Gewalt, Trauma und Beziehung

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Gewalt, Trauma und Beziehung
Gewalt, Trauma und Beziehung
Beate Steiner
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren
Es ist mir eine Ehre, heute hier vor Ihnen zu dem Tagungsthema „Gewalt und
sexualisierte Gewalt geht uns alle an“ sprechen zu dürfen, und ich möchte mich bei
den Verantwortlichen dieser Tagung und ganz besonders bei Frau Chrisine Norden,
Herrn Hannes Wechner und Frau Claudia Schwaitzer für die Einladung hier nach
Innsbruck bedanken. Diese Tagung nimmt sich eines bedeutsamen Themas an, das
immer wieder all unsere Lebensbereiche berührt, und ist ein Beitrag zu einer Kultur
des Hinsehens und Benennens statt des Wegsehens und Verschweigens von Gewalt
und sexualisierter Gewalt.
Nach einer kurzen Einführung werde ich das Thema meines Vortrags Gewalt - Trauma
- Beziehung nach folgenden Gesichtspunkten behandeln. Bitte bedenken Sie dabei,
dass ich mich bei diesem sehr komplexen Tagungsthema auf einige mir wesentlich
erscheinende Aspekte vor allem aus Zeitgründen begrenzen muss.. Ich kann aber
davon ausgehen, dass in den Impulsreferaten und Workshops verschiedene
Dimensionen dieses Problembereichs vertieft werden.
Ich werde über folgende Aspekte sprechen

Was verstehen wir unter Gewalt ?

Gesellschaftlich soziale und personale Ursachen für Gewalt

Wann wird Gewalt zum Trauma bzw. zum Beziehungstrauma?
o Akute Traumafolgen
o Langfristige Traumafolgen und Verhaltensmerkmale
o Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht

Gewaltprävention
Ich beginne mit einer kurzen Einführung in das Thema
Obwohl wir uns um eine Kultur des Hinsehens bemühen, gehören Ausweichen,
Verbergen, Verschweigen, Wegsehen und Weghören, kurz das Verleugnen von
Gewalt und sexualisierter Gewalt durch das nahe Umfeld, durch Familienangehörige und auch durch ehrenamtliche oder hauptamtliche Fachkräfte in Institutionen - zum
Alltag. Wir alle neigen zum Verleugnen von Gewalt, die Menschen an Menschen
verüben, weil das unser Selbst- und Weltbild und unser Bedürfnis nach Sicherheit und
Unversehrtheit nachhaltig erschüttert. Gewalt von Menschen an Menschen
verunsichert uns zutiefst in unserem Vertrauen auf Mitmenschlichkeit, Verantwortung
für den Nächsten, Liebe und Geborgenheit. Deshalb verschließen wir die Augen vor
Gewalttaten, die tagtäglich in unserer Gesellschaft geschehen, und werden so letztlich
zu schweigenden Bundesgenossen der Gewalt. Nach wie vor findet der überwiegende
Teil von Gewalttaten in Familien und sozialen Institutionen im Verborgenen statt und
gelangt nicht an die Öffentlichkeit, obwohl eine Sensibilisierung für das Thema
stattgefunden hat und auch gesellschaftlich vorangetrieben wird.
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Im Gegensatz zur Diskussion über sexualisierte Gewalt im familiären Kontext wurde
die Täterschaft durch Professionelle in der sozialen Praxis, mindestens bis zur
Jahrtausendwende, wenn überhaupt, eher in leisen Tönen zum Thema gemacht. Die
Hintergründe für das ausbleibende Bemühen um eine offene und breite
Problematisierung sind im Leitbild und Selbstanspruch der Institutionen zu suchen,
deren Zielgruppe Kinder und Jugendliche sind. Das Leitbild des modernen Kinder- und
Jugendschutzes ist getragen vom Anspruch, zum Wohl der jungen Menschen zu
handeln. Damit einher geht die Überzeugung, dass junge Menschen in sozialen
Einrichtungen vor Gefahren für ihr Wohlergehen geschützt sind und sie bei der
Verarbeitung von Beeinträchtigungen, wie etwa in der Familie, unterstützt werden. Mit
diesem Selbstbild und Anspruch ist die Tatsache nur schwer in Einklang zu bringen,
dass draußen verortete Gefahren auch in den Einrichtungen bestehen können, und
unter den eigenen Kollegen, Mitarbeitern, Vorgesetzten auch Personen sein können,
die entgegen diesem Selbstbild handeln (vgl. Bundschuh 2010, 7). Werden in einer
Einrichtung Gewalttaten durch Fachkräfte verübt, brechen die Idealvorstellungen
zusammen und die Neigung wächst, das Geschehene nicht wahrhaben zu wollen, es
gar zu rechtfertigen (vgl. Bundschuh 2010, 8). Nicht selten wurden ausgemachte Täter
in den eigenen Reihen als Ausnahmefälle dargestellt, als Eindringlinge aus einer
anderen Welt, die im Normalfall nicht in der Welt der Institutionen vorkommen. Nur
zögerlich finden Befunde Anerkennung, „wonach Menschen mit sexuellen Interessen
an Kindern vielfach sehr gezielt Beschäftigungen in Institutionen für Kinder und
Jugendliche suchen, und auch die inzwischen allgemein zugängliche Vielzahl von
Opferberichten hat offensichtlich noch nicht allerorts zum Umdenken bewogen.“
(Bundschuh, 2010, 8)
Eindrucksvoll waren in der Vergangenheit die Kartelle des Schweigens, wenn es um
Missbrauch in angesehenen kulturellen Einrichtungen ging, ob nun in katholischen
oder reformpädagogischen. In den letzten Jahren wurde die Weltöffentlichkeit
aufgerüttelt von Missbrauchsskandalen innerhalb der katholischen Kirche, ob nun in
Österreich, Deutschlandn Amerika oder jüngst wieder in Irland. „Sexualisierte Gewalt
gegen Kinder durch Vertreter der Kirchen scheint jener Teilbereich der
Gesamtproblematik >Missbrauch in Institutionen< zu sein, der in den letzten Jahren
die größte Aufmerksamkeit erfahren hat. Die bekannt werdenden Fälle insbesondere
in der katholischen Kirche erregen (auch deshalb) besondere Aufmerksamkeit, weil
hier ein quasi doppelter Tabubruch vollzogen wurde. Die propagierten Werte und
Normen (sexuelle Enthaltsamkeit für Priester und Ordensmitglieder und
vergleichsweise rigide Vorschriften im Hinblick auf die Sexualität der Menschen
weltweit) stehen (-) in völligem Widerspruch zu dem, was manche kirchliche
Würdenträger offensichtlich faktisch leben. Sicherlich ist die besondere Brisanz ein
Grund für die Tatsache, dass von Seiten der Kirche nach der (-) Aufdeckung von
Missbrauchsfällen in verschiedenen Teilen der Welt.“ (Bundschuh, 2010, 25) teilweise
Forschungsarbeiten in Auftrag gegeben und Untersuchungskommissionen zur
Erfassung regionaler Gegebenheiten eingerichtet wurden.
In Österreich gab es in den vergangenen Jahren in allen Diözesen Initiativen zum
Umgang mit Missbrauch und Gewalt in der Kirche. Z. B. wurden in allen Diözesen
Ombudsstellen als unabhängige Anlaufstellen für Opfer von Missbrauch und Gewalt
eingerichtet.
Die Öffentlichkeit wird aber nicht nur durch spektakuläre Fälle sexuellen Missbrauchs
in Institutionen und in Familien aufgerüttelt, sondern von Zeit zu Zeit durch Fälle
extremer Vernachlässigung von Kindern, die gequält und zu Tode geprügelt oder für
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kinderpornographische Zwecke missbraucht werden. Nach den neusten Statistiken
(Kriminalstatistik für 2011) sterben in Deutschland 3 Kinder in der Woche an
Missbrauch und werden täglich 39 Kinder sexuell missbraucht. Missbrauch hat im
Vergleich zum Vorjahr um 3,9 % zugenommen. Drastisch nach oben, um 23 % ist die
Zahl der erfassten Fälle derjenigen gegangen, die im Besitz und an der Verbreitung
von Kinderpornographie beteiligt sind. Bei all dem handelt es sich um Zahlen aus dem
Hellfeld, die Dunkelziffern liegen weit höher.
In den letzten Jahren hat das Thema Gewalt und Vernachlässigung in der Pflege, vor
allem der Altenpflege ebenfalls Eingang in das öffentliche Bewusstsein gefunden,
wogegen Gewalt an Behinderten und in Heimen ein eher unbeachteter Bereich zu sein
scheint. „Nach bisherigen Erkenntnissen stehen behinderte Menschen allgemein
stärker als nicht Behinderte in der Gefahr, Opfer unterschiedlicher Formen der Gewalt
zu werden, zumal ihre Möglichkeiten des Selbstschutzes und der Artikulation von
Gewalterfahrungen unterschiedlich eingeschränkt sind. Laut Angaben der UNO sind
behinderte Mädchen und Frauen doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen
wie nicht behinderte weibliche Menschen“ (vgl. Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend 2007, 155 in Bundschuh 2010 ).
Am Ende meines einführenden Überblicks möchte ich eine Minute lang pausieren und
Sie dazu anregen, in Ihrem Inneren einen Fall von Gewalterfahrung auftauchen zu
lassen, von dem Sie gehört oder gelesen haben. Lassen Sie sich von dem, was in
Ihnen persönlich auftaucht, durch den weiteren Vortrag begleiten.
Was verstehen wir unter Gewalt?
Der Begriff Gewalt, Leitbegriff dieser Tagung, wird abgeleitet vom
Althochdeutschen waltan und bedeutet stark sein, beherrschen und beinhaltet somit
Ausübung von Macht. Was unter Gewalt verstanden und wie sie bewertet wird, ist
grundsätzlich immer abhängig vom sozialen Kontext. In einer Demokratie wird der
Gewaltbegriff anders definiert als in einer Diktatur und schlägt sich in einer
entsprechenden Gesetzgebung nieder und darin, wie Gewalt geahndet wird.
Gewalt in der Erziehung bedeutet Interessen und Machtansprüche, persönliche
Wünsche und Bedürfnisse der Erziehenden mittels unterschiedlicher Arten von
seelischem und körperlichen Zwang durchzusetzen und so dem Kind und
Jugendlichen den eigenen Willen aufzuzwingen oder sie etwas machen zu
lassen, was sie nicht wollen. Das Gleiche gilt für Gewalt gegenüber Behinderten,
alten und hilflosen Menschen.
Wie Sie wissen wird Gewalt unterteilt in physische, psychische, sexualisierte Gewalt,in
Vernachlässigung und institutionalisierte Gewalt.
Unter physischer Gewalt wird jede körperlich schädigende, äußere Einwirkung auf
andere, in unserem Zusammenhang auf Kinder, Jugendliche und besonders
schutzbedürftige Personen verstanden. Körperliche Gewalt äußert sich in z.B. in
folgenden Verhaltensweisen: schlagen, treten, den Arm umdrehen, an den Haaren
reißen, schütteln, stoßen, Krankheiten herbeiführen oder in anderer Weise
körperlichen Schmerz auszulösen bis hin Folter und Mord.
Jeder Akt körperlicher Gewalt geht einher mit psychischer: Ein Kind schlagen bedeutet
ihm Schmerz zufügen; gleichzeitig ist es eine Botschaft an seine Seele: Du bist
schlecht, du bist nichts wert.
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Unter psychischer Gewalt ist emotionale Misshandlung zu verstehen. Sie ist die
häufigste Form von Gewalt. Viele Kinder erleben sie alltäglich, sie wird ihnen bewusst
aber ebenso oft ungewollt zugefügt. Seelische Gewalt kann sich in vielen Formen
zeigen, in sehr subtilen, seelenblinden und sehr groben Verhaltensweisen, bis hin zu
solchen, die Seelenmord (Shengold 1989,
Wurmser 1999) zum Ziel haben.
Seelenblindheit findet statt, wenn Menschen in ihrem Grundbedürfnis, als Individuen
gesehen und respektiert zu werden, von den wichtigen Bezugspersonen keine
Resonanz erfahren; Seelenmord, wenn dieses Grundbedürfnis absichtlich missachtet,
oder Identität absichtlich zerstört wird (vgl. Wurmser 1999, 209).
Seelische Gewalt steckt in allen Verhaltensweisen, die Kindern, Jugendlichen das
Gefühl des Ungeliebtseins, von Minderwertigkeit, Wertlosigkeit oder Überfordertsein
vermitteln; Verhaltensweisen, die es isolieren, mutwillig Angst machen, ausnützen und
korrumpieren.
Drangsalierung
(Mobbing)
auch
mit
elektronischen
Kommunikationsmitteln (Cybermobbing) zählt auf der Ebene der Gleichaltrigen ebenso
zu psychischer Gewalt.
Psychische Gewalt ist immer Teil jeder Form von Gewalt, ob es sich um
Vernachlässigung, Misshandlung oder sexualisierte Gewalt handelt.
Sexualisierte Gewalt ist der Oberbegriff für sexuelle Handlung allgemein, die die
Grenze und Würde des Gegenübers verletzen. Sexualisierte Gewalt kennt viele
Formen
und
Abstufungen.
Sexuelle
Übergriffe,
sind
immer
auch
Grenzverletzungen, geplant und passieren absichtlich, sind oft massiv und
geschehen häufig, im Unterscheid zu zufälligen, unabsichtlichen Grenzverletzungen,
die nicht als Übergriff gelten. In vielen Fällen besteht ein fließender Übergang
zwischen sexuellen Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt.
Zu den sexuellen Übergriffen zählt u.a.: ein Erwachsener verlangt von einem Kind
Zärtlichkeit, berührt wiederholt wie zufällig die Brust oder die Genitalien eines Kindes,
schaut beim Duschen, Ankleiden intensiv z. B. auf den Penis eines Jungen, macht
sexuell getönte Bemerkungen, gibt sexuell gefärbte Spielanleitungen (Flaschendrehen
mit Entkleiden). Geht ein Erwachsener auf sexualisiertes Verhalten eines Kindes ein,
verhält er sich ebenfalls sexuell übergriffig, wenn er keine Distanz wahrt.
Erwachsene und Jugendliche, die sexuelle Übergriffe verüben, verletzten die Würde
von Kindern und verstoßen gegen gesellschaftlich anerkannte Regeln eines
respektvollen Umgangs. Geäußerte Kritik an ihrem übergriffigen Verhalten missachten
sie oftmals. Parteilichkeit von Erwachsenen oder Kindern für die Opfer stellen sie
gerne als Verrat, Hetzerei oder Mobbing dar. In manchen Fällen bereiten Täter durch
sexuelle Übergriffe einen strafrechtlich relevanten sexuellen Missbrauch vor.
Unter sexuellem Missbrauch sind alle sexuellen Handlungen von Erwachsenen
an Kindern zu verstehen, die strafrechtlich relevant sind. Es handelt sich um
„Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (§§ 174 ff. StGB). Sexueller
Missbrauch kann mit und ohne Körperkontakt stattfinden. Strafbare Handlungen ohne
Körperkontakt sind z. B. exhibitionistische Handlungen (eigene Geschlechtsteile zur
Schau stellen, sich vor Kindern befriedigen). Strafmündige Jugendliche (in österreich
ab dem Alter von 16 Jahren) können als Täter ebenfalls strafrechtlich zur
Verantwortung gezogen werden.
Strafbar ist es auch, Kindern pornografische Bilder oder Videos zu zeigen. Ein
sexueller Missbrauch mit Körperkontakt liegt vor, wenn der Erwachsene oder
Jugendliche sexuelle Handlungen am Kind ausführt oder es sexuelle Handlungen an
Erwachsenen oder anderen Kindern oder sich selbst ausführen lässt.
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Sexueller Missbrauch wird mehrheitlich von Männern begangen. Die polizeiliche
Kriminalstatistik weist zu rund 96 % Männer als Täter aus, Erhebungen im Dunkelfeld
gehen von 90% männlicher Täter aus und einem Frauenanteil von ca. 10 %.
Eine passive Form von Gewalt ist Vernachlässigung, die durch Unterlassung
gekennzeichnet ist. Sie beinhaltet unzureichende oder gar nicht geleistete körperliche
und seelische Betreuung und Versorgung. Wegen ihres schleichenden Verlaufs wird
sie allgemein zu wenig beachtet. Sie hat im Extrem den Tod des Vernachlässigten zur
Folge, ob nun beim Kind oder beim alten Menschen, und ist mit großer körperlicher
und seelischer Qual verbunden.
Bei institutioneller und struktureller Gewalt bleiben die Machthaber i. d. R. namenund gesichtslos. Wenn Institutionen eine undurchschaubare Struktur zwischen
Gewalttäter und Opfer herstellen, wird die strukturelle Gewalt vom Opfer wie eine
unabwendbare Naturgewalt erlebt, die jede Gegenwehr ausschließt (Fässler 1987,
249) und beinhaltet so ein hoch traumatisierendes Potential.
Gesellschaftlich soziale und personale Ursachen für Gewalt
Alle Formen von Gewalt haben ihre Ursache in gesellschaftlichen, sozialen,
normativen, familiären und persönlich-seelischen Gegebenheiten.
Seit körperliche Gewalt in der Erziehung unter Strafe steht und die Ursachen von
Gewalt gegenüber Kindern mehr beforscht werden, wissen wir, dass sie meist aus
Überforderung, Verzweiflung und bei Alkoholismus geschieht.
So neigen Eltern zu körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern, die oft innerhalb
ihrer Ursprungsfamilie Zurückweisung und einen gewalttätigen Erziehungsstil erlebt
haben. Zu Hause Opfer, werden die Kinder dann in der Schule Täter an Jüngeren. Da
sie aufgrund der problematischen Erziehung in der Familie häufig in der Schule
versagen und sozial ausgrenzt werden, neigen sie dort verstärkt zu körperlicher
Gewalt. Untersuchungen in diesem Zusammenhang zeigen, dass Armut,
Arbeitslosigkeit und ein gewaltbereites Umfeld körperliche Gewalt begünstigen.
Mangelndes Vertrauen in die Zukunft und wenig Perspektiven, Mangel an Bildung und
Aufklärung, die Angst und Unsicherheit schüren, machen Jugendliche aggressiver und
anfälliger für Gewalt.
Auch die Medien, die Gewalt oft als Konfliktlösung propagieren, tragen zu einem
Klima der Gewalt bei, da Kindern und Jugendlichen sich oft mit der Einseitigkeit der
Mittel identifizieren und die vorgelebten Gewalthandlungen übernehmen.
Körperliche Gewalt durch Mitarbeiter in Institutionen gegenüber Kindern scheint
heutzutage weniger ein Problem. Aber sie nimmt gegenüber alten und besonders
schutzbedürftigen Personen aufgrund von Überlastung und Überforderung des
Pflegepersonals zu. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass Pflegepersonen,
die massive unbewusste, unverarbeitete Gewalterfahrungen aus der eigenen
Sozialisation mit sich herumtragen und deren Affekttoleranz eher niedrig ist, eher zu
Gewalt neigen, als gut strukturierte Personen.
Grundsätzlich begünstigen äußere Machtunterschiede und strenge Hierarchien
körperliche oder sexuelle Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern und
Jugendlichen. In solchen Strukturen kann der Mächtige seine Macht zum Durchsetzen
egoistischer oder struktureller Interessen ausnutzten.
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Ebenso fördern autoritäre Erziehungsvorstellungen in Familie und Schule, die
bedingungslosen Gehorsam erzwingen, das Ausüben von Gewalt. Unter dem
Deckmantel des Gehorsams lässt sich alles erzwingen, z.B. auch die Geheimhaltung
eines sexuell missbrauchenden Geschehens. Eine repressive Sexualerziehung kann
ebenfalls eine Ursache für sexuelle Übergriffe und Missbrauch sein. Unwissenden und
eingeschüchterten Kindern fällt es eher schwer, zu erkennen, was ihnen geschehn ist,
sich zu wehren, Hilfe zu holen und auszudrücken, was ihnen passiert ist. Repressive
Sexualerziehung, die Sexualität moralisch auflädt, als sündhaft etikettiert und gar
bestraft, schürt Schuldgefühle, die dazu führen, dass sich das Opfer von Missbrauch
immer schuldig fühlt und aus Scham und Schuld nur mit größter Mühe über das
sprechen wird, was ihm widerfahren ist, was wiederum Tätern zuspielt.
Die genannten gesellschaftliche sozialen und familiären Gegebenheiten wirken sich
entscheidend auf das Seelenleben des Kindes aus und führen u.U. dazu, dass bereits
ein Kind gegen andere gewalttätig wird, meist aber in der Wendung der Agression
gegen die eigene Person gegen sich selbt. Aus psychoanalytischer Sicht ist in
diesem Zusammenhang der entwicklungspsychologische Vorgang der Identifikation
mit dem Aggressor grundlegend, aber auch der Mechanismus der Wendung der
Agression gegen sich selbt und das Reinszenierung des Erlebten und damit die
Übertragung von Gewalterfahrung in gegenwärtige Beziehungen und immer wieder
Rollentausch und die Umkehr der Täter-Opfer-Konstellation. Ich werde auf diese
Aspekt noch eingehen, wenn ich über die Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht
sprechen werden. An dieser Stelle möchte ich aber schon einmal die besondere
Bedeutung der Identifikation für das Verständnis von Gewaltausübung als mögliche
Folge von erfahrener Gewalt in der Kindheit hinweisen. Jedes Kind identifiziert sich mit
seinen Eltern, mit wichtigen Personen seines Umfelds, wie Erziehern, Lehrern,
Priestern. Es will sein wie sie; entweder global oder in bestimmter Hinsicht. Üben sie
Gewalt aus und missbrauchen es, identifiziert sich das Kind auch mit diesen
Handlungen und findet sie „richtig“. Es übernimmt sogar unbewusst die Schuld seiner
Eltern und Vorgesetzten und interpretiert ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein
eigenes scheinbar böses, schlechtes Wesen. So übernimmt (es) - die lieblose Haltung
(-) sich selbst gegenüber. Alles, was ihm eigen ist lehnt es zunehmend ab und verwirft
es als etwas Fremdes (vgl. A. Gruen, 2000, 14/15). Das eigentliche, von außen
kommende Fremde breitet sich aber stattdessen im seinem innerpsychischen Raum
immer mehr aus. Es macht im Extrem aus dem Kind eine Marionette, einen
Automaten, ein Ding, über das die Täter lange Zeit beliebig verfügen können.
Sexuualisierte Gewalt findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Wenn
missbrauchende Erziehungspersonen nicht in der Lage sind, sich empathisch in ein
Kind einzufühlen und seine Bedürfnisse nach Nähe und Zärtlichkeit als Aufforderung
zu sexuellen Handlungen missinterpretieren, geschieht dies in aller Regel auf dem
Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte und psychosexuellen Entwicklung und
eigener Defizite. Schon 1932 sprach der ungarische Psychoanalytiker Sándor
Ferenczi von der „Sprachverwirrung“ zwischen dem Erwachsenen und dem Kind.
Bei dieser Sorachverwirrung antwortet der Erwachsene auf die Sprache der
Zärtlichkeit des Kindes in der Sprache Sexualität (S. Ferenczi 1932). Der Erwachsene
macht sich vor seine sexuelle Begierde sei das Begehren des Kindes. Aus dieser
Überzeugung heraus wiederholt er dann das, was ihm selbst als Kind einmal angetan
wurde. Aus „einer Art egoistischer Rücksichtslosigkeit“, wird „die eigene Bedürftigkeit,
ausgelebt (und) in der sexuellen Befriedigung an die erste Stelle gesetzt“ (Hirsch, S.
15/16). Zusätzlich müssen oft rationalisierende Überzeugungen, Kinder bzw.
Jugendliche als scheinbar gleichberechtigte Sexualpartner des Erwachsnen
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anzusehen, das eigene Tun und damit einen ausbeutenden Umgang mit der
kindlichen Sexualität legitimieren.
Wann wird Gewalt zum Trauma bzw. zum Beziehungstrauma?
Nicht jede körperliche, seelische und sexuelle Gewalterfahrung wirkt traumatisierend,
aber immer wird sie von Betroffenen als kränkend, belastend oder verstörend
empfunden.
Freud stellte 1893 (Vorläufige Mitteilung, Breuer & Freud 1893, 84) fest, dass „jedes
Erlebnis (traumatisch) wirken (könne), welches die peinlichen Affekte des Schreckens,
der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft“ (in L. Wurmser, 1999,
68). Dies ist ein weitgefasster Traumabegriff, dem sehr eng gefasste
gegenüberstehen, die nur eine objektive Lebensbedrohung als Trauma gelten lassen
(PTBS-Diagnose). Gewalt, die seelische und/oder körperliche Verletzung bewirkt, ist
eng mit Traumatisierung verbunden, denn schon vom Begriff her bedeutet "trauma"
wörtlich "Wunde, Verletzung".
Ob Gewalt eine traumatische Wirkung entfaltet, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
von der Intensität der Gewalthandlung, dem Alter des Kindes und damit vom Grad
seiner Schutz- und Hilflosigkeit – letzteres gilt ebenso für Behinderte und Alte – von
der Dauer der Schädigung, der emotionalen Nähe zum Täter und damit der Art des
Abhängigkeitsverhältnisses, außerdem zentral vom subjektiven Erleben des Opfers,
dem Verhalten des Umfelds und der Reaktion nach erfolgter Aufdeckung (vgl. Fischer
& Riedesser 1999).
Widerfährt Gewalt dem Kind, Jugendlichen von nahen Bezugspersonen in Familie
oder Institution (Oberbegriff Beziehungstrauma) über längere Zeit immer wieder, ist
dieses Geschehen stets traumatisch; vor allem dann, wenn das Opfer nicht mit
anderen Menschen darüber sprechen kann und schützend und stützend aufgefangen
wird. Wir sprechen hier von sich aneinanderreihenden, also kumulativen
Beziehungstraumata, das können Mikrotraumata sein oder gravierendere.
Beziehungstraumata werden durch enge Bindungspersonen in Familien und
Institutionen hervorgerufen, die eigentlich Sicherheit und Schutz gegen
Traumatisierung gewährleisten sollen. Werden grenzverletzende Beziehungstraumata
durch einen Menschen hervorgerufen, der eine besondere Vertrauensstellung innehat,
wird das Vertrauen des Kindes und Jugendlichen in die Zuverlässigkeit seines
Fühlens, Denkens und seiner Wahrnehmung untergraben und sein Vertrauen in die
Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen zerstört. So wird das vitale Bedürfnis des Kindes
nach Orientierung durch den Erwachsenen irritierend in die Irre geleitet. Gewalt in
Institutionen bedeuten ebenso wie in der Familie eine weitreichende Erschütterung
seines Vertrauens in eine beschützende und wertschätzende Bindung. Ist ein Kind in
der traumatischen Situation mit Verlustdrohung, Verrat und unterlassenem Schutz
durch eine Verweigerung der Zeugenschaft konfrontiert, gerät ein traumatisches
Ereignis stets zu einem Trauma.
Wie Untersuchungen belegen, gelten traumatische Beziehungserfahrungen in der
Kindheit als die gravierendste Ursache für psycho-pathologische und
psychosomatische Entwicklungen (vgl. J. Bauer 2002). Da sie die Bindungssicherheit
des Kindes beeinträchtigen oder gar zerstören, wirken sie sich besonders auf die
gesunde psychische Entwicklung aus. Sie verzerren die Vorstellungen von Beziehung
und schädigen die Bindungsfähigkeit des Kindes und späteren Erwachsenen.
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Ich betone das hier noch einmal nachdrücklich, weil ich davon ausgehe, dass
Beziehungstraumata, die nicht durch alternative tragende und beschützende
Beziehungserfahrungen
aufgefangen
werden,
bedingen,
dass
im
Wiederholungszwang später immer wieder Täter-Opfer-Konstellationen hergestellt
werden. Die Auswirkungen schwerer Traumatisierung im Kindesalter auf die seelische
Gesundheit und auf neurobiologische Strukturen gehen weit über das hinaus, was
Traumata bei Erwachsenen anzurichten vermögen. Wiederholte Traumatisierung greift
bei Erwachsenen eine bereits geformte Persönlichkeit mit spezifischen
Kompensationsmöglichkeiten an, bei Kindern dagegen prägen und deformieren
wiederholte Traumatisierungen die Persönlichkeit.
Akute Traumatisierung und Traumafolgen
Gewalt wird immer dann zum Trauma, wenn die erbbiologisch vorgegebenen Muster
von Kampf und Flucht unmöglich sind. Kinder und besonders schutzbedürftige
Menschen können in einer traumatischen Situation weder kämpfen noch fliehen. Frühe
Gewalterfahrungen haben daher die massivsten Folgen. Indem es in der frühen
Kindheit absolut kein Entrinnen gibt, bedeutet Gewalt „totale Stimulation“, maximale
Erregung, totaler Stress in einem Zustand totaler Hilflosigkeit und Ohnmacht. Die
totale Stimulation bewirkt eine Überflutung des gesamten seelisch-körperlichen
Organismus mit unerträglichen Gefühlen, die ihn in einen Zustand höchster körperlich
empfundener Erregung versetzen (vgl. L.Wurmser 1990, 1999).
In erbbiologisch vorgegebener Weise setzt ein Notfallprogramm ein, das die
Schmerzempfindung ausschaltet (Dissoziation) und mit emotionaler Betäubung,
Stumpfheit, einer inneren Schockstarre/Dissoziation einhergeht (Konstriktion).
Grafik I (Grafiken sind als PDF-Datei gesondert angefügt)
In der Folge wird dann jedes emotionale Erleben (Triggerfunktion) so verarbeitet, als
kehre der qualvolle traumatische Zustand zurück, was zu erneuter Affektüberflutung
und damit zu Maximalerregung und sich anschließender Schockstarre/Dissoziation
führt. Erfolgt keine angemessene dauerhafte Beruhigung und Zuwendung kommt es
langfristig zu einem partiellen Entwicklungsstillstand. Dann fällt es auch im späteren
Leben schwer, die eigenen Affekte zu regulieren, Gefühle voneinander zu
unterscheiden, sie in Worte zu fassen und sie nicht nur körperlich wahrzunehmen.
I.d.R. fliehen Taumatisierte, ob jung oder alt, wenn ihre üblichen seelischen
Verarbeitungsmöglichkeiten nicht greifen, immer wieder in einen veränderten,
tranceartigen
Bewusstseinszustand.
Innerhalb
dieses
Abkoppelungs/Spaltungsprozesses werden all die Realitäts-, Körper- und Affektwahrnehmungen,
die Panik und Erregungsüberflutung bedeuten, voneinander getrennt. Dabei ist eine
Möglichkeit der Dissoziation die „Selbstverdoppelung“. Dissoziation ist ein
Selbstschutz der Seele vor unerträglichem seelischem oder körperlichem Schmerz.
Die Person koppelt sich in einem solchen Zustand vom erleidenden Ich
(Depersonalisation) ab und erlebt das Geschene als völlig unwirklich (Derealisation).
Das misshandelte Kind beispielsweise erlebt sich verdoppelt als unbeteiligter
Beobachter, der von außen das malträtierte, zusammengekrümmte Kind auf dem
Boden liegen sieht und den handgreiflichen Täter über ihm. Orwell hat in seinem
Roman „1984“ Dissoziation als „Doppeldenk“ beschrieben. Damit schützt sich der
Betroffene ebenfalls vor unerträglichen seelischen und körperlichen Schmerzen und
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vor einem Geschehen, das kognitiv nicht zu verarbeiten, nicht zu denken ist. Die
Wendung „Das will mir nicht in den Kopf hinein“ , drückt es körpernah aus.
Misshandelte oder Missbrauchte entwickeln als Reaktion auf das Trauma ihre
dissoziativen Fähigkeiten zu einer hohen Kunst. Sie lernen etwa, starke Schmerzen zu
ignorieren, ihre Erinnerungen unbewusst hinter komplexen Amnesien zu verbergen,
Halluzinationen herzustellen und in Allmachtsphantasien zu fliehen. Diese
Spaltungsvorgänge geschehen häufig automatisch, manche werden als fremd und
unfreiwillig empfunden.
Neurobiologisch beinhaltet Dissoziation eine Selbstbetäubung des Gehirns, denn
die Signale die im Moment der Traumatisierung (später bei Intrusion) auf die
Nervenzellen-Netzwerke der Großhirnrinde und auf das mit ihm verbundene limbische
System (Zentrum für emotionale Intelligenz) eintreffen, führen zur Aktivierung von
Genen eines körpereigenen Betäubungssystems, den sog. Endorphinen. Auf diese
Weise findet neben der seelischen auch eine körperliche Trennung vom körperlichen
Empfinden statt (vgl. Bauer, J. 2002, 216).
Grafik II
Sándor Ferenczi hat Dissoziationen als Traumafolge bereits in den 20er und 30er
Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet. Die Anfänge der Beschreibung
dissoziativer Phänomene reichen aber weit ins 19. Jahrhundert (Janet, Charcot)
zurück und waren die Grundlage der ersten Konzepte Freuds.
Dissoziation schützt aber nicht davor, dass in der Folge das geringste Signal, ein sog.
Trigger (ein Gegenstand, ein Geruch, eine Farbe, ein Geräusch), das mit dem
traumatischen Ereignis in Verbindung gebracht wird, die Erinnerung an das Trauma
wieder auslöst. Geschieht dies, wird das Kind erneut in den höchst beängstigenden,
beschämenden und ohmächtigen Zustand der traumatischen Situation katapultiert, wo
es von Affekten überflutet wird. Dann kann es auch nicht mehr zwischen damals und
heute unterschieden, erlebt es sich so, als ereigne sich das Trauma gerade wieder.
Zur Bewältigung dieses unerträglichen Zustandes tritt erneut die traumatische
Reaktion der Dissoziation und der Erstarrung ein. So endet das Erleben von Gewalt
nicht einfach, wenn die reale Bedrohung aufhört, sondern geschieht im Erleben wieder
und wieder und chronifiziert sich, wenn keine angemessene Hilfe vorhanden ist.
Langfristige Traumafolgen
Die langfristigen Auswirkungen von Traumata können zu ganz verschiedenen
Symptomen und zu unterschiedlichen Formen und Ausprägungsgraden führen
und zu verschiedenen Verläufen. Das Spektrum reicht von relativer Bewältigung bis
zu weitreichenden, chronischen und strukturellen Persönlichkeitsänderungen.
Bei einer Chronifizierung kommen langfristige folgende Symptome vor (chronische
PTBS)

sich aufdrängende, belastende Gedanken oder Erinnerungen an das Trauma
(Bilder, Angstträume, flashbacks)
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
Dissoziation: (Trance, psychogene Krampfanfälle. Konversionsstörungen,
Verwirrtheit, Amnesie, Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen)

Vermeidungsverhalten (Situationen und Dinge, die an das Trauma erinnern,
werden nach Möglichkeit aktiv vermieden)

emotionale
Stumpfheit
(allgemeiner
Rückzug,
Gleichgültigkeit, innere Teilnahmslosigkeit, Fühllosigkeit)

Übererregbarkeitssymptome (»hyperarousal«; Schlafstörungen, Reizbarkeit,
Konzentrationsstörungen, Irritierbarkeit, Schreckhaftigkeit, Affektintoleranz)
Interessenverlust,
Grafik III
Längerfristig können sich schon bei Kindern auch andere Störungsbilder zeigen, wie
Einnässen und Einkoten, Phobien, Angst- und Panikstörungen, somatoforme
Störungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und schwere Neurosen, ADHS
(Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung) und Verhaltensprobleme im Betragen;
vor allem aber später auch Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit (Alkohol,
Benzodiazepine, Opiate), Depressionen suizidales und selbstverletzendes Verhalten
bis hin zu psychotische Symptomen.
Was die massenweise gestellte Diagnose der ADHS bei Kindern angeht, stellt D.
Weinberg fest, dass diese Diagnose bei vielen Kindern, die tiefe Bindungsproblematik,
das negative Selbstkonzept und ihre Verweigerung gegenüber Anforderungen
verdeckt. Ihre mangelhafte Verhaltenskontrolle und Aufmerksamkeitsstörung,
resultiere in den meisten Fällen aus einer defizitären Affektkontrolle als Traumafolge,
einhergehend mit dissoziativen Phänomenen und einer Reinszenierung der
traumatischen Situation (vgl. Weinberger, 2010, 12).
Verhaltensmerkmale
Für einen erleichterten Umgang mit den Folgen Gewalt würden wir uns gerade auch
bei sexuellem Missbrauch wünschen, eindeutige Merkmale im Verhalten des Kindes
zu haben, die uns eine Erkennung von sexueller Gewalt ermöglichten. Diese gibt es
aber leider nicht.
Besonders wenn Traumatisierung in früher Kindheit stattgefunden hat, haben wir es
mit einer extremen Vielgestaltigkeit, Weitläufigkeit und Verstecktheit der Symptomatik
zu tun, die uns leicht dazu verführt, Traumafolgen u. U. gar nicht in Betracht zu
ziehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass eine nicht geringe Zahl von
bereits füh traumatisierten Kindern im Kindergarten und in der Schule anzutreffen sind.
Körperliche Symptome von Gewalteinwirkung können mehr oder weniger eindeutig
sein, wie z.B. Verletzungen von Haut und Augen, Blutergüsse, Frakturen,
Verbrennungen oder andere sichtbare Verletzungen. Oft aber bleiben die körperlichen
Beeinträchtigungen verborgen, und die dazugehörigen psychischen sind, wie oben
ausgeführt, noch schwerer erkennbar, da von mannigfaltiger Symptomatik verdeckt.
Symptome nach sexuellem Missbrauch können von einem Arzt festgestellt werden,
wenn dieser entsprechend geschult ist.
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Die meisten Kinder, die sexuelle Gewalt in Institutionen erleben, fallen zunächst
nicht auf. Mitarbeiter in Institutionen, die mit Kindern arbeiten, sollten aber aufmerksam
werden, wenn ein Kind oder Jugendlicher folgende schleichende oder deutliche
Veränderungen zeigt: sozialer Rückzug, plötzlich auftretende Ängste, Bauch- und
Kopfschmerzen,
Schlafstörungen,
Albträume,
Einnässen,
Erbrechen,
Essensverweigerung Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverletzendes Verhalten,
Weglaufen, verstärkte Masturbation, sexualisiertes Verhalten und psychosomatische
Reaktionen. Grundsätzlich kann jede Verhaltensauffälligkeit ein Hinweis auf sexuelle
Gewalt sein. Da ein möglicher Missbrauch nie auszuschließen ist, muss unerklärbar
auffälligem Verhalten unbedingt immer nachgegangen werden.
Sexuell
traumatisierte
Buben,
verdecken
die
mit
dem
Missbrauch
zusammenhängenden Symptome sehr häufig durch ein Bewältigungsverhalten, das
als „typisch männlich“, „hart“ oder „cool“ fehlinterpretiert wird. Leicht werden z.B.
aggressive Ausbrüche als unerklärliche oder sinnlose Gewalt qualifiziert, obwohl sie
Ausdruck einer Traumatisierung sein können.
Oft haben diese Buben das Gefühl „unnormal“ zu sein, weil sie meinen, sie hätten sich
freiwillig an den sexuellen Handlungen beteiligt, fühlen sich schuldig, wenn sie
während des sexuellen Missbrauchs eine Erektion hatten. Sie haben Angst, „pervers“
zu sein und später selbst zum Sexualtäter zu werden; oder Angst, schwul zu sein oder
als schwul zu gelten ( „nicht männlich“) oder als „Opfer“ diskreditiert zu werden (ein
gebräuchliches Schimpfwort unter Gleichaltrigen). Selten suchen sie Hilfe, weil das
einem Eingeständnis gleichkäme, selbst versagt zu haben (vgl. Bundesministerium,
2012, 34).
Obwohl es nur grob generalisierende Antworten auf die Frage gibt, welche Schäden
Kinder durch Gewalterfahrung erleiden, und es wichtig ist, jeden Fall individuell zu
sehen, kann festgestellt werden, dass Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend
körperliche und seelische Gewalt erfahren haben, in ihrem späteren Leben
überdurchschnittlich häufig psychische Auffälligkeiten zeigen. I.d.R. erleben sie sich in
ihrem Wohlbefinden mehr oder weniger stark beeinträchtigt und leiden häufiger als
Menschen, die von derartigen Erfahrungen verschont geblieben sind an Symptomen
und Störungen, wie ich sie vorhin als Traumafolgen dargestellt habe.
Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht
Aus psychoanalytischer Sicht bewirkt Traumatisierung in früher Kindheit eine frühe
Sexualisierung des Verhaltens. Da die Überflutung mit Affekten, wie ich weiter oben
dargelegt habe, unerträgliche Übererregung erzeugt, wird früh versucht, sie in
sexualisierter Form zu entladen, z. B. in der Masturbation oder anderen sexuellen
Ausdrucksformen. Sexualisierung ist aus psychoanalytischer Sicht eine Abwehr gegen
chronische Traumatisierung und somit ein Versuch, peinigenden Schmerz,
fürchterliche Angst und unerträgliche Gewalt in Lust zu verwandeln (vgl. Wurmser
1999, 210/211) und das Überwältigende des Traumas zu bekämpfen. Da sich
Masturbation besonders zur Selbstberuhigung eignet, kann sie dazu dienen,
Trostlosigkeit, Verlassenheit oder affektive Anspannung und nicht-sexuelle
Erregungszustände auszubalancieren. Insbesondere deprivierte, vereinsamte,
abgelehnte oder misshandelte Kinder, die in sich eine ungestillt und bodenlos
Sehnsucht nach Nähe und Liebe tragen, suchen deshalb auch wie magisch
angezogen gleich- und gegengeschlechtliche sexuelle Kontakte. Hierin liegt eine
besondere Gefahr, dass diese schon schwer traumatisierten Kinder potentielle Täter
11
anziehen und Opfer vor allem von sexueller Gewalt werden, mit katastrophalen Folgen
für ihr weiteres Leben.
Psychoanalytische betrachtet können alle Symptome, die ein Kind zeigt, immer auch
auf eine Reinszenierung der traumatischen Situation hinweisen. Dieser
unbewusste Mechanismus der Traumabewältigung kann spätere Beziehungen stark
beeinträchtigen und beschädigen. Denn Opfer versuchen im Wiederholungszwang,
die verinnerlichten Beziehungstraumata aus der Kindheit und Jugend durch
Wiederherstellung in der Gegenwart zu bewältigen. Neben den guten
Beziehungserfahrungen, die sich in der Psyche als das Selbst bereichernde
Interaktionserfahrungen abbilden, tun dies ebenso auch die traumatischen. Diese
verinnerlichten schädigenden Beziehungserfahrungen des Kindes sind dann als sog.
traumatisches Introjekt zusammen mit allen dazugehörigen Gefühlen in dem Opfer
aufgehoben. In der Folge treibt dieser verinnerlichte, gewalttätige Traumaanteil
unbewusst sein Unwesen, greift das Kind, den Jugendlichen und später den
Erwachsenen von innen her an und verursacht Symptome und pathologisches
Verhalten. Obwohl das traumatische Introjekt das Opfer ständig in seiner Identität
bedroht, kann es nicht aufgegeben werden, weil es auch das Versprechen der
Versöhnung enthält, auf das das Opfer nicht glaubt verzichten zu können (vgl. Ehlert,
Lorke 1988).
Grafik IV
Wenn das Kind sich ganz mit dem Aggressor, also dem Täter, bzw. dem
Gewaltsystem identifiziert, wird es später alles Schwache, Hilflose und sich selbst
hassen und bekämpfen, oder es wird all das im Außen wahrnehmen und dort
angreifen und niedermachen oder andere sexuell verführen oder attackieren.
Grafik V
Ich möchte ihnen jetzt die Reinszenierung einer traumatischen Szene im
Wiederholungszwang verdeutlichen und tue dies anhand einer kurzen Falldarstellung
eines heute 59 jähriger Patient mit ausgeprägt voyueristischen und exibitionistischen
Neigungen.
Zum besseren Verständnis fasse ich einige wesentliche biografische Fakten
zusammen:
Der Patient war unehelich geboren und sein Großvater kommentierte: „Der Bastard
kommt mir nicht ins Haus.“ Wie er sagte, wuchs er in einem harten und strengen
katholischen Haus, zunächst bei den Großeltern auf und verbrachte die ganze
Schulzeit über die Nachmittage in einem ebenfalls streng katholischen Kinderhort, von
Nonnen geleitet, wo er auch geschlagen wurde. Ein strenger Onkel, der mit an der
Erziehung beteiligt war, drillte ihn auf Leistung und hatte Freude daran seinen Dackel
und den Patienten zu schlagen. Der Patient hatte nie ein eigenes Bett und schlief bis
zum 15 Lebensjahr, als die Mutter zum 2. Mal einen Alkoholiker heiratete, mit im
Elternschlafzimmer. Er habe da so Manches mitgekriegt, sagt er. Bis weit ins 20.
Lebensjahr hinein hatte er das Bedürfnis, mit seiner Mutter zu schlafen.
Nun eine der trauamtischen Szenen selbst, die u.a. weitreichende Folgen für seine
psychische Entwicklung und für sein weiteres Leben gehabt hat.
Als er 4 oder 5 Jahre alt gewesen sei, habe er einmal seiner Mutter stolz-verschämt
sein „Pipi“ gezeigt, worauf die Mutter verbietend reagierte, dass man so etwas nicht
12
tue. Kurze Zeit später wurde er an den Mandeln operiert, was er als Kind als
Bestrafung für sein kindliches Sich-Zeigen erlebte und so, als werde ihm zur
Bestrafung sein „Pipi“ abgeschnitten. Ich bot dem Patienten an, seine Exibition als
erwachsener Mann wie folgt zu verstehen:
Als sein Versuch sein kindliches Zärtlichkeitsbegehren und sein Bedürfnis sich vor der
Mutter zu zeigen heute zwanghaft reinszenieren zu müssen, um sich so einerseits zu
vergewissern, dass er seinen Penis noch hat und gleichzeitig gegen die verbietende
Mutter zu rebellieren, was er gut nachvollziehen konnte.
Er konnt auch nachvollziehen, dass er damit eine passiv erlebte, beschämende
traumatische Situation in ein aktives Geschehen verwandelte, da er sein kindliches
Sich-zeigen mit der anschleißenden Operation als rächende Bestrafungsaktion
verknüpft hatte. Er lebte auch als Erwachsener mit dem steten Risiko für seine
Exibition real massiv bestraft zu werden, womit er seinem tiefen Scham- und
Schuldgefühl Genüge tun und büßen konnte.
Ein hoher Prozentsatz von Missbrauchstätern wurde als Kind und Jugendlicher selbst
missbraucht, wodurch ihre kindliche Erotik vorzeitig sexualisiert wurde. Damit wächst
aber die Gefahr, „dass Sinnlichkeit im Erwachsenalter plötzlich in Destruktivität
umschlägt, weil dieser Mensch nie gelernt hat, mit den Erregungen, Versagungen
umzugehen, die Liebe und Sexualität immer begleiten“ (Sigusch, 2011, 457). Aufgrund
der beeinträchtigten persönlichen Entwicklung haben diese Menschen meist
tiefgreifende Selbstwertprobleme und weichen deshalb zur Befriedigung ihrer
Sexualität auf Schwächere aus, verwandeln passiv Erlebtes aus ihrer Kindheit
unbewusst in aktives Tun. Sie sind identifiziert mit dem Aggressor ihrer Kindheit und
Jugend, der sich in ihrem Inneren festgesetzt hat.
Besonders wenn frühe Beziehungstraumatisierungen vorliegen, werden alle
mitmenschlichen Beziehungen als Ausbeutungs- und Ausnutzungsverhältnisse
gestaltet (vgl. Wurmser 1990, 397). Aus der Erfahrung der eigenen Verdinglichung, die
unbewusst durch Sexualisierung abgewehrt wird, versuchen sie durch ihre sexuell
missbräuchlichen Handlungen, dem Opfer nun all das anzutun, was ihnen selbst einst
an Verdinglichung und Entwertung widerfuhr. Aus dem Gefühl des Unrechts und Grolls
über all die eigenen Missbrauchserfahrungen, kann ein starkes Rachebedürfnis
entstehen, das selbst Mord für sie legitimiert. Auf diese Weise kann die ganze
Grausamkeit des traumatisierenden Introjekts, das sich in das eigene Selbst
eingenistet hat, nach außen gewendet werden und kann der andere Mensch genauso
geschädigt, verhöhnt und bestraft werden, wie es der innere Quäler dem Selbst antut.
Auch ein pädophiler Mensch kann für sein Begehren nichts. Dieses Begehren hat die
Funktion, einen unbewussten Konflikt einzudämmen oder abzuwehren, der den
Zusammenhalt seines Selbst bedroht. Fixierte sexuelle Vorlieben oder entfaltete
Perversionen halten die Person zusammen (vgl. Sigusch 2011, 457) und verhindern
beispielsweise unaushaltbar schwere Depressionen.
Gewaltprävention
Der Versuch die Hintergründe von sexuellem Missbrauch und Gewalt zu verstehen,
bedeutet nicht Täter von ihrer Verantwortung freizusprechen, sollte aber in
Überlegungen zu angemessenen Massnahmen der Prävention bedacht werden.
Welche präventiven Maßnahmen im Einzelnen gegen sexuellen Missbrauch denkbar
und wirksam sind, dazu verweise ich auf die „Rahmenordnung für die katholische
Kirche in Österreich Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen
Missbrauch und Gewalt“: Sie enthält eine Reihe von Maßnahmen und erläutert sie.
13
Diese Rahmenordnung ist m.E. ein wesentlicher, sehr informativer Beitrag zur
Prävention, wenn sie konsequent in die Praxis umgesetzt und realisiert wird.
Eine ebenso wertvolle Borschüre ist.die “Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle
Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ Sexualisierte Gewalt gegen
Kinder in Institutionen“ des Deutschen Jugendinstituts von Claudia Bundschuh (2010).
Vorbeugende Maßnahmen in Gestalt einer Rahmenordnung sollten, soweit noch nicht
vorhanden, auch bezogen auf Gewalt in der Pflege und gegenüber alten Menschen als
Präventionsmaßnahme erarbeitet werden, da sie helfen können Mitarbeiter zu stärken
und Kranke und Alte zu schützen.
Zum Abschluß meines Vortrags möchte ich in der gebotenen Kürze betonen, wie
bedeutsam tragende, schützende, einfühlsame und Grenzen aufweisende
Beziehungsangebote durch mutige und sozial engagierte Mitarbeiter in Institutionen
sind. Sie können einem Kind das Gefühl vermitteln, als Mensch mit eigenen
Gedanken, Empfindungen und Bedürfnissen gesehn, anerkannt und wertgeschätzt zu
werden. Sie sind meines m.E. wichtige Säulen in der Prävention von Gewalt. (Etwas
ausführlichere Hinweise finden sich als Anhang für die schriftliche Fassung dieses
Vortrags) Denn solche guten neuen Beziehungserfahrungen mit wohlwollenden
Menschen vermitteln besonders auch traumatisierten Kindern Hoffnung auf ein
lebenswerteres Leben. Sie sind ein entscheidendes Gegengewicht gegen
traumatisierende Beziehungen. Obwohl diese wohlwollenden neuen Bindungen ein
Kind oft in innere Loyalitätskonflikt mit den Gewalt ausübenden Personen, die es liebt,
bringen, können sie lebensverändernd sein. Von traumatisierten Patienten höre ich
häufig, wie entscheidend für das eigene Überleben z.B. ein verständnisvoller
Großvater war, oder eine einfühlsame Lehrerin oder ein Kreativität fördernder Lehrer.
Wenn Fachkräfte Interesse, Anteilnahme und Verständnis untereinander wie an den
Kindern zeigen, wenn sie Zusammenhänge erklären und aufzeigen, wie Konflikte
konstruktiv zu lösen sind, sind sie bedeutsame Vorbilder, mit denen das Kind sich
gerne identifiziert. So können neue positive Beziehungserfahrungen sich im Inneren
abbilden und festigen und werden so ein Gegengewicht gegen die Macht der
traumatischen Introjekte bilden und heilsam wirken. (vgl. Steiner & Krippner, 2006) In
einer sicheren neuen Bindung helfen Wissen und Aufklärung einem Kind,
selbstbewusst zu werden und auf die Verhaltensweisen Gleichaltriger oder
Erwachsener angemessen zu reagieren. Sie bestärken ein Kind und Jugendlichen
beispielsweise
auch
in
ihrer
Selbstwahrnehmung,
wenn
sie
seine
Abgrenzungswünsche bemerken und darauf feinfühlig reagieren. So erfährt ein Kinder,
wie es sich anfühlt, wenn sein Nein respektiert wird. Das kann auch erleichtern
Grenzüberschreitungen durch andere rasch zu erkennen. Das Problematisieren und
Einüben von selbstwahrnehmenden und -behauptenden Verhaltensweisen stärkt seine
Fähigkeit sich selbst und seinen Körper, seine Empfindungen und Gedanken gezielt
wahrzunehmen und wo es nötig und möglich ist, für sich einzutreten.
Folgende Maßnahmen scheinen mir wesentlich zur Prävention nicht nur von
sexueller Gewalt zu sein.

Arbeitsorte in Einrichtungen müssen auch für Mitarbeiter gute Orte sein.
Wo chronische Arbeitsüberlastung herrscht, kann sich der noch so engagierte
und einfühlsame Mitarbeiter dem Kind, dem Jugendlichen, dem besonders
schutzbedürftigen Menschen nicht angemessen widmen.
14

Strukturen schaffen, die Arbeitsüberlastung verhindern.
Denn Arbeitsüberlastung führt zu Frustration und bekanntlich zu Aggression
und langfristig zum sog. Burnout.

Angemessene, wertschätzende Bezahlung.
Wo Bezahlung gesamtgesellschaftlich nicht Anerkennung für eine qualifizierte
und hochsensible Arbeit ausdrückt, kann sich der Einzelne in seinem Tun nicht
angemessen gewürdigt erleben und befindet sich in einem permanenten Konflikt
zwischen der Ideal des sozialen Engangements und dem Nicht-Gesehen-Werden
seines Wertes.

Entscheidende Präventionen gegen Gewalt allgemein bestehen darin,
Kinder und Jugendliche in Kindergarten und Schule, Mittel und Wege an die Hand zu
geben, die ihre Fähigkeit sich selbst zu behaupten und ihren Körper, ihre
Empfindungen und Gedanken gezielt wahrzunehmen, zu stärken und sich vor
Grenzverletzungen zu schützen und auf gewaltsamen Verhaltensweisen Gleichaltriger
oder Erwachsener angemessen zu reagieren.

Präventive Maßnahmen für Eltern bestehen m.E.
in Elternschulen, deren Bedeutung und Attraktivität gesteigert werden sollte,
Kleinkinderambulanzen flächendeckend einzurichten, die Eltern mit Säuglingen
gezielt beraten und unterstützen.

Beratung und Unterstützung von Problemfamilien durch regelmäßige
Anwesenheit von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen.

Schulung von Ärzten, Juristen, Kriminologen hinsichtlich sexuellem
Missbrauchs.

Schaffung eines Bewusstseins dafür, dass nicht nur körperliche Gewalt
verheerende Folgen haben kann, sondern auch dafür, dass Macht gepaart mit Gewalt
in der Seele jedes Einzelnen großen Schaden anzurichten vermag.
Wird der angerichtete Schaden nicht gesehen und nicht verstehend ins
Schöpferische transformiert, wird das wiederum neuen Schaden anrichten.
Anhang: präventive Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch
Für präventive Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch sind prinzipiell mindestens
vier verschiedene Ansatzpunkte denkbar:
1.
Ansätze, die sich an Kinder als potenzielle oder tatsächliche Opfer wenden (z.
B. Unterrichtseinheiten zum Thema „sexueller Missbrauch“),
2.
Ansätze, die sich an erwachsene nicht-missbrauchende Bezugspersonen von
Kindern wenden (z. B. Fortbildungen für Eltern, für Fachkräfte, Medienkampagnen),
3.
Ansätze, die Gelegenheitsstrukturen so verändern wollen, dass sexuelle Gewalt
gegen Kinder weniger wahrscheinlich wird (z. B. den Zugang von Tätern zu Kindern
einschränken).
4.
Ansätze, die sich an potenzielle Täter wenden,
Zu1. Bezogen auf Kinder und Jugendliche schützt als erstes Wissen.
15

Wissen hilft vor Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und Missbrauch zu
schützen. Wissen und Aufklärung macht Kinder und Jugendliche selbstbewusst und
hilft ihnen, auf die Verhaltensweisen Gleichaltriger oder Erwachsener angemessen zu
reagieren.

Weiterhin stärkt das Problematisieren und Einüben von selbstwahrnehmenden
und -behauptenden Verhaltensweisen die Fähigkeit von Kindern sich selbst und ihren
Körper, ihre Empfindungen und Gedanken gezielt wahrzunehmen und wo es möglich
ist, für sich einzutreten.

Altersspezifische Sexualerziehung vermittelt Kindern und Heranwachsenden
Grundlagen der notwendigen Kommunikations- und Handlungskompetenzen im
Umgang mit Liebe und Sexualität.
Auch wenn Kinder und Jugendliche gestärkt werden sich selbst zu schützen, müssen
Mitarbeiter (und Eltern) aktiv für deren Schutz eintreten verantwortlich und sind dafür
verantwortlich.
Als zweites, ebenso wichtiges Hilfsmittel ist die Vorbildfunktion der
Erwachsenen
Mitarbeiter einer Institution bestärken Kinder und Jugendliche beispielsweise in ihrer
Selbstwahrnehmung, wenn sie deren Abgrenzungswünsche bemerken und darauf
feinfühlig reagieren. Kinder erfahren so, wie es sich anfühlt, wenn ihr Nein respektiert
wird. Das kann erleichtern Grenzüberschreitungen durch andere rasch zu erkennen. In
ihrer Vorbildfunktion sollten Mitarbeiter im Kontakt mit anderen Menschen auf ihre
eigenen Grenzen achten und diese vertreten.
Im Gespräch mit Kindern über sexuelle Gewalt wirkt die eigene positive Einstellung
zur eigenen Sexualität und eine kindangemessene Sprache stärkend. Es kann wichtig
sein, den Kindern zu vermitteln, dass Zärtlichkeiten etwas Schönes und Gewolltes sind
und dass Kinder immer, wenn ihnen Berührungen unangenehm sind, das Recht
haben, „Nein“ zu sagen und jemandem davon zu erzählen, egal von wem die
Berührung ausgeht. Ebenso ist Aufklärung wichtig: zu sagen, dass es manchmal
auch Erzieher geben kann, die sie am Penis oder an der Scheide berühren oder sich
von den Kindern dort berühren lassen möchten, und dies nicht in Ordnung ist, selbst
wenn sie denjenigen sehr gern haben etc. Kindern muss gesagt werden, dass Hilfe
holen kein Petzen und kein Verrat ist. Und der konkrete Hinweis, an wen sie sich
wenden können, darf nicht fehlen. Diese Herangehensweise ist auch für
Grundschulkinder geeignet. Den Begriff „sexueller Missbrauch“ sollten Kinder ab dem
Grundschulalter in kindgerechter Sprache erläutert bekommen und kennen. Mit älteren
Kindern und Jugendlichen sollte auch über mögliche Anbahnungen von Tätern und
Täterinnen im Internet oder über Handykontakte gesprochen werden (vgl. „Mutig
fragen – besonnen handeln“)
.
Kinder sollten in ihrem Körperbewusstsein unterstützt werden. Jede positive
Körpererfahrung – vom Matschen im Sand bis zum Kennenlernen des eigenen
Körpers – unterstützt das Körperbewusstsein von Kindern. Eine frühzeitige
Sexualerziehung mit einer positiv besetzten Sprache für den gesamten Körper,
einschließlich der Genitalien, macht einen positiven Körperbezug leichter und
unterstützt die Fähigkeit in Sprache zu fassen, sollte sich ein sexueller Missbrauch
ereignen.
16
Zu 2. Zur fachlich-menschlich engagierten Unterstützung von Mitarbeitern in
Institutionen gehört
a. regelmäßige Fortbildung und Supervision zur Sensibilisierung der Selbst- und
fremdwahrnehmung sowie zur Förderung des mutigen Eintretens für die
Schutzbefohlenen. Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendhilfe müssen durch
spezielle Aus- und Fortbildung von Fachkräften so qualifiziert werden, dass sie
drohenden sexuellen Missbrauch erkennen und verhindern können.
b. offener und institutionalisierter Austausch in der Einrichtung über Informationen, wer
Täter/innen sein können und zu ergreifende Maßnahmen. Hierzu gehört das Wissen,
wonach Menschen mit sexuellen Interessen an Kindern vielfach sehr gezielt
Beschäftigungen in Institutionen für Kinder und Jugendliche suchen. Achten Erzieher
auf Grenzverletzungen untereinander (Vorbildfunktion) und bei den Kindern und
greifen ein, erleben Schutzbefohlene Beziehungen, die ihnen gut tun und in denen sie
respektiert werden. Dies ist ein wichtiger Baustein der Prävention von sexuellem
Missbrauch. Prävention bedeutet auch, dass Erwachsene für die Rechte der Kinder
eintreten und sie darin unterstützen, dies auch selbst zu tun (vgl. „Mutig fragen –
besonnen handeln“)
Achtsames Zuhören und behutsames Nachfragen können das Sprechen
erleichtern, wenn Erzieher bei einem Kind auffälliges, altersunangemessenes,
möglicherweise sexualisiertes Verhalten beobachten oder das Kind Andeutungen
macht.
Insgesamt fällt es Kindern leichter, über sexuellen Missbrauch zu berichten, wenn
dieses Thema bereits einmal zur Sprache gekommen ist und sie die Haltung ihrer
Erzieher einschätzen können.
Zu 3. Hierüber hinaus können Verantwortliche in Institutionen durch vorbeugende
Maßnahmen im Hinblick auf sexuelle Gewalt Strukturen schaffen, die zum Schutz von
Kindern, Jugendlichen und besonders schutzbedürftigen Personen beitragen. Dazu
zählen
bezogen auf Mitarbeiter:

Mitarbeiter mit Bedacht auswählen und Absprachen mit ihnen treffen .

Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses von allen
Fachkräften einer Einrichtung in regelmäßigen Abständen – ausgeweitet auch auf
ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Verhaltensregeln für Mitarbeiter/innen und Ehrenamtliche gegenüber Kindern
und Jugendlichen

Schutzvereinbarungen mit den Mitarbeiter/innen und Ehrenamtlichen, die das
Verhalten klar benennen, das Kindern gegenüber keinesfalls geduldet wird.
Maßnahmen bezogen auf Eltern der Kinder:

Ein fachlich durchdachtes sexualpädagogisches Konzept allen Mitarbeitern
und den Eltern transparent machen.

Elternabenden organisieren, die das Thema sexueller Missbrauch, Prävention
und angrenzende Themen behandeln.

Auf unterschiedliche Angebote für Eltern, z. B. bei Migrationshintergrund oder
Eltern von behinderten Kindern und Jugendlichen achten.
Maßnahmen bezogen auf die Kinder:
17

Altersangemessene Information der Kinder über ihre Rechte in der Einrichtung
öffentlich machen. Nur Kinder, die ihre Rechte kennen, können ein Bewusstsein von
Handlungsoptionen zugunsten ihrer Grundbedürfnisse entwickeln.

Altersgemäßes Mitspracherechte für Kinder und Jugendliche, beispielsweise in
Form von regelmäßigen Kinderkonferenzen etablieren.

Kinder bei der Entwicklung von institutionellen Regelungen beteiligen. Kinder
werden sich nur dann für ihre Rechte stark machen, wenn sie der Überzeugung sind,
dass sie sich artikulieren und sich Gehör verschaffen können.

Ein aktives Beschwerdemanagement einrichten, das auch kritische
Rückmeldungen von Kindern und Eltern begrüßt.

Informationsmaterial für Mitarbeiter, Eltern und Kinder bereitstellen
Zu 4. Eine wirksame Prävention muss auch bei den potenziellen Tätern ansetzen.
Sie muss verhindern helfen, dass pädophil geneigte Männer Gewalt an Minderjährigen
begehen. So bietet beispielsweise das Institut für Sexualwissenschaft und
Sexualmedizin der Charité in Berlin seit 2005 diagnostisch-therapeutische Angebote
für Männer, die auf Kinder gerichtete sexuelle Fantasien haben und seit 2010 die
Projekte „Kein Täter werden“ am Kieler Universitätsklinikum und an der Universität
Regensburg.
Intervention
Werden Kinder oder Jugendliche trotz aller Prävention, Opfer von Gewalt oder
sexueller Gewalt brauchen sie Hilfe und Schutz. Dies geschieht durch professionelle
Unterstützung zur Verarbeitung der Geschehnisse. Diese sollte sich auch auf die
anderen Kinder der Einrichtung beziehen, die meist verängstigt, verwirrt und sehr
verunsichert reagieren. Auch die Fachkräfte bleiben verwirrt zurück, denn die
Mitglieder des Teams und die Leitung wurden vom Täter manipuliert, die ja oft
zunächst besonders kompetent und engagiert wirken. Entpuppen sich diese
Verhaltensmuster nun als manipulative Strategien, so besteht die Gefahr, wenn das
Geschehene nicht aufgearbeitet wird, dass bald allen Professionellen und
Ehrenamtlichen misstraut wird, die z. B. besonders sozial engagiert sind und sich
durch hohe Empathie und Kollegialität auszeichnen. Dies wäre eine verheerende
Konsequenz für alle Beteiligten.
Für ein schnelles Eingreifen bei sexuell übergriffigem Verhalten sollten Einrichtungen
über ein internes, für alle Mitarbeiter verbindliches Verfahren für den
Verdachtsfall verfügen, das in Zusammenarbeit von Leitung und Mitarbeiter/innen
erstellt und abgestimmt wurde. Die Richtlinien, wie jeweils vorgegangen werden sollte,
sollten in Abhängigkeit von der Angebotsform (Schule, Kindergarten,
Kommunionunterricht, Freizeitunternehmen) Verantwortlichkeiten definieren und
konkrete Schritte zum Umgang mit vagen Vermutungen und begründetem Verdacht
vorgeben.
Im Verdachtsfall sollten Fachkräfte eine externe Beratung in Anspruch nehmen
können, die darin unterstützt, die Wahrnehmungen zu analysieren. So können auch
mögliche Loyalitäskonflikte ev. einen Mitarbeiter zu Unrecht zu beschuldigen und dann
einrichtungsintern zu beschämen und ev. auch ein Kind aus Angst vor falscher
Beschuldigung eines Kollegen nicht zu schützen Bei gewichtigen Anhaltspunkten, die
eine Gefährdung des Wohl des Kindes nahe legen, sind soziale Fachkräfte gefordert,
konkrete Schritte zur einzuleiten, die helfen das Gefährdungsrisikos abzuklären und
dann Maßnahmen zum Schutz des Kindes vor weiteren Beeinträchtigungen
einzuleiten und zu ergreifen (vgl. Bundschuh 2010, 67). In jedem Fall muss die
Meldung an die Leitung bzw. direkt an den Träger erfolgen, deren Aufgabe es ist
18
weiteren Schritte einzuleiten. Handlungsleitend muss dann bei allen nachfolgenden
Maßnahmen das beste Interesse des Kindes sein: Sofortige Unterbrechung des
Kontakts zwischen dem Verdächtigten und dem betroffenen Kind. Die beschuldigte
Fachkraft muss unter Ausschöpfung vorhandener arbeitsrechtlicher Möglichkeiten die
Einrichtung verlassen. Es ist sicher zu stellen, dass dem Kind auch außerhalb der
Einrichtung keine Gefahr droht, von der verdächtigten Person manipuliert zu werden.
Die Erstattung einer Strafanzeige ist im Grundsatz notwendig und wichtig, um sowohl
das aktuell betroffene Kind, als auch zukünftig potenziell betroffene Kinder zu
schützen. Es „muss (aber) im Einzelfall das öffentliche Interesse an der
Strafverfolgung gegen die notwendigen Belange des Opferschutzes abgewogen
werden, um eine sekundäre Traumatisierung zu vermeiden. Das gilt besonders dann,
wenn das Opfer selbst keine Strafanzeige wünscht.“ (Landesjugendamt Brandenburg
2007a, 8 in Bunschuh 2010, 69)
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unsere Gene steuern. Frankfurt am Main: Eichborn
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Bundschuh, Claudia 2010: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Institutionen
Nationaler und internationaler Forschungsstand - Expertise im Rahmen des Projekts
„Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen"
Deutsches Jugendinstitut e.V. Abteilung Familie und Familienpolitik München (als
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Österreichische Bischofskonferenz (Hrsg): Die Wahrgeit wird euch frei machen,
Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich - Maßnahmen, Regelungen
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Ehlert M.; Lorke B. (1988): Zur Psychodynamik der traumatischen Reaktion. Psyche,
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Bausteine zur Psychoanalyse ~I~ Bern (Huber) 1939, 511-525.
Fischer, G. & Riedesser (1999) Lehrbuch der Psychotraumatologie. München & Basel:
Springer-Verlag,
Gruen, A (2000). Das Fremde in uns: Stuttgart: Klett-Cotta, 2000
Hirsch, M. (1987) Realer Inzest - Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der
Familie. Springer, Berlin u.a.O.: Springer-Verlag 3. Auflage
19
Kindler, Heinz & Schmidt-Ndasi, Daniela 2011: Wirksamkeit von Maßnahmen
zur Prävention und Intervention im Fall sexueller Gewalt gegen Kinder - Expertise im
Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“
AMYNA e.V. – Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch (als PDF-Datei
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Shengold, L (1989) Soul murder. Seelenmord - die Auswirkungen von Missbrauch und
Vernachlässigung in der Kindheit. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, (1995)
Sigusch, V. 2011: Sexxueller Kindesmissbrauch –Zum Stand von Firschung und
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Steiner, B. & Krippner, K. (2006): Psychotraumatherapie. Tiefenpsychologischimaginative Behandlung traumatisierter Patienten. Stuttgart u.a.: Schattauer.
Weinberger, D. 2010: Psychotherapie mit komplex traumatisierten Kindern –
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Wurmser L. (1990): Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten
und Schamkonflikten. Berlin: Springer.
Wurmser L. (1999): Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. Die schwere
Neurose: Symptom, Funktion, Persönlichkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Beate Steiner, Dipl.-Psych.: Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin,
Psychotherapeutin und Dozentin für Katathym Imaginative Psychotherapie,
Psychotraumatherapeutin. Seit 1981 in Darmstadt in freier Praxis tätig.
Lehrpsychotherapeutin und -analytikerin, Supervisorin und Dozentin. Aktuell neben der
Praxistätigkeit vor allem in der Fortbildung auf dem Gebiet der Psychotraumatherapie
tätig. Leiterin des Fortbildungsinstituts „Arbeitskreises für Psychotraumatologie und
Katathym Imaginative Psychotraumatherapie“ in Darmstadt: www.kipt.eu
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