Gedächtnistraining
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Gedächtnistraining
Fachartikel/Dossier Gedächtnistraining am Beispiel des kognitiven Gedächtnistrainings nach Stengel Eigentlich dachten wir, Gedächtnistraining gehöre zum «täglichen Brot» der Ergotherapeutinnen und wir müssten nur in den Memory und Rehakliniken nachfragen. Irrtum. In Memory Kliniken wird dieser Bereich von Fachleuten anderer Berufsgruppen durchgeführt, Ergotherapeuten konzentrieren sich mehr auf spezifisches kognitives Training, welches – meist in Einzeltherapie – im Rahmen der neurologischen Rehabilitation durchgeführt wird. In Priska Rothen fanden wir eine Ergotherapeutin, die in einer ambulanten Praxis seit gut vier Jahren Gedächtnistraining nach der Methode von Franziska Stengel durchführt. Wir fragten sie nach ihren Erfahrungen. Denkblockaden (Gedächtnistagebuch), Stressbewältigung, Lebensraumanalyse; 5. Säule: konkretes Haushaltstraining und Angehörigenberatung. Das eigentliche Gedächtnistraining, also die 1. Säule, kann man je nach Patient oder Patientengruppe als: symptomorientiertes Training (defizitorientiert, z.B. bei hirnverletzten Menschen), umgekehrt symptomorientiertes Training (von den vorhandenen Fähigkeiten ausgehend, z.B. bei Demenzkranken) oder allgemein geistig aktivierendes Training (breite Förderung, z.B. in der Gruppentherapie mit unterschiedlichen Diagnosen) durchführen. Das schriftliche Interview mit Priska Rothen stellte S. Zimmermann zusammen Frau Rothen, vorab eine Frage zur Begriffserklärung: Wie lassen sich die Begriffe «Gedächtnistraining» und «kognitives Training» differenzieren? Laut Definition ist das kognitive Training ein gesundheitsorientiertes Training der kognitiven Funktionen wie Wahrnehmung, Merkfähigkeit, Konzentration, Informationsverarbeitung und Sprache. Es unterstützt, erhält oder verbessert die Denk- und Gedächtnisfähigkeit und ermöglicht somit Menschen möglichst lange selbständig zu bleiben. Als «kognitives Training nach Frau Dr. Stengel» bezeichnet man ein ganzheitliches Training, das auf 5 Säulen aufgebaut ist: 1. Säule: das eigentliche Gedächtnistrai- ning mittels speziellen, kognitiven Übungen. Diese Übungen wecken die Neugierde der Betroffenen. Sie sprechen ihre unterschiedlichen Sinne bewusst an, regen zum effektiven und kreativen Denken an sowie zur Kommunikation. Sie unterstützen die semantische und episodische Vertiefung, helfen beim En- und Dekodieren von Wissen und beziehen auch die Bewegung mit ein. 2. Säule: Vermitteln von kognitiven Strategien und Mnemotechniken; 3. Säule: Äussere Gedächtnishilfen vermitteln (Agenda, Tagespläne, Checklisten, automatisierte Ablageplätze,…); 4. Säule: Verhaltenstraining des Patienten, z.B. aufspüren und mildern von Priska Rothen Diplom an der Schule für Ergotherapie Biel, 1991. Sie arbeitete in verschiedenen Spitälern und nun seit 6 Jahren in einer ambulanten Praxis, u.a. mit hirnverletzten Menschen. In der ambulanten Ergotherapie-Praxis ist neben dem motorisch/sensorischen, der perzeptiv/kognitive Aspekt der Arbeit immer weiter in den Vordergrund gerückt. 2002/2003 entschloss sie sich, die Ausbildung zur Fachtherapeutin für Kognitives Training nach Frau Dr. Stengel in Stuttgart zu absolvieren. Dieses Wissen findet nun rege Anwendung bei der Arbeit im rehapunkt, dem Tagestreff für hirnverletzte Menschen, der durch ergobern, Praxis für Ergotherapie Jacqueline Bürki in Bern angeboten wird. 20 12_06.indd 20 Das Gedächtnis ist ja keine isolierbare Funktion oder ein begrenztes Areal in unserem Gehirn. Viele Faktoren nehmen Einfluss auf unsere Gedächtnisleistung. Lässt sich «das Gedächtnis» trainieren oder handelt es sich «nur» um ein Training von Kompensationsstrategien? Laut meinen Informationen, die ich in der Ausbildung zur Fachtherapeutin für Kognitives Training erhielt und die auf wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen, bleibt das Gehirn lebenslang anpassungsfähig. Neue Synapsen können sich bilden, Dendriten können auswachsen und die Länge und Verzweigungsrate von hochspezialisierten Neuronen können zunehmen. Diese Neuroplastizität kann aber nur in anregender psychosozialer Umgebung stattfinden. Auch kognitives Training ist unterstützend am Prozess der Neuroplastizität beteiligt. Das Training von Kompensationsstrategien hat aber auch seinen Platz im 5-Säulenkonzept nach Stengel (besonders in Säule 2 und 3). Sie arbeiten seit vier Jahren mit dem Gedächtnistraining nach Stengel. Warum haben Sie sich gerade für diese Methode entschieden? Mir war und ist kein anderes Konzept be- ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:33 Uhr kannt, das so ganzheitlich aufgebaut ist, wie das kognitive Training nach Stengel. Der Patient und sein Kontext werden berücksichtigt, und zwar auf eine respektvolle und erwachsenengerechte Art. Erwachsenengerechtes Material ist in vielfältiger Art vorhanden. Dieses Konzept richtet sich nach klar definierten therapeutischen Standards: • Anwendung evaluierter Therapieverfahren (1994, Universität Heidelberg); • Förderung von fluider und kristalliner Intelligenz (d.h. Förderung von Verarbeitungsgeschwindigkeit und Erfahrungswissen); • Arbeiten mit sinnhaftem, sprachlich korrektem und altersentsprechendem Material; • Kein Stress und Leistungsdruck in der Therapiesituation, kein Gefühl von Schule vermitteln; • Erfolgserlebnisse schaffen; • Respekt vor Autonomie und Persönlichkeit des Patienten. Worin unterscheidet sich das Training nach Stengel von anderen Methoden, z.B. Rigling oder dem Neurotraining von Verena Schweizer? Generell möchte ich folgende Punkte hervorheben, die meiner Meinung nach das kognitive Training nach Stengel von anderen Neurotrainings-Methoden unterscheiden: • Das Therapiematerial ist nicht abstrakt sondern sinnhaft, alltagsbezogene Themen stehen im Zentrum. • Es wird ohne Zeitvorgabe, also ohne Leistungsdruck gearbeitet. • Es sind Richtlinien für einen pädagogischen Ansatz vorhanden, die besonders in der Gruppentherapie von grossem Nutzen sind. • Gezieltes Training aller Sinne wird durchgeführt. • Nicht nur Training der fluiden Intelligenz, sondern auch der kristallisierten Intelligenz findet statt; • Semantische und episodische Informationsvertiefung (auf Ebene der reinen Fakten sowie auf der Ebene des persönlichen, gefühlsbetonten Wissens) 21 12_06.indd 21 wird durchgeführt, evtl. durch biographisches Arbeiten. • Kognitive Strategien werden vermittelt; • Kommunikation und soziale Kontakte werden gezielt gefördert; • Angehörigenberatung wird angeboten. Ein differenzierter Vergleich von verschiedenen Methoden wäre sicher interessant. Ist die Methode auch für das kognitive Training z.B. nach SHT oder nach einem Insult geeignet oder nur bei altersbedingtem Nachlassen des Gedächtnisses? Diese Methode kann bei ganz unterschiedlichen Diagnosen eingesetzt werden, wie z.B. Insult, SHT, Demenz, Alzheimer aber auch bei psychischen Störungen. Je nach Diagnose muss eine andere Methodik angewendet werden, sei dies symptomorientiertes, umgekehrt symptomorientiertes oder allgemein geistig aktivierendes Training. Je nach Diagnose ist auch eher Einzel- oder Gruppentherapie indiziert. Wenn die Gedächtnisleistungen nachlassen (z.B. bei Demenz) oder durch eine plötzliche Hirnschädigung beeinträchtigt sind, kann dies ja ganz unterschiedliche Ursachen haben. Wird dies in diesem Behandlungskonzept unterschieden? In der 1. Säule dieses Behandlungskonzeptes werden die kognitiven Übungen in unterschiedliche Kategorien unterteilt. • Übungen zum Training der Denk- und Gedächtnisfunktionen: z.B. Abstraktionsvermögen, assoziatives Denken, Beurteilen, Entscheiden, Denkflexibilität, geordnetes Denken, Kombinieren, Konzeptbildung, logisches Denken, Merkfähigkeit,… . • Übungen zum Training von Konzentration und Wahrnehmung: z.B. gerichtete Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, Dauerkonzentration, sensorische Wahrnehmung,… . • Übungen zum Training der sprachlichen Funktionen, z.B. Wortfindung, Formulierung, … . Frau Dr. Franziska Stengel (geb. 1904) war Medizinerin, Psychologin und Soziologin. Die «Pionierin des Gedächtnistrainings» lebte in Wien. Sie war lange Jahre Chefärztin des grössten städtischen Altersheims in Wien-Lainz. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen und Vorträgen zur Gerontologie und Geriatrie, verfasste sie auch populärwissenschaftliche Bücher und Artikel. Nach der Pensionierung begann sie ihre Erfahrungen und Methoden aufzuschreiben. Mitte der 70er Jahre erschien ihr erstes Buch über Hirnleistungstraining. Bis kurz vor ihrem Tod 1994, erweiterte sie aktiv ihr Programm zum Gedächtnistraining. Beim symptomorientierten Training kann mit Hilfe dieser Kategorien das Übungsprogramm gezielt auf die Problematik des Patienten abgestimmt werden. Ist die Methode für alle Altersgruppen geeignet? Auch Jugendliche können sich sicher schon für diese Art kognitiven Trainings begeistern, dann natürlich alle erwachsenen Personen bis ins hohe Alter. Wichtig ist zu erwähnen, dass diese Therapieform sprachorientiert ist und der Patient deshalb ein gewisses Interesse an Kommunikation mitbringen muss, was, nach meinen Erfahrungen, die Teilnahme von Aphasikern aber nicht ausschliesst. (Sprachverständnis muss jedoch vorhanden sein). Welche Therapiemittel werden nach Stengel eingesetzt? Das grundlegende therapeutische Mittel ist die Kommunikation. Das dazugehörige spielerische, aber erwachsenengerechte Material ist in Form von Kopiervorlagen, Büchern mit vielen Tipps und konkreten Übungsideen, als CD für auditive Übungen oder als Hellraumfolien für visuelle Übungen erhältlich. Weiteres Material für Geruchs- Geschmacks- oder Tastübungen kann jede Therapeutin selber zusammenstellen. ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:37 Uhr Sie haben die 5 Säulen des kognitiven Trainings nach Stengel erwähnt: Kommen in der Ergotherapie alle zum Zuge? Das Training nach Stengel umfasst alle 5 Säulen. In einem Erstgespräch mit dem Patienten wird abgeklärt, wo die Schwerpunkte liegen. Welche Bereiche können mit der Methode nach Stengel nicht trainiert werden? Es gibt zwei Bereiche, die mit der Methode nach Stengel nicht gezielt therapiert werden können: Die räumliche Wahrnehmung und der Umgang mit Zahlen, das Rechnen. Wie lange muss so eine Therapie durchgeführt werden, bis eine Verbesserung erkennbar wird? Ich denke, für uns Ergotherapeutinnen ist es wichtig, dass sich konkret im Alltag des Patienten positive Veränderungen einstellen. Die kognitiven Übungen sind ein Teil der Therapie, um die individuelle Selbständigkeit zu verbessern. In meinem Berufsalltag mit hirnverletzten Menschen im Alter von 20 bis 70 habe ich gute Erfahrungen mit einem halben Jahr «ganzheitlicher» Therapie gemacht. Diese findet jeweils im Rahmen einer ambulanten Zweitrehabilitation statt (d.h. nach einer 3- bis 6-monatigen stationären Rehabilitation in einer Spezialklinik). In diesem Zeitraum gelingt es den meisten Patienten in ihrem veränderten Alltag wieder Fuss zu fassen. Nach einer Therapiepause kann ein «Refresher» von ca. drei Monaten angezeigt sein. Im Rahmen der SIMA-Studie (vom Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg, 1991) wurde mit gesunden Senioren, im Alter zwischen 75 und 93, ein Jahr lang ein ganzheitliches Gedächtnistraining, kombiniert mit Bewegungsübungen, durchgeführt. Auch vier Jahre nach Therapieende hatten diese Senioren noch bessere Ge- 22 12_06.indd 22 dächtnisleistungen als vor der Studie und als die Kontrollgruppe. Im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden dementielle Prozesse verzögert und die Selbständigkeit gefördert. Kann das Gedächtnistraining nach Stengel auch zur Abklärung von Defiziten dienen? Das kognitive Training nach Stengel ist kein Diagnosemittel. Es kann jedoch im Verlauf der Therapie eine Verbesserung der verschiedenen Hirnleistungen beobachtet werden. Wird das Gedächtnistraining immer von der Krankenkasse oder Unfallversicherung finanziert? Bis jetzt wurde das Gedächtnistraining immer von der Krankenkasse oder Unfallversicherung übernommen. Ausführliche Berichte unsererseits und auch von Seiten des Arztes sind oft nötig. Wann und von wem wird eine Evaluation durchgeführt? Die Evaluation findet im Rahmen der ganzheitlichen Ergotherapie statt. Sie richtet sich nach den konkreten, alltagsorientierten Zielen des Patienten. Kontakt ergobern Praxis für Ergotherapie Jacqueline Bürki z.H. Priska Rothen Riedweg 3 3012 Bern An meinem Arbeitsort organisieren wir uns folgendermassen: • Es findet ein Erstgespräch mit dem Patienten und evtl. den Angehörigen statt, um die Probleme des Patienten und seiner Umgebung zu erfassen, um konkrete Ziele zu vereinbaren (alltagsbezogen), um die Relevanz der 5 Säulen der Therapie zu bestimmen und das Therapieprogramm festzulegen (oft auch Ergotherapie mit dem Schwerpunkt Motorik/Sensorik oder Alltagstraining am Domizil des Patienten). • Für die Verlaufskontrolle der therapeutischen Übungen besteht ein Beobachtungsprotokoll, das bei Bedarf durch Ankreuzen ausgefüllt werden kann. • Nach drei Monaten führen wir ein Gespräch mit dem Patienten, den Angehörigen und wenn möglich den beteiligten Therapeutinnen durch. Die gesetzten Ziele werden kontrolliert und angepasst. • Nach sechs Monaten findet ein Abschlussgespräch statt. [email protected] www.ergobern.ch Für fundierte neuropsychologische Testinformationen sind wir auf die Berichte der Neuropsychologen angewiesen. [email protected] www.rehapunkt.ch Literatur Stengel, Franziska; diverse Titel, memoVerlag, Stuttgart. Oswald, W. D. (Hrsg.); Das SIMA-Projekt: Gedächtnistraining – Ein Programm für Seniorengruppen; 2. Auflage; Göttingen: Hogrefe, 1998. «Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbständigkeit im höheren Lebensalter (SIMA)». Studie der Universität Erlangen-Nürnberg, geleitet von Wolf D. Oswald, Gisela Rödel, 1991. Weitere Informationen zu SIMA siehe auch unter: http://www.sima.geronto.uni-erlangen.de weiterführende Literatur: http://www.sima.geronto.uni-erlangen. de/index.php?title=Gedaechtnistraining &path=ged5 ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:38 Uhr Ein Fallbeispiel Die ganzheitliche ergotherapeutische Behandlung mit Einzel- und Gruppentherapie nach der Methode Stengel Es ist mir ein Anliegen aufzuzeigen, dass es meiner Meinung nach für uns Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten wichtig ist, die neuropsychologischen Probleme eines Patienten nicht isoliert, sonder integriert in den Gesamtkontext anzuschauen. In meinem Beispiel möchte ich die Therapie gemäss den 5 Säulen des kognitiven Trainings nach Stengel beschreiben. Frau K. ist 50-jährig und lebt mit ihrem Mann in einer Eigentumswohnung am Rande eines kleineren Dorfes. Sie haben keine Kinder. Frau K. ist bis zu ihrem Schlaganfall als kaufmännisch Angestellte tätig. Nach dem Insult mit Hemiplegie rechts und Wortfindungsstörungen verbringt Frau K. insgesamt 6 Monate in spezialisierten Kliniken zur stationären Rehabilitation. Nach ihrer Rückkehr nach Hause wird sie uns durch das Ärzteteam der Klinik in die Ergotherapiepraxis zur ambulanten Rehabilitation überwiesen. Im Bericht der Klinik steht, dass sich Frau K. in der Wohnung mit dem Rollator selbstbständig fortbewegen kann, dass sie im Freien aber auf den Handrollstuhl und eine Hilfsperson angewiesen ist. Ferner wird erwähnt, dass die Patientin in der rechten oberen Extremität einen erhöhten Tonus aufweist, dass aber Grobmotorik vorhanden ist. Wortfindungsstörungen und eine verwaschene Sprache verursachen nach wie vor Probleme. Aus neuropsychologischer Sicht werden eine reduzierte Konzentrationsfähigkeit und eine verminderte Belastbarkeit betont. Als erstes lade ich Frau K. zusammen mit ihrem Mann zu einem Erstgespräch zu uns in die Praxis ein. Probleme zu Hause und ihre persönlichen Zielsetzungen kommen zur Sprache. Folgende konkrete Ziele kristallisieren sich heraus: • Gegenstände in der Wohnung transportieren, • einfache Malzeiten zubereiten, 23 12_06.indd 23 • Einkaufzettel schreiben und PC-Maus bedienen können. • Fähig sein, sich selbständig im Freien fortzubewegen, d.h. für kleinere Einkäufe im Dorfladen und Spazieren mit ihrem Hund (Pudel); • Mehr Ausdauer haben, weniger schnell ermüden; • Wieder wagen unter Leute zu gehen, Kontakte zu knüpfen; • In reduziertem Masse Integration an den alten Arbeitsplatz. Aufgrund dieser konkreten Ziele kann ich die Therapieplanung vornehmen. Von Vorteil ist, dass in der Praxis, in der ich arbeite, ein Tagestreff für hirnverletzte Menschen angeboten wird. Das Angebot umfasst ein ganzheitliches Therapieangebot innerhalb eines Tages, und zwar einmal pro Woche. Am Morgen findet eine Gruppentherapie statt, in der die kognitiven Übungen nach Stengel mit ihren sozialen und kommunikativen Aspekten im Zentrum stehen. Danach essen wir in einer Cafeteria gemeinsam zu Mittag. Nach einer Siesta – mit der Möglichkeit sich hinzulegen – geht das Programm am Nachmittag mit einer offenen Gruppentherapie weiter. Hier geht es um alltagspraktische Handlungen. Am Nachmittag finden auch Einzeltherapien statt. Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie und psychologische Beratung sind nach Bedarf möglich. Nach Absprache mit dem Hausarzt und mit einer Kostengutsprache der Krankenkasse für 6 Monate (Einzel- und zweimal Gruppentherapie), können wir mit der Arbeit beginnen. Frau K. besucht einmal pro Woche unseren Tagestreff. In der Morgengruppe, mit dem Schwerpunkt kognitives Training nach Stengel (1., 2., 3. Säule), stehen folgende Ziele im Zentrum: Steigerung von Konzentration und Belastbarkeit, Anwenden der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten, wagen mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Frau K., sowie auch die anderen Gruppenteilnehmer, treffen um 9.30 Uhr bei uns in der Praxis ein. Schlussendlich sind es acht hirnverletzte Menschen, im Alter von 45 bis 70 (Diagnosen: CVI, SHT), die sich im Gruppenraum um einen grossen Tisch versammeln. Wir starten den Morgen mit einem Kaffee und ungezwungenem Gespräch. Die Betroffenen bekommen Raum, um von Erlebtem zu berichten oder um konkrete Alltagsprobleme miteinander zu besprechen. Alle können voneinander profitieren. Die kognitiven Übungen beginnen um 10.00 Uhr und dauern bis 11.30 Uhr. Es ist ein allgemein geistig aktivierendes Trainingsprogramm. Diese Art ist für gemischte Gruppen am meisten geeignet. «Was kommt ihnen zur Farbe ROT in den Sinn?», «Mischen sie die Buchstaben des Wortes SONNENSCHIRM durcheinander, es müssen nicht alle Buchstaben verwendet werden. Welche neuen Wörter entstehen?», «Eine Tanne wird durch Bienen bestäubt – ist das richtig oder falsch?», «Hornisse, Hummel, Drohne, Wespe – nur eines dieser vier Insekten erzeugt Wachs, welches? – Schauen wir doch im Lexikon nach, oder kann dies jemand zu Hause im Internet tun?», «An was werden sie durch folgende Geräusche erinnert, wo haben sie diese schon gehört?», «Haben sie auch schon den Schlüssel oder die Brille nicht mehr gefunden? Was kann man dagegen tun, haben sie Ideen?». Wir sammeln diese Ideen und ich ergänze. Die wichtigsten Merkmale dieser Übungen in der Gruppe sind: – Pro Gruppentherapie wird mit dem Kurzzeitgedächtnis, aber auch mit Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gearbeitet. – Die Informationstiefe wird im Gespräch und mittels Nachschlagen im Lexikon verbessert. – Der Schweregrad der Übungen wechselt. – Verschiedene Sinne werden bewusst angesprochen (mehrkanaliges Lernen). – Eine Bewegungsübung wird integriert. – Eine Denkstrategie oder Mnemotechnik wird vermittelt. – Das Training ist nicht themenzentriert. – Ein Flipchart oder Hellraumprojektor kann als Hilfsmittel eingesetzt werden. – Arbeitsblätter zum schriftlichen Festhal- ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:39 Uhr ten von Antworten können je nach Möglichkeit des Patienten benützt werden. – Bei Bedarf werden Pausen eingelegt. – Alle Teilnehmer fühlen sich angesprochen, Antworten werden auf Zuruf gegeben. Es ist schön, die Reaktion von Frau K., aber auch von den anderen Teilnehmern, zu beobachten. Frau K. meldet sich trotz ihren Hemmungen wegen der verwaschenen Sprache immer häufiger zu Wort. Die Gruppenmitglieder sprechen sich direkt untereinander an. Niemand hat Angst etwas Falsches zu sagen, es wird viel gelacht. In der Nachmittagsgruppe (u.a. 4. Säule des Konzeptes nach Stengel) kann Frau K. mit einfachen Hilfsmitteln in der Küche hantieren und lernt handwerkliche Tätigkeiten kennen, die sie bei Bedarf zu Hause als Hobby wieder aufnehmen kann. Frau K. hat, integriert in den Tagestreff, eine Stunde Logopädie und eine Stunde Einzel-Ergotherapie. In der Ergotherapie (u.a. 4. und 5. Säule des Konzeptes nach Résumé L’entraînement de la mémoire selon Franziska Stengel Madame Franziska Stengel (née en 1904) était médecin, psychologue et sociologue. Après avoir terminé ses études, elle dirigea un home pour personnes âgées à Vienne en tant que médecin-chef. A sa retraite, elle commença à mettre par écrit ses expériences et ses méthodes. Son premier livre sur l’entraînement de la mémoire parut au milieu des années 70. Madame Stengel est décédée à l’âge de 94 ans. Les principes de base de l’entraînement cognitif selon Stengel La méthode part de l’hypothèse que la plasticité neuronale du cerveau est permanente («Use it or loose it») et s’oriente vers des méthodes d’entraînement cognitives scientifiques clairement définies. • Mise en pratique de procédures thérapeutiques évaluées (1994 à l’Université d’Heidelberg). 24 12_06.indd 24 Stengel) stehen die Graphomotorik und der Umgang mit der Maus im Zentrum. An einem anderen Tag der Woche besucht Frau K. die Physiotherapie in ihrem Dorf. Zusätzlich, aber auf neunmal befristet, hat Frau K. noch Ergotherapie zuhause. In dieser Stunde übt sie das Zubereiten von einfachen Malzeiten in ihrer eigenen Küche und das Transportieren von Gegenständen in der Wohnung. Die Mobilität im Freien, mit oder ohne Hund, ist auch ein Thema. Die Anschaffung eines Elektrorollstuhls oder eines Scooters wird mit Hilfe von Fachpersonen abgeklärt. Nach drei Monaten intensiver Therapie treffen wir uns zu einem Rehabilitationsgespräch. Die beteiligten Therapeutinnen, die Patientin, ihr Ehemann und ihr früherer Arbeitgeber sind anwesend. Die Ziele werden überprüft und angepasst. Auch der Ehemann kann seine Probleme schildern. Im Gespräch kann eine Lösung gesucht werden (5. Säule des Konzeptes nach Stengel). Da sich Frau K. eine teilweise Rückkehr an den Arbeitsplatz erhofft, • Présence de directives à but pédagogique, très utiles en particulier en thérapie de groupe. • Stimulation de l’intelligence fluide et cristallisée (c.-à-d. stimulation de l’aptitude à trouver de nouvelles solutions et du savoir accumulé par les expériences antérieures); entraînement des diverses fonctions du cerveau telles que concentration, mémoire immédiate, recherche de mots, formulation et reproduction; actualisation des connaissances générales, stimulation, motivation de l’intérêt pour l’environnement; entraînement ciblé de tous les sens. • Travailler avec du matériel et un langage correct adaptés à l’âge; maintenir et entraîner les aptitudes intellectuelles pour retarder les démences, maintenir l’autonomie. • Pas de stress ou de pression sur le résultat en situation de thérapie / ne pas leur donner l’impression d’être à l’école. • Créer des situations de réussite pour renforcer leur confiance en eux. • Respect de l’autonomie et de la per- kann sich der Arbeitgeber bei dieser Besprechung über den momentanen Stand orientieren und sich Gedanken über seine Möglichkeiten machen. Er ist sehr engagiert, ein Arbeitsversuch wird geplant. Nach den sechs Monaten Tagestreff wird eine Therapiepause von ca. 3–6 Monaten eingelegt. Während dieser Zeit kann Frau K. das Gelernte im Alltag anwenden. Neue Fragen werden auftreten, die als Zielgrundlage für einen Auffrischungskurs dienen. Dies hat sich laut unseren Erfahrungen sehr bewährt. Mit einer Kombination von Einzel- und Gruppentherapie ist das Arbeiten mit dem Konzept nach Stengel – natürlich auch ohne Tagestreff – sehr gut möglich. Diese Art zu arbeiten bringt viele konkrete Erfolgserlebnisse für den Patienten und ist auch für uns Ergotherapeutinnen sehr befriedigend. Das Konzept des kognitiven Trainings nach Stengel bietet die Möglichkeit, uns im – oft nicht gut fassbaren – Feld der neuropsychologischen Störungen kompetent zu positionieren – und es macht wirklich auch immer wieder Spass. sonnalité du patient. • Pas de procédure axée sur un thème. • Stimuler l’assimilation approfondie des informations. • Encourager les contacts sociaux, la communication et ainsi les compétences socio-émotionnelles; consultation des proches. Traiter les patients en adultes et respecter leur environnement. Les cinq piliers de la méthode Stengel 1er pilier: l’entraînement de la mémoire par des exercices cognitifs particuliers. Ces exercices éveillent la curiosité des personnes concernées. Ils stimulent tous leurs sens, la pensée concrète et créative tout comme la communication. Ils soutiennent l’approfondissement sémantique et épisodique, ils aident à l’encodage et au décodage du savoir tout en associant le mouvement. 2e pilier: transmettre des stratégies cognitives et mnémotechniques. 3e pilier: donner des aides externes à la mémoire (agenda, plans du jour, checklists, lieux de rangement automatisés, …). ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:40 Uhr 4e pilier: entraînement comportemental du patient, par exemple dépister et alléger les blocages (journal de la mémoire), vaincre le stress, analyser l’espace vital. 5e pilier: entraînement concret au ménage et consultation des proches. Voici les types d’exercices • Jeux de mots et de lettres; • Jeux de mots et de langue; • Jeux de réflexion, de reproduction, de connaissances; • Jeux de réflexion, de structuration et de catégorisation; • Exercices des sens: la vue par l’observation d’images, l’ouïe par des enregistrements de bruits, le toucher par la palpation et la description d’objets, l’odorat par diverses odeurs, le goût par la dégustation (important: pour le toucher, l’odorat et le goût, la rapidité n’est pas primordiale, il s’agit plutôt de décrire, de faire des hypothèses et de réveiller des souvenirs). Critères lors du choix des exercices • Entraînement général de stimulation du mental (stimulation large, par ex. en thérapie de groupes avec divers diagnostics), entraînement pondéré de diverses fonctions du cerveau. • Entraînement orienté vers les symptômes: orienté vers la carence, par ex. pour les personnes ayant une blessure cérébrale, nécessite un bon diagnostic (neuropsychologues), principalement en thérapie individuelle. • Entraînement inverse aux symptômes: basé sur les aptitudes existantes, par ex. pour les personnes atteintes de démence, accent sur les situations de réussite. L’approfondissement biographique est également important, il sert d’ancrage dans le passé. Se prête à la thérapie individuelle pour les personnes atteintes de démence. oder das Arbeiten in Kleingruppen Il y a deux domaines qui ne peuvent pas être soignés par la méthode selon Stengel: • La perception de l’espace. • Le rapport avec les chiffres, le calcul. Il faut souligner que cette forme de thérapie est orientée vers le langage et que le patient doit donc montrer un certain intérêt pour la communication. Ceci n’exclut toutefois pas la participation d’aphasiques. (La compréhension du langage est cependant requise). (t: K. Siegenthaler) 25 12_06.indd 25 ERGOTHERAPIE 12 • 06 13.12.2006 20:20:42 Uhr