Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen
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Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen
BABETT BRÜSER, JULIA WOJATZKE * Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen Eine empirische Studie mit Berliner Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs 10 Abstract. Germany is home to many people whose identity is based on multilingualism and multiculturalism. Given pupils' heterogeneous language biographies, traditional foreign language teaching is thus confronted with different previous experiences with languages within a single class. Recent findings in cognitive psychology suggest a strong association of the different languages in the mental lexicon, the first languages playing a dominant role. Making such languages present in the classroom and including them would help learners to consolidate their language skills, and at best aid them to memorize the new target language vocabulary. This paper deals with the inclusion of Turkish as a „bridge“ for acquiring French vocabulary. With this in mind, the authors carried out a multimethodological cross-sectional study at three schools in Berlin in June 2010. The interpretation of the results showed that most students already possess interlingual transfer strategies. However, the first languages are used less as a transfer basis. The authors point out possible causes of these results and indicate how important it is to conduct further empirical studies on the use of prior language knowledge in the teaching of foreign languages at schools. 1. Schüler/innen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem Die Lebenswelt vieler in Deutschland Heranwachsender ist von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität geprägt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in den Jahren 1991 bis 2010 18 Millionen Zuzüge aus dem Ausland nach Deutschland registriert. Eines der Hauptherkunftsländer bildet die Türkei. Generell ist zu beobachten, dass viele Kinder aus Migrantenfamilien auch in der oder den Erstsprache(n) der Eltern sozialisiert werden. Dies hat zur Folge, dass mehrsprachige Schüler/innen in deutschen Klassenzimmern vielfach nicht mehr als Ausnahme, sondern als Normalfall anzusehen ~ Korrespondenzadressen: Babett BRÜSER, Master of Education, Gebrüder Montgolfier Gymnasium, Ellernweg 20–22, 12487 BERLIN. E-Mail: [email protected] Arbeitsbereich: Studienreferendarin in den Fächern Französisch und Chemie. Julia WOJATZKE, Master of Education, 12. Schule Mitte (Gymnasium), Altonaer Straße 26, 10555 BERL~N. E-Mail: [email protected] Arbeitsbereiche: Studienreferendarin in den Fächern Französisch und Deutsch. FLuL 42 (2013) · Heft 1 © 2013 Narr Francke Attempto Verlag 122 Babett Brüser, Julia Wojatzke sind. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit bei Migrantenkindern ist daher aus bildungspolitischer, unterrichtsorganisatorischer, inhaltlicher und methodologischer Sicht ein aktuelles Thema für Schule und Unterricht geworden (vgl. ELSNER 2007: 58). Will die Lehrkraft die Forderungen des Europarats nach interkultureller Bildung und Erziehung zur Mehrsprachigkeit beherzigen, müsste sie die Sprachlernbiografien der Schüler/innen in ihre Unterrichtsplanung mit einbeziehen (vgl. DE FLORIO-HANSEN 2006); denn das sprachliche Vorwissen der Schüler/innen stellt eine wichtige, in der Praxis aber häufig unbeachtete Größe im schulischen Fremdsprachenunterricht dar, die für den Erfolg des fremdsprachlichen Lernens mitentscheidend ist. Obgleich die Rolle der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von Schüler/innen mit Migrationshintergrund im Schulunterricht in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand empirischer Untersuchungen (ELSNER 2007, Hu 2003, MORKYTTER 2005, RÜCK 2009, BRIZIé 2011) und bildungspolitischer Diskussionen war, bleiben in sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Hinsicht noch viele Fragen ungeklärt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung interlingualen Transfers in Lernkontexten wenig affiner Sprachen. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik konzentriert sich vorwiegend auf Sprachen der gleichen Sprachfamilie oder noch enger auf typologisch verwandte Schulsprachen. Die im Folgenden dargestellte Untersuchung will einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen, indem sie sich dem Einbezug des Türkischen als „Brücke“ für den Wortschatzerwerb des Französischen widmet. Sie basiert auf einer im Juni 2010 an drei Berliner Schulen durchgeführten mehrmethodischen Querschnittsstudie, die von beiden Autorinnen gemeinsam als Qualifikationsarbeit im Master of Education an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht wurde.1 Im Mittelpunkt des Theorieteils standen die fremdsprachendidaktischen Diskurse um die zentralen Themenkomplexe, Mehrsprachigkeit und das mentale Lexikon, welche den theoretischen Hintergrund für die Studie bildeten. Die anschließenden Kapitel der Arbeit widmeten sich der Darlegung von Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Forschungsmethoden sowie der Präsentation der Ergebnisse. Das Türkische wurde in seiner Geschichte vom Kontakt mit anderen Sprachen stark geprägt, sodass es viele Wörter fremden Ursprungs aufweist. Beispielsweise stand es, vermittelt durch den Islam, lange Zeit unter dem Einfluss des Arabischen, später des Persischen (vgl. AKTA$ 2008: 72). Im 19. und 20. Jahrhundert nahm es viele Elemente aus der französischen Sprache auf. So verdreifachte sich zwischen 1945 und 1998 die Anzahl der Lehnwörter aus dem Französischen (vgl. SAGLAM 2004: 119). Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, die türkische Sprache als Brückensprache beim Wortschatzerwerb des Französischen in den Unterricht einzubeziehen, zumal dies den Zielen der Mehrsprachigkeitsdidaktik entspricht. 1 Die gesamte Arbeit samt Datenanhang und umfangreicher Literaturliste ist einzusehen unter http://www.romanistik.hu-berlin.de/fachdidaktik/fachdidaktik%20forum (8. März 2013). FLuL 42 (2013) • Heft 1 Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen 123 2. Das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik Die Mehrsprachigkeitsdidaktik geht davon aus, dass sprachliches Vorwissen von den Lernern weder ausgeblendet werden kann noch sollte. Vielmehr sollte ihnen die Anbindung von neuem an vorhandenes Wissen bewusst gemacht werden, beispielsweise durch die Beschäftigung mit sogenannten interlingualen Transferbasen. Neue Erkenntnisse der Kognitionspsychologie lassen eine starke Verbindung der verschiedenen Sprachkenntnisse im mentalen Lexikon (vgl. JESSNER 2008; MÜLLER-LANC 2003) vermuten, wobei den Erstsprachen2 eine dominierende Rolle zugeschrieben wird. Diese Auffassung steht im strikten Gegensatz zur Identitätshypothese des Zweitsprachenerwerbs (vgl. KNIFFKA/SIEBERT-OTT 2007: 34). Sie folgt vielmehr der Annahme, dass die Herkunftssprachen und die Sprachbewusstheit multilingualer Schüler/innen den Fremdsprachenerwerb in signifikanter Weise beeinflussen (vgl. Hu 2003; RüCK 2009). Die Erstsprachen der Lernenden beim Sprachenlernen gänzlich unterdrücken zu wollen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht möglich, da die Kenntnis der Ll die Grundlage sprachlicher Kompetenz bildet. Sie stellen demzufolge wichtige Sprachenbrücken dar. Laut BAR (2009: 43) spielen sie nicht nur bei der Bedeutungserschließung eine zentrale Rolle, aber auch als Medium der Sprachreflexion (Metasprache) seien sie vor allem im Anfangsunterricht unabdingbar. Sie im Unterricht präsent zu machen und gerade nicht auszuschließen, würde den Lernern helfen, ihre Sprachkenntnisse zu festigen und sich den neuen zielsprachlichen Wortschatz besser einzuprägen (vgl. TARGONSKA 2004: 135 f). Der traditionelle Sprachunterricht lässt allerdings immer noch wichtige Ρarallelen zu anderen Sprachen und Kulturen außer Acht und verzichtet mehrheitlich darauf, wesentliche Gemeinsamkeiten, die den Spracherwerb entscheidend vereinfachen oder beschleunigen könnten, im Unterricht zu thematisieren (vgl. KLEIN 2002: 35). Hiergegen spricht sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik aus (vgl. REINFRIED 1999: 339 f). Greift man die Ziele der Mehrsprachigkeitsdidaktik auf und verknüpft sie mit den Forderungen des Europarates nach trilingualen Mehrsprachigkeitsprofilen für den Aufbau eines sprachentoleranten Europas (COUNCIL FOR CULTURAL COOΡERATION 2000: 1), erfahren die sogenannten Migrantensprachen nahezu zwangsläufig eine Aufwertung. Sie werden zu „Begegnungssprachen“ im Unterricht. Eine fächerübergreifende Einbeziehung der Alltagskultur und -sprache würde den Schüler/innen mit Migrationshintergrund gewiss helfen, ein spezifisches, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität wertschätzendes Selbstbewusstsein zu entwickeln sowie ihre interkulturellen Kompetenzen auszubauen. In der Tertiärsprachenforschung und Mehrsprachigkeitsdidaktik hat sich die Vernetzung verwandter Sprachen bereits zu einem zentralen Forschungsthema entwickelt. Im Rahmen der Fremdsprachendidaktik wurde der Einbezug lebensweltlicher Mehrsprachigkeit von Schüler/innen u.a. durch den von AGUADO/Hu (2000) herausgegebenen Sammelband angestoßen. Während hier nicht nur sprachliche, sondern wesentlich auch 2 In dieser Arbeit wird der Terminus Erstsprache auch synonym für die Begriffe Muttersprache bzw. Ll verwendet. FLuL 42 (2013) · Heft 1 124 Babett Brliser, Julia Wojatzke kulturelle Aspekte von Mehrsprachigkeit zur Sprache kommen, konzentriert sich MEIßNER (1998) vor allem auf erstere. Er sieht eine zentrale Forschungsaufgabe der Mehrsprachigkeitsdidaktik darin, „kontrastivlinguistische τπntersuchungen zum Komplex von konvergenten und divergenten Sprachplanungsverläufen in unterschiedlichen Sprachenkombinationen“ (ebd.: 66) durchzuführen. Auf der Ebene der Sprachverarbeitung ließen sich der Transfer und die Interferenz als ein Netzwerk darstellen, indem alle Knoten potentiell miteinander interagieren: In diesem Sinne seien „auch die überaus zahlreichen positiven Transferleistungen – wie sie insbesondere zwischen nahverwandten Sprachen den Erwerbsprozeß beschleunigen – tiefenstrukturell begründet“ (ebd.), wie es die Kontrastivhypothese der Zweitspracherwerbsforschung postuliert (vgl. KNIFFKA/SIEBERT-OTT 2007: 34). Einen Sonderstatus innerhalb der Mehrsprachigkeitsdidaktik nimmt das Konzept der Interkomprehension ein, insofern es sich auf den Bereich der Sprachrezeption beschränkt. Es lenkt den Blick darauf, dass der Rückgriff auf vorhandenes (fremd-) sprachliches Wissen und Können zum Verstehen von Äußerungen in einer aktiv noch nicht verfügbaren Fremdsprache befähigen kann. Interkomprehension beruht demzufolge auf Vergleichen von Beständen einer Sprache mit solchen einer anderen Sprache (vgl. MEIßNERΙBECKMANN/SCHRYDER-SτπRA 2008: 168). Die dabei erkennbar werdenden sprachlichen Verwandtschaftsbeziehungen, welche von der Lexik über die Syntax bis zur Semantik von Prä- und Suffixen reichen können, werden somit als ,Transferbasen` und die herangezogenen Sprachen als ,Brückensprachen` genutzt. 3. Psycholinguistische Aspekte Zentral für das Verständnis der hier zur Rede stehenden Sprachverarbeitungsprozesse ist der Begriff des mentalen Lexikons. Laut JACKENDOFF (2002, 2004) stellt es den Speicher für das deklarative Wissen über Wörter dar. Jeder Worteintrag besteht nach LEVELT (1998) aus vier charakteristischen Komponenten: Zum einen gibt es die Bedeutung (meaning). „This is the set of conceptual conditions that must be fulfilled in the message for the item to become selected” (ebd.: 182). Darüber hinaus enthält das mentale Lexikon Informationen über die Syntax. Die Syntax und die Bedeutung bilden zusammen das Lemma. Die beiden anderen Bestandteile des Lexikons beinhalten morphologische und phonologische Informationen – die Formseite – des Worteintrags. Das mentale Lexikon ist ein wesentlicher Bestandteil in LEVELTS Sprachmodell (ebd.: 9 ff), das von zwei getrennten Systemen für die Prozesse der Sprachproduktion und -rezeption ausgeht. AITCHISON (1997: 294 ff) hingegen legt ihrem Modell des mentalen Lexikons die Netzwerkmetapher zugrunde. Die Verbindungen innerhalb des Netzwerks sind in ihrer Sicht unterschiedlich stark ausgeprägt; bei Wörtern mit hoher Gebrauchsfrequenz liege eine stärkere und stabilere Verbindung vor als bei niedrig frequenten Wörtern (vgl. ebd.). Dem Aufbau des zweisprachigen mentalen Lexikons hat sich bereits WEINREICH (1953, hier zitiert in einem Nachdruck von 1979) gewidmet. Grundsätzlich stellt er die FLuL 42 (2013) • Heft 1 Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen 125 Frage, ob beim Erlernen einer Zweitsprache ein neuer Wortspeicher im mentalen Lexikon angelegt oder ob dieser in den bestehenden der Ll integriert wird. Auf der Grundlage neurolinguistischer Untersuchungen von bilingualen Sprechern/innen postuliert PARADIES (2004) die subset hypothesis, die von folgender Annahme ausgeht: „[...] bilinguals have two subsets of neural connections, one for each language, within the same cognitive system, namely, the language system“ (ebd.: 110). Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den Forschungsstand zum bilingualen mentalen Lexikon annähernd umfassend nachzuzeichnen. 3 Als gesichert erscheint jedoch, dass Lerner beim Erlernen einer neuen Sprache auf vorhandene L1- bzw. Lx-Äquivalente zurückgreifen. Der Erwerb des neuen Wortschatzes wird auf diese Weise erleichtert, vorausgesetzt das Wort und das dazugehörige Konzept sind bereits im mentalen Lexikon repräsentiert (vgl. LUTJEHARMS 2003: 132). Für unterrichtliche Zusammenhänge ist daraus abzuleiten, dass bisherige Sprachkenntnisse als Lernhilfe fungieren können und genutzt werden sollten. Denn Angst vor einer Förderung der Interferenz ist nicht begründet, weil nach heutigen Erkenntnissen nach der Ll erworbene Sprachen stark mit der Ll im mentalen Lexikon verbunden sind und bei der Sprachverwendung eine automatische Aktivierung von Übersetzungsäquivalenten im mentalen Lexikon wahrscheinlich ist (LUTJEHARMS 2003: 134). 4. Die empirische Untersuchung 4.1 Erkenntnissinteresse und Forschungsfragen Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt, werden in Schriften der Fremdsprachenforschung Möglichkeiten diskutiert, wie die sprachlichen und kulturellen Erfahrungen der mehrsprachigen Schüler/innen im Fremdsprachenunterricht Anwendung finden können (vgl. REINFRIED/RücK 2011). Hierzu fehlen bislang aussagekräftige empirische Studien. Einige Fremdsprachenforscher/innen (vgl. Hu 2003; M0RKYTTER 2005) sind der Ansicht, dass multilinguale Schüler/innen aufgrund ihrer sprachlichen Erfahrungen den monolingualen gegenüber einen Vorsprung im Bereich Sprachbewusstsein (language awareness) haben. Das könnte bedeuten, dass Schüler/innen mit der Herkunftssprache Türkisch gerade im Französischunterricht Nutzen aus ihren muttersprachlichen Kenntnissen ziehen könnten. Ziel der Studie war es daher zu untersuchen, ob sich diese Annahme erhärten lässt, insbesondere ob die türkischsprachigen Französischlerner, basierend auf ihren sprachlichen Vorkenntnissen, bewusst Transferstrategien beim Erwerb der schulischen Fremdsprache einsetzen, und wenn ja, ob sich die Nutzung dieser Strategien auf den Bereich des Wortschatzerwerbs im Französischen beschränkt oder auch in anderen Sprachen vorkommt. Darüber hinaus sollten die subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen 3 Vgl. hierzu die Angaben in der Langfassung der vorliegenden Studie ( Fußnote 1 [S. 122]). FLuL 42 (2013) · Heft 1 126 Babett Brüser, Julia Wojatzke der Lerner zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in der Schule erfasst werden. Daraus leiteten sich die folgenden Forschungsfragen ab: I. Inwieweit nutzen Schülerinnen und Schüler mit Türkisch als Erstsprache ihre Türkischkenntnisse bei der Wortschatzerschließung im Französischen? Nutzen sie das Türkische als Transferbasis für den interlingualen Vergleich? II. Inwieweit werden die Herkunftssprachen und -kulturen im Fremdsprachenunterricht einbezogen? Wie bewerten die Schüler/innen die Integration bzw. den Ausschluss ihre Herkunftssprache und -kultur? 4.2 Design und Durchführung der Untersuchung In Anbetracht der von MARΧ (2004: 70 ff~ und HEINE (2004: 82 ff) formulierten Desiderata zur Methodologie im Bereich der Fremdsprachen- bzw. Mehrsprachigkeitsforschung wurde die vorliegende Untersuchung mehrmethodisch konstruiert. Im begrenzten Rahmen einer Studienabschlussarbeit kam nur ein exploratives Design in Frage. Mithilfe eines Fragebogen sowie halbstrukturierter, leitfadengestützter Interviews wurden im Zuge einer Querschnittsstudie sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben. Zur Grundgesamtheit dieser Untersuchung zählten Berliner Schüler/innen des Jahrgangs 10, die zum Zeitpunkt der Erhebung am Ende des zweiten Lernjahres Französisch standen und für die das Türkische eine der Erstsprachen darstellt. Der Fragebogen wurde im Juni 2010 in mehreren Klassen an insgesamt 100 Schüler unterschiedlicher Schulen ausgeteilt. Schüler/innen, die kein Türkisch sprechen, wurden in der Untersuchung nicht berücksichtigt. Schließlich konnten 42 gültige Fragebögen ausgewertet werden. Der Fragebogen beinhaltet sowohl offene, halboffene als auch geschlossene Fragen. Mehrheitlich waren bei den halboffenen und geschlossenen Items nur Einfachantworten möglich. Nur in zwei Items war eine Mehrfachantwort zulässig. Bei den geschlossenen Fragen mussten die Schüler/innen mittels einer fünfstufigen Likert-Skala antworten. Der Fragebogen, der ein behördliches Genehmigungsverfahren durchlief, ist wie folgt strukturiert: Punkt 3 des Fragebogens beinhaltet einen Text mit sechs türkischen Ankerwörtern (banlieue, camion, haut-parleurs, colza, avantage, enquête), d.h., Wörter die die türkische Sprache aus dem Französischen übernommen hat, wobei sich das Schriftbild zum Teil sehr stark unterscheidet. Bei der Auswertung wurde gezählt, welche Ankerwörter und wie oft diese von den Schüler/innen erkannt wurden. Der Interviewleitfaden wiederum orientiert sich an den Frageimpulsen von Hu (2003: 109 ff~. 5. Interpretation der Ergebnisse hinsichtlich der Forschungsfragen Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung wurden in Tabellen erfasst. Neben Häufigkeitslisten wurden mithilfe des Computerauswertungsprogramms SPSS 14 Kreuztabellen zu bestimmten Items erstellt. Die berechneten Korrelationen fielen allgemein FLuL 42 (2013) • Heft 1 Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen 127 sehr niedrig aus. Sie lassen zwar in einigen Fällen einen Zusammenhang erahnen, klare Aussagen sind jedoch nicht möglich und wären aufgrund der kleinen Stichprobe auch nicht repräsentativ. Die Schüler/innen haben im Fragebogen im Bereich ,Einschätzung der Sprachkenntnisse` die Teilkompetenzen Sprechen und Schreiben beurteilt. Diese Items wurden mit dem Item‚ ‚Ankerwörter insgesamt‘ korreliert. Die berechneten Korrelationskoeffizienten sind sehr gering und reichen von-0,178 bis 0,117. Daher kann zunächst angenommen werden, dass es keinen Zusammenhang zwischen diesen Items gibt. Die Kreuztabellen weisen auch meist eine gleichmäßige Verteilung auf, d.h., wenn die Schüler/innen ihre türkischen Sprachkenntnisse als gut bis sehr gut einschätzen, geht damit nicht eine höhere Anzahl der erkannten Ankerwörter einher. Demzufolge scheint die Kompetenz in der Erstsprache Türkisch keinen wesentlichen Einfluss darauf zu haben, ob diese als Transferbasis genutzt wird oder nicht. Dies widerspricht den Erwartungen, die sich aus den zitierten theoretischen Studien ableiten lassen. Zu bedenken ist allerdings, dass die Daten zu den Sprachkompetenzen auf den Selbsteinschätzungen der Schüler/innen beruhen, wohingegen ein standardisierter Sprachtest objektivere Aussagen erlaubt hätte. Wenn die Ergebnisse dieser Untersuchung jedoch darauf deuten, dass die Erstsprachenkompetenz den interlingualen Vergleich gar nicht bzw. kaum beeinflusst, wirft dies die Frage auf, welche anderen Ursachen plausibilisieren können, warum das Türkische den Schülern/innen kaum als Brücke zum Wortschatzerwerb im Französischen dient. Auch im Abgleich der Items ‚Muttersprache stört‘ und ‚Vergessen der Muttersprache‘ mit der Anzahl der erkannten Ankerwörter insgesamt ist kein eindeutiger Zusammenhang zu entdecken. 34 Schüler/innen (81%) kreuzten bei dem Item ‚Die Muttersprache stört mich beim Lernen einer weiteren Sprache‘ die Antwortmöglichkeit „gar nicht zutreffend“ an, und 31 Schüler/innen (73,8%) machten dieselbe Aussage bei dem Item ‚Am besten vergisst man seine Muttersprache völlig, wenn man eine Fremdsprache lernt‘. Zu vermuten ist, dass die Befragten ihre L1 eventuell deswegen nicht als störend wahrnehmen, weil sie diese nicht als Transferbasis beim Fremdsprachenerwerb heranziehen. Dies lässt sich u.a. aus einzelnen Kreuztabellen schlussfolgern: Der Kreuztabelle ‚Muttersprache stört‘*‚Ankerwörter insgesamt‘ ist zu entnehmen, dass 14 Schüler/innen (33,3%) von den 34 (81%), die ihre Muttersprache als keineswegs störend empfinden, kein Ankerwort erkannt haben. 12 Schüler/innen (28,6%) erkannten nur ein Ankerwort und lediglich 8 Schüler/innen (19,2%) fanden zwei Ankerwörter. Ähnlich ist die Verteilung in der Kreuztabelle ‚Vergessen der Muttersprache‘*‚Ankerwörter‘. Auch hieraus ist zu schließen, dass die Schüler/innen den Transfer aus ihrer Muttersprache vermeiden. Mögliche Ursachen hierfür sind u.a. das fehlende Bewusstsein über die Ähnlichkeiten zwischen dem Türkischen und Französischen sowie das Nichtvorhandensein von Transferstrategien. Inwieweit der lehrerseitige Einbezug der türkischen Sprache oder anderer Sprachen in den Fremdsprachenunterricht aus Sicht der Befragten die eigenen Prozesse der Wortschatzerschließung im Französischen beeinflusst, kann u.a. aus der Korrelation der Items ‚Hast du es schon einmal erlebt, dass das Türkische oder andere Sprachen in eurer Klasse in den Fremdsprachenunterricht einbezogen wurden?‘ und ‚Ankerwörter insgesamt‘ hergeleitet werden. Der beFLuL 42 (2013) · Heft 1 128 Babett Brüser, Julia Wojatzke rechnete Korrelationskoeffizient beträgt 0,105. Demnach liegt eine nur sehr geringe Korrelation vor, und der Einbezug der bereits gelernten Sprachen scheint, bezogen auf diese Untersuchung, kaum einen Einfluss auf den interlingualen Transfer zu haben. Dies kann jedoch damit zusammenhängen, dass die Schüler/innen einerseits die Textaufgabe nicht gewissenhaft bearbeitet und demnach nicht alle Verbindungen zu anderen Sprachen angegeben haben. Andererseits haben die Schüler/innen fast ausschließlich jene Ankerwörter gefunden, die eine große graphische und/oder phonetische Ähnlichkeit zum Französischen aufweisen. In diesem Fall müssen die Schüler/innen nicht über spezifische Transferstrategien verfügen. Die Interviews legen hingegen den Schluss nahe, dass im Unterricht vorwiegend der Transfer zu anderen Schulfremdsprachen thematisiert und dadurch nur selten die mehrsprachige Lebenswelt der Schüler/innen berücksichtigt wird. Daher erscheint es von besonderem Interesse, in einer separaten Studie die Frage nach dem Einbezug von anderen Sprachen in den Fremdsprachenunterricht zu spezifizieren, d.h., konkret zu fragen, ob bzw. inwieweit die Herkunftssprachen im Unterricht einbezogen werden. Falls sich der in unserer Studie gewonnene Eindruck bestätigt, sollte eine Befragung der Lehrer/innen die Ursachen für den Ausschluss der Herkunftssprachen im Fremdsprachenunterricht zu ermitteln versuchen. 6. Schlussbetrachtungen Die Befunde der hier in groben Zügen resümierten Arbeit werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Das allerdings unterstreicht die Notwendigkeit, weitere empirische Studien zur Nutzung sprachlichen Vorwissens im schulischen Fremdsprachenunterricht durchzuführen. Es wäre wichtig, umfassender zu untersuchen, ob und inwiefern das Fremdsprachenlernen von einem Rückgriff auf zuvor erworbene Sprachen profitieren kann. Dies sollte vollkommen unabhängig davon geschehen, ob die Sprachen „natürlich“ oder systematisch erworben wurden. Erst in einem weiteren Schritt wäre zu klären, welche Konsequenzen sich gegebenenfalls für unterrichtliches Handeln aus den aus den Untersuchungen resultierenden Ergebnissen ableiten ließen. Die Interpretation der Ergebnisse aus der Fragebogenuntersuchung und den Interviews hat bereits gezeigt, dass die meisten Schüler/innen über interlinguale Transferstrategien verfügen und diese im Ansatz auch nutzen. Vor allem die Interviews konnten dies verdeutlichen. Ihre L1 (Türkisch) setzen die Schüler/innen nur selten als Transferbasis ein. Diese Tatsache lässt sich auf unterschiedliche Ursachen zurückführen. Zum einen kann es sein, dass die Schüler/innen den Transfer aus ihrer L1 vermeiden, da sie die phonetischen und graphischen Ähnlichkeiten zwischen Wörtern aus dem Türkischen und Französischen nicht wahrnehmen. Auf der anderen Seite lässt sich aufgrund der Fragebögen und Interviews vermuten, dass die Transferstrategien nicht ausreichend ausgebildet wurden. Die Ursachen könnten u.a. darin liegen, dass der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit der Schüler/innen im Fremdsprachenunterricht bisher zu wenig Beachtung geschenkt wird. Angesichts der Klärungsbedürftigkeit dieser Fragen FLuL 42 (2013) • Heft 1 Das Türkische als „Brücke“ zum Wortschatzerwerb im Französischen 129 sind wir auch nach unserer Untersuchung der Auffassung, dass die Nutzung der Kenntnisse typologisch nicht verwandter Sprachen als ,Transferbasen', die von der Lexik über die Syntax bis zur Semantik von Prä- und Suffixen reichen können, eine wichtige Herausforderung für unterrichtliche Praxis und didaktische Forschung darstellt. Literatur AGUADO, Karin / Hu, Adelheid (Hrsg.) (2000): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Dokumentation des DGFF-Kongresses in Dortmund Oktober 1999. Berlin: Pädagogischer Zeitschriftenverlag. AITCHISON, Jean (1997): Wörter im Kopf. Eine Einführung in das mentale Lexikon. Tübingen: Niemeyer. AKTA$, Ayfer (2008): „Aus dem Deutschen ins Türkische übernommene Wörter in türkischen Wörterbüchern – eine Bestandsaufnahme”. In: Muttersprache 118.1, 72–80. BÄR, Marcus (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. 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