Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Frauke Surmann · Ästhetische In(ter)ventionen
Frauke Surmann
Ästhetische In(ter)ventionen
im öffentlichen Raum
Grundzüge einer politischen Ästhetik
Wilhelm Fink
Gedruckt mit Unterstützung der Richard Stury Stiftung
Diese Arbeit wurde im Jahr 2013 als Dissertation (D188) am Fachbereich Philosophie
und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht und verteidigt.
Umschlagabbildung:
© Fotografie von David Hausen, Dead Horse Inn
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5789-9
INHALT
INHALT
INHALT
1.
WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? ................................. 011
1.1. Frozen Grand Central als Paradigma einer ästhetischen In(ter)vention ....
1.2. Frozen Grand Central als Aufführung eines performativen Grenzgangs ...
1.2.1. Räumlicher Grenzgang ................................................................
1.2.2. Körperlicher Grenzgang...............................................................
1.2.3. Ereignishafter Grenzgang.............................................................
1.2.4. Grenzgang zwischen Politik und Ästhetik ....................................
1.2.5. Die Analyse ästhetischer In(ter)ventionen als methodischer
Grenzgang ...................................................................................
1.3. Genealogische Spuren einer interventionistischen Ästhetik.....................
1.3.1. Semiotische Guerilla & Culture Jamming....................................
1.3.2. New Genre Public Art & Relationale Kunst.................................
1.3.3. Die kulturelle Praxis des Pranks ..................................................
1.4. Aktueller Forschungsstand .....................................................................
2.
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031
032
039
046
053
DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS TOPOLOGISCHES
INSZENIERUNGSVERFAHREN ............................................................... 061
2.1. Zwischen abstraktem und sozialem Raum: Henri Lefebvres Theorie
der sozialen Raumproduktion ................................................................
2.2. Die ästhetische In(ter)vention als topologisches Inszenierungsverfahren
oder die Genese des Dead Horse Inn .......................................................
2.2.1. Ortung ........................................................................................
2.2.2. Räumung.....................................................................................
2.2.3. Verräumlichung...........................................................................
3.
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072
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DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS BÜHNE DES
BEGEGNENS.......................................................................................... 093
3.1. High Five Escalator ................................................................................. 094
3.1.1. Inszenierung eines sinnlich-sinnhaften Bruchs.............................. 096
6
INHALT
3.1.1.1. Der „Rolltreppenblick“ ...................................................
3.1.1.2. Dekontextualität und sinnlich-sinnhafter Bruch..............
3.1.2. Der Handschlag als relationaler Akt der Verkörperung ................
3.1.3. Die relationale Singularität der Begegnung ..................................
3.1.4. Der High Five Escalator als Bühne der Begegnung........................
3.2. Our Broken Voice....................................................................................
3.2.1. „For the next 30 minutes, you are not going to be yourself.“........
3.2.1.1. (Er)Nennung und Name ................................................
3.2.1.2. „You ARE Clare.“ / „YOU are CLARE.“ ........................
3.2.1.3. Verkörperte Präsenz im Grenzgang von Realität
3.2.1.3. und Fiktion ....................................................................
3.2.2. Die dingliche Umwelt als Medium und Partizipand ästhetischer
In(ter)ventionen ..........................................................................
3.2.3. Begegnungen mit der belebten Umwelt .......................................
3.2.3.1. Konzentration und Schärfung der Sinne .........................
3.2.3.2. Drei Stufen der gelenkten Aufmerksamkeit.....................
3.2.3.3. Begegnung als theatraler Wahrnehmungsmodus .............
3.2.4. Begegnung als gemeinschaftstiftender Akt....................................
4.
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DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS POLITISCHE PRAXIS
DER (MIT)TEILUNG ............................................................................. 129
4.1. Soziale Wende .......................................................................................
4.2. „..any use is a misuse!“ – Eine Politik der ästhetischen
Grenzerfahrung......................................................................................
4.2.1. Von der Kunst, Vergnügen zu bereiten. Zwischen taktischer
Frivolität und lustvoller Grenzerfahrung ......................................
4.2.2. Die Magie der Entgrenzung. Von der liminalen Erfahrung
ästhetischer In(ter)ventionen........................................................
4.3. Die Grenzerfahrung ästhetischer In(ter)ventionen als Praxis der
(Mit)Teilung..........................................................................................
4.3.1. (Mit)Teilung als singulär plurale Erfahrung .................................
4.3.2. Die vier Ebenen der (Mit)Teilung ...............................................
4.3.3. Wie ist das Mit der (Mit)Teilung beschaffen?...............................
4.4. Vergemeinschaftung vs. Vergesellschaftung ............................................
4.4.1. Vergesellschaftung als soziales Kontrollinstrument .......................
4.4.2. Die unschädlich gemachte Gesellschaft ........................................
4.4.3. Vergesellschaftung als Mittel der Deeskalation.............................
4.5. Die Politik der Vergemeinschaftung.......................................................
4.5.1. Politische Gemeinschaft im Zwischen des Mit-Seins:
„du (b(ist) / und) (ganz anders als) ich“ / „toi [e(s)t]
[tout autre que] moi“...................................................................
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INHALT
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4.5.2. Pluralität vs. Multitude ................................................................ 160
4.5.3. Die (Mit)Teilung als politische Praxis .......................................... 161
5.
DIE POLITIK DER FIKTION .................................................................. 167
5.1. Die ästhetische In(ter)vention als utopisches Performativ..........................
5.1.1. Arbeit der Fiktion: Grundzüge einer politischen Ästhetik.............
5.1.2. Das utopische Performativ der ästhetischen Gemeinschaft ...........
5.2. Die ästhetische In( )vention .................................................................
5.2.1. Die präfigurative Politik der ästhetischen In( )vention................
5.2.2. Die ästhetische In( )vention als kollektive Mythenbildung .........
5.2.3. The Tourist Lane ..........................................................................
5.3. „Smart Critiques. Stupid Creates.“ .........................................................
5.3.1. Vom Mythos zur Gewohnheit .....................................................
5.3.2. Interventionistische Inszenierungen von Öffentlichkeit ................
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„...mit einem Lächeln im Gesicht.“ Schlussbemerkungen
und Perspektiven ........................................................................................... 191
Dank ............................................................................................................. 199
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 201
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INHALT
Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund,
sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.
Gilles Deleuze
1. WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
„FROZEN GRAND CENTRAL“
1.1. Frozen Grand Central als Paradigma einer ästhetischen
1.1. In(ter)vention
Es ist Samstagnachmittag. In der Haupthalle des Grand Central Terminal
herrscht reger Verkehr. Während die einen von und zu den 44 Bahngleisen eilen,
ihre Blicke auf Anzeigentafeln, Mobiltelefone oder den Boden vor ihnen gerichtet, lassen andere, die am zentral gelegenen Informationsschalter mit der charakteristischen Messinguhr auf ihre Verabredung warten, ihren Blick über die gesamte Halle schweifen. Wieder andere versenken sich in ihre Reiseführer. Diese
lenken ihre Blicke mal auf den kunstvoll gestalteten Sternenhimmel in der Bahnhofskuppel, mal auf eines der zahlreichen symbolträchtigen innenarchitektonischen Details des zwischen 1903 und 1913 errichteten Bahnhofs. Insgesamt
750.000 Menschen werden im Laufe des Tages die Haupthalle des Grand Central Terminal frequentieren und in mehr oder minder festgeschriebenen Bewegungsströmen durchziehen.1
Gegen 14:15 Uhr mischen sich 207 Menschen unter die Menge. Der über eine Mailingliste ausgesprochenen Einladung Folge leistend sind sich diese kurz zuvor im nahe gelegenen Bryant Park erstmalig begegnet. Sie sind unterschiedlichen
Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft. In dieser Heterogenität fügen sie
sich zunächst nahtlos und von den übrigen Passanten unbemerkt in die die
Bahnhofshalle durchkreuzenden Bewegungsflüsse und Blicklinien ein: Sie studieren Fahrpläne, stellen sich in die Schlangen vor dem Informationsschalter oder
den Fahrkartenautomaten, telefonieren, lesen Zeitung, machen Fotos, verzehren
einen Snack. Dabei bewegen sie sich vollkommen autonom, so dass sie als Gruppe weder für Außenstehende noch füreinander – schließlich ist man auch den übrigen 206 Teilnehmern in den meisten Fällen erst kurz zuvor zum ersten Mal begegnet – erkennbar sind.
Um Punkt 14:30 Uhr halten alle nunmehr über die gesamte Haupthalle verteilten 207 Körper plötzlich in ihrer jeweils aktuell ausgeführten Bewegung inne.
Zu diesem Zweck haben sie im Vorfeld ihre Uhren miteinander abgeglichen, so
dass es hierfür keines weiteren Signals oder Zeichens bedarf. Für die nächsten
fünf Minuten wird jeder und jede Einzelne von ihnen in dieser eingefrorenen
Stellung verharren. Charlie Todd, Initiator dieses kollektiven Stillstands, be01 Vgl. hierzu die entsprechenden demografischen Daten unter
http://www.grandcentralterminal.com/info/eventplanning (20.05.2014).
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WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
schreibt eine Momentaufnahme der Situation, wie sie sich den zu diesem Zeitpunkt in der Bahnhofshalle anwesenden Passanten offenbarte, folgendermaßen:
One agent dropped a stack of papers and bent over to pick them up as he froze.
Two agents froze during a kiss for the entire five minutes. Many agents were
checking train schedules. Others were looking at their cell phones. Eating was
probably the most popular activity to do while freezing; one agent froze while
munching on a hot dog, another while eating a cookie, and another while eating
yogurt.2
Während einige Stellungen wie der fünfminütige Kuss ob ihres für diesen spezifischen Ort ungewohnten Anblicks, andere ob der physischen Herausforderung
wie sie beispielsweise ein über fünf Minuten in die Höhe gestreckter Arm darstellt, vornehmlich ein staunendes, bewunderndes Innehalten hervorrufen, stellen
andere Körper ganz konkrete, materielle Hindernisse im Bewegungsfluss dar: Sie
blockieren die Eingangstüren ebenso wie die Zugänge zu den Rolltreppen, verhindern das Aufrücken in Warteschlangen und versperren einem Reinigungsfahrzeug die Durchfahrt. Als räumliche Barriere nötigen die regungslosen Körper Passanten und Bahnhofsangestellte dazu, anzuhalten und ihnen gegebenenfalls auszuweichen. Direkte Berührungen werden dabei in den meisten Fällen tunlichst
vermieden. So durchziehen die regungslosen Körper die Haupthalle des Grand
Central Terminal Magnetfeldern gleich, die die Bewegungsströme umleiten und
neue Konzentrationspunkte, an denen sich Aufmerksamkeitslinien bündeln, produzieren.
Mit der gleichzeitigen Aussetzung der Bewegung von über 200 Körpern sinkt
der in der Haupthalle herrschende Geräuschpegel aus Schritten und Stimmen
schlagartig. Diese Eindämmung der Umgebungsgeräusche wird überdies noch
dadurch verstärkt, dass nun viele Passanten ihrerseits in ihrer Bewegung innehalten, um den Blick vom unmittelbaren Sichtfeld abzulösen und über die gesamte
Bahnhofshalle schweifen zu lassen, um so gleichsam das Ausmaß der Situation zu
ermessen. Viele nehmen überdies Kameras und Mobilfunkgeräte zur Hand, machen Fotos und filmen die regungslosen Körper. Einige suchen das Gespräch
miteinander, um ihrer Irritation angesichts des beigewohnten Geschehens Ausdruck zu verleihen und sich gegenseitig der eigenen Realitätswahrnehmung zu
versichern. „Reactions went from amusement to shock [...]. ‚They couldn’t decide
whether we were crazy or if they had gone crazy‘.“3 Gemeinsam versuchen einzelne Passanten, den Auslöser dieses ihnen unverständlichen Verhaltens auszumachen, sich seinen Grund zu erklären. Die Heterogenität ihrer Reaktionen zeugt
dabei von einer tiefen Verunsicherung darüber, wie gegenüber jener veränderten
02 Charlie Todd u. Alex Scordelis: Causing a Scene. Extraordinary Pranks in Ordinary Places with
Improv Everywhere. New York: HarperCollins, 2009, S. 101. Charlie Todd bezeichnet die Akteure der von ihm seit 2001 in New York initiierten Interventionen grundsätzlich als „Agenten“, die
seiner Terminologie entsprechend „Missionen“ ausführen.
03 Todd u. Scordelis 2009, S. 102.
„FROZEN GRAND CENTRAL“
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räumlichen und sozialen Situation, die sich jedem rationalen Zugriff zu entziehen
scheint, angemessen zu reagieren sei.
Nach Ablauf der fünf Minuten lösen sich die Körper um 14:35 Uhr unvermittelt aus ihrer Bewegungslosigkeit und gehen gleichsam kommentarlos wieder
in die vor dem Stillstand angesetzte Bewegung über. Vereinzelt wie sie gekommen waren, durchqueren sie den Raum in Richtung der Ausgänge und verlassen
nach und nach die Bahnhofshalle. Auf die Frage, warum sie soeben für fünf Minuten in einer Position verharrt hätten, antworten die Angesprochenen mit Ahnungslosigkeit. Sie geben sich weder als Gruppe noch als Ausführende einer choreographierten Aktion zu erkennen.
Zurück bleiben verblüffte Passanten und Bahnhofsmitarbeiter, denen die Irritation über das soeben Erlebte nach wie vor ins Gesicht geschrieben steht. Erst
nach einer leichten Verzögerung klatschen die Ersten vereinzelt in die Hände.
Mehr und mehr Passanten tun es ihnen gleich, bis sich das Klatschen zu einem
regelrechten Applaus verdichtet – wobei bis zuletzt unklar bleibt, wem oder was
hier eigentlich applaudiert wird. Der Applaus erhebt sich in einem Moment, da
die Akteure das Bahnhofsgebäude längst verlassen haben, bis schließlich auch die
Passanten wieder ihrer eigenen Wege gehen – viele von ihnen mit einem Lächeln
im Gesicht.
Es ist dieses Lächeln, das den ursprünglichen Anlass zur folgenden Untersuchung gab. Ein Lächeln mit ebenso vielen Implikationen wie Trägern und doch –
gerade in seiner unvereinbaren Heterogenität – gemeinschaftstiftend; ein unverhofftes und ansteckendes Lächeln, hervorgerufen durch die gemeinsame Erfahrung eines ebenso rätselhaften wie irritierenden Ereignisses. Diesem Lächeln auf
den Grund zu gehen, wie es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, macht es erforderlich, nach seinen Erscheinungsbedingungen und das heißt, nach der spezifischen Disposition desjenigen Ereignisses zu fragen, das jenes Lächeln überhaupt
erst hervorzurufen imstande war.
Wie also ist Frozen Grand Central im Einzelnen zu charakterisieren? Zunächst
einmal erweisen sich die in ihrer Bewegung innehaltenden Körper als konkreter
Eingriff in die symbolische Ordnung des öffentlichen Raums der Bahnhofshalle.
Die Körper intervenieren in die hier herrschenden Bewegungsströme, -rhythmen
und Verhaltenskonventionen und setzten deren allgemeingültige Verbindlichkeit
vorübergehend außer Kraft. Grundsätzlich handelt es sich bei Frozen Grand Central also um eine Intervention in den öffentlichen Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum, die auf einer ebenso wahrnehmungsästhetischen wie handlungsbezogenen Ebene operiert.
Im Vollzug ihres interventionistischen Erscheinens realisiert sich dabei vorübergehend zugleich eine alternative Organisation des soziopolitischen Raums.
Die erstarrten Körper transformieren die Bahnhofshalle als hektischen Durchgangsort vorübergehend in eine Art unbewegtes Standbild. Diese temporär aufscheinende Modifikation der öffentlichen Ordnung evoziert zugleich eine kollektive Konstitutionsleistung, die sich in einer innovativen, schöpferischen Rauminterpretation und -nutzung artikuliert. Frozen Grand Central zeugt demnach von
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WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
einer Ambivalenz, in der sich der Akt der Intervention in den öffentlichen Raum
mit einem Akt der Invention im Sinne der gemeinschaftlichen Er-Fahrung und
Er-Findung eines punktuell umgestalteten Raums miteinander verschränken. Um
diese eigentümliche Verschränkung begrifflich zu fassen, wurde die Schreibweise
der „In(ter)vention“ zur Bezeichnung des von Frozen Grand Central hier gleichsam stellvertretend repräsentierten Untersuchungsgegenstands gewählt.
Dieser der In(ter)vention eingeschriebenen Ambivalenz ist dabei zugleich eine
wesentlich performative Ästhetik inhärent. Vor diesem Hintergrund wird die
In(ter)vention im Folgenden als „ästhetische In(ter)vention“ zu spezifizieren sein.
Dabei erweist sich die ästhetische In(ter)vention insbesondere dadurch als performativ, dass sie „das, was sie bezeichne[t], zugleich [...] vollzieh[t]“4: Sie interveniert in die Realität des soziopolitischen Raums und bringt im Zuge dessen
gleichsam eine alternative Wirklichkeitserfahrung hervor. Die ästhetische In(ter)vention offenbart sich somit als „eine besondere Form von Konstitutionsleistung,
bei der ein symbolisches Tun [...] weltverändernde Kraft bekommt“.5
Mit Krämer und Stahlhut lässt sich die eigentümliche Performativität ästhetischer In(ter)ventionen noch genauer als eine radikale Form des Performativen
identifizieren. Auf einer dreiteiligen Differenzierung basierend unterscheiden
Krämer und Stahlhut zwischen einem schwachen, starken und radikalen Performativitätsmodell. Während das schwache Performativitätsmodell ganz allgemein
die Handlungs- und Gebrauchsdimension der Rede anzeigt, wird mit dem starken Performativitätsmodell hingegen vielmehr die genuine Konstitutionsleistung
der Sprache hervorgehoben, im Zuge derer „Weltzustände nicht nur repräsentiert, sondern vielmehr konstituiert und verändert werden“6.
Dem radikalen Performativitätskonzept eignet über die den anderen beiden
Konzepten inhärente Selbstreferentialität und wirklichkeitserzeugende Kraft hinaus eine eigentümlich subversive Qualität. Als radikal performativ offenbaren sich
demnach insbesondere solche Akte, die in bestehende symbolische Ordnungen
eingreifen und diese in ihrer anerkannten – im Wesentlichen auf Dichotomien
des Ein- und Ausschlusses beruhenden – Stabilität unterlaufen, indem sie gerade
das Marginale dieser Strukturen zur Aufführung bringen.7 So setzten Akte radi04 Vgl. hierzu Sybille Krämer u. Marco Stahlhut: „Das ‚Performative‘ als Thema der Sprach- und
Kulturphilosophie“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10.1
(2001): Theorien des Performativen. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulf, S. 35-64,
S. 57.
05 Ebd.
06 Ebd., S. 55. Obschon die Grundlagen ihrer Argumentation wesentlich sprachphilosophischer
Natur sind, impliziert der von Krämer und Stahlhut in Anschlag gebrachte Begriff des Performativen einen transdisziplinären und somit in Hinblick auf die vorliegende Untersuchung produktiven Bedeutungshorizont. Entsprechend betonen Krämer und Stahlhut, dass Performativität „keineswegs nur in und durch Sprache, sondern im Medium jedweden symbolischen Handelns“ in
Erscheinung treten kann. Ebd., S. 56.
07 Vgl. ebd. In ihrer radikalen Performativität ist die ästhetische In(ter)vention dem Humor sowie
der Ironie verwandt. In Analogie hierzu charakterisiert Simon Critchley den Humor als subversive, weil mit den Mitteln der Macht operierende, selbst machtlose Macht („powerless power“).
„FROZEN GRAND CENTRAL“
15
kaler Performativität wie die ästhetische In(ter)vention realitätskonstituierende
Dichotomien in einem transgressiven Akt der Grenzüberschreitung vorübergehend außer Kraft. Dadurch aber machen sie die von ihnen überschrittene Grenze
sowie die Bedingungen ihrer Grenzziehung nicht nur sicht-, sondern im Zuge
dessen zugleich hinterfrag- und verhandelbar. In seiner radikalen Performativität
unterläuft Frozen Grand Central die für den öffentlichen Raum der Bahnhofshalle
konstitutive Dichotomie, die ein für eine Bahnhofshalle angemessenes von einem
unangemessenen Verhalten scheidet, sowohl direkt durch das Aussetzen als auch
indirekt durch die Behinderung anerkannter Verhaltenskonventionen und erweist
sich somit gleichsam als paradigmatische Manifestation einer radikalen Performativität, wie sie sich für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen als konstitutiv erweist.
In ihrer radikalen Performativität bringt die ästhetische In(ter)vention eine soziopolitische Realität zur Aufführung, die sich bestimmten, den öffentlichen
Wahrnehmungsraum organisierenden, Restriktionen widersetzt. Indem sie den
Sinn der Situation, das heißt, die Wahrnehmungsordnung ihres sinnlich-sinnhaften Rahmens, punktuell überschreitet, inszeniert die ästhetische In(ter)vention
einen performativen Widerspruch zu den situativen Rahmenbedingungen ihres
Erscheinens.8
Dieser performative Widerspruch manifestiert sich in Form eines temporär
aufscheinenden, sich über normative Konventionen hinwegsetzenden (Ver)Handlungsspielraums, der erst im und durch den kollektiven Akt einer Grenzüberschreitung entsteht, um zugleich mit ihm auch wieder zu vergehen. Die ästhetische In(ter)vention realisiert sich folglich in einem radikal performativen Prozess
der gemeinschaftlichen Verräumlichung und Verkörperung einer transitorischen
Differenz, worin sich mit Judith Butler zugleich die wirklichkeitskonstituierende
Praxis einer „performativen Politik“ manifestiert.9
Simon Critchley: Infinitely Demanding: Ethics of Commitment, Politics of Resistance. London, New
York: Verso, 2007, S. 124.
Dieser Aspekt der subversiven Aneignung von Machttechniken findet sich auch in Baz Kershaws
Analyse der Ironie wieder, deren methodische Zielsetzung er darin verortet, „to defeat the opponent on his own ground by pretending to accept his premises, his values, his methods of
reasoning, in order to expose their implicit absurdity“. Baz Kershaw: The Politics of Performance:
Radical Theatre as Cultural Intervention. Abingdon: Routledge, 1992, S. 81. Bezüglich der Verwandtschaft ästhetischer In(ter)ventionen mit dem Witz vgl. schließlich Dick Veloso Chow: How
to do Things with Jokes: The Political Dimension of Performance Comedy. London: Central School
of Speech and Drama, 2010 [Unveröffentlichtes Manuskript], insbes. S. 10.
08 Judith Butler hat das für die ästhetische In(ter)vention konstitutive Modell eines performativen
Widerspruchs insbesondere in Bezug auf Sprechakte theoretisiert. Vgl. Judith Butler: „Sovereign
Performatives in the Contemporary Scene of Utterance“. In: Critical Inquiry 23.2 (1997), S. 350377; Judith Butler u. Gayatri Chakravorty Spivak: Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich, Berlin:
Diaphanes, 2007.
09 Butler u. Spivak 2007, S. 44. Als „performative Politik“ bezeichnen Butler und Spivak eine Praxis, deren politische Qualität sich nicht in Beweggründen, Intentionen oder Darstellungsformen,
sondern in der radikalen Performativität grenzüberschreitender und somit Differenz produzierender Prozesse der Verkörperung, Verräumlichung und Gemeinschaftsbildung manifestiert.
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WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
Als derart performativer Widerspruch interveniert die ästhetische In(ter)vention nicht nur in einen sinnlich-sinnhaften Bezugsrahmen, sondern eröffnet im
Zuge dieser Intervention zugleich ein Austragungsfeld für die Produktion von
Sinn, das heißt für die gemeinsame, affektiv-relationale Konstitution eines Wirklichkeitsmoments. Was die an jenem Samstag Nachmittag in ihrer Bewegung innehaltenden Körper bedeuteten, wie man ihnen angemessen begegnete und welche Implikationen sie sowohl für die konkrete als auch für eine mögliche zukünftige Raumnutzung hatten, mussten sich die Passanten der Grand Central Station
durch konkretes Austesten sowie im kommunikativen Austausch miteinander
überhaupt erst erschließen und im mit der ästhetischen In(ter)vention gleichsam
aufscheinenden (Ver)Handlungsspielraum in einer Art unabschließbaren Testreihe ausprobieren. Im Moment ihres Erscheinens setzen ästhetische In(ter)ventionen wie Frozen Grand Central die Verbindlichkeit vertrauter Verhaltensregulative, Zeichensysteme und Interpretationsmechanismen vorübergehend außer Kraft
und inszenieren an ihrer Statt folglich einen (Ver)Handlungsspielraum alternativer Setzungsmöglichkeiten. Dem Akt des radikalen Aussetzens korreliert demnach immer schon ein Akt der kreativen Setzung.10 Der durch die ästhetische
In(ter)vention hervorgebrachte (Ver)Handlungsspielraum setzt in anderen Worten ein schöpferisch-gestalterisches Potential frei, das unmittelbar in der alltäglichen Erfahrungswelt wirkt, ohne sich den hier herkömmlicherweise geltenden
Regeln unterwerfen zu müssen. In dieser Gleichzeitigkeit von systemimmanentem Bruch und systemwidriger Setzung ebnet die ästhetische In(ter)vention als
Ausübung eines performativen Widerspruchs einer politischen Ästhetik den Weg,
deren spezifischer Qualität mit dieser Arbeit auf den Grund gegangen werden
soll.
1.2. Frozen Grand Central als Aufführung eines performativen
1.2. Grenzgangs
„FROZEN GRAND CENTRAL“ ALS AUFFÜHRUNG
Stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen lässt sich Frozen
Grand Central in der ihr inhärenten, radikal performativen Ästhetik zunächst
einmal grundlegend als Aufführung charakterisieren. Als Aufführung beginnt die
In(ter)vention in dem Moment, da die Körper als Stillgestellte in Erscheinung
treten und sich im Zuge ihres Erscheinens von den Körpern der zufälligen Passanten absondern. Auf Grundlage dieser leiblichen Ko-Präsenz konstituiert sich
eine Aufführungssituation, die wesentlich auf der gleichzeitigen räumlichen Anwesenheit von Akteuren und Zeugen beruht. Eine als Aufführung verstandene,
ästhetische In(ter)vention ereignet sich folglich als in ihrer Dauer und ihrem Ort
10 Hans-Thies Lehmann zufolge zeugt bereits der Akt des Aussetzens von einer politischen Geste.
Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater (1999). Frankfurt a.M.: Verlag der
Autoren, 2008, S. 450 u. S. 459.
AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS
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bestimmte Begegnung zwischen einen interventionistischen Akt vollziehenden
auf der einen und einen interventionistischen Akt bezeugenden Teilnehmern auf
der anderen Seite. Dabei handelt es sich um eine konkrete, körperbasierte, sinnlich-sinnhafte Form der Begegnung, die immer auch schon ein Tun impliziert.
Während die Anwesenheit der stillgestellten Körper überhaupt erst durch ein
Tun, beziehungsweise das tätige Aussetzen eines Tuns, in Erscheinung tritt, avanciert jede singuläre Reaktion oder Unterlassung einer Reaktion in der Begegnung
mit den stillgestellten Körpern ebenfalls zu einem aufführenden Tun. Als für eine
ästhetische In(ter)vention konstitutiv erweist sich folglich die gleichzeitige, tätige
Anwesenheit von Akteuren und ihre Aktivität Bezeugenden an einem bestimmten
Ort zu einer bestimmten Zeit.
Während Frozen Grand Central in diesem Sinne zunächst grundlegend als
Aufführung zu verstehen ist, macht ihre spezifische Disposition zugleich eine präzisierende Differenzierung dieser vorläufigen Setzung erforderlich. In ihrer radikalen Performativität offenbart sich jede ästhetische In(ter)vention gleichsam als
Aufführung eines performativen Widerspruchs. Der ästhetischen In(ter)vention
ist eine elementare Ambivalenz inhärent, wie sie sich bereits aus der Etymologie
des Begriffs der Intervention selbst ableitet: In(ter)ventionen treten im selben Augenblick als Unterbrechende ebenso wie als Vermittelnde in Erscheinung. In dieser agonistischen Spannung zwischen Akten des Aussetzens und Akten des Besetzens manifestiert sich die ästhetische In(ter)vention als performativer Grenzgang.
Dabei gilt es, fünf essentielle Grenzverläufe, wie sie sich als gleichermaßen
konstitutiv für die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand der
ästhetischen In(ter)vention offenbaren, voneinander zu differenzieren. Diese
umfassen im Einzelnen die Grenzverläufe zwischen divergenten Raum-, Körperund Zeitkonzepten ebenso wie den unentscheidbaren Grenzverlauf zwischen Politik und Ästhetik sowie die daraus resultierende Notwendigkeit eines methodischen Grenzgangs.
AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS
1.2.1. Räumlicher Grenzgang
So offenbaren sich ästhetische In(ter)ventionen zunächst als Aufführungen eines
räumlichen Grenzgangs. Im Moment ihres Erscheinens spannen sie sich als temporäre Zwischenräume innerhalb konkreter Alltagsräume auf. Diese beiden
Raumkonzepte setzen sie in eine wechselseitige Interdependenz zueinander, die
sie in Form eines performativen Widerspruchs zur Aufführung bringen.
Folglich ist die ästhetische In(ter)vention einerseits abhängig von dem jeweiligen Raum, in dem sie sich ereignet. Ihr Erscheinen ist dabei nicht nur an die
bloße Existenz, sondern auch an die spezifische Qualität ihres jeweiligen Erscheinungsraums gebunden. Ästhetische In(ter)ventionen sind also wesentlich ortsspezifisch, das heißt, sie können sich nicht an jedem beliebigen Ort ereignen. Stattdessen ist die individuelle Beschaffenheit des Ortes wesentlich konstitutiv für ihr
Erscheinen.
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WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
Dementsprechend stellte die Haupthalle der Grand Central Station eine maßgebliche Grundbedingung der eingangs geschilderten ästhetischen In(ter)vention
Frozen Grand Central dar. Erst an diesem hoch frequentierten, unpersönlichen
Durchgangsort, der weniger zum Verweilen als zu seiner zielgerichteten Durchquerung einlädt, konnte die körperliche Verweigerung des diesem Ort eingeschriebenen Verhaltensdispositivs zu einer bedeutungsvollen, interventionistischen Geste
werden. Als geschlossener, ebenerdiger Raum war die Haupthalle überdies von beinahe jedem Standpunkt aus gut zu überblicken, was die Sichtbarkeit einer Vielzahl
an Akteuren zur selben Zeit und damit das In-Erscheinung-Treten der ästhetischen
In(ter)vention als solcher garantierte. Stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen hing Frozen Grand Central also wesentlich von der spezifisch räumlichen Beschaffenheit ihres Erscheinungsraums ab.
In ihrer Ortsspezifik bedeuten ästhetische In(ter)ventionen stets eine punktuelle Veränderung des Raums, in dem sie sich ereignen. Indem sie wie Frozen
Grand Central beispielsweise Bewegungsströme umleiten oder Blockaden errichten, strukturieren ästhetische In(ter)ventionen die Räume, in denen sie erscheinen, vorübergehend um und reflektieren im Zuge dessen deren normative Konstitution und Funktionalität.
Ästhetische In(ter)ventionen gestalten also Räume, von deren ursprünglicher
Gestalt zugleich ihr Erscheinen abhängt. In dieser ihr wesentlich inhärenten Ambivalenz, die auf der Kollision zweier widersprüchlicher Raumkonzepte basiert,
ereignet sich die ästhetische In(ter)vention als Aufführung eines räumlichen
Grenzgangs.
1.2.2. Körperlicher Grenzgang
Außerdem bringen ästhetische In(ter)ventionen einen körperlichen Grenzgang zur
Aufführung. So sind ästhetische In(ter)ventionen nicht nur von den Orten ihres Erscheinens, sondern zugleich auch von den sie bevölkernden Körpern abhängig. Erst
durch die gemeinsame Anwesenheit mehrerer Körper in einem spezifischen Raum
tritt eine ästhetische In(ter)vention wie Frozen Grand Central überhaupt in Erscheinung. Ihr Vollzug basiert auf der leiblichen Ko-Präsenz zwischen Akteuren
und Zeugen eines interventionistischen Akts. Diese Ko-Präsenz stellt die Grundbedingung für Begegnungen im Sinne eines körperlichen Grenzgangs zwischen den
verschiedenen Teilnehmern einer ästhetischen In(ter)vention dar.
Der körperliche Grenzgang ermöglicht einzigartige Begegnungen mit den anderen Körpern ebenso wie mit dem eigenen Körper. Es sind dies sinnliche Begegnungen, wie sie „nicht nur Auge und Ohr, sondern das ‚Körpergefühl‘, der ganze
Körper synästhetisch vollziehen“.11 Im Zuge jenes Grenzgangs werden die Körper
der Teilnehmenden einer ästhetischen In(ter)vention füreinander als raumnehmende und raumschaffende Entitäten erfahrbar, die einem spezifischen Wechselspiel gegenseitigen Affizierens und Affiziertwerdens unterliegen.
11 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 54.
AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS
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Frozen Grand Central erweist sich insofern als paradigmatische Aufführung
eines körperlichen Grenzgangs, in dem die Konfrontation bewegter und unbewegter Körper das zentrale Moment ihres Erscheinens darstellt. Bewegte und unbewegte Körper standen hier in einer reziproken Wechselwirkung gegenseitiger
Affektion zueinander. Für die Akteure stellte das fünfminütige Verharren in einer
aus einer alltäglichen Bewegung heraus eingefrorenen Position an einem so belebten Ort wie der Haupthalle des Grand Central Terminal eine außergewöhnliche Begegnung mit dem eigenen Körper dar, wie sie sich nur in Relation zu anderen Körpern einstellen konnte, die sich dem diesem Ort angemessenen Verhaltensdispositiv entsprechend verhielten. Für die Körper der Passanten hingegen
bedeuteten die regungslosen Körpern zum Teil symbolische, zum Teil konkret
materielle Hindernisse, die sie in ihrem Bewegungsfluss störten oder diesen gar
vorübergehend unterbrachen. Diese Konfrontation mit dem Anderen implizierte
zugleich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den eigenen Körper und den in ihn
eingeschriebenen Verhaltensmustern und Routinen.
In einem körperlichen Grenzgang begegneten die Körper aller Teilnehmer von
Frozen Grand Central, die bewegten ebenso wie die unbewegten, folglich nicht
nur einander, sondern auch ihrer eigenen Körperlichkeit. Diese offenbarte sich
ihnen als Teil eines relationalen Körpergefüges, welches sie einerseits affizierte,
während sie in ihrer Körperlichkeit zugleich verändernd auf dieses Gefüge einwirkten. In dieser körperlichen Interdependenz, die auf der Konfrontation widersprüchlicher, sich gegenseitig in Frage stellender Körperkonzepte basiert, realisierte sich Frozen Grand Central stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen
als Aufführung eines körperlichen Grenzgangs.
1.2.3. Ereignishafter Grenzgang
Ästhetische In(ter)ventionen bringen überdies einen Grenzgang zwischen dem
Ereignis ihres Erscheinens und der Dauer ihres Erscheinungsraums zur Aufführung. Es ist dies ein zeitspezifischer Grenzgang, der auf der Kollision widersprüchlicher Zeitstrukturen basiert.
Als räumlicher und körperlicher Grenzgang ist die Aufführung der ästhetischen In(ter)vention wesentlich von Dynamiken der Interferenz geprägt, die sich
in ihrer Ereignishaftigkeit jeder finalen Aneignung entziehen. Diese räumlichen
und körperlichen Interferenzen realisieren sich in Form zufälliger und also temporärer, einmaliger und unwiederholbarer Begegnungen. Die Aufführung jener
Interferenzen und damit gleichsam die ästhetische In(ter)vention in ihrer spezifischen Ereignishaftigkeit erweist sich folglich als nur bedingt steuer- und kontrollierbar.12
12 Fischer-Lichte verortet in dieser Ereignishaftigkeit, wie sie sich unter Rekurs auf Max Herrmanns
Aufführungsbegriff als wesentliches Merkmal einer jeden Aufführung offenbart, die spezifische
Ästhetizität der Aufführung. Vgl. hierzu ebd., insb. S. 53. u. S. 55.
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WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION?
Entsprechend entzieht sich bereits die Sichtbarkeit als grundlegendste Erscheinungsbedingung der ästhetischen In(ter)vention jeglicher Berechenbarkeit. So
konnten die Akteure von Frozen Grand Central keineswegs davon ausgehen, dass sie
als solche wahrgenommen wurden. Ob und wann ein Passant sich dazu entschloss,
Zeuge ihres Tuns zu werden, lag jenseits jeglicher Vorhersagbarkeit. Auch entzog es
sich dem Kalkül der Akteure, was während des Verlaufs der ästhetischen In(ter)vention geschehen würde. So konnten sie beispielsweise weder ihre Verhaftung
noch körperliche Übergriffe durch die Passanten ausschließen, oder aber dass ihre
Physis sie dazu zwingen würde, ihre Teilnahme an der ästhetischen In(ter)vention
vorzeitig abzubrechen. Die ästhetische In(ter)vention ist also die Aufführung eines
Ereignisses, dem sich Akteure und Teilnehmer – wenn auch aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen – gleichermaßen unwissentlich aussetzen.
La performance n’est pas la transmission du savoir, du souffle de l’artiste au
spectateur. Elle est cette troisième chose dont aucun n’est propriétaire, dont aucun
ne possède le sens, qui se tient entre eux, écartant toute transmission à l’identique,
toute identité de la cause et de l’effet.13
Das einmalige und unwiederholbare Ereignis der ästhetischen In(ter)vention interveniert in die dauerhafte Struktur sowie die konventionalisierten Rhythmen
ihres Erscheinungsraums und offenbart sich dort gleichsam als Aufführung eines
ereignishaften Grenzgangs.
Dabei ist ihr zugleich ein wesentlich generatives Potential inhärent: Als inszenatorische „Erzeugungsstrategie“, lässt die ästhetische In(ter)vention in ihrer
grenzgängerischen Ambivalenz Gegenwart im Sinne einer phänomenalen Ereignishaftigkeit erscheinen.14 Wie jedes Ereignis setzt auch die ästhetische In(ter)vention dabei die Grenzen des Wirklichen und des Möglichen aufs Spiel und
offenbart im Zuge dessen eine „veränderte, für den Moment aus den Fugen geratene Gegenwart“.15 Mit Martin Seel lässt sich die ästhetische In(ter)vention vor
diesem Hintergrund insofern als ästhetisches Ereignis charakterisieren, als auch
sie sich durch Prozesse auszeichnet, „die in ihrer komplexen sinnlichen Präsenz
das Potential einer komplexen Gegenwart auffällig machen“.16 In nuce eröffnet
die ästhetische In(ter)vention als Aufführung eines ereignishaften Grenzgangs
somit eine Bühne für das öffentliche Hervorbringen, Gestalten und Praktizieren
einer kollektiven Gegenwärtigkeit, wie sie sich in einem „Modus des Erscheinens“
ereignet,17 und erweist sich somit als eine Art wirklichkeitskonstituierender
Gründungsakt.
13 Jacques Rancière: Le Spectateur Émancipé. Paris: Éditions La Fabrique, 2008d, S. 21.
14 Fischer-Lichte 2004, S. 324 u. S. 326. Zur Herstellung von Gegenwart vgl. auch Martin Seel:
„Inszenierungen als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“. In: Joseph
Früchtl u. Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001,
S. 48-62, hier S. 58.
15 Seel 2003, S. 41 u. S. 43.
16 Seel 2003, S. 43.
17 Zum „Modus des Erscheinens“ als Charakteristikum des ästhetischen Ereignisses vgl. Martin
Seel: „Ereignis. Eine kleine Phänomenologie“. In: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine
AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS
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1.2.4. Grenzgang zwischen Politik und Ästhetik
Performative Grenzgänge lassen sich sowohl für kulturelle als auch für künstlerische Aufführungen konstatieren. Beide zeichnen sich durch die liminale Erfahrung einer Grenzüberschreitung aus.18 Während künstlerische und kulturelle
Aufführung hinsichtlich ihrer jeweiligen Position bezüglich ihres geteilten Grenzverlaufs voneinander divergieren, lässt sich die ästhetische In(ter)vention letztlich
in einem unentschiedenen Grenzbereich zwischen beiden verorten. Dementsprechend verschließt sich das Wesen der ästhetischen In(ter)vention dem Versuch,
die Grenze zwischen künstlerischer und kultureller Aufführung, respektive zwischen Politik und Ästhetik eindeutig zu determinieren, um im Zuge dessen beide
Bereiche gleichsam definitiv voneinander zu unterscheiden. Stattdessen macht die
ästhetische In(ter)vention eine Theoretisierung des Grenzgangs selbst erforderlich, eines Grenzgangs, der die Grenze zwischen Politik und Ästhetik im Vollzug
seiner Aufführung immer wieder neu vermisst.
Milton Singer führte das Konzept der „kulturellen Aufführung“ Ende der
1950er Jahre zur Beschreibung spezifischer Choreographien des Sozialen in die
ethnographische Sozial- und Kulturanthropologie ein. Singers Definition zufolge
strukturiert sich eine kulturelle Aufführung im wesentlichen über „a definitely
limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set
of performers, an audience, and a place and occasion of performance“.19
Während sich dieser Kriterienkatalog zunächst durchaus auch in Hinblick
auf Frozen Grand Central als zutreffend erweist, hat Marvin Carlson mit seiner
Charakterisierung kultureller Aufführungen auf ein entscheidendes Differenzierungsmerkmal hingewiesen: Carlson zufolge handelt es sich bei kulturellen Aufführungen – im Gegensatz zur ästhetischen In(ter)vention – grundsätzlich um
Zeiträume, die sich außerhalb oder jenseits des Alltäglichen aufspannen. Sie sind
ihrem Wesen nach marginal – „set apart“ – und konstituieren solchermaßen einen Ausnahmezustand gegenüber der alltäglichen Erfahrungswelt.20 Eine kulturelle Aufführung zeichnet sich Carlson zufolge also dadurch aus, dass sie überhaupt nur unter der Voraussetzung des Bestehens einer intakten Ordnung als ihr
je Anderes, von ihr vollkommen Unberührtes in Erscheinung treten kann.
fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: Transcript, 2003,
S. 37-47, hier S. 42.
18 Victor Turner war der erste, der das Konzept der Liminalität von seinem ursprünglichen Bestimmungsort des Rituals auf andere Formen der kulturellen Aufführung sowie auf die Kunst
übertragen hat. Vgl. hierzu Erika Fischer-Lichte: „Einleitung: Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum Theater“. In: Victor Witter Turner: Vom Ritual zum Theater.
Der Ernst des menschlichen Spiels (1982). Übs. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M.,
New York: Campus Verlag, Neuausgabe 2009, S. i-xxiii, hier S. xvi.
19 Milton Singer (Hg.): Traditional India: Structure and Change. Chicago: University of Chicago
Press, 1959, S. xiii.
20 Vgl. Marvin Carlson: Performance: A Critical Introduction. London, New York: Routledge, 1996,
S. 16.

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