die die Studiengebühren
bezahlen (die sind Ihnen erspart geblieben) und bereit sind, gegen vermeintlich
falsche Noten zu klagen, selbstbezogene, ehrgeizige oder ernüchterte Hochschullehrer,
eine demonstrierende radikale studentische Minorität und schließlich die Universität im
Ganzen im Prozess ihrer Neuerfindung als Eliteuniversität samt Abschaffung der
Keltologie,
sommerlicher
"Zukunftswerkstätten"
zur
Profilbildung
und
neuer
"Kompetenzzentren". Sogar eine Fakultätsreform gibt es! Wenn das nicht aus dem
Leben gegriffen ist. Michelle kommt und wurstelt sich durch alles durch; — Lesen, das
tut sie allerdings kaum, und Textanalyse erweist sich ihr auch als schwieriges Geschäft
– angewendet auf die Welt der Liebe allemal. Michelle liest die Mail ihres abtrünnigen
Lovers in der Ferne – "man lebt nur einmal. Ich gönn dir Spaß und Fun, den ich hier
auch habe ohne Ende. XXX Manu" – und "versucht, die Mail als Text zu behandeln, so
wie sie es im ersten Semester gelernt hat. Sie achtet auf die Syntax (parataktisch),
rhetorische Fragen (keine), Gebrauch von Adjektiven (wenige), Erzählperspektive
(Ich-Erzähler), es hilft nicht weiter, vielleicht sollte sie Genette ausprobieren, aber sie
versteht die Mail immer noch nicht, sie hat nichts gelernt, das letzte Semester war für
die Katz, und dann taucht plötzlich aus den Wirrungen der Textanalyse Frau Dr Blums
idée fixe auf: die Leitfrage, welche Frage stellt sie an den Text, an Manu (ihren
Freund), und sie starrt auf den Text, sie überlegt, bis ihre Gedanken zu schmerzenden
Knoten werden. Sie kommt einfach nicht auf die Frage."
Aber was tun mit einer solchen Heldin mittelmäßigen Verstandes, mittelmäßiger
Erfahrungen, mittelmäßiger Pläne? Michelle kommt und bleibt als BA-Studierende
Heldin des Textes – aber letztlich nur als Gegenstand bissiger Satire. Das ist einerseits
witzig, gilt der satirische Blick immerhin Studierenden und Institution gleichermaßen,
andererseits fällt der Autorin eben nichts anderes ein als die Mär einer allzeit
mittelmäßigen
Studierenden,
um
die
Tristesse
der
bolognisierten
Universität
erzählerisch in den Griff zu kriegen – raffiniert ist das nicht. Nirgendwo vielleicht, um
noch einmal den Blick zurückzuwerfen, nirgendwo fiel der spöttische Blick auf
studentische Leser (und nicht nur studentische) gekonnter aus als in Nabokovs Pnin:
"Das
Herbstsemester
1954
hatte
begonnen.
[…]
Wieder
brachten
ernste
Studienanfänger in Büchern aus der Bibliothek hilfreiche Randbemerkungen an wie
„Naturbeschreibung“ oder „Ironie“ ; und in einer hübschen Ausgabe von Mallarmés
Gedichten hatte schon ein besonders fähiger Scholast das schwierige Wort ‚oiseaux’
mit violetter Tinte unterstrichen und ‚Vögel’ darüber gekritzelt“. – Ich gestehe: Nie
wieder nach der ersten Lektüre dieser Passage habe ich es gewagt, ohne Selbstzensur
harmlose Stichworte an den Rand eines Buches zu kritzeln....
Man könnte fast meinen, es sei an der Zeit, dass Sie, liebe Absolventen und
Absolventinnen, rasch die Universität verließen, ehe Sie sich bei Randnotizen von
solch scharfzüngigen Autoren ertappen lassen, und dass Sie sich in Lebensbereiche
und Mittelpunkte bewegten, die jenseits der Satire literarischen Stoff versprechen. Wie
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dem auch sei, ob Sie die Universität verlassen oder sich zu einem Master- oder gar
Promotionsstudium entschließen, ich wünsche Ihnen für Ihre nächste Zeit alles Gute.
Ich darf Ihnen jetzt unseren heutigen Festredner vorstellen.
Seit Mai dieses Jahres ist Prof. Dr. Erdmut Wizisla Honorarprofessor am Institut für
deutsche Literatur. Einer Berufung zum Honorarprofessor geht ein langer Prozess
voraus, der im Falle Erdmut Wizislas von einer merkwürdigen kollektiven Stimme
getragen war, die unser Kollege Roland Berbig so schön auf den Punkt brachte:
"Warum erst jetzt?" Die Philosophische Fakultät II war spät dran, wir schätzen uns
jedoch umso glücklicher, Prof. Wizisla nun zu uns zählen zu dürfen. Spät übrigens ist
auch das treffende Attribut für den Beginn seiner akademischen Laufbahn: Erst im
Alter von 25 Jahren erhielt er einen Studienplatz hier an dieser Universität, um
Germanistik zu studieren; wenn ich es richtig verstehe, war die Verzögerung letztlich
der Unliebsamkeit seines kirchlichen Elternhauses, dessen Staatsferne in der DDR,
geschuldet. Dass er schon vor dem Eintritt in die Hochschule mit der Brecht-WeigelGedenkstätte in Kontakt kam, erweist sich im Nachherein als wegweisend. Denn nach
dem Studium wurde er 1989 Mitarbeiter im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der
Künste; nach der Wende 1993 berief man ihn zum Leiter dieses Archivs. Wizislas
Dissertation, inzwischen ein in mehrere Sprachen übersetztes Standardwerk, schloss
Bertolt Brecht mit einem zweiten Autor in einem komplexen Netzwerk biographischer
und intellektueller Beziehungen zusammen: mit Walter Benjamin. Der Titel lautet:
Benjamin und Brecht: Die Geschichte einer Freundschaft (suhrkamp taschenbuch).
Diese Studie allein hätte gereicht, um Erdmut Wizislas internationalen Ruf zu
begründen, doch es folgten eine beeindruckende, ja schier atemberaubende und
wahrlich einschüchternde Zahl weiterer gewichtiger Publikationen, Editions- und
Kuratortätigkeiten, die einzeln aufzuzählen schon diesen Abend füllen würden. 2004
wurde er folgerichtig auch zum Leiter des Walter-Benjamin-Archivs berufen; für die
Zukunft, so entnehme ich meinen Informanten, sind weitere große internationale
Benjamin-Ausstellungen in Vorbereitung, so 2014 in Tel Aviv und New York, und 2015
in Weimar.
Herr Wizisla, ich darf Sie herzlich begrüßen; wir freuen uns nun auf Ihren
Vortrag. Der extrem einleuchtende Titel lautet: "empört euch der himmel ist blau."
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