Leitliniengerechte Therapie bei multimorbiden Patienten

Transcrição

Leitliniengerechte Therapie bei multimorbiden Patienten
Klinik für
Altersmedizin
RuhrUniversität
Bochum
Marienhospital
Herne
Widumer Str. 8
Leitliniengerechte Therapie bei
multimorbiden Patienten
Wie geht man damit um ?
44627 Herne
Fortbildung Verordnungssicherheit
Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein
Düsseldorf, 14. Januar 2009
U. Thiem, Ruhr-Universität Bochum
Übersicht
1. Die „neue“ Herausforderung in der Medizin:
chronische Krankheiten und Multimorbidität
2. Das therapeutische Dilemma:
Leitlinien-Empfehlungen und Multimorbidität
3. Die neue Sicht:
die Behinderung im Alltag bestimmt die Therapie
4. Konsequenzen:
auf dem Weg zu einem neuen Versorgungsmodell
Prävalente chronische Erkrankungen bei
Älteren in Deutschland
Patientenangaben
ICD-9 Code
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Fettstoffwechselstörung
Herzinsuffizienz
Osteoarthrose
koronare Herzkrankheit
(KHK)
Schlaganfall / zerebrovask.
Erkrankungen
Hypertonie
chronischer Rückenschmerz
periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)
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•
Osteoarthrose
Herzinsuffizienz
chronischer Rückenschmerz
Osteoporose
koronare Herzkrankheit
(KHK)
periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)
chronisch-obstruktive
Lungenerkrankung (COPD)
Schlaganfall / zerebrovask.
Erkrankungen
Berliner Altersstudie, 1996
Definitionen von Multimorbidität
Feinsteins Definition von Komorbidität [1967]
Komorbidität ist definiert als jede assoziierte
Erkrankung, die aus einer anderen Erkrankung
entsteht.
van den Akkers Definition der Multimorbidität
[1996]
Multimorbidität ist definiert als die Koexistenz oder
das gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehr
chronischen und / oder akuten Krankheiten oder
Gesundheitszuständen in einer Person.
Komorbidität und Multimorbidität
In Deutschland leiden
an mindestens zwei chronischen Erkrankungen
25% im Alter von ≥ 55 Jahren
67% im Alter von ≥ 80 Jahren,
an mindestens fünf chronischen Erkrankungen
12% im Alter von ≥ 55 Jahren
24% im Alter von ≥ 80 Jahren.
Berliner Altersstudie, 1996; Deutsches Zentrum für Altersfragen 2006
Auswirkungen von Multimorbidität
Polypharmazie
Gesellschaft
Arztbesuche
Psychologische Last
Angehörige
Patient
Therapeuten
Abhängigkeit von
Pflegepersonen
Krankenhaus- / Pflegeheimversorgung
Behinderungen im
Alltag
körperliche Aktivität
Komplikationen
Gesundheitswesens
Verlust der
Selbständigkeit
Unklarheit über
Therapieziele
Lebensqualität
unerwünschte
(Arznei-)Wirkungen
Komplexität des
Therapieregimes
Belastung des
finanzielle Last
Beispiel: Osteoarthrose
Bei Arthrose haben bestehende Komorbiditäten /
Multimorbidität relevanten Einfluss auf:
- den selbstberichteten Allgemeinzustand
Ettinger, 1994; Hopman 1997
- die Lebensqualität
Caporali, 2005; Tuominen 2007
- funktionelle Einbußen und Behinderungen
Marks, 2002; van Schaardenburg 1994
- den Erfolg eines operativen Gelenkersatzes
Bischoff-Ferrari, 2004; Dunbar, 2004
- den Erfolg einer Rehabilitation
Lin, 2004
- die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens
Dominick, 2005
Leitlinien zu chronischen Krankheiten
Bedeutung und Vorteile von Leitlinien
(im Idealfall):
• systematische Zusammenführung der Evidenz
(evidenzbasierte / S3-Leitlinien)
• Empfehlungen „über die Evidenz hinaus“
• transparent in der Entscheidungsfindung
• konsentiert und praktikabel
Leitlinien zu chronischen Krankheiten
Nachteile von Leitlinien:
• Evidenz-„Bias“ durch Evidenzbasierung
(Fokus auf vermarktbare, meist pharmakologische Intervention)
• Fokus auf Mortalität als klassischer Endpunkt
• selten Berücksichtigung geriatrischer Aspekte
• selten Berücksichtigung der Problematik
Komorbiditäten bzw. Multimorbidität
Insuffizienz der Leitlinien
Ziel:
Entwicklung eines Behandlungsplans für eine
hypothetische, multimorbide Patientin
Patientin:
weiblich, 79 Jahre alt, chronisch-obstruktive
Atemwegserkrankung (COPD), Osteoporose,
Diabetes mellitus, Hypertonus, Polyarthrose
Leitlinien:
neun gebräuchliche US-amerikanische Leitlinien zu
chronischen Erkrankungen
Boyd, 2005
Insuffizienz der Leitlinien
Ergebnisse:
- zwei Leitlinien berücksichtigen keine älteren
Patienten, fünf Leitlinien keine Komorbiditäten
- nur drei Leitlinien geben Therapieempfehlungen
bei bestehender Komorbidität
- keine Leitlinie diskutiert den Einfluss der Komorbidität auf therapeutische Effekte
- Patientenperspektive und Lebensqualität werden
nicht systematisch erfasst oder gewichtet.
Boyd, 2005
Insuffizienz der Leitlinien
Therapie-Empfehlungen:
- 12 Medikamente
- 14 nicht-medikamentöse Therapien
- Empfehlungen widersprechen sich zum Teil
- pharmakologische Interaktionen und unerwünschte Wirkungen wahrscheinlich
- fünf Hausarztbesuche pro Jahr zwingend, aber
unrealistisch für die Realisierung der zum Teil
komplexen Probleme
Boyd, 2005
Das therapeutische Dilemma
Nachteile der krankheitsbezogenen Sicht
• Nationale und internationale Leitlinien sind
insuffizient bei Multimorbidität.
• Die Erreichbarkeit klinischer und funktioneller
Verbesserungen bleibt vielfach unklar.
• Es besteht eine Diskrepanz zwischen Patientenund Behandlersicht bezüglich der Therapieziele.
• Die Zielfindung geschieht nicht standardisiert.
Das Ende der Krankheits-Ära
Vorschläge von Tinetti & Fried (Am J Med, 2004)
1. Klinische Entscheidungen sollen durch die
individuellen Bedürfnisse und Präferenzen des
Patienten bestimmt werden und nicht primär durch
die zugrunde liegende Erkrankung.
2. Der Zustand des Patient wird aufgefasst als
Ergebnis komplexer Interaktionen biologischer,
genetischer, psychologischer, sozialer, Umwelt- und
weiterer Faktoren, und nicht als Resultat
pathophysiologischer Prozesse.
Das Ende der Krankheits-Ära
Vorschläge von Tinetti & Fried (Am J Med, 2004)
3. Die Therapie orientiert sich an beeinflussbaren
Faktoren, Symptomen und Einschränkungen
und weniger auf vermuteten oder tatsächlichen
Ursachen oder kausalen Zusammenhängen.
4. Die Wahl der Therapieziele wird durch die
Präferenzen des Patienten bestimmt, wobei die
Lebensdauer / Überlebenszeit nur eine von vielen
konkurrierenden Zielvariablen ist.
Multimorbidität und Behinderung
therapeutische Intervention
akute und / oder
chronische Krankheiten
Behinderung
funktionelle
Defizite, Symptome
Multimorbidität und Behinderung
akute und / oder
chronische Krankheiten
Behinderung
funktionelle
Defizite, Symptome
Multimorbidität und Behinderung
therapeutische Intervention
akute und / oder
chronische Krankheiten
Behinderung
funktionelle Defizite,
Symptome
Multimorbidität
Konsequenzen der neuen Sicht
für den behandelnden Arzt:
•
Priorisierung der Therapieziele im Dialog mit dem
betroffenen Patienten
– Erfassung der Behinderungen im Alltag durch
chronische Erkrankungen und Multimorbidität
– Gewichtung der Behinderungen (vor allem) durch den
betroffenen Patienten
– Gewichtung der Behinderungen nach Therapierbarkeit
durch den Arzt
•
regelmäßige Aktualisierung der Erfassung und Gewichtung
von Behinderungen
Konsequenzen der neuen Sicht
für den andere Ärzte:
• Therapievorschläge nur bedeutsam, wenn
vereinbar mit der bestehenden Priorisierung der
Therapieziele
für den betroffenen Patienten:
• Notwendigkeit der Entscheidung über prioritäre
Therapieziele
• Akzeptanz negativer Gesundheitsfolgen durch
die Priorisierung
Konsequenzen der neuen Sicht
für die Gesellschaft:
• Bereitstellung der notwendigen Ressourcen zur
Priorisierung (adäquate Vergütung !)
für die Forschung:
• Evaluation geeigneter Instrumente und Verfahren
zur Erfassung und Gewichtung der Behinderung
und der Priorisierung der Therapieziele
• Evaluation der gesundheitlichen und sonstigen
Folgen der Priorisierung
Zusammenfassung
1. Chronische Erkrankungen und Multimorbidität
sind ein zunehmendes Problem in der alternden
Gesellschaft.
2. Eine vorwiegend krankheitszentrierte Sicht,
auch manifestiert in Leitlinien, verschärft das
bestehende therapeutische Dilemma.
3. Eine patienten-orientierte, die Behinderung im
Alltag fokussierende Sicht weist möglicherweise
den Weg in ein verbessertes Management von
Multimorbidität.