Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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Frauke Surmann · Ästhetische In(ter)ventionen Frauke Surmann Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum Grundzüge einer politischen Ästhetik Wilhelm Fink Gedruckt mit Unterstützung der Richard Stury Stiftung Diese Arbeit wurde im Jahr 2013 als Dissertation (D188) am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht und verteidigt. Umschlagabbildung: © Fotografie von David Hausen, Dead Horse Inn Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5789-9 INHALT INHALT INHALT 1. WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? ................................. 011 1.1. Frozen Grand Central als Paradigma einer ästhetischen In(ter)vention .... 1.2. Frozen Grand Central als Aufführung eines performativen Grenzgangs ... 1.2.1. Räumlicher Grenzgang ................................................................ 1.2.2. Körperlicher Grenzgang............................................................... 1.2.3. Ereignishafter Grenzgang............................................................. 1.2.4. Grenzgang zwischen Politik und Ästhetik .................................... 1.2.5. Die Analyse ästhetischer In(ter)ventionen als methodischer Grenzgang ................................................................................... 1.3. Genealogische Spuren einer interventionistischen Ästhetik..................... 1.3.1. Semiotische Guerilla & Culture Jamming.................................... 1.3.2. New Genre Public Art & Relationale Kunst................................. 1.3.3. Die kulturelle Praxis des Pranks .................................................. 1.4. Aktueller Forschungsstand ..................................................................... 2. 025 031 032 039 046 053 DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS TOPOLOGISCHES INSZENIERUNGSVERFAHREN ............................................................... 061 2.1. Zwischen abstraktem und sozialem Raum: Henri Lefebvres Theorie der sozialen Raumproduktion ................................................................ 2.2. Die ästhetische In(ter)vention als topologisches Inszenierungsverfahren oder die Genese des Dead Horse Inn ....................................................... 2.2.1. Ortung ........................................................................................ 2.2.2. Räumung..................................................................................... 2.2.3. Verräumlichung........................................................................... 3. 011 016 017 018 019 021 061 070 072 078 082 DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS BÜHNE DES BEGEGNENS.......................................................................................... 093 3.1. High Five Escalator ................................................................................. 094 3.1.1. Inszenierung eines sinnlich-sinnhaften Bruchs.............................. 096 6 INHALT 3.1.1.1. Der „Rolltreppenblick“ ................................................... 3.1.1.2. Dekontextualität und sinnlich-sinnhafter Bruch.............. 3.1.2. Der Handschlag als relationaler Akt der Verkörperung ................ 3.1.3. Die relationale Singularität der Begegnung .................................. 3.1.4. Der High Five Escalator als Bühne der Begegnung........................ 3.2. Our Broken Voice.................................................................................... 3.2.1. „For the next 30 minutes, you are not going to be yourself.“........ 3.2.1.1. (Er)Nennung und Name ................................................ 3.2.1.2. „You ARE Clare.“ / „YOU are CLARE.“ ........................ 3.2.1.3. Verkörperte Präsenz im Grenzgang von Realität 3.2.1.3. und Fiktion .................................................................... 3.2.2. Die dingliche Umwelt als Medium und Partizipand ästhetischer In(ter)ventionen .......................................................................... 3.2.3. Begegnungen mit der belebten Umwelt ....................................... 3.2.3.1. Konzentration und Schärfung der Sinne ......................... 3.2.3.2. Drei Stufen der gelenkten Aufmerksamkeit..................... 3.2.3.3. Begegnung als theatraler Wahrnehmungsmodus ............. 3.2.4. Begegnung als gemeinschaftstiftender Akt.................................... 4. 096 097 098 100 103 105 106 107 108 111 112 118 119 120 121 123 DIE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION ALS POLITISCHE PRAXIS DER (MIT)TEILUNG ............................................................................. 129 4.1. Soziale Wende ....................................................................................... 4.2. „..any use is a misuse!“ – Eine Politik der ästhetischen Grenzerfahrung...................................................................................... 4.2.1. Von der Kunst, Vergnügen zu bereiten. Zwischen taktischer Frivolität und lustvoller Grenzerfahrung ...................................... 4.2.2. Die Magie der Entgrenzung. Von der liminalen Erfahrung ästhetischer In(ter)ventionen........................................................ 4.3. Die Grenzerfahrung ästhetischer In(ter)ventionen als Praxis der (Mit)Teilung.......................................................................................... 4.3.1. (Mit)Teilung als singulär plurale Erfahrung ................................. 4.3.2. Die vier Ebenen der (Mit)Teilung ............................................... 4.3.3. Wie ist das Mit der (Mit)Teilung beschaffen?............................... 4.4. Vergemeinschaftung vs. Vergesellschaftung ............................................ 4.4.1. Vergesellschaftung als soziales Kontrollinstrument ....................... 4.4.2. Die unschädlich gemachte Gesellschaft ........................................ 4.4.3. Vergesellschaftung als Mittel der Deeskalation............................. 4.5. Die Politik der Vergemeinschaftung....................................................... 4.5.1. Politische Gemeinschaft im Zwischen des Mit-Seins: „du (b(ist) / und) (ganz anders als) ich“ / „toi [e(s)t] [tout autre que] moi“................................................................... 132 137 138 142 146 146 147 149 150 152 154 156 158 159 INHALT 7 4.5.2. Pluralität vs. Multitude ................................................................ 160 4.5.3. Die (Mit)Teilung als politische Praxis .......................................... 161 5. DIE POLITIK DER FIKTION .................................................................. 167 5.1. Die ästhetische In(ter)vention als utopisches Performativ.......................... 5.1.1. Arbeit der Fiktion: Grundzüge einer politischen Ästhetik............. 5.1.2. Das utopische Performativ der ästhetischen Gemeinschaft ........... 5.2. Die ästhetische In( )vention ................................................................. 5.2.1. Die präfigurative Politik der ästhetischen In( )vention................ 5.2.2. Die ästhetische In( )vention als kollektive Mythenbildung ......... 5.2.3. The Tourist Lane .......................................................................... 5.3. „Smart Critiques. Stupid Creates.“ ......................................................... 5.3.1. Vom Mythos zur Gewohnheit ..................................................... 5.3.2. Interventionistische Inszenierungen von Öffentlichkeit ................ 167 168 174 175 177 178 181 183 187 189 „...mit einem Lächeln im Gesicht.“ Schlussbemerkungen und Perspektiven ........................................................................................... 191 Dank ............................................................................................................. 199 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 201 8 INHALT Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen. Gilles Deleuze 1. WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? „FROZEN GRAND CENTRAL“ 1.1. Frozen Grand Central als Paradigma einer ästhetischen 1.1. In(ter)vention Es ist Samstagnachmittag. In der Haupthalle des Grand Central Terminal herrscht reger Verkehr. Während die einen von und zu den 44 Bahngleisen eilen, ihre Blicke auf Anzeigentafeln, Mobiltelefone oder den Boden vor ihnen gerichtet, lassen andere, die am zentral gelegenen Informationsschalter mit der charakteristischen Messinguhr auf ihre Verabredung warten, ihren Blick über die gesamte Halle schweifen. Wieder andere versenken sich in ihre Reiseführer. Diese lenken ihre Blicke mal auf den kunstvoll gestalteten Sternenhimmel in der Bahnhofskuppel, mal auf eines der zahlreichen symbolträchtigen innenarchitektonischen Details des zwischen 1903 und 1913 errichteten Bahnhofs. Insgesamt 750.000 Menschen werden im Laufe des Tages die Haupthalle des Grand Central Terminal frequentieren und in mehr oder minder festgeschriebenen Bewegungsströmen durchziehen.1 Gegen 14:15 Uhr mischen sich 207 Menschen unter die Menge. Der über eine Mailingliste ausgesprochenen Einladung Folge leistend sind sich diese kurz zuvor im nahe gelegenen Bryant Park erstmalig begegnet. Sie sind unterschiedlichen Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft. In dieser Heterogenität fügen sie sich zunächst nahtlos und von den übrigen Passanten unbemerkt in die die Bahnhofshalle durchkreuzenden Bewegungsflüsse und Blicklinien ein: Sie studieren Fahrpläne, stellen sich in die Schlangen vor dem Informationsschalter oder den Fahrkartenautomaten, telefonieren, lesen Zeitung, machen Fotos, verzehren einen Snack. Dabei bewegen sie sich vollkommen autonom, so dass sie als Gruppe weder für Außenstehende noch füreinander – schließlich ist man auch den übrigen 206 Teilnehmern in den meisten Fällen erst kurz zuvor zum ersten Mal begegnet – erkennbar sind. Um Punkt 14:30 Uhr halten alle nunmehr über die gesamte Haupthalle verteilten 207 Körper plötzlich in ihrer jeweils aktuell ausgeführten Bewegung inne. Zu diesem Zweck haben sie im Vorfeld ihre Uhren miteinander abgeglichen, so dass es hierfür keines weiteren Signals oder Zeichens bedarf. Für die nächsten fünf Minuten wird jeder und jede Einzelne von ihnen in dieser eingefrorenen Stellung verharren. Charlie Todd, Initiator dieses kollektiven Stillstands, be01 Vgl. hierzu die entsprechenden demografischen Daten unter http://www.grandcentralterminal.com/info/eventplanning (20.05.2014). 12 WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? schreibt eine Momentaufnahme der Situation, wie sie sich den zu diesem Zeitpunkt in der Bahnhofshalle anwesenden Passanten offenbarte, folgendermaßen: One agent dropped a stack of papers and bent over to pick them up as he froze. Two agents froze during a kiss for the entire five minutes. Many agents were checking train schedules. Others were looking at their cell phones. Eating was probably the most popular activity to do while freezing; one agent froze while munching on a hot dog, another while eating a cookie, and another while eating yogurt.2 Während einige Stellungen wie der fünfminütige Kuss ob ihres für diesen spezifischen Ort ungewohnten Anblicks, andere ob der physischen Herausforderung wie sie beispielsweise ein über fünf Minuten in die Höhe gestreckter Arm darstellt, vornehmlich ein staunendes, bewunderndes Innehalten hervorrufen, stellen andere Körper ganz konkrete, materielle Hindernisse im Bewegungsfluss dar: Sie blockieren die Eingangstüren ebenso wie die Zugänge zu den Rolltreppen, verhindern das Aufrücken in Warteschlangen und versperren einem Reinigungsfahrzeug die Durchfahrt. Als räumliche Barriere nötigen die regungslosen Körper Passanten und Bahnhofsangestellte dazu, anzuhalten und ihnen gegebenenfalls auszuweichen. Direkte Berührungen werden dabei in den meisten Fällen tunlichst vermieden. So durchziehen die regungslosen Körper die Haupthalle des Grand Central Terminal Magnetfeldern gleich, die die Bewegungsströme umleiten und neue Konzentrationspunkte, an denen sich Aufmerksamkeitslinien bündeln, produzieren. Mit der gleichzeitigen Aussetzung der Bewegung von über 200 Körpern sinkt der in der Haupthalle herrschende Geräuschpegel aus Schritten und Stimmen schlagartig. Diese Eindämmung der Umgebungsgeräusche wird überdies noch dadurch verstärkt, dass nun viele Passanten ihrerseits in ihrer Bewegung innehalten, um den Blick vom unmittelbaren Sichtfeld abzulösen und über die gesamte Bahnhofshalle schweifen zu lassen, um so gleichsam das Ausmaß der Situation zu ermessen. Viele nehmen überdies Kameras und Mobilfunkgeräte zur Hand, machen Fotos und filmen die regungslosen Körper. Einige suchen das Gespräch miteinander, um ihrer Irritation angesichts des beigewohnten Geschehens Ausdruck zu verleihen und sich gegenseitig der eigenen Realitätswahrnehmung zu versichern. „Reactions went from amusement to shock [...]. ‚They couldn’t decide whether we were crazy or if they had gone crazy‘.“3 Gemeinsam versuchen einzelne Passanten, den Auslöser dieses ihnen unverständlichen Verhaltens auszumachen, sich seinen Grund zu erklären. Die Heterogenität ihrer Reaktionen zeugt dabei von einer tiefen Verunsicherung darüber, wie gegenüber jener veränderten 02 Charlie Todd u. Alex Scordelis: Causing a Scene. Extraordinary Pranks in Ordinary Places with Improv Everywhere. New York: HarperCollins, 2009, S. 101. Charlie Todd bezeichnet die Akteure der von ihm seit 2001 in New York initiierten Interventionen grundsätzlich als „Agenten“, die seiner Terminologie entsprechend „Missionen“ ausführen. 03 Todd u. Scordelis 2009, S. 102. „FROZEN GRAND CENTRAL“ 13 räumlichen und sozialen Situation, die sich jedem rationalen Zugriff zu entziehen scheint, angemessen zu reagieren sei. Nach Ablauf der fünf Minuten lösen sich die Körper um 14:35 Uhr unvermittelt aus ihrer Bewegungslosigkeit und gehen gleichsam kommentarlos wieder in die vor dem Stillstand angesetzte Bewegung über. Vereinzelt wie sie gekommen waren, durchqueren sie den Raum in Richtung der Ausgänge und verlassen nach und nach die Bahnhofshalle. Auf die Frage, warum sie soeben für fünf Minuten in einer Position verharrt hätten, antworten die Angesprochenen mit Ahnungslosigkeit. Sie geben sich weder als Gruppe noch als Ausführende einer choreographierten Aktion zu erkennen. Zurück bleiben verblüffte Passanten und Bahnhofsmitarbeiter, denen die Irritation über das soeben Erlebte nach wie vor ins Gesicht geschrieben steht. Erst nach einer leichten Verzögerung klatschen die Ersten vereinzelt in die Hände. Mehr und mehr Passanten tun es ihnen gleich, bis sich das Klatschen zu einem regelrechten Applaus verdichtet – wobei bis zuletzt unklar bleibt, wem oder was hier eigentlich applaudiert wird. Der Applaus erhebt sich in einem Moment, da die Akteure das Bahnhofsgebäude längst verlassen haben, bis schließlich auch die Passanten wieder ihrer eigenen Wege gehen – viele von ihnen mit einem Lächeln im Gesicht. Es ist dieses Lächeln, das den ursprünglichen Anlass zur folgenden Untersuchung gab. Ein Lächeln mit ebenso vielen Implikationen wie Trägern und doch – gerade in seiner unvereinbaren Heterogenität – gemeinschaftstiftend; ein unverhofftes und ansteckendes Lächeln, hervorgerufen durch die gemeinsame Erfahrung eines ebenso rätselhaften wie irritierenden Ereignisses. Diesem Lächeln auf den Grund zu gehen, wie es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, macht es erforderlich, nach seinen Erscheinungsbedingungen und das heißt, nach der spezifischen Disposition desjenigen Ereignisses zu fragen, das jenes Lächeln überhaupt erst hervorzurufen imstande war. Wie also ist Frozen Grand Central im Einzelnen zu charakterisieren? Zunächst einmal erweisen sich die in ihrer Bewegung innehaltenden Körper als konkreter Eingriff in die symbolische Ordnung des öffentlichen Raums der Bahnhofshalle. Die Körper intervenieren in die hier herrschenden Bewegungsströme, -rhythmen und Verhaltenskonventionen und setzten deren allgemeingültige Verbindlichkeit vorübergehend außer Kraft. Grundsätzlich handelt es sich bei Frozen Grand Central also um eine Intervention in den öffentlichen Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum, die auf einer ebenso wahrnehmungsästhetischen wie handlungsbezogenen Ebene operiert. Im Vollzug ihres interventionistischen Erscheinens realisiert sich dabei vorübergehend zugleich eine alternative Organisation des soziopolitischen Raums. Die erstarrten Körper transformieren die Bahnhofshalle als hektischen Durchgangsort vorübergehend in eine Art unbewegtes Standbild. Diese temporär aufscheinende Modifikation der öffentlichen Ordnung evoziert zugleich eine kollektive Konstitutionsleistung, die sich in einer innovativen, schöpferischen Rauminterpretation und -nutzung artikuliert. Frozen Grand Central zeugt demnach von 14 WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? einer Ambivalenz, in der sich der Akt der Intervention in den öffentlichen Raum mit einem Akt der Invention im Sinne der gemeinschaftlichen Er-Fahrung und Er-Findung eines punktuell umgestalteten Raums miteinander verschränken. Um diese eigentümliche Verschränkung begrifflich zu fassen, wurde die Schreibweise der „In(ter)vention“ zur Bezeichnung des von Frozen Grand Central hier gleichsam stellvertretend repräsentierten Untersuchungsgegenstands gewählt. Dieser der In(ter)vention eingeschriebenen Ambivalenz ist dabei zugleich eine wesentlich performative Ästhetik inhärent. Vor diesem Hintergrund wird die In(ter)vention im Folgenden als „ästhetische In(ter)vention“ zu spezifizieren sein. Dabei erweist sich die ästhetische In(ter)vention insbesondere dadurch als performativ, dass sie „das, was sie bezeichne[t], zugleich [...] vollzieh[t]“4: Sie interveniert in die Realität des soziopolitischen Raums und bringt im Zuge dessen gleichsam eine alternative Wirklichkeitserfahrung hervor. Die ästhetische In(ter)vention offenbart sich somit als „eine besondere Form von Konstitutionsleistung, bei der ein symbolisches Tun [...] weltverändernde Kraft bekommt“.5 Mit Krämer und Stahlhut lässt sich die eigentümliche Performativität ästhetischer In(ter)ventionen noch genauer als eine radikale Form des Performativen identifizieren. Auf einer dreiteiligen Differenzierung basierend unterscheiden Krämer und Stahlhut zwischen einem schwachen, starken und radikalen Performativitätsmodell. Während das schwache Performativitätsmodell ganz allgemein die Handlungs- und Gebrauchsdimension der Rede anzeigt, wird mit dem starken Performativitätsmodell hingegen vielmehr die genuine Konstitutionsleistung der Sprache hervorgehoben, im Zuge derer „Weltzustände nicht nur repräsentiert, sondern vielmehr konstituiert und verändert werden“6. Dem radikalen Performativitätskonzept eignet über die den anderen beiden Konzepten inhärente Selbstreferentialität und wirklichkeitserzeugende Kraft hinaus eine eigentümlich subversive Qualität. Als radikal performativ offenbaren sich demnach insbesondere solche Akte, die in bestehende symbolische Ordnungen eingreifen und diese in ihrer anerkannten – im Wesentlichen auf Dichotomien des Ein- und Ausschlusses beruhenden – Stabilität unterlaufen, indem sie gerade das Marginale dieser Strukturen zur Aufführung bringen.7 So setzten Akte radi04 Vgl. hierzu Sybille Krämer u. Marco Stahlhut: „Das ‚Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10.1 (2001): Theorien des Performativen. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulf, S. 35-64, S. 57. 05 Ebd. 06 Ebd., S. 55. Obschon die Grundlagen ihrer Argumentation wesentlich sprachphilosophischer Natur sind, impliziert der von Krämer und Stahlhut in Anschlag gebrachte Begriff des Performativen einen transdisziplinären und somit in Hinblick auf die vorliegende Untersuchung produktiven Bedeutungshorizont. Entsprechend betonen Krämer und Stahlhut, dass Performativität „keineswegs nur in und durch Sprache, sondern im Medium jedweden symbolischen Handelns“ in Erscheinung treten kann. Ebd., S. 56. 07 Vgl. ebd. In ihrer radikalen Performativität ist die ästhetische In(ter)vention dem Humor sowie der Ironie verwandt. In Analogie hierzu charakterisiert Simon Critchley den Humor als subversive, weil mit den Mitteln der Macht operierende, selbst machtlose Macht („powerless power“). „FROZEN GRAND CENTRAL“ 15 kaler Performativität wie die ästhetische In(ter)vention realitätskonstituierende Dichotomien in einem transgressiven Akt der Grenzüberschreitung vorübergehend außer Kraft. Dadurch aber machen sie die von ihnen überschrittene Grenze sowie die Bedingungen ihrer Grenzziehung nicht nur sicht-, sondern im Zuge dessen zugleich hinterfrag- und verhandelbar. In seiner radikalen Performativität unterläuft Frozen Grand Central die für den öffentlichen Raum der Bahnhofshalle konstitutive Dichotomie, die ein für eine Bahnhofshalle angemessenes von einem unangemessenen Verhalten scheidet, sowohl direkt durch das Aussetzen als auch indirekt durch die Behinderung anerkannter Verhaltenskonventionen und erweist sich somit gleichsam als paradigmatische Manifestation einer radikalen Performativität, wie sie sich für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen als konstitutiv erweist. In ihrer radikalen Performativität bringt die ästhetische In(ter)vention eine soziopolitische Realität zur Aufführung, die sich bestimmten, den öffentlichen Wahrnehmungsraum organisierenden, Restriktionen widersetzt. Indem sie den Sinn der Situation, das heißt, die Wahrnehmungsordnung ihres sinnlich-sinnhaften Rahmens, punktuell überschreitet, inszeniert die ästhetische In(ter)vention einen performativen Widerspruch zu den situativen Rahmenbedingungen ihres Erscheinens.8 Dieser performative Widerspruch manifestiert sich in Form eines temporär aufscheinenden, sich über normative Konventionen hinwegsetzenden (Ver)Handlungsspielraums, der erst im und durch den kollektiven Akt einer Grenzüberschreitung entsteht, um zugleich mit ihm auch wieder zu vergehen. Die ästhetische In(ter)vention realisiert sich folglich in einem radikal performativen Prozess der gemeinschaftlichen Verräumlichung und Verkörperung einer transitorischen Differenz, worin sich mit Judith Butler zugleich die wirklichkeitskonstituierende Praxis einer „performativen Politik“ manifestiert.9 Simon Critchley: Infinitely Demanding: Ethics of Commitment, Politics of Resistance. London, New York: Verso, 2007, S. 124. Dieser Aspekt der subversiven Aneignung von Machttechniken findet sich auch in Baz Kershaws Analyse der Ironie wieder, deren methodische Zielsetzung er darin verortet, „to defeat the opponent on his own ground by pretending to accept his premises, his values, his methods of reasoning, in order to expose their implicit absurdity“. Baz Kershaw: The Politics of Performance: Radical Theatre as Cultural Intervention. Abingdon: Routledge, 1992, S. 81. Bezüglich der Verwandtschaft ästhetischer In(ter)ventionen mit dem Witz vgl. schließlich Dick Veloso Chow: How to do Things with Jokes: The Political Dimension of Performance Comedy. London: Central School of Speech and Drama, 2010 [Unveröffentlichtes Manuskript], insbes. S. 10. 08 Judith Butler hat das für die ästhetische In(ter)vention konstitutive Modell eines performativen Widerspruchs insbesondere in Bezug auf Sprechakte theoretisiert. Vgl. Judith Butler: „Sovereign Performatives in the Contemporary Scene of Utterance“. In: Critical Inquiry 23.2 (1997), S. 350377; Judith Butler u. Gayatri Chakravorty Spivak: Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich, Berlin: Diaphanes, 2007. 09 Butler u. Spivak 2007, S. 44. Als „performative Politik“ bezeichnen Butler und Spivak eine Praxis, deren politische Qualität sich nicht in Beweggründen, Intentionen oder Darstellungsformen, sondern in der radikalen Performativität grenzüberschreitender und somit Differenz produzierender Prozesse der Verkörperung, Verräumlichung und Gemeinschaftsbildung manifestiert. 16 WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? Als derart performativer Widerspruch interveniert die ästhetische In(ter)vention nicht nur in einen sinnlich-sinnhaften Bezugsrahmen, sondern eröffnet im Zuge dieser Intervention zugleich ein Austragungsfeld für die Produktion von Sinn, das heißt für die gemeinsame, affektiv-relationale Konstitution eines Wirklichkeitsmoments. Was die an jenem Samstag Nachmittag in ihrer Bewegung innehaltenden Körper bedeuteten, wie man ihnen angemessen begegnete und welche Implikationen sie sowohl für die konkrete als auch für eine mögliche zukünftige Raumnutzung hatten, mussten sich die Passanten der Grand Central Station durch konkretes Austesten sowie im kommunikativen Austausch miteinander überhaupt erst erschließen und im mit der ästhetischen In(ter)vention gleichsam aufscheinenden (Ver)Handlungsspielraum in einer Art unabschließbaren Testreihe ausprobieren. Im Moment ihres Erscheinens setzen ästhetische In(ter)ventionen wie Frozen Grand Central die Verbindlichkeit vertrauter Verhaltensregulative, Zeichensysteme und Interpretationsmechanismen vorübergehend außer Kraft und inszenieren an ihrer Statt folglich einen (Ver)Handlungsspielraum alternativer Setzungsmöglichkeiten. Dem Akt des radikalen Aussetzens korreliert demnach immer schon ein Akt der kreativen Setzung.10 Der durch die ästhetische In(ter)vention hervorgebrachte (Ver)Handlungsspielraum setzt in anderen Worten ein schöpferisch-gestalterisches Potential frei, das unmittelbar in der alltäglichen Erfahrungswelt wirkt, ohne sich den hier herkömmlicherweise geltenden Regeln unterwerfen zu müssen. In dieser Gleichzeitigkeit von systemimmanentem Bruch und systemwidriger Setzung ebnet die ästhetische In(ter)vention als Ausübung eines performativen Widerspruchs einer politischen Ästhetik den Weg, deren spezifischer Qualität mit dieser Arbeit auf den Grund gegangen werden soll. 1.2. Frozen Grand Central als Aufführung eines performativen 1.2. Grenzgangs „FROZEN GRAND CENTRAL“ ALS AUFFÜHRUNG Stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen lässt sich Frozen Grand Central in der ihr inhärenten, radikal performativen Ästhetik zunächst einmal grundlegend als Aufführung charakterisieren. Als Aufführung beginnt die In(ter)vention in dem Moment, da die Körper als Stillgestellte in Erscheinung treten und sich im Zuge ihres Erscheinens von den Körpern der zufälligen Passanten absondern. Auf Grundlage dieser leiblichen Ko-Präsenz konstituiert sich eine Aufführungssituation, die wesentlich auf der gleichzeitigen räumlichen Anwesenheit von Akteuren und Zeugen beruht. Eine als Aufführung verstandene, ästhetische In(ter)vention ereignet sich folglich als in ihrer Dauer und ihrem Ort 10 Hans-Thies Lehmann zufolge zeugt bereits der Akt des Aussetzens von einer politischen Geste. Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater (1999). Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 2008, S. 450 u. S. 459. AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS 17 bestimmte Begegnung zwischen einen interventionistischen Akt vollziehenden auf der einen und einen interventionistischen Akt bezeugenden Teilnehmern auf der anderen Seite. Dabei handelt es sich um eine konkrete, körperbasierte, sinnlich-sinnhafte Form der Begegnung, die immer auch schon ein Tun impliziert. Während die Anwesenheit der stillgestellten Körper überhaupt erst durch ein Tun, beziehungsweise das tätige Aussetzen eines Tuns, in Erscheinung tritt, avanciert jede singuläre Reaktion oder Unterlassung einer Reaktion in der Begegnung mit den stillgestellten Körpern ebenfalls zu einem aufführenden Tun. Als für eine ästhetische In(ter)vention konstitutiv erweist sich folglich die gleichzeitige, tätige Anwesenheit von Akteuren und ihre Aktivität Bezeugenden an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Während Frozen Grand Central in diesem Sinne zunächst grundlegend als Aufführung zu verstehen ist, macht ihre spezifische Disposition zugleich eine präzisierende Differenzierung dieser vorläufigen Setzung erforderlich. In ihrer radikalen Performativität offenbart sich jede ästhetische In(ter)vention gleichsam als Aufführung eines performativen Widerspruchs. Der ästhetischen In(ter)vention ist eine elementare Ambivalenz inhärent, wie sie sich bereits aus der Etymologie des Begriffs der Intervention selbst ableitet: In(ter)ventionen treten im selben Augenblick als Unterbrechende ebenso wie als Vermittelnde in Erscheinung. In dieser agonistischen Spannung zwischen Akten des Aussetzens und Akten des Besetzens manifestiert sich die ästhetische In(ter)vention als performativer Grenzgang. Dabei gilt es, fünf essentielle Grenzverläufe, wie sie sich als gleichermaßen konstitutiv für die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand der ästhetischen In(ter)vention offenbaren, voneinander zu differenzieren. Diese umfassen im Einzelnen die Grenzverläufe zwischen divergenten Raum-, Körperund Zeitkonzepten ebenso wie den unentscheidbaren Grenzverlauf zwischen Politik und Ästhetik sowie die daraus resultierende Notwendigkeit eines methodischen Grenzgangs. AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS 1.2.1. Räumlicher Grenzgang So offenbaren sich ästhetische In(ter)ventionen zunächst als Aufführungen eines räumlichen Grenzgangs. Im Moment ihres Erscheinens spannen sie sich als temporäre Zwischenräume innerhalb konkreter Alltagsräume auf. Diese beiden Raumkonzepte setzen sie in eine wechselseitige Interdependenz zueinander, die sie in Form eines performativen Widerspruchs zur Aufführung bringen. Folglich ist die ästhetische In(ter)vention einerseits abhängig von dem jeweiligen Raum, in dem sie sich ereignet. Ihr Erscheinen ist dabei nicht nur an die bloße Existenz, sondern auch an die spezifische Qualität ihres jeweiligen Erscheinungsraums gebunden. Ästhetische In(ter)ventionen sind also wesentlich ortsspezifisch, das heißt, sie können sich nicht an jedem beliebigen Ort ereignen. Stattdessen ist die individuelle Beschaffenheit des Ortes wesentlich konstitutiv für ihr Erscheinen. 18 WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? Dementsprechend stellte die Haupthalle der Grand Central Station eine maßgebliche Grundbedingung der eingangs geschilderten ästhetischen In(ter)vention Frozen Grand Central dar. Erst an diesem hoch frequentierten, unpersönlichen Durchgangsort, der weniger zum Verweilen als zu seiner zielgerichteten Durchquerung einlädt, konnte die körperliche Verweigerung des diesem Ort eingeschriebenen Verhaltensdispositivs zu einer bedeutungsvollen, interventionistischen Geste werden. Als geschlossener, ebenerdiger Raum war die Haupthalle überdies von beinahe jedem Standpunkt aus gut zu überblicken, was die Sichtbarkeit einer Vielzahl an Akteuren zur selben Zeit und damit das In-Erscheinung-Treten der ästhetischen In(ter)vention als solcher garantierte. Stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen im Allgemeinen hing Frozen Grand Central also wesentlich von der spezifisch räumlichen Beschaffenheit ihres Erscheinungsraums ab. In ihrer Ortsspezifik bedeuten ästhetische In(ter)ventionen stets eine punktuelle Veränderung des Raums, in dem sie sich ereignen. Indem sie wie Frozen Grand Central beispielsweise Bewegungsströme umleiten oder Blockaden errichten, strukturieren ästhetische In(ter)ventionen die Räume, in denen sie erscheinen, vorübergehend um und reflektieren im Zuge dessen deren normative Konstitution und Funktionalität. Ästhetische In(ter)ventionen gestalten also Räume, von deren ursprünglicher Gestalt zugleich ihr Erscheinen abhängt. In dieser ihr wesentlich inhärenten Ambivalenz, die auf der Kollision zweier widersprüchlicher Raumkonzepte basiert, ereignet sich die ästhetische In(ter)vention als Aufführung eines räumlichen Grenzgangs. 1.2.2. Körperlicher Grenzgang Außerdem bringen ästhetische In(ter)ventionen einen körperlichen Grenzgang zur Aufführung. So sind ästhetische In(ter)ventionen nicht nur von den Orten ihres Erscheinens, sondern zugleich auch von den sie bevölkernden Körpern abhängig. Erst durch die gemeinsame Anwesenheit mehrerer Körper in einem spezifischen Raum tritt eine ästhetische In(ter)vention wie Frozen Grand Central überhaupt in Erscheinung. Ihr Vollzug basiert auf der leiblichen Ko-Präsenz zwischen Akteuren und Zeugen eines interventionistischen Akts. Diese Ko-Präsenz stellt die Grundbedingung für Begegnungen im Sinne eines körperlichen Grenzgangs zwischen den verschiedenen Teilnehmern einer ästhetischen In(ter)vention dar. Der körperliche Grenzgang ermöglicht einzigartige Begegnungen mit den anderen Körpern ebenso wie mit dem eigenen Körper. Es sind dies sinnliche Begegnungen, wie sie „nicht nur Auge und Ohr, sondern das ‚Körpergefühl‘, der ganze Körper synästhetisch vollziehen“.11 Im Zuge jenes Grenzgangs werden die Körper der Teilnehmenden einer ästhetischen In(ter)vention füreinander als raumnehmende und raumschaffende Entitäten erfahrbar, die einem spezifischen Wechselspiel gegenseitigen Affizierens und Affiziertwerdens unterliegen. 11 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 54. AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS 19 Frozen Grand Central erweist sich insofern als paradigmatische Aufführung eines körperlichen Grenzgangs, in dem die Konfrontation bewegter und unbewegter Körper das zentrale Moment ihres Erscheinens darstellt. Bewegte und unbewegte Körper standen hier in einer reziproken Wechselwirkung gegenseitiger Affektion zueinander. Für die Akteure stellte das fünfminütige Verharren in einer aus einer alltäglichen Bewegung heraus eingefrorenen Position an einem so belebten Ort wie der Haupthalle des Grand Central Terminal eine außergewöhnliche Begegnung mit dem eigenen Körper dar, wie sie sich nur in Relation zu anderen Körpern einstellen konnte, die sich dem diesem Ort angemessenen Verhaltensdispositiv entsprechend verhielten. Für die Körper der Passanten hingegen bedeuteten die regungslosen Körpern zum Teil symbolische, zum Teil konkret materielle Hindernisse, die sie in ihrem Bewegungsfluss störten oder diesen gar vorübergehend unterbrachen. Diese Konfrontation mit dem Anderen implizierte zugleich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den eigenen Körper und den in ihn eingeschriebenen Verhaltensmustern und Routinen. In einem körperlichen Grenzgang begegneten die Körper aller Teilnehmer von Frozen Grand Central, die bewegten ebenso wie die unbewegten, folglich nicht nur einander, sondern auch ihrer eigenen Körperlichkeit. Diese offenbarte sich ihnen als Teil eines relationalen Körpergefüges, welches sie einerseits affizierte, während sie in ihrer Körperlichkeit zugleich verändernd auf dieses Gefüge einwirkten. In dieser körperlichen Interdependenz, die auf der Konfrontation widersprüchlicher, sich gegenseitig in Frage stellender Körperkonzepte basiert, realisierte sich Frozen Grand Central stellvertretend für ästhetische In(ter)ventionen als Aufführung eines körperlichen Grenzgangs. 1.2.3. Ereignishafter Grenzgang Ästhetische In(ter)ventionen bringen überdies einen Grenzgang zwischen dem Ereignis ihres Erscheinens und der Dauer ihres Erscheinungsraums zur Aufführung. Es ist dies ein zeitspezifischer Grenzgang, der auf der Kollision widersprüchlicher Zeitstrukturen basiert. Als räumlicher und körperlicher Grenzgang ist die Aufführung der ästhetischen In(ter)vention wesentlich von Dynamiken der Interferenz geprägt, die sich in ihrer Ereignishaftigkeit jeder finalen Aneignung entziehen. Diese räumlichen und körperlichen Interferenzen realisieren sich in Form zufälliger und also temporärer, einmaliger und unwiederholbarer Begegnungen. Die Aufführung jener Interferenzen und damit gleichsam die ästhetische In(ter)vention in ihrer spezifischen Ereignishaftigkeit erweist sich folglich als nur bedingt steuer- und kontrollierbar.12 12 Fischer-Lichte verortet in dieser Ereignishaftigkeit, wie sie sich unter Rekurs auf Max Herrmanns Aufführungsbegriff als wesentliches Merkmal einer jeden Aufführung offenbart, die spezifische Ästhetizität der Aufführung. Vgl. hierzu ebd., insb. S. 53. u. S. 55. 20 WAS IST EINE ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTION? Entsprechend entzieht sich bereits die Sichtbarkeit als grundlegendste Erscheinungsbedingung der ästhetischen In(ter)vention jeglicher Berechenbarkeit. So konnten die Akteure von Frozen Grand Central keineswegs davon ausgehen, dass sie als solche wahrgenommen wurden. Ob und wann ein Passant sich dazu entschloss, Zeuge ihres Tuns zu werden, lag jenseits jeglicher Vorhersagbarkeit. Auch entzog es sich dem Kalkül der Akteure, was während des Verlaufs der ästhetischen In(ter)vention geschehen würde. So konnten sie beispielsweise weder ihre Verhaftung noch körperliche Übergriffe durch die Passanten ausschließen, oder aber dass ihre Physis sie dazu zwingen würde, ihre Teilnahme an der ästhetischen In(ter)vention vorzeitig abzubrechen. Die ästhetische In(ter)vention ist also die Aufführung eines Ereignisses, dem sich Akteure und Teilnehmer – wenn auch aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen – gleichermaßen unwissentlich aussetzen. La performance n’est pas la transmission du savoir, du souffle de l’artiste au spectateur. Elle est cette troisième chose dont aucun n’est propriétaire, dont aucun ne possède le sens, qui se tient entre eux, écartant toute transmission à l’identique, toute identité de la cause et de l’effet.13 Das einmalige und unwiederholbare Ereignis der ästhetischen In(ter)vention interveniert in die dauerhafte Struktur sowie die konventionalisierten Rhythmen ihres Erscheinungsraums und offenbart sich dort gleichsam als Aufführung eines ereignishaften Grenzgangs. Dabei ist ihr zugleich ein wesentlich generatives Potential inhärent: Als inszenatorische „Erzeugungsstrategie“, lässt die ästhetische In(ter)vention in ihrer grenzgängerischen Ambivalenz Gegenwart im Sinne einer phänomenalen Ereignishaftigkeit erscheinen.14 Wie jedes Ereignis setzt auch die ästhetische In(ter)vention dabei die Grenzen des Wirklichen und des Möglichen aufs Spiel und offenbart im Zuge dessen eine „veränderte, für den Moment aus den Fugen geratene Gegenwart“.15 Mit Martin Seel lässt sich die ästhetische In(ter)vention vor diesem Hintergrund insofern als ästhetisches Ereignis charakterisieren, als auch sie sich durch Prozesse auszeichnet, „die in ihrer komplexen sinnlichen Präsenz das Potential einer komplexen Gegenwart auffällig machen“.16 In nuce eröffnet die ästhetische In(ter)vention als Aufführung eines ereignishaften Grenzgangs somit eine Bühne für das öffentliche Hervorbringen, Gestalten und Praktizieren einer kollektiven Gegenwärtigkeit, wie sie sich in einem „Modus des Erscheinens“ ereignet,17 und erweist sich somit als eine Art wirklichkeitskonstituierender Gründungsakt. 13 Jacques Rancière: Le Spectateur Émancipé. Paris: Éditions La Fabrique, 2008d, S. 21. 14 Fischer-Lichte 2004, S. 324 u. S. 326. Zur Herstellung von Gegenwart vgl. auch Martin Seel: „Inszenierungen als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“. In: Joseph Früchtl u. Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 48-62, hier S. 58. 15 Seel 2003, S. 41 u. S. 43. 16 Seel 2003, S. 43. 17 Zum „Modus des Erscheinens“ als Charakteristikum des ästhetischen Ereignisses vgl. Martin Seel: „Ereignis. Eine kleine Phänomenologie“. In: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine AUFFÜHRUNG EINES PERFORMATIVEN GRENZGANGS 21 1.2.4. Grenzgang zwischen Politik und Ästhetik Performative Grenzgänge lassen sich sowohl für kulturelle als auch für künstlerische Aufführungen konstatieren. Beide zeichnen sich durch die liminale Erfahrung einer Grenzüberschreitung aus.18 Während künstlerische und kulturelle Aufführung hinsichtlich ihrer jeweiligen Position bezüglich ihres geteilten Grenzverlaufs voneinander divergieren, lässt sich die ästhetische In(ter)vention letztlich in einem unentschiedenen Grenzbereich zwischen beiden verorten. Dementsprechend verschließt sich das Wesen der ästhetischen In(ter)vention dem Versuch, die Grenze zwischen künstlerischer und kultureller Aufführung, respektive zwischen Politik und Ästhetik eindeutig zu determinieren, um im Zuge dessen beide Bereiche gleichsam definitiv voneinander zu unterscheiden. Stattdessen macht die ästhetische In(ter)vention eine Theoretisierung des Grenzgangs selbst erforderlich, eines Grenzgangs, der die Grenze zwischen Politik und Ästhetik im Vollzug seiner Aufführung immer wieder neu vermisst. Milton Singer führte das Konzept der „kulturellen Aufführung“ Ende der 1950er Jahre zur Beschreibung spezifischer Choreographien des Sozialen in die ethnographische Sozial- und Kulturanthropologie ein. Singers Definition zufolge strukturiert sich eine kulturelle Aufführung im wesentlichen über „a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“.19 Während sich dieser Kriterienkatalog zunächst durchaus auch in Hinblick auf Frozen Grand Central als zutreffend erweist, hat Marvin Carlson mit seiner Charakterisierung kultureller Aufführungen auf ein entscheidendes Differenzierungsmerkmal hingewiesen: Carlson zufolge handelt es sich bei kulturellen Aufführungen – im Gegensatz zur ästhetischen In(ter)vention – grundsätzlich um Zeiträume, die sich außerhalb oder jenseits des Alltäglichen aufspannen. Sie sind ihrem Wesen nach marginal – „set apart“ – und konstituieren solchermaßen einen Ausnahmezustand gegenüber der alltäglichen Erfahrungswelt.20 Eine kulturelle Aufführung zeichnet sich Carlson zufolge also dadurch aus, dass sie überhaupt nur unter der Voraussetzung des Bestehens einer intakten Ordnung als ihr je Anderes, von ihr vollkommen Unberührtes in Erscheinung treten kann. fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: Transcript, 2003, S. 37-47, hier S. 42. 18 Victor Turner war der erste, der das Konzept der Liminalität von seinem ursprünglichen Bestimmungsort des Rituals auf andere Formen der kulturellen Aufführung sowie auf die Kunst übertragen hat. Vgl. hierzu Erika Fischer-Lichte: „Einleitung: Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum Theater“. In: Victor Witter Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels (1982). Übs. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M., New York: Campus Verlag, Neuausgabe 2009, S. i-xxiii, hier S. xvi. 19 Milton Singer (Hg.): Traditional India: Structure and Change. Chicago: University of Chicago Press, 1959, S. xiii. 20 Vgl. Marvin Carlson: Performance: A Critical Introduction. London, New York: Routledge, 1996, S. 16.