Gedächtnistraining

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Gedächtnistraining
Fachartikel/Dossier
Gedächtnistraining
am Beispiel des kognitiven Gedächtnistrainings nach Stengel
Eigentlich dachten wir, Gedächtnistraining gehöre zum «täglichen
Brot» der Ergotherapeutinnen und wir müssten nur in den Memory und Rehakliniken nachfragen. Irrtum. In Memory Kliniken wird
dieser Bereich von Fachleuten anderer Berufsgruppen durchgeführt, Ergotherapeuten konzentrieren sich mehr auf spezifisches
kognitives Training, welches – meist in Einzeltherapie – im Rahmen der neurologischen Rehabilitation durchgeführt wird.
In Priska Rothen fanden wir eine Ergotherapeutin, die in einer ambulanten Praxis seit gut vier Jahren Gedächtnistraining nach der
Methode von Franziska Stengel durchführt. Wir fragten sie nach
ihren Erfahrungen.
Denkblockaden
(Gedächtnistagebuch), Stressbewältigung, Lebensraumanalyse;
5. Säule: konkretes Haushaltstraining
und Angehörigenberatung.
Das eigentliche Gedächtnistraining, also
die 1. Säule, kann man je nach Patient
oder Patientengruppe als:
symptomorientiertes Training (defizitorientiert, z.B. bei hirnverletzten Menschen),
umgekehrt symptomorientiertes Training
(von den vorhandenen Fähigkeiten ausgehend, z.B. bei Demenzkranken) oder
allgemein geistig aktivierendes Training
(breite Förderung, z.B. in der Gruppentherapie mit unterschiedlichen Diagnosen) durchführen.
Das schriftliche Interview mit Priska Rothen stellte S. Zimmermann zusammen
Frau Rothen, vorab eine Frage zur Begriffserklärung: Wie lassen sich die
Begriffe «Gedächtnistraining» und
«kognitives Training» differenzieren?
Laut Definition ist das kognitive Training
ein gesundheitsorientiertes Training der
kognitiven Funktionen wie Wahrnehmung, Merkfähigkeit, Konzentration, Informationsverarbeitung und Sprache. Es
unterstützt, erhält oder verbessert die
Denk- und Gedächtnisfähigkeit und ermöglicht somit Menschen möglichst lange selbständig zu bleiben.
Als «kognitives Training nach Frau Dr. Stengel» bezeichnet man ein ganzheitliches
Training, das auf 5 Säulen aufgebaut ist:
1. Säule: das eigentliche Gedächtnistrai-
ning mittels speziellen, kognitiven
Übungen. Diese Übungen wecken die
Neugierde der Betroffenen. Sie sprechen ihre unterschiedlichen Sinne bewusst an, regen zum effektiven und
kreativen Denken an sowie zur Kommunikation. Sie unterstützen die semantische und episodische Vertiefung,
helfen beim En- und Dekodieren von
Wissen und beziehen auch die Bewegung mit ein.
2. Säule: Vermitteln von kognitiven Strategien und Mnemotechniken;
3. Säule: Äussere Gedächtnishilfen vermitteln (Agenda, Tagespläne, Checklisten, automatisierte Ablageplätze,…);
4. Säule: Verhaltenstraining des Patienten, z.B. aufspüren und mildern von
Priska Rothen
Diplom an der Schule für Ergotherapie Biel,
1991. Sie arbeitete in verschiedenen Spitälern
und nun seit 6 Jahren in einer ambulanten Praxis, u.a. mit hirnverletzten Menschen. In der ambulanten Ergotherapie-Praxis ist neben dem motorisch/sensorischen, der perzeptiv/kognitive
Aspekt der Arbeit immer weiter in den Vordergrund gerückt. 2002/2003 entschloss sie sich,
die Ausbildung zur Fachtherapeutin für Kognitives Training nach Frau Dr. Stengel in Stuttgart zu
absolvieren. Dieses Wissen findet nun rege Anwendung bei der Arbeit im rehapunkt, dem Tagestreff für hirnverletzte Menschen, der durch
ergobern, Praxis für Ergotherapie Jacqueline
Bürki in Bern angeboten wird.
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Das Gedächtnis ist ja keine isolierbare Funktion oder ein begrenztes Areal in unserem Gehirn. Viele Faktoren
nehmen Einfluss auf unsere Gedächtnisleistung. Lässt sich «das Gedächtnis» trainieren oder handelt es sich
«nur» um ein Training von Kompensationsstrategien?
Laut meinen Informationen, die ich in
der Ausbildung zur Fachtherapeutin für
Kognitives Training erhielt und die auf
wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen, bleibt das Gehirn lebenslang anpassungsfähig. Neue Synapsen können
sich bilden, Dendriten können auswachsen und die Länge und Verzweigungsrate von hochspezialisierten Neuronen
können zunehmen. Diese Neuroplastizität kann aber nur in anregender psychosozialer Umgebung stattfinden. Auch
kognitives Training ist unterstützend am
Prozess der Neuroplastizität beteiligt.
Das Training von Kompensationsstrategien hat aber auch seinen Platz im 5-Säulenkonzept nach Stengel (besonders in
Säule 2 und 3).
Sie arbeiten seit vier Jahren mit dem
Gedächtnistraining nach Stengel. Warum haben Sie sich gerade für diese
Methode entschieden?
Mir war und ist kein anderes Konzept be-
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kannt, das so ganzheitlich aufgebaut ist,
wie das kognitive Training nach Stengel.
Der Patient und sein Kontext werden berücksichtigt, und zwar auf eine respektvolle und erwachsenengerechte Art. Erwachsenengerechtes Material ist in vielfältiger Art vorhanden.
Dieses Konzept richtet sich nach klar definierten therapeutischen Standards:
• Anwendung evaluierter Therapieverfahren (1994, Universität Heidelberg);
• Förderung von fluider und kristalliner
Intelligenz (d.h. Förderung von Verarbeitungsgeschwindigkeit und Erfahrungswissen);
• Arbeiten mit sinnhaftem, sprachlich
korrektem und altersentsprechendem
Material;
• Kein Stress und Leistungsdruck in der
Therapiesituation, kein Gefühl von
Schule vermitteln;
• Erfolgserlebnisse schaffen;
• Respekt vor Autonomie und Persönlichkeit des Patienten.
Worin unterscheidet sich das Training
nach Stengel von anderen Methoden, z.B. Rigling oder dem Neurotraining von Verena Schweizer?
Generell möchte ich folgende Punkte
hervorheben, die meiner Meinung nach
das kognitive Training nach Stengel von
anderen Neurotrainings-Methoden unterscheiden:
• Das Therapiematerial ist nicht abstrakt
sondern sinnhaft, alltagsbezogene
Themen stehen im Zentrum.
• Es wird ohne Zeitvorgabe, also ohne
Leistungsdruck gearbeitet.
• Es sind Richtlinien für einen pädagogischen Ansatz vorhanden, die besonders in der Gruppentherapie von grossem Nutzen sind.
• Gezieltes Training aller Sinne wird
durchgeführt.
• Nicht nur Training der fluiden Intelligenz, sondern auch der kristallisierten
Intelligenz findet statt;
• Semantische und episodische Informationsvertiefung (auf Ebene der reinen
Fakten sowie auf der Ebene des persönlichen, gefühlsbetonten Wissens)
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wird durchgeführt, evtl. durch biographisches Arbeiten.
• Kognitive Strategien werden vermittelt;
• Kommunikation und soziale Kontakte
werden gezielt gefördert;
• Angehörigenberatung wird angeboten.
Ein differenzierter Vergleich von verschiedenen Methoden wäre sicher interessant.
Ist die Methode auch für das kognitive Training z.B. nach SHT oder nach
einem Insult geeignet oder nur bei
altersbedingtem Nachlassen des Gedächtnisses?
Diese Methode kann bei ganz unterschiedlichen Diagnosen eingesetzt werden, wie
z.B. Insult, SHT, Demenz, Alzheimer aber
auch bei psychischen Störungen.
Je nach Diagnose muss eine andere Methodik angewendet werden, sei dies
symptomorientiertes, umgekehrt symptomorientiertes oder allgemein geistig
aktivierendes Training. Je nach Diagnose
ist auch eher Einzel- oder Gruppentherapie indiziert.
Wenn die Gedächtnisleistungen
nachlassen (z.B. bei Demenz) oder
durch eine plötzliche Hirnschädigung
beeinträchtigt sind, kann dies ja ganz
unterschiedliche Ursachen haben.
Wird dies in diesem Behandlungskonzept unterschieden?
In der 1. Säule dieses Behandlungskonzeptes werden die kognitiven Übungen
in unterschiedliche Kategorien unterteilt.
• Übungen zum Training der Denk- und
Gedächtnisfunktionen: z.B. Abstraktionsvermögen, assoziatives Denken,
Beurteilen, Entscheiden, Denkflexibilität, geordnetes Denken, Kombinieren,
Konzeptbildung, logisches Denken,
Merkfähigkeit,… .
• Übungen zum Training von Konzentration
und Wahrnehmung: z.B. gerichtete
Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, Dauerkonzentration, sensorische
Wahrnehmung,… .
• Übungen zum Training der sprachlichen Funktionen, z.B. Wortfindung,
Formulierung, … .
Frau Dr. Franziska Stengel (geb. 1904)
war Medizinerin, Psychologin und Soziologin. Die «Pionierin des Gedächtnistrainings» lebte in Wien. Sie war lange
Jahre Chefärztin des grössten städtischen Altersheims in Wien-Lainz.
Neben wissenschaftlichen Aufsätzen
und Vorträgen zur Gerontologie und
Geriatrie, verfasste sie auch populärwissenschaftliche Bücher und Artikel.
Nach der Pensionierung begann sie ihre
Erfahrungen und Methoden aufzuschreiben. Mitte der 70er Jahre erschien ihr
erstes Buch über Hirnleistungstraining.
Bis kurz vor ihrem Tod 1994, erweiterte
sie aktiv ihr Programm zum Gedächtnistraining.
Beim symptomorientierten Training kann
mit Hilfe dieser Kategorien das Übungsprogramm gezielt auf die Problematik
des Patienten abgestimmt werden.
Ist die Methode für alle Altersgruppen geeignet?
Auch Jugendliche können sich sicher
schon für diese Art kognitiven Trainings
begeistern, dann natürlich alle erwachsenen Personen bis ins hohe Alter.
Wichtig ist zu erwähnen, dass diese Therapieform sprachorientiert ist und der Patient
deshalb ein gewisses Interesse an Kommunikation mitbringen muss, was, nach meinen Erfahrungen, die Teilnahme von Aphasikern aber nicht ausschliesst. (Sprachverständnis muss jedoch vorhanden sein).
Welche Therapiemittel werden nach
Stengel eingesetzt?
Das grundlegende therapeutische Mittel
ist die Kommunikation.
Das dazugehörige spielerische, aber erwachsenengerechte Material ist in Form
von Kopiervorlagen, Büchern mit vielen
Tipps und konkreten Übungsideen, als CD
für auditive Übungen oder als Hellraumfolien für visuelle Übungen erhältlich.
Weiteres Material für Geruchs- Geschmacks- oder Tastübungen kann jede
Therapeutin selber zusammenstellen.
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Sie haben die 5 Säulen des kognitiven Trainings nach Stengel erwähnt:
Kommen in der Ergotherapie alle
zum Zuge?
Das Training nach Stengel umfasst alle 5
Säulen. In einem Erstgespräch mit dem
Patienten wird abgeklärt, wo die Schwerpunkte liegen.
Welche Bereiche können mit der Methode nach Stengel nicht trainiert
werden?
Es gibt zwei Bereiche, die mit der Methode nach Stengel nicht gezielt therapiert
werden können:
Die räumliche Wahrnehmung und der
Umgang mit Zahlen, das Rechnen.
Wie lange muss so eine Therapie
durchgeführt werden, bis eine Verbesserung erkennbar wird?
Ich denke, für uns Ergotherapeutinnen
ist es wichtig, dass sich konkret im Alltag
des Patienten positive Veränderungen
einstellen.
Die kognitiven Übungen sind ein Teil der
Therapie, um die individuelle Selbständigkeit zu verbessern.
In meinem Berufsalltag mit hirnverletzten
Menschen im Alter von 20 bis 70 habe
ich gute Erfahrungen mit einem halben
Jahr «ganzheitlicher» Therapie gemacht.
Diese findet jeweils im Rahmen einer ambulanten Zweitrehabilitation statt (d.h.
nach einer 3- bis 6-monatigen stationären Rehabilitation in einer Spezialklinik).
In diesem Zeitraum gelingt es den meisten Patienten in ihrem veränderten Alltag
wieder Fuss zu fassen. Nach einer Therapiepause kann ein «Refresher» von ca.
drei Monaten angezeigt sein.
Im Rahmen der SIMA-Studie (vom Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg, 1991) wurde mit
gesunden Senioren, im Alter zwischen
75 und 93, ein Jahr lang ein ganzheitliches Gedächtnistraining, kombiniert mit
Bewegungsübungen, durchgeführt.
Auch vier Jahre nach Therapieende hatten diese Senioren noch bessere Ge-
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dächtnisleistungen als vor der Studie und
als die Kontrollgruppe. Im Vergleich zur
Kontrollgruppe wurden dementielle Prozesse verzögert und die Selbständigkeit
gefördert.
Kann das Gedächtnistraining nach
Stengel auch zur Abklärung von Defiziten dienen?
Das kognitive Training nach Stengel ist
kein Diagnosemittel. Es kann jedoch im
Verlauf der Therapie eine Verbesserung
der verschiedenen Hirnleistungen beobachtet werden.
Wird das Gedächtnistraining immer
von der Krankenkasse oder Unfallversicherung finanziert?
Bis jetzt wurde das Gedächtnistraining
immer von der Krankenkasse oder Unfallversicherung übernommen. Ausführliche Berichte unsererseits und auch von
Seiten des Arztes sind oft nötig.
Wann und von wem wird eine Evaluation durchgeführt?
Die Evaluation findet im Rahmen der
ganzheitlichen Ergotherapie statt. Sie
richtet sich nach den konkreten, alltagsorientierten Zielen des Patienten.
Kontakt
ergobern
Praxis für Ergotherapie Jacqueline Bürki
z.H. Priska Rothen
Riedweg 3
3012 Bern
An meinem Arbeitsort organisieren wir
uns folgendermassen:
• Es findet ein Erstgespräch mit dem Patienten und evtl. den Angehörigen
statt, um die Probleme des Patienten
und seiner Umgebung zu erfassen, um
konkrete Ziele zu vereinbaren (alltagsbezogen), um die Relevanz der 5 Säulen der Therapie zu bestimmen und das
Therapieprogramm festzulegen (oft
auch Ergotherapie mit dem Schwerpunkt Motorik/Sensorik oder Alltagstraining am Domizil des Patienten).
• Für die Verlaufskontrolle der therapeutischen Übungen besteht ein Beobachtungsprotokoll, das bei Bedarf durch
Ankreuzen ausgefüllt werden kann.
• Nach drei Monaten führen wir ein Gespräch mit dem Patienten, den Angehörigen und wenn möglich den beteiligten Therapeutinnen durch. Die gesetzten Ziele werden kontrolliert und
angepasst.
• Nach sechs Monaten findet ein Abschlussgespräch statt.
[email protected]
www.ergobern.ch
Für fundierte neuropsychologische Testinformationen sind wir auf die Berichte
der Neuropsychologen angewiesen.
[email protected]
www.rehapunkt.ch
Literatur
Stengel, Franziska; diverse Titel, memoVerlag, Stuttgart.
Oswald, W. D. (Hrsg.); Das SIMA-Projekt:
Gedächtnistraining – Ein Programm für
Seniorengruppen; 2. Auflage; Göttingen:
Hogrefe, 1998.
«Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbständigkeit im höheren Lebensalter (SIMA)». Studie der Universität
Erlangen-Nürnberg, geleitet von Wolf D.
Oswald, Gisela Rödel, 1991.
Weitere Informationen zu SIMA siehe
auch unter:
http://www.sima.geronto.uni-erlangen.de
weiterführende Literatur:
http://www.sima.geronto.uni-erlangen.
de/index.php?title=Gedaechtnistraining
&path=ged5
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13.12.2006 20:20:38 Uhr
Ein Fallbeispiel
Die ganzheitliche ergotherapeutische Behandlung mit Einzel- und
Gruppentherapie nach der Methode
Stengel
Es ist mir ein Anliegen aufzuzeigen, dass
es meiner Meinung nach für uns Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten
wichtig ist, die neuropsychologischen
Probleme eines Patienten nicht isoliert,
sonder integriert in den Gesamtkontext
anzuschauen. In meinem Beispiel möchte ich die Therapie gemäss den 5 Säulen
des kognitiven Trainings nach Stengel
beschreiben.
Frau K. ist 50-jährig und lebt mit ihrem
Mann in einer Eigentumswohnung am
Rande eines kleineren Dorfes. Sie haben
keine Kinder. Frau K. ist bis zu ihrem Schlaganfall als kaufmännisch Angestellte tätig.
Nach dem Insult mit Hemiplegie rechts und
Wortfindungsstörungen verbringt Frau K.
insgesamt 6 Monate in spezialisierten Kliniken zur stationären Rehabilitation.
Nach ihrer Rückkehr nach Hause wird sie
uns durch das Ärzteteam der Klinik in die
Ergotherapiepraxis zur ambulanten Rehabilitation überwiesen. Im Bericht der
Klinik steht, dass sich Frau K. in der Wohnung mit dem Rollator selbstbständig
fortbewegen kann, dass sie im Freien
aber auf den Handrollstuhl und eine
Hilfsperson angewiesen ist. Ferner wird
erwähnt, dass die Patientin in der rechten oberen Extremität einen erhöhten
Tonus aufweist, dass aber Grobmotorik
vorhanden ist. Wortfindungsstörungen
und eine verwaschene Sprache verursachen nach wie vor Probleme. Aus neuropsychologischer Sicht werden eine reduzierte Konzentrationsfähigkeit und eine
verminderte Belastbarkeit betont.
Als erstes lade ich Frau K. zusammen mit
ihrem Mann zu einem Erstgespräch zu
uns in die Praxis ein. Probleme zu Hause
und ihre persönlichen Zielsetzungen
kommen zur Sprache. Folgende konkrete Ziele kristallisieren sich heraus:
• Gegenstände in der Wohnung transportieren,
• einfache Malzeiten zubereiten,
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• Einkaufzettel schreiben und PC-Maus
bedienen können.
• Fähig sein, sich selbständig im Freien
fortzubewegen, d.h. für kleinere Einkäufe im Dorfladen und Spazieren mit
ihrem Hund (Pudel);
• Mehr Ausdauer haben, weniger schnell
ermüden;
• Wieder wagen unter Leute zu gehen,
Kontakte zu knüpfen;
• In reduziertem Masse Integration an
den alten Arbeitsplatz.
Aufgrund dieser konkreten Ziele kann
ich die Therapieplanung vornehmen.
Von Vorteil ist, dass in der Praxis, in der
ich arbeite, ein Tagestreff für hirnverletzte Menschen angeboten wird. Das Angebot umfasst ein ganzheitliches Therapieangebot innerhalb eines Tages, und zwar
einmal pro Woche. Am Morgen findet
eine Gruppentherapie statt, in der die
kognitiven Übungen nach Stengel mit ihren sozialen und kommunikativen Aspekten im Zentrum stehen. Danach essen wir in einer Cafeteria gemeinsam zu
Mittag. Nach einer Siesta – mit der Möglichkeit sich hinzulegen – geht das Programm am Nachmittag mit einer offenen
Gruppentherapie weiter. Hier geht es um
alltagspraktische Handlungen.
Am Nachmittag finden auch Einzeltherapien statt. Ergotherapie, Physiotherapie,
Logopädie und psychologische Beratung
sind nach Bedarf möglich.
Nach Absprache mit dem Hausarzt und
mit einer Kostengutsprache der Krankenkasse für 6 Monate (Einzel- und zweimal Gruppentherapie), können wir mit
der Arbeit beginnen.
Frau K. besucht einmal pro Woche unseren Tagestreff. In der Morgengruppe, mit
dem Schwerpunkt kognitives Training
nach Stengel (1., 2., 3. Säule), stehen folgende Ziele im Zentrum: Steigerung von
Konzentration und Belastbarkeit, Anwenden der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten, wagen mit anderen Menschen
Kontakt aufzunehmen.
Frau K., sowie auch die anderen Gruppenteilnehmer, treffen um 9.30 Uhr bei
uns in der Praxis ein. Schlussendlich sind
es acht hirnverletzte Menschen, im Alter
von 45 bis 70 (Diagnosen: CVI, SHT), die
sich im Gruppenraum um einen grossen
Tisch versammeln. Wir starten den Morgen mit einem Kaffee und ungezwungenem Gespräch. Die Betroffenen bekommen Raum, um von Erlebtem zu berichten oder um konkrete Alltagsprobleme
miteinander zu besprechen. Alle können
voneinander profitieren.
Die kognitiven Übungen beginnen um
10.00 Uhr und dauern bis 11.30 Uhr. Es
ist ein allgemein geistig aktivierendes
Trainingsprogramm. Diese Art ist für gemischte Gruppen am meisten geeignet.
«Was kommt ihnen zur Farbe ROT in den
Sinn?», «Mischen sie die Buchstaben des
Wortes SONNENSCHIRM durcheinander,
es müssen nicht alle Buchstaben verwendet werden. Welche neuen Wörter entstehen?», «Eine Tanne wird durch Bienen
bestäubt – ist das richtig oder falsch?»,
«Hornisse, Hummel, Drohne, Wespe –
nur eines dieser vier Insekten erzeugt
Wachs, welches? – Schauen wir doch im
Lexikon nach, oder kann dies jemand zu
Hause im Internet tun?», «An was werden sie durch folgende Geräusche erinnert, wo haben sie diese schon gehört?»,
«Haben sie auch schon den Schlüssel
oder die Brille nicht mehr gefunden? Was
kann man dagegen tun, haben sie
Ideen?». Wir sammeln diese Ideen und
ich ergänze.
Die wichtigsten Merkmale dieser Übungen in der Gruppe sind:
– Pro Gruppentherapie wird mit dem
Kurzzeitgedächtnis, aber auch mit Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gearbeitet.
– Die Informationstiefe wird im Gespräch
und mittels Nachschlagen im Lexikon
verbessert.
– Der Schweregrad der Übungen wechselt.
– Verschiedene Sinne werden bewusst
angesprochen (mehrkanaliges Lernen).
– Eine Bewegungsübung wird integriert.
– Eine Denkstrategie oder Mnemotechnik wird vermittelt.
– Das Training ist nicht themenzentriert.
– Ein Flipchart oder Hellraumprojektor
kann als Hilfsmittel eingesetzt werden.
– Arbeitsblätter zum schriftlichen Festhal-
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ten von Antworten können je nach Möglichkeit des Patienten benützt werden.
– Bei Bedarf werden Pausen eingelegt.
– Alle Teilnehmer fühlen sich angesprochen, Antworten werden auf Zuruf
gegeben.
Es ist schön, die Reaktion von Frau K.,
aber auch von den anderen Teilnehmern,
zu beobachten. Frau K. meldet sich trotz
ihren Hemmungen wegen der verwaschenen Sprache immer häufiger zu
Wort. Die Gruppenmitglieder sprechen
sich direkt untereinander an. Niemand
hat Angst etwas Falsches zu sagen, es
wird viel gelacht.
In der Nachmittagsgruppe (u.a. 4. Säule
des Konzeptes nach Stengel) kann Frau
K. mit einfachen Hilfsmitteln in der Küche
hantieren und lernt handwerkliche Tätigkeiten kennen, die sie bei Bedarf zu Hause als Hobby wieder aufnehmen kann.
Frau K. hat, integriert in den Tagestreff,
eine Stunde Logopädie und eine Stunde
Einzel-Ergotherapie. In der Ergotherapie
(u.a. 4. und 5. Säule des Konzeptes nach
Résumé
L’entraînement de la mémoire selon
Franziska Stengel
Madame Franziska Stengel (née en 1904)
était médecin, psychologue et sociologue.
Après avoir terminé ses études, elle dirigea
un home pour personnes âgées à Vienne
en tant que médecin-chef. A sa retraite,
elle commença à mettre par écrit ses expériences et ses méthodes. Son premier livre
sur l’entraînement de la mémoire parut au
milieu des années 70. Madame Stengel
est décédée à l’âge de 94 ans.
Les principes de base de l’entraînement cognitif selon Stengel
La méthode part de l’hypothèse que la
plasticité neuronale du cerveau est permanente («Use it or loose it») et s’oriente
vers des méthodes d’entraînement cognitives scientifiques clairement définies.
• Mise en pratique de procédures thérapeutiques évaluées (1994 à l’Université
d’Heidelberg).
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Stengel) stehen die Graphomotorik und
der Umgang mit der Maus im Zentrum.
An einem anderen Tag der Woche besucht Frau K. die Physiotherapie in ihrem
Dorf. Zusätzlich, aber auf neunmal befristet, hat Frau K. noch Ergotherapie zuhause. In dieser Stunde übt sie das Zubereiten
von einfachen Malzeiten in ihrer eigenen
Küche und das Transportieren von Gegenständen in der Wohnung. Die Mobilität im Freien, mit oder ohne Hund, ist
auch ein Thema. Die Anschaffung eines
Elektrorollstuhls oder eines Scooters wird
mit Hilfe von Fachpersonen abgeklärt.
Nach drei Monaten intensiver Therapie
treffen wir uns zu einem Rehabilitationsgespräch. Die beteiligten Therapeutinnen,
die Patientin, ihr Ehemann und ihr früherer Arbeitgeber sind anwesend. Die Ziele
werden überprüft und angepasst. Auch
der Ehemann kann seine Probleme schildern. Im Gespräch kann eine Lösung gesucht werden (5. Säule des Konzeptes
nach Stengel). Da sich Frau K. eine teilweise Rückkehr an den Arbeitsplatz erhofft,
• Présence de directives à but pédagogique, très utiles en particulier en thérapie de groupe.
• Stimulation de l’intelligence fluide et
cristallisée (c.-à-d. stimulation de l’aptitude à trouver de nouvelles solutions et
du savoir accumulé par les expériences
antérieures); entraînement des diverses
fonctions du cerveau telles que concentration, mémoire immédiate, recherche de mots, formulation et reproduction; actualisation des connaissances générales, stimulation, motivation
de l’intérêt pour l’environnement; entraînement ciblé de tous les sens.
• Travailler avec du matériel et un langage correct adaptés à l’âge; maintenir et
entraîner les aptitudes intellectuelles
pour retarder les démences, maintenir
l’autonomie.
• Pas de stress ou de pression sur le résultat en situation de thérapie / ne pas leur
donner l’impression d’être à l’école.
• Créer des situations de réussite pour
renforcer leur confiance en eux.
• Respect de l’autonomie et de la per-
kann sich der Arbeitgeber bei dieser Besprechung über den momentanen Stand
orientieren und sich Gedanken über seine
Möglichkeiten machen. Er ist sehr engagiert, ein Arbeitsversuch wird geplant.
Nach den sechs Monaten Tagestreff wird
eine Therapiepause von ca. 3–6 Monaten eingelegt. Während dieser Zeit kann
Frau K. das Gelernte im Alltag anwenden. Neue Fragen werden auftreten, die
als Zielgrundlage für einen Auffrischungskurs dienen. Dies hat sich laut unseren
Erfahrungen sehr bewährt.
Mit einer Kombination von Einzel- und
Gruppentherapie ist das Arbeiten mit
dem Konzept nach Stengel – natürlich
auch ohne Tagestreff – sehr gut möglich.
Diese Art zu arbeiten bringt viele konkrete
Erfolgserlebnisse für den Patienten und ist
auch für uns Ergotherapeutinnen sehr befriedigend. Das Konzept des kognitiven
Trainings nach Stengel bietet die Möglichkeit, uns im – oft nicht gut fassbaren –
Feld der neuropsychologischen Störungen
kompetent zu positionieren – und es
macht wirklich auch immer wieder Spass.
sonnalité du patient.
• Pas de procédure axée sur un thème.
• Stimuler l’assimilation approfondie des
informations.
• Encourager les contacts sociaux, la
communication et ainsi les compétences socio-émotionnelles; consultation
des proches. Traiter les patients en adultes et respecter leur environnement.
Les cinq piliers de la méthode Stengel
1er pilier: l’entraînement de la mémoire
par des exercices cognitifs particuliers.
Ces exercices éveillent la curiosité des
personnes concernées. Ils stimulent tous
leurs sens, la pensée concrète et créative
tout comme la communication. Ils soutiennent l’approfondissement sémantique et épisodique, ils aident à l’encodage
et au décodage du savoir tout en associant le mouvement.
2e pilier: transmettre des stratégies cognitives et mnémotechniques.
3e pilier: donner des aides externes à la
mémoire (agenda, plans du jour, checklists, lieux de rangement automatisés, …).
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4e pilier: entraînement comportemental du patient, par exemple dépister et alléger les blocages (journal de la mémoire),
vaincre le stress, analyser l’espace vital.
5e pilier: entraînement concret au ménage et consultation des
proches.
Voici les types d’exercices
• Jeux de mots et de lettres;
• Jeux de mots et de langue;
• Jeux de réflexion, de reproduction, de connaissances;
• Jeux de réflexion, de structuration et de catégorisation;
• Exercices des sens: la vue par l’observation d’images, l’ouïe
par des enregistrements de bruits, le toucher par la palpation et la description d’objets, l’odorat par diverses odeurs,
le goût par la dégustation (important: pour le toucher,
l’odorat et le goût, la rapidité n’est pas primordiale, il s’agit
plutôt de décrire, de faire des hypothèses et de réveiller des
souvenirs).
Critères lors du choix des exercices
• Entraînement général de stimulation du mental (stimulation
large, par ex. en thérapie de groupes avec divers diagnostics), entraînement pondéré de diverses fonctions du cerveau.
• Entraînement orienté vers les symptômes: orienté vers la carence, par ex. pour les personnes ayant une blessure cérébrale, nécessite un bon diagnostic (neuropsychologues),
principalement en thérapie individuelle.
• Entraînement inverse aux symptômes: basé sur les aptitudes
existantes, par ex. pour les personnes atteintes de démence,
accent sur les situations de réussite. L’approfondissement
biographique est également important, il sert d’ancrage
dans le passé. Se prête à la thérapie individuelle pour les
personnes atteintes de démence. oder das Arbeiten in
Kleingruppen
Il y a deux domaines qui ne peuvent pas être soignés par
la méthode selon Stengel:
• La perception de l’espace.
• Le rapport avec les chiffres, le calcul.
Il faut souligner que cette forme de thérapie est orientée vers
le langage et que le patient doit donc montrer un certain intérêt pour la communication. Ceci n’exclut toutefois pas la
participation d’aphasiques. (La compréhension du langage
est cependant requise).
(t: K. Siegenthaler)
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