Gewalt, Trauma und Beziehung
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Gewalt, Trauma und Beziehung
Gewalt, Trauma und Beziehung Beate Steiner Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren Es ist mir eine Ehre, heute hier vor Ihnen zu dem Tagungsthema „Gewalt und sexualisierte Gewalt geht uns alle an“ sprechen zu dürfen, und ich möchte mich bei den Verantwortlichen dieser Tagung und ganz besonders bei Frau Chrisine Norden, Herrn Hannes Wechner und Frau Claudia Schwaitzer für die Einladung hier nach Innsbruck bedanken. Diese Tagung nimmt sich eines bedeutsamen Themas an, das immer wieder all unsere Lebensbereiche berührt, und ist ein Beitrag zu einer Kultur des Hinsehens und Benennens statt des Wegsehens und Verschweigens von Gewalt und sexualisierter Gewalt. Nach einer kurzen Einführung werde ich das Thema meines Vortrags Gewalt - Trauma - Beziehung nach folgenden Gesichtspunkten behandeln. Bitte bedenken Sie dabei, dass ich mich bei diesem sehr komplexen Tagungsthema auf einige mir wesentlich erscheinende Aspekte vor allem aus Zeitgründen begrenzen muss.. Ich kann aber davon ausgehen, dass in den Impulsreferaten und Workshops verschiedene Dimensionen dieses Problembereichs vertieft werden. Ich werde über folgende Aspekte sprechen Was verstehen wir unter Gewalt ? Gesellschaftlich soziale und personale Ursachen für Gewalt Wann wird Gewalt zum Trauma bzw. zum Beziehungstrauma? o Akute Traumafolgen o Langfristige Traumafolgen und Verhaltensmerkmale o Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht Gewaltprävention Ich beginne mit einer kurzen Einführung in das Thema Obwohl wir uns um eine Kultur des Hinsehens bemühen, gehören Ausweichen, Verbergen, Verschweigen, Wegsehen und Weghören, kurz das Verleugnen von Gewalt und sexualisierter Gewalt durch das nahe Umfeld, durch Familienangehörige und auch durch ehrenamtliche oder hauptamtliche Fachkräfte in Institutionen - zum Alltag. Wir alle neigen zum Verleugnen von Gewalt, die Menschen an Menschen verüben, weil das unser Selbst- und Weltbild und unser Bedürfnis nach Sicherheit und Unversehrtheit nachhaltig erschüttert. Gewalt von Menschen an Menschen verunsichert uns zutiefst in unserem Vertrauen auf Mitmenschlichkeit, Verantwortung für den Nächsten, Liebe und Geborgenheit. Deshalb verschließen wir die Augen vor Gewalttaten, die tagtäglich in unserer Gesellschaft geschehen, und werden so letztlich zu schweigenden Bundesgenossen der Gewalt. Nach wie vor findet der überwiegende Teil von Gewalttaten in Familien und sozialen Institutionen im Verborgenen statt und gelangt nicht an die Öffentlichkeit, obwohl eine Sensibilisierung für das Thema stattgefunden hat und auch gesellschaftlich vorangetrieben wird. 1 Im Gegensatz zur Diskussion über sexualisierte Gewalt im familiären Kontext wurde die Täterschaft durch Professionelle in der sozialen Praxis, mindestens bis zur Jahrtausendwende, wenn überhaupt, eher in leisen Tönen zum Thema gemacht. Die Hintergründe für das ausbleibende Bemühen um eine offene und breite Problematisierung sind im Leitbild und Selbstanspruch der Institutionen zu suchen, deren Zielgruppe Kinder und Jugendliche sind. Das Leitbild des modernen Kinder- und Jugendschutzes ist getragen vom Anspruch, zum Wohl der jungen Menschen zu handeln. Damit einher geht die Überzeugung, dass junge Menschen in sozialen Einrichtungen vor Gefahren für ihr Wohlergehen geschützt sind und sie bei der Verarbeitung von Beeinträchtigungen, wie etwa in der Familie, unterstützt werden. Mit diesem Selbstbild und Anspruch ist die Tatsache nur schwer in Einklang zu bringen, dass draußen verortete Gefahren auch in den Einrichtungen bestehen können, und unter den eigenen Kollegen, Mitarbeitern, Vorgesetzten auch Personen sein können, die entgegen diesem Selbstbild handeln (vgl. Bundschuh 2010, 7). Werden in einer Einrichtung Gewalttaten durch Fachkräfte verübt, brechen die Idealvorstellungen zusammen und die Neigung wächst, das Geschehene nicht wahrhaben zu wollen, es gar zu rechtfertigen (vgl. Bundschuh 2010, 8). Nicht selten wurden ausgemachte Täter in den eigenen Reihen als Ausnahmefälle dargestellt, als Eindringlinge aus einer anderen Welt, die im Normalfall nicht in der Welt der Institutionen vorkommen. Nur zögerlich finden Befunde Anerkennung, „wonach Menschen mit sexuellen Interessen an Kindern vielfach sehr gezielt Beschäftigungen in Institutionen für Kinder und Jugendliche suchen, und auch die inzwischen allgemein zugängliche Vielzahl von Opferberichten hat offensichtlich noch nicht allerorts zum Umdenken bewogen.“ (Bundschuh, 2010, 8) Eindrucksvoll waren in der Vergangenheit die Kartelle des Schweigens, wenn es um Missbrauch in angesehenen kulturellen Einrichtungen ging, ob nun in katholischen oder reformpädagogischen. In den letzten Jahren wurde die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt von Missbrauchsskandalen innerhalb der katholischen Kirche, ob nun in Österreich, Deutschlandn Amerika oder jüngst wieder in Irland. „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder durch Vertreter der Kirchen scheint jener Teilbereich der Gesamtproblematik >Missbrauch in Institutionen< zu sein, der in den letzten Jahren die größte Aufmerksamkeit erfahren hat. Die bekannt werdenden Fälle insbesondere in der katholischen Kirche erregen (auch deshalb) besondere Aufmerksamkeit, weil hier ein quasi doppelter Tabubruch vollzogen wurde. Die propagierten Werte und Normen (sexuelle Enthaltsamkeit für Priester und Ordensmitglieder und vergleichsweise rigide Vorschriften im Hinblick auf die Sexualität der Menschen weltweit) stehen (-) in völligem Widerspruch zu dem, was manche kirchliche Würdenträger offensichtlich faktisch leben. Sicherlich ist die besondere Brisanz ein Grund für die Tatsache, dass von Seiten der Kirche nach der (-) Aufdeckung von Missbrauchsfällen in verschiedenen Teilen der Welt.“ (Bundschuh, 2010, 25) teilweise Forschungsarbeiten in Auftrag gegeben und Untersuchungskommissionen zur Erfassung regionaler Gegebenheiten eingerichtet wurden. In Österreich gab es in den vergangenen Jahren in allen Diözesen Initiativen zum Umgang mit Missbrauch und Gewalt in der Kirche. Z. B. wurden in allen Diözesen Ombudsstellen als unabhängige Anlaufstellen für Opfer von Missbrauch und Gewalt eingerichtet. Die Öffentlichkeit wird aber nicht nur durch spektakuläre Fälle sexuellen Missbrauchs in Institutionen und in Familien aufgerüttelt, sondern von Zeit zu Zeit durch Fälle extremer Vernachlässigung von Kindern, die gequält und zu Tode geprügelt oder für 2 kinderpornographische Zwecke missbraucht werden. Nach den neusten Statistiken (Kriminalstatistik für 2011) sterben in Deutschland 3 Kinder in der Woche an Missbrauch und werden täglich 39 Kinder sexuell missbraucht. Missbrauch hat im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 % zugenommen. Drastisch nach oben, um 23 % ist die Zahl der erfassten Fälle derjenigen gegangen, die im Besitz und an der Verbreitung von Kinderpornographie beteiligt sind. Bei all dem handelt es sich um Zahlen aus dem Hellfeld, die Dunkelziffern liegen weit höher. In den letzten Jahren hat das Thema Gewalt und Vernachlässigung in der Pflege, vor allem der Altenpflege ebenfalls Eingang in das öffentliche Bewusstsein gefunden, wogegen Gewalt an Behinderten und in Heimen ein eher unbeachteter Bereich zu sein scheint. „Nach bisherigen Erkenntnissen stehen behinderte Menschen allgemein stärker als nicht Behinderte in der Gefahr, Opfer unterschiedlicher Formen der Gewalt zu werden, zumal ihre Möglichkeiten des Selbstschutzes und der Artikulation von Gewalterfahrungen unterschiedlich eingeschränkt sind. Laut Angaben der UNO sind behinderte Mädchen und Frauen doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen wie nicht behinderte weibliche Menschen“ (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007, 155 in Bundschuh 2010 ). Am Ende meines einführenden Überblicks möchte ich eine Minute lang pausieren und Sie dazu anregen, in Ihrem Inneren einen Fall von Gewalterfahrung auftauchen zu lassen, von dem Sie gehört oder gelesen haben. Lassen Sie sich von dem, was in Ihnen persönlich auftaucht, durch den weiteren Vortrag begleiten. Was verstehen wir unter Gewalt? Der Begriff Gewalt, Leitbegriff dieser Tagung, wird abgeleitet vom Althochdeutschen waltan und bedeutet stark sein, beherrschen und beinhaltet somit Ausübung von Macht. Was unter Gewalt verstanden und wie sie bewertet wird, ist grundsätzlich immer abhängig vom sozialen Kontext. In einer Demokratie wird der Gewaltbegriff anders definiert als in einer Diktatur und schlägt sich in einer entsprechenden Gesetzgebung nieder und darin, wie Gewalt geahndet wird. Gewalt in der Erziehung bedeutet Interessen und Machtansprüche, persönliche Wünsche und Bedürfnisse der Erziehenden mittels unterschiedlicher Arten von seelischem und körperlichen Zwang durchzusetzen und so dem Kind und Jugendlichen den eigenen Willen aufzuzwingen oder sie etwas machen zu lassen, was sie nicht wollen. Das Gleiche gilt für Gewalt gegenüber Behinderten, alten und hilflosen Menschen. Wie Sie wissen wird Gewalt unterteilt in physische, psychische, sexualisierte Gewalt,in Vernachlässigung und institutionalisierte Gewalt. Unter physischer Gewalt wird jede körperlich schädigende, äußere Einwirkung auf andere, in unserem Zusammenhang auf Kinder, Jugendliche und besonders schutzbedürftige Personen verstanden. Körperliche Gewalt äußert sich in z.B. in folgenden Verhaltensweisen: schlagen, treten, den Arm umdrehen, an den Haaren reißen, schütteln, stoßen, Krankheiten herbeiführen oder in anderer Weise körperlichen Schmerz auszulösen bis hin Folter und Mord. Jeder Akt körperlicher Gewalt geht einher mit psychischer: Ein Kind schlagen bedeutet ihm Schmerz zufügen; gleichzeitig ist es eine Botschaft an seine Seele: Du bist schlecht, du bist nichts wert. 3 Unter psychischer Gewalt ist emotionale Misshandlung zu verstehen. Sie ist die häufigste Form von Gewalt. Viele Kinder erleben sie alltäglich, sie wird ihnen bewusst aber ebenso oft ungewollt zugefügt. Seelische Gewalt kann sich in vielen Formen zeigen, in sehr subtilen, seelenblinden und sehr groben Verhaltensweisen, bis hin zu solchen, die Seelenmord (Shengold 1989, Wurmser 1999) zum Ziel haben. Seelenblindheit findet statt, wenn Menschen in ihrem Grundbedürfnis, als Individuen gesehen und respektiert zu werden, von den wichtigen Bezugspersonen keine Resonanz erfahren; Seelenmord, wenn dieses Grundbedürfnis absichtlich missachtet, oder Identität absichtlich zerstört wird (vgl. Wurmser 1999, 209). Seelische Gewalt steckt in allen Verhaltensweisen, die Kindern, Jugendlichen das Gefühl des Ungeliebtseins, von Minderwertigkeit, Wertlosigkeit oder Überfordertsein vermitteln; Verhaltensweisen, die es isolieren, mutwillig Angst machen, ausnützen und korrumpieren. Drangsalierung (Mobbing) auch mit elektronischen Kommunikationsmitteln (Cybermobbing) zählt auf der Ebene der Gleichaltrigen ebenso zu psychischer Gewalt. Psychische Gewalt ist immer Teil jeder Form von Gewalt, ob es sich um Vernachlässigung, Misshandlung oder sexualisierte Gewalt handelt. Sexualisierte Gewalt ist der Oberbegriff für sexuelle Handlung allgemein, die die Grenze und Würde des Gegenübers verletzen. Sexualisierte Gewalt kennt viele Formen und Abstufungen. Sexuelle Übergriffe, sind immer auch Grenzverletzungen, geplant und passieren absichtlich, sind oft massiv und geschehen häufig, im Unterscheid zu zufälligen, unabsichtlichen Grenzverletzungen, die nicht als Übergriff gelten. In vielen Fällen besteht ein fließender Übergang zwischen sexuellen Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt. Zu den sexuellen Übergriffen zählt u.a.: ein Erwachsener verlangt von einem Kind Zärtlichkeit, berührt wiederholt wie zufällig die Brust oder die Genitalien eines Kindes, schaut beim Duschen, Ankleiden intensiv z. B. auf den Penis eines Jungen, macht sexuell getönte Bemerkungen, gibt sexuell gefärbte Spielanleitungen (Flaschendrehen mit Entkleiden). Geht ein Erwachsener auf sexualisiertes Verhalten eines Kindes ein, verhält er sich ebenfalls sexuell übergriffig, wenn er keine Distanz wahrt. Erwachsene und Jugendliche, die sexuelle Übergriffe verüben, verletzten die Würde von Kindern und verstoßen gegen gesellschaftlich anerkannte Regeln eines respektvollen Umgangs. Geäußerte Kritik an ihrem übergriffigen Verhalten missachten sie oftmals. Parteilichkeit von Erwachsenen oder Kindern für die Opfer stellen sie gerne als Verrat, Hetzerei oder Mobbing dar. In manchen Fällen bereiten Täter durch sexuelle Übergriffe einen strafrechtlich relevanten sexuellen Missbrauch vor. Unter sexuellem Missbrauch sind alle sexuellen Handlungen von Erwachsenen an Kindern zu verstehen, die strafrechtlich relevant sind. Es handelt sich um „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (§§ 174 ff. StGB). Sexueller Missbrauch kann mit und ohne Körperkontakt stattfinden. Strafbare Handlungen ohne Körperkontakt sind z. B. exhibitionistische Handlungen (eigene Geschlechtsteile zur Schau stellen, sich vor Kindern befriedigen). Strafmündige Jugendliche (in österreich ab dem Alter von 16 Jahren) können als Täter ebenfalls strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Strafbar ist es auch, Kindern pornografische Bilder oder Videos zu zeigen. Ein sexueller Missbrauch mit Körperkontakt liegt vor, wenn der Erwachsene oder Jugendliche sexuelle Handlungen am Kind ausführt oder es sexuelle Handlungen an Erwachsenen oder anderen Kindern oder sich selbst ausführen lässt. 4 Sexueller Missbrauch wird mehrheitlich von Männern begangen. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist zu rund 96 % Männer als Täter aus, Erhebungen im Dunkelfeld gehen von 90% männlicher Täter aus und einem Frauenanteil von ca. 10 %. Eine passive Form von Gewalt ist Vernachlässigung, die durch Unterlassung gekennzeichnet ist. Sie beinhaltet unzureichende oder gar nicht geleistete körperliche und seelische Betreuung und Versorgung. Wegen ihres schleichenden Verlaufs wird sie allgemein zu wenig beachtet. Sie hat im Extrem den Tod des Vernachlässigten zur Folge, ob nun beim Kind oder beim alten Menschen, und ist mit großer körperlicher und seelischer Qual verbunden. Bei institutioneller und struktureller Gewalt bleiben die Machthaber i. d. R. namenund gesichtslos. Wenn Institutionen eine undurchschaubare Struktur zwischen Gewalttäter und Opfer herstellen, wird die strukturelle Gewalt vom Opfer wie eine unabwendbare Naturgewalt erlebt, die jede Gegenwehr ausschließt (Fässler 1987, 249) und beinhaltet so ein hoch traumatisierendes Potential. Gesellschaftlich soziale und personale Ursachen für Gewalt Alle Formen von Gewalt haben ihre Ursache in gesellschaftlichen, sozialen, normativen, familiären und persönlich-seelischen Gegebenheiten. Seit körperliche Gewalt in der Erziehung unter Strafe steht und die Ursachen von Gewalt gegenüber Kindern mehr beforscht werden, wissen wir, dass sie meist aus Überforderung, Verzweiflung und bei Alkoholismus geschieht. So neigen Eltern zu körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern, die oft innerhalb ihrer Ursprungsfamilie Zurückweisung und einen gewalttätigen Erziehungsstil erlebt haben. Zu Hause Opfer, werden die Kinder dann in der Schule Täter an Jüngeren. Da sie aufgrund der problematischen Erziehung in der Familie häufig in der Schule versagen und sozial ausgrenzt werden, neigen sie dort verstärkt zu körperlicher Gewalt. Untersuchungen in diesem Zusammenhang zeigen, dass Armut, Arbeitslosigkeit und ein gewaltbereites Umfeld körperliche Gewalt begünstigen. Mangelndes Vertrauen in die Zukunft und wenig Perspektiven, Mangel an Bildung und Aufklärung, die Angst und Unsicherheit schüren, machen Jugendliche aggressiver und anfälliger für Gewalt. Auch die Medien, die Gewalt oft als Konfliktlösung propagieren, tragen zu einem Klima der Gewalt bei, da Kindern und Jugendlichen sich oft mit der Einseitigkeit der Mittel identifizieren und die vorgelebten Gewalthandlungen übernehmen. Körperliche Gewalt durch Mitarbeiter in Institutionen gegenüber Kindern scheint heutzutage weniger ein Problem. Aber sie nimmt gegenüber alten und besonders schutzbedürftigen Personen aufgrund von Überlastung und Überforderung des Pflegepersonals zu. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass Pflegepersonen, die massive unbewusste, unverarbeitete Gewalterfahrungen aus der eigenen Sozialisation mit sich herumtragen und deren Affekttoleranz eher niedrig ist, eher zu Gewalt neigen, als gut strukturierte Personen. Grundsätzlich begünstigen äußere Machtunterschiede und strenge Hierarchien körperliche oder sexuelle Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen. In solchen Strukturen kann der Mächtige seine Macht zum Durchsetzen egoistischer oder struktureller Interessen ausnutzten. 5 Ebenso fördern autoritäre Erziehungsvorstellungen in Familie und Schule, die bedingungslosen Gehorsam erzwingen, das Ausüben von Gewalt. Unter dem Deckmantel des Gehorsams lässt sich alles erzwingen, z.B. auch die Geheimhaltung eines sexuell missbrauchenden Geschehens. Eine repressive Sexualerziehung kann ebenfalls eine Ursache für sexuelle Übergriffe und Missbrauch sein. Unwissenden und eingeschüchterten Kindern fällt es eher schwer, zu erkennen, was ihnen geschehn ist, sich zu wehren, Hilfe zu holen und auszudrücken, was ihnen passiert ist. Repressive Sexualerziehung, die Sexualität moralisch auflädt, als sündhaft etikettiert und gar bestraft, schürt Schuldgefühle, die dazu führen, dass sich das Opfer von Missbrauch immer schuldig fühlt und aus Scham und Schuld nur mit größter Mühe über das sprechen wird, was ihm widerfahren ist, was wiederum Tätern zuspielt. Die genannten gesellschaftliche sozialen und familiären Gegebenheiten wirken sich entscheidend auf das Seelenleben des Kindes aus und führen u.U. dazu, dass bereits ein Kind gegen andere gewalttätig wird, meist aber in der Wendung der Agression gegen die eigene Person gegen sich selbt. Aus psychoanalytischer Sicht ist in diesem Zusammenhang der entwicklungspsychologische Vorgang der Identifikation mit dem Aggressor grundlegend, aber auch der Mechanismus der Wendung der Agression gegen sich selbt und das Reinszenierung des Erlebten und damit die Übertragung von Gewalterfahrung in gegenwärtige Beziehungen und immer wieder Rollentausch und die Umkehr der Täter-Opfer-Konstellation. Ich werde auf diese Aspekt noch eingehen, wenn ich über die Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht sprechen werden. An dieser Stelle möchte ich aber schon einmal die besondere Bedeutung der Identifikation für das Verständnis von Gewaltausübung als mögliche Folge von erfahrener Gewalt in der Kindheit hinweisen. Jedes Kind identifiziert sich mit seinen Eltern, mit wichtigen Personen seines Umfelds, wie Erziehern, Lehrern, Priestern. Es will sein wie sie; entweder global oder in bestimmter Hinsicht. Üben sie Gewalt aus und missbrauchen es, identifiziert sich das Kind auch mit diesen Handlungen und findet sie „richtig“. Es übernimmt sogar unbewusst die Schuld seiner Eltern und Vorgesetzten und interpretiert ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes scheinbar böses, schlechtes Wesen. So übernimmt (es) - die lieblose Haltung (-) sich selbst gegenüber. Alles, was ihm eigen ist lehnt es zunehmend ab und verwirft es als etwas Fremdes (vgl. A. Gruen, 2000, 14/15). Das eigentliche, von außen kommende Fremde breitet sich aber stattdessen im seinem innerpsychischen Raum immer mehr aus. Es macht im Extrem aus dem Kind eine Marionette, einen Automaten, ein Ding, über das die Täter lange Zeit beliebig verfügen können. Sexuualisierte Gewalt findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Wenn missbrauchende Erziehungspersonen nicht in der Lage sind, sich empathisch in ein Kind einzufühlen und seine Bedürfnisse nach Nähe und Zärtlichkeit als Aufforderung zu sexuellen Handlungen missinterpretieren, geschieht dies in aller Regel auf dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte und psychosexuellen Entwicklung und eigener Defizite. Schon 1932 sprach der ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi von der „Sprachverwirrung“ zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Bei dieser Sorachverwirrung antwortet der Erwachsene auf die Sprache der Zärtlichkeit des Kindes in der Sprache Sexualität (S. Ferenczi 1932). Der Erwachsene macht sich vor seine sexuelle Begierde sei das Begehren des Kindes. Aus dieser Überzeugung heraus wiederholt er dann das, was ihm selbst als Kind einmal angetan wurde. Aus „einer Art egoistischer Rücksichtslosigkeit“, wird „die eigene Bedürftigkeit, ausgelebt (und) in der sexuellen Befriedigung an die erste Stelle gesetzt“ (Hirsch, S. 15/16). Zusätzlich müssen oft rationalisierende Überzeugungen, Kinder bzw. Jugendliche als scheinbar gleichberechtigte Sexualpartner des Erwachsnen 6 anzusehen, das eigene Tun und damit einen ausbeutenden Umgang mit der kindlichen Sexualität legitimieren. Wann wird Gewalt zum Trauma bzw. zum Beziehungstrauma? Nicht jede körperliche, seelische und sexuelle Gewalterfahrung wirkt traumatisierend, aber immer wird sie von Betroffenen als kränkend, belastend oder verstörend empfunden. Freud stellte 1893 (Vorläufige Mitteilung, Breuer & Freud 1893, 84) fest, dass „jedes Erlebnis (traumatisch) wirken (könne), welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft“ (in L. Wurmser, 1999, 68). Dies ist ein weitgefasster Traumabegriff, dem sehr eng gefasste gegenüberstehen, die nur eine objektive Lebensbedrohung als Trauma gelten lassen (PTBS-Diagnose). Gewalt, die seelische und/oder körperliche Verletzung bewirkt, ist eng mit Traumatisierung verbunden, denn schon vom Begriff her bedeutet "trauma" wörtlich "Wunde, Verletzung". Ob Gewalt eine traumatische Wirkung entfaltet, hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Intensität der Gewalthandlung, dem Alter des Kindes und damit vom Grad seiner Schutz- und Hilflosigkeit – letzteres gilt ebenso für Behinderte und Alte – von der Dauer der Schädigung, der emotionalen Nähe zum Täter und damit der Art des Abhängigkeitsverhältnisses, außerdem zentral vom subjektiven Erleben des Opfers, dem Verhalten des Umfelds und der Reaktion nach erfolgter Aufdeckung (vgl. Fischer & Riedesser 1999). Widerfährt Gewalt dem Kind, Jugendlichen von nahen Bezugspersonen in Familie oder Institution (Oberbegriff Beziehungstrauma) über längere Zeit immer wieder, ist dieses Geschehen stets traumatisch; vor allem dann, wenn das Opfer nicht mit anderen Menschen darüber sprechen kann und schützend und stützend aufgefangen wird. Wir sprechen hier von sich aneinanderreihenden, also kumulativen Beziehungstraumata, das können Mikrotraumata sein oder gravierendere. Beziehungstraumata werden durch enge Bindungspersonen in Familien und Institutionen hervorgerufen, die eigentlich Sicherheit und Schutz gegen Traumatisierung gewährleisten sollen. Werden grenzverletzende Beziehungstraumata durch einen Menschen hervorgerufen, der eine besondere Vertrauensstellung innehat, wird das Vertrauen des Kindes und Jugendlichen in die Zuverlässigkeit seines Fühlens, Denkens und seiner Wahrnehmung untergraben und sein Vertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen zerstört. So wird das vitale Bedürfnis des Kindes nach Orientierung durch den Erwachsenen irritierend in die Irre geleitet. Gewalt in Institutionen bedeuten ebenso wie in der Familie eine weitreichende Erschütterung seines Vertrauens in eine beschützende und wertschätzende Bindung. Ist ein Kind in der traumatischen Situation mit Verlustdrohung, Verrat und unterlassenem Schutz durch eine Verweigerung der Zeugenschaft konfrontiert, gerät ein traumatisches Ereignis stets zu einem Trauma. Wie Untersuchungen belegen, gelten traumatische Beziehungserfahrungen in der Kindheit als die gravierendste Ursache für psycho-pathologische und psychosomatische Entwicklungen (vgl. J. Bauer 2002). Da sie die Bindungssicherheit des Kindes beeinträchtigen oder gar zerstören, wirken sie sich besonders auf die gesunde psychische Entwicklung aus. Sie verzerren die Vorstellungen von Beziehung und schädigen die Bindungsfähigkeit des Kindes und späteren Erwachsenen. 7 Ich betone das hier noch einmal nachdrücklich, weil ich davon ausgehe, dass Beziehungstraumata, die nicht durch alternative tragende und beschützende Beziehungserfahrungen aufgefangen werden, bedingen, dass im Wiederholungszwang später immer wieder Täter-Opfer-Konstellationen hergestellt werden. Die Auswirkungen schwerer Traumatisierung im Kindesalter auf die seelische Gesundheit und auf neurobiologische Strukturen gehen weit über das hinaus, was Traumata bei Erwachsenen anzurichten vermögen. Wiederholte Traumatisierung greift bei Erwachsenen eine bereits geformte Persönlichkeit mit spezifischen Kompensationsmöglichkeiten an, bei Kindern dagegen prägen und deformieren wiederholte Traumatisierungen die Persönlichkeit. Akute Traumatisierung und Traumafolgen Gewalt wird immer dann zum Trauma, wenn die erbbiologisch vorgegebenen Muster von Kampf und Flucht unmöglich sind. Kinder und besonders schutzbedürftige Menschen können in einer traumatischen Situation weder kämpfen noch fliehen. Frühe Gewalterfahrungen haben daher die massivsten Folgen. Indem es in der frühen Kindheit absolut kein Entrinnen gibt, bedeutet Gewalt „totale Stimulation“, maximale Erregung, totaler Stress in einem Zustand totaler Hilflosigkeit und Ohnmacht. Die totale Stimulation bewirkt eine Überflutung des gesamten seelisch-körperlichen Organismus mit unerträglichen Gefühlen, die ihn in einen Zustand höchster körperlich empfundener Erregung versetzen (vgl. L.Wurmser 1990, 1999). In erbbiologisch vorgegebener Weise setzt ein Notfallprogramm ein, das die Schmerzempfindung ausschaltet (Dissoziation) und mit emotionaler Betäubung, Stumpfheit, einer inneren Schockstarre/Dissoziation einhergeht (Konstriktion). Grafik I (Grafiken sind als PDF-Datei gesondert angefügt) In der Folge wird dann jedes emotionale Erleben (Triggerfunktion) so verarbeitet, als kehre der qualvolle traumatische Zustand zurück, was zu erneuter Affektüberflutung und damit zu Maximalerregung und sich anschließender Schockstarre/Dissoziation führt. Erfolgt keine angemessene dauerhafte Beruhigung und Zuwendung kommt es langfristig zu einem partiellen Entwicklungsstillstand. Dann fällt es auch im späteren Leben schwer, die eigenen Affekte zu regulieren, Gefühle voneinander zu unterscheiden, sie in Worte zu fassen und sie nicht nur körperlich wahrzunehmen. I.d.R. fliehen Taumatisierte, ob jung oder alt, wenn ihre üblichen seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten nicht greifen, immer wieder in einen veränderten, tranceartigen Bewusstseinszustand. Innerhalb dieses Abkoppelungs/Spaltungsprozesses werden all die Realitäts-, Körper- und Affektwahrnehmungen, die Panik und Erregungsüberflutung bedeuten, voneinander getrennt. Dabei ist eine Möglichkeit der Dissoziation die „Selbstverdoppelung“. Dissoziation ist ein Selbstschutz der Seele vor unerträglichem seelischem oder körperlichem Schmerz. Die Person koppelt sich in einem solchen Zustand vom erleidenden Ich (Depersonalisation) ab und erlebt das Geschene als völlig unwirklich (Derealisation). Das misshandelte Kind beispielsweise erlebt sich verdoppelt als unbeteiligter Beobachter, der von außen das malträtierte, zusammengekrümmte Kind auf dem Boden liegen sieht und den handgreiflichen Täter über ihm. Orwell hat in seinem Roman „1984“ Dissoziation als „Doppeldenk“ beschrieben. Damit schützt sich der Betroffene ebenfalls vor unerträglichen seelischen und körperlichen Schmerzen und 8 vor einem Geschehen, das kognitiv nicht zu verarbeiten, nicht zu denken ist. Die Wendung „Das will mir nicht in den Kopf hinein“ , drückt es körpernah aus. Misshandelte oder Missbrauchte entwickeln als Reaktion auf das Trauma ihre dissoziativen Fähigkeiten zu einer hohen Kunst. Sie lernen etwa, starke Schmerzen zu ignorieren, ihre Erinnerungen unbewusst hinter komplexen Amnesien zu verbergen, Halluzinationen herzustellen und in Allmachtsphantasien zu fliehen. Diese Spaltungsvorgänge geschehen häufig automatisch, manche werden als fremd und unfreiwillig empfunden. Neurobiologisch beinhaltet Dissoziation eine Selbstbetäubung des Gehirns, denn die Signale die im Moment der Traumatisierung (später bei Intrusion) auf die Nervenzellen-Netzwerke der Großhirnrinde und auf das mit ihm verbundene limbische System (Zentrum für emotionale Intelligenz) eintreffen, führen zur Aktivierung von Genen eines körpereigenen Betäubungssystems, den sog. Endorphinen. Auf diese Weise findet neben der seelischen auch eine körperliche Trennung vom körperlichen Empfinden statt (vgl. Bauer, J. 2002, 216). Grafik II Sándor Ferenczi hat Dissoziationen als Traumafolge bereits in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet. Die Anfänge der Beschreibung dissoziativer Phänomene reichen aber weit ins 19. Jahrhundert (Janet, Charcot) zurück und waren die Grundlage der ersten Konzepte Freuds. Dissoziation schützt aber nicht davor, dass in der Folge das geringste Signal, ein sog. Trigger (ein Gegenstand, ein Geruch, eine Farbe, ein Geräusch), das mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung gebracht wird, die Erinnerung an das Trauma wieder auslöst. Geschieht dies, wird das Kind erneut in den höchst beängstigenden, beschämenden und ohmächtigen Zustand der traumatischen Situation katapultiert, wo es von Affekten überflutet wird. Dann kann es auch nicht mehr zwischen damals und heute unterschieden, erlebt es sich so, als ereigne sich das Trauma gerade wieder. Zur Bewältigung dieses unerträglichen Zustandes tritt erneut die traumatische Reaktion der Dissoziation und der Erstarrung ein. So endet das Erleben von Gewalt nicht einfach, wenn die reale Bedrohung aufhört, sondern geschieht im Erleben wieder und wieder und chronifiziert sich, wenn keine angemessene Hilfe vorhanden ist. Langfristige Traumafolgen Die langfristigen Auswirkungen von Traumata können zu ganz verschiedenen Symptomen und zu unterschiedlichen Formen und Ausprägungsgraden führen und zu verschiedenen Verläufen. Das Spektrum reicht von relativer Bewältigung bis zu weitreichenden, chronischen und strukturellen Persönlichkeitsänderungen. Bei einer Chronifizierung kommen langfristige folgende Symptome vor (chronische PTBS) sich aufdrängende, belastende Gedanken oder Erinnerungen an das Trauma (Bilder, Angstträume, flashbacks) 9 Dissoziation: (Trance, psychogene Krampfanfälle. Konversionsstörungen, Verwirrtheit, Amnesie, Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen) Vermeidungsverhalten (Situationen und Dinge, die an das Trauma erinnern, werden nach Möglichkeit aktiv vermieden) emotionale Stumpfheit (allgemeiner Rückzug, Gleichgültigkeit, innere Teilnahmslosigkeit, Fühllosigkeit) Übererregbarkeitssymptome (»hyperarousal«; Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Irritierbarkeit, Schreckhaftigkeit, Affektintoleranz) Interessenverlust, Grafik III Längerfristig können sich schon bei Kindern auch andere Störungsbilder zeigen, wie Einnässen und Einkoten, Phobien, Angst- und Panikstörungen, somatoforme Störungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und schwere Neurosen, ADHS (Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung) und Verhaltensprobleme im Betragen; vor allem aber später auch Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit (Alkohol, Benzodiazepine, Opiate), Depressionen suizidales und selbstverletzendes Verhalten bis hin zu psychotische Symptomen. Was die massenweise gestellte Diagnose der ADHS bei Kindern angeht, stellt D. Weinberg fest, dass diese Diagnose bei vielen Kindern, die tiefe Bindungsproblematik, das negative Selbstkonzept und ihre Verweigerung gegenüber Anforderungen verdeckt. Ihre mangelhafte Verhaltenskontrolle und Aufmerksamkeitsstörung, resultiere in den meisten Fällen aus einer defizitären Affektkontrolle als Traumafolge, einhergehend mit dissoziativen Phänomenen und einer Reinszenierung der traumatischen Situation (vgl. Weinberger, 2010, 12). Verhaltensmerkmale Für einen erleichterten Umgang mit den Folgen Gewalt würden wir uns gerade auch bei sexuellem Missbrauch wünschen, eindeutige Merkmale im Verhalten des Kindes zu haben, die uns eine Erkennung von sexueller Gewalt ermöglichten. Diese gibt es aber leider nicht. Besonders wenn Traumatisierung in früher Kindheit stattgefunden hat, haben wir es mit einer extremen Vielgestaltigkeit, Weitläufigkeit und Verstecktheit der Symptomatik zu tun, die uns leicht dazu verführt, Traumafolgen u. U. gar nicht in Betracht zu ziehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass eine nicht geringe Zahl von bereits füh traumatisierten Kindern im Kindergarten und in der Schule anzutreffen sind. Körperliche Symptome von Gewalteinwirkung können mehr oder weniger eindeutig sein, wie z.B. Verletzungen von Haut und Augen, Blutergüsse, Frakturen, Verbrennungen oder andere sichtbare Verletzungen. Oft aber bleiben die körperlichen Beeinträchtigungen verborgen, und die dazugehörigen psychischen sind, wie oben ausgeführt, noch schwerer erkennbar, da von mannigfaltiger Symptomatik verdeckt. Symptome nach sexuellem Missbrauch können von einem Arzt festgestellt werden, wenn dieser entsprechend geschult ist. 10 Die meisten Kinder, die sexuelle Gewalt in Institutionen erleben, fallen zunächst nicht auf. Mitarbeiter in Institutionen, die mit Kindern arbeiten, sollten aber aufmerksam werden, wenn ein Kind oder Jugendlicher folgende schleichende oder deutliche Veränderungen zeigt: sozialer Rückzug, plötzlich auftretende Ängste, Bauch- und Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Albträume, Einnässen, Erbrechen, Essensverweigerung Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverletzendes Verhalten, Weglaufen, verstärkte Masturbation, sexualisiertes Verhalten und psychosomatische Reaktionen. Grundsätzlich kann jede Verhaltensauffälligkeit ein Hinweis auf sexuelle Gewalt sein. Da ein möglicher Missbrauch nie auszuschließen ist, muss unerklärbar auffälligem Verhalten unbedingt immer nachgegangen werden. Sexuell traumatisierte Buben, verdecken die mit dem Missbrauch zusammenhängenden Symptome sehr häufig durch ein Bewältigungsverhalten, das als „typisch männlich“, „hart“ oder „cool“ fehlinterpretiert wird. Leicht werden z.B. aggressive Ausbrüche als unerklärliche oder sinnlose Gewalt qualifiziert, obwohl sie Ausdruck einer Traumatisierung sein können. Oft haben diese Buben das Gefühl „unnormal“ zu sein, weil sie meinen, sie hätten sich freiwillig an den sexuellen Handlungen beteiligt, fühlen sich schuldig, wenn sie während des sexuellen Missbrauchs eine Erektion hatten. Sie haben Angst, „pervers“ zu sein und später selbst zum Sexualtäter zu werden; oder Angst, schwul zu sein oder als schwul zu gelten ( „nicht männlich“) oder als „Opfer“ diskreditiert zu werden (ein gebräuchliches Schimpfwort unter Gleichaltrigen). Selten suchen sie Hilfe, weil das einem Eingeständnis gleichkäme, selbst versagt zu haben (vgl. Bundesministerium, 2012, 34). Obwohl es nur grob generalisierende Antworten auf die Frage gibt, welche Schäden Kinder durch Gewalterfahrung erleiden, und es wichtig ist, jeden Fall individuell zu sehen, kann festgestellt werden, dass Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche und seelische Gewalt erfahren haben, in ihrem späteren Leben überdurchschnittlich häufig psychische Auffälligkeiten zeigen. I.d.R. erleben sie sich in ihrem Wohlbefinden mehr oder weniger stark beeinträchtigt und leiden häufiger als Menschen, die von derartigen Erfahrungen verschont geblieben sind an Symptomen und Störungen, wie ich sie vorhin als Traumafolgen dargestellt habe. Traumafolgen aus psychoanalytischer Sicht Aus psychoanalytischer Sicht bewirkt Traumatisierung in früher Kindheit eine frühe Sexualisierung des Verhaltens. Da die Überflutung mit Affekten, wie ich weiter oben dargelegt habe, unerträgliche Übererregung erzeugt, wird früh versucht, sie in sexualisierter Form zu entladen, z. B. in der Masturbation oder anderen sexuellen Ausdrucksformen. Sexualisierung ist aus psychoanalytischer Sicht eine Abwehr gegen chronische Traumatisierung und somit ein Versuch, peinigenden Schmerz, fürchterliche Angst und unerträgliche Gewalt in Lust zu verwandeln (vgl. Wurmser 1999, 210/211) und das Überwältigende des Traumas zu bekämpfen. Da sich Masturbation besonders zur Selbstberuhigung eignet, kann sie dazu dienen, Trostlosigkeit, Verlassenheit oder affektive Anspannung und nicht-sexuelle Erregungszustände auszubalancieren. Insbesondere deprivierte, vereinsamte, abgelehnte oder misshandelte Kinder, die in sich eine ungestillt und bodenlos Sehnsucht nach Nähe und Liebe tragen, suchen deshalb auch wie magisch angezogen gleich- und gegengeschlechtliche sexuelle Kontakte. Hierin liegt eine besondere Gefahr, dass diese schon schwer traumatisierten Kinder potentielle Täter 11 anziehen und Opfer vor allem von sexueller Gewalt werden, mit katastrophalen Folgen für ihr weiteres Leben. Psychoanalytische betrachtet können alle Symptome, die ein Kind zeigt, immer auch auf eine Reinszenierung der traumatischen Situation hinweisen. Dieser unbewusste Mechanismus der Traumabewältigung kann spätere Beziehungen stark beeinträchtigen und beschädigen. Denn Opfer versuchen im Wiederholungszwang, die verinnerlichten Beziehungstraumata aus der Kindheit und Jugend durch Wiederherstellung in der Gegenwart zu bewältigen. Neben den guten Beziehungserfahrungen, die sich in der Psyche als das Selbst bereichernde Interaktionserfahrungen abbilden, tun dies ebenso auch die traumatischen. Diese verinnerlichten schädigenden Beziehungserfahrungen des Kindes sind dann als sog. traumatisches Introjekt zusammen mit allen dazugehörigen Gefühlen in dem Opfer aufgehoben. In der Folge treibt dieser verinnerlichte, gewalttätige Traumaanteil unbewusst sein Unwesen, greift das Kind, den Jugendlichen und später den Erwachsenen von innen her an und verursacht Symptome und pathologisches Verhalten. Obwohl das traumatische Introjekt das Opfer ständig in seiner Identität bedroht, kann es nicht aufgegeben werden, weil es auch das Versprechen der Versöhnung enthält, auf das das Opfer nicht glaubt verzichten zu können (vgl. Ehlert, Lorke 1988). Grafik IV Wenn das Kind sich ganz mit dem Aggressor, also dem Täter, bzw. dem Gewaltsystem identifiziert, wird es später alles Schwache, Hilflose und sich selbst hassen und bekämpfen, oder es wird all das im Außen wahrnehmen und dort angreifen und niedermachen oder andere sexuell verführen oder attackieren. Grafik V Ich möchte ihnen jetzt die Reinszenierung einer traumatischen Szene im Wiederholungszwang verdeutlichen und tue dies anhand einer kurzen Falldarstellung eines heute 59 jähriger Patient mit ausgeprägt voyueristischen und exibitionistischen Neigungen. Zum besseren Verständnis fasse ich einige wesentliche biografische Fakten zusammen: Der Patient war unehelich geboren und sein Großvater kommentierte: „Der Bastard kommt mir nicht ins Haus.“ Wie er sagte, wuchs er in einem harten und strengen katholischen Haus, zunächst bei den Großeltern auf und verbrachte die ganze Schulzeit über die Nachmittage in einem ebenfalls streng katholischen Kinderhort, von Nonnen geleitet, wo er auch geschlagen wurde. Ein strenger Onkel, der mit an der Erziehung beteiligt war, drillte ihn auf Leistung und hatte Freude daran seinen Dackel und den Patienten zu schlagen. Der Patient hatte nie ein eigenes Bett und schlief bis zum 15 Lebensjahr, als die Mutter zum 2. Mal einen Alkoholiker heiratete, mit im Elternschlafzimmer. Er habe da so Manches mitgekriegt, sagt er. Bis weit ins 20. Lebensjahr hinein hatte er das Bedürfnis, mit seiner Mutter zu schlafen. Nun eine der trauamtischen Szenen selbst, die u.a. weitreichende Folgen für seine psychische Entwicklung und für sein weiteres Leben gehabt hat. Als er 4 oder 5 Jahre alt gewesen sei, habe er einmal seiner Mutter stolz-verschämt sein „Pipi“ gezeigt, worauf die Mutter verbietend reagierte, dass man so etwas nicht 12 tue. Kurze Zeit später wurde er an den Mandeln operiert, was er als Kind als Bestrafung für sein kindliches Sich-Zeigen erlebte und so, als werde ihm zur Bestrafung sein „Pipi“ abgeschnitten. Ich bot dem Patienten an, seine Exibition als erwachsener Mann wie folgt zu verstehen: Als sein Versuch sein kindliches Zärtlichkeitsbegehren und sein Bedürfnis sich vor der Mutter zu zeigen heute zwanghaft reinszenieren zu müssen, um sich so einerseits zu vergewissern, dass er seinen Penis noch hat und gleichzeitig gegen die verbietende Mutter zu rebellieren, was er gut nachvollziehen konnte. Er konnt auch nachvollziehen, dass er damit eine passiv erlebte, beschämende traumatische Situation in ein aktives Geschehen verwandelte, da er sein kindliches Sich-zeigen mit der anschleißenden Operation als rächende Bestrafungsaktion verknüpft hatte. Er lebte auch als Erwachsener mit dem steten Risiko für seine Exibition real massiv bestraft zu werden, womit er seinem tiefen Scham- und Schuldgefühl Genüge tun und büßen konnte. Ein hoher Prozentsatz von Missbrauchstätern wurde als Kind und Jugendlicher selbst missbraucht, wodurch ihre kindliche Erotik vorzeitig sexualisiert wurde. Damit wächst aber die Gefahr, „dass Sinnlichkeit im Erwachsenalter plötzlich in Destruktivität umschlägt, weil dieser Mensch nie gelernt hat, mit den Erregungen, Versagungen umzugehen, die Liebe und Sexualität immer begleiten“ (Sigusch, 2011, 457). Aufgrund der beeinträchtigten persönlichen Entwicklung haben diese Menschen meist tiefgreifende Selbstwertprobleme und weichen deshalb zur Befriedigung ihrer Sexualität auf Schwächere aus, verwandeln passiv Erlebtes aus ihrer Kindheit unbewusst in aktives Tun. Sie sind identifiziert mit dem Aggressor ihrer Kindheit und Jugend, der sich in ihrem Inneren festgesetzt hat. Besonders wenn frühe Beziehungstraumatisierungen vorliegen, werden alle mitmenschlichen Beziehungen als Ausbeutungs- und Ausnutzungsverhältnisse gestaltet (vgl. Wurmser 1990, 397). Aus der Erfahrung der eigenen Verdinglichung, die unbewusst durch Sexualisierung abgewehrt wird, versuchen sie durch ihre sexuell missbräuchlichen Handlungen, dem Opfer nun all das anzutun, was ihnen selbst einst an Verdinglichung und Entwertung widerfuhr. Aus dem Gefühl des Unrechts und Grolls über all die eigenen Missbrauchserfahrungen, kann ein starkes Rachebedürfnis entstehen, das selbst Mord für sie legitimiert. Auf diese Weise kann die ganze Grausamkeit des traumatisierenden Introjekts, das sich in das eigene Selbst eingenistet hat, nach außen gewendet werden und kann der andere Mensch genauso geschädigt, verhöhnt und bestraft werden, wie es der innere Quäler dem Selbst antut. Auch ein pädophiler Mensch kann für sein Begehren nichts. Dieses Begehren hat die Funktion, einen unbewussten Konflikt einzudämmen oder abzuwehren, der den Zusammenhalt seines Selbst bedroht. Fixierte sexuelle Vorlieben oder entfaltete Perversionen halten die Person zusammen (vgl. Sigusch 2011, 457) und verhindern beispielsweise unaushaltbar schwere Depressionen. Gewaltprävention Der Versuch die Hintergründe von sexuellem Missbrauch und Gewalt zu verstehen, bedeutet nicht Täter von ihrer Verantwortung freizusprechen, sollte aber in Überlegungen zu angemessenen Massnahmen der Prävention bedacht werden. Welche präventiven Maßnahmen im Einzelnen gegen sexuellen Missbrauch denkbar und wirksam sind, dazu verweise ich auf die „Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt“: Sie enthält eine Reihe von Maßnahmen und erläutert sie. 13 Diese Rahmenordnung ist m.E. ein wesentlicher, sehr informativer Beitrag zur Prävention, wenn sie konsequent in die Praxis umgesetzt und realisiert wird. Eine ebenso wertvolle Borschüre ist.die “Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Institutionen“ des Deutschen Jugendinstituts von Claudia Bundschuh (2010). Vorbeugende Maßnahmen in Gestalt einer Rahmenordnung sollten, soweit noch nicht vorhanden, auch bezogen auf Gewalt in der Pflege und gegenüber alten Menschen als Präventionsmaßnahme erarbeitet werden, da sie helfen können Mitarbeiter zu stärken und Kranke und Alte zu schützen. Zum Abschluß meines Vortrags möchte ich in der gebotenen Kürze betonen, wie bedeutsam tragende, schützende, einfühlsame und Grenzen aufweisende Beziehungsangebote durch mutige und sozial engagierte Mitarbeiter in Institutionen sind. Sie können einem Kind das Gefühl vermitteln, als Mensch mit eigenen Gedanken, Empfindungen und Bedürfnissen gesehn, anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Sie sind meines m.E. wichtige Säulen in der Prävention von Gewalt. (Etwas ausführlichere Hinweise finden sich als Anhang für die schriftliche Fassung dieses Vortrags) Denn solche guten neuen Beziehungserfahrungen mit wohlwollenden Menschen vermitteln besonders auch traumatisierten Kindern Hoffnung auf ein lebenswerteres Leben. Sie sind ein entscheidendes Gegengewicht gegen traumatisierende Beziehungen. Obwohl diese wohlwollenden neuen Bindungen ein Kind oft in innere Loyalitätskonflikt mit den Gewalt ausübenden Personen, die es liebt, bringen, können sie lebensverändernd sein. Von traumatisierten Patienten höre ich häufig, wie entscheidend für das eigene Überleben z.B. ein verständnisvoller Großvater war, oder eine einfühlsame Lehrerin oder ein Kreativität fördernder Lehrer. Wenn Fachkräfte Interesse, Anteilnahme und Verständnis untereinander wie an den Kindern zeigen, wenn sie Zusammenhänge erklären und aufzeigen, wie Konflikte konstruktiv zu lösen sind, sind sie bedeutsame Vorbilder, mit denen das Kind sich gerne identifiziert. So können neue positive Beziehungserfahrungen sich im Inneren abbilden und festigen und werden so ein Gegengewicht gegen die Macht der traumatischen Introjekte bilden und heilsam wirken. (vgl. Steiner & Krippner, 2006) In einer sicheren neuen Bindung helfen Wissen und Aufklärung einem Kind, selbstbewusst zu werden und auf die Verhaltensweisen Gleichaltriger oder Erwachsener angemessen zu reagieren. Sie bestärken ein Kind und Jugendlichen beispielsweise auch in ihrer Selbstwahrnehmung, wenn sie seine Abgrenzungswünsche bemerken und darauf feinfühlig reagieren. So erfährt ein Kinder, wie es sich anfühlt, wenn sein Nein respektiert wird. Das kann auch erleichtern Grenzüberschreitungen durch andere rasch zu erkennen. Das Problematisieren und Einüben von selbstwahrnehmenden und -behauptenden Verhaltensweisen stärkt seine Fähigkeit sich selbst und seinen Körper, seine Empfindungen und Gedanken gezielt wahrzunehmen und wo es nötig und möglich ist, für sich einzutreten. Folgende Maßnahmen scheinen mir wesentlich zur Prävention nicht nur von sexueller Gewalt zu sein. Arbeitsorte in Einrichtungen müssen auch für Mitarbeiter gute Orte sein. Wo chronische Arbeitsüberlastung herrscht, kann sich der noch so engagierte und einfühlsame Mitarbeiter dem Kind, dem Jugendlichen, dem besonders schutzbedürftigen Menschen nicht angemessen widmen. 14 Strukturen schaffen, die Arbeitsüberlastung verhindern. Denn Arbeitsüberlastung führt zu Frustration und bekanntlich zu Aggression und langfristig zum sog. Burnout. Angemessene, wertschätzende Bezahlung. Wo Bezahlung gesamtgesellschaftlich nicht Anerkennung für eine qualifizierte und hochsensible Arbeit ausdrückt, kann sich der Einzelne in seinem Tun nicht angemessen gewürdigt erleben und befindet sich in einem permanenten Konflikt zwischen der Ideal des sozialen Engangements und dem Nicht-Gesehen-Werden seines Wertes. Entscheidende Präventionen gegen Gewalt allgemein bestehen darin, Kinder und Jugendliche in Kindergarten und Schule, Mittel und Wege an die Hand zu geben, die ihre Fähigkeit sich selbst zu behaupten und ihren Körper, ihre Empfindungen und Gedanken gezielt wahrzunehmen, zu stärken und sich vor Grenzverletzungen zu schützen und auf gewaltsamen Verhaltensweisen Gleichaltriger oder Erwachsener angemessen zu reagieren. Präventive Maßnahmen für Eltern bestehen m.E. in Elternschulen, deren Bedeutung und Attraktivität gesteigert werden sollte, Kleinkinderambulanzen flächendeckend einzurichten, die Eltern mit Säuglingen gezielt beraten und unterstützen. Beratung und Unterstützung von Problemfamilien durch regelmäßige Anwesenheit von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Schulung von Ärzten, Juristen, Kriminologen hinsichtlich sexuellem Missbrauchs. Schaffung eines Bewusstseins dafür, dass nicht nur körperliche Gewalt verheerende Folgen haben kann, sondern auch dafür, dass Macht gepaart mit Gewalt in der Seele jedes Einzelnen großen Schaden anzurichten vermag. Wird der angerichtete Schaden nicht gesehen und nicht verstehend ins Schöpferische transformiert, wird das wiederum neuen Schaden anrichten. Anhang: präventive Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch Für präventive Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch sind prinzipiell mindestens vier verschiedene Ansatzpunkte denkbar: 1. Ansätze, die sich an Kinder als potenzielle oder tatsächliche Opfer wenden (z. B. Unterrichtseinheiten zum Thema „sexueller Missbrauch“), 2. Ansätze, die sich an erwachsene nicht-missbrauchende Bezugspersonen von Kindern wenden (z. B. Fortbildungen für Eltern, für Fachkräfte, Medienkampagnen), 3. Ansätze, die Gelegenheitsstrukturen so verändern wollen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder weniger wahrscheinlich wird (z. B. den Zugang von Tätern zu Kindern einschränken). 4. Ansätze, die sich an potenzielle Täter wenden, Zu1. Bezogen auf Kinder und Jugendliche schützt als erstes Wissen. 15 Wissen hilft vor Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und Missbrauch zu schützen. Wissen und Aufklärung macht Kinder und Jugendliche selbstbewusst und hilft ihnen, auf die Verhaltensweisen Gleichaltriger oder Erwachsener angemessen zu reagieren. Weiterhin stärkt das Problematisieren und Einüben von selbstwahrnehmenden und -behauptenden Verhaltensweisen die Fähigkeit von Kindern sich selbst und ihren Körper, ihre Empfindungen und Gedanken gezielt wahrzunehmen und wo es möglich ist, für sich einzutreten. Altersspezifische Sexualerziehung vermittelt Kindern und Heranwachsenden Grundlagen der notwendigen Kommunikations- und Handlungskompetenzen im Umgang mit Liebe und Sexualität. Auch wenn Kinder und Jugendliche gestärkt werden sich selbst zu schützen, müssen Mitarbeiter (und Eltern) aktiv für deren Schutz eintreten verantwortlich und sind dafür verantwortlich. Als zweites, ebenso wichtiges Hilfsmittel ist die Vorbildfunktion der Erwachsenen Mitarbeiter einer Institution bestärken Kinder und Jugendliche beispielsweise in ihrer Selbstwahrnehmung, wenn sie deren Abgrenzungswünsche bemerken und darauf feinfühlig reagieren. Kinder erfahren so, wie es sich anfühlt, wenn ihr Nein respektiert wird. Das kann erleichtern Grenzüberschreitungen durch andere rasch zu erkennen. In ihrer Vorbildfunktion sollten Mitarbeiter im Kontakt mit anderen Menschen auf ihre eigenen Grenzen achten und diese vertreten. Im Gespräch mit Kindern über sexuelle Gewalt wirkt die eigene positive Einstellung zur eigenen Sexualität und eine kindangemessene Sprache stärkend. Es kann wichtig sein, den Kindern zu vermitteln, dass Zärtlichkeiten etwas Schönes und Gewolltes sind und dass Kinder immer, wenn ihnen Berührungen unangenehm sind, das Recht haben, „Nein“ zu sagen und jemandem davon zu erzählen, egal von wem die Berührung ausgeht. Ebenso ist Aufklärung wichtig: zu sagen, dass es manchmal auch Erzieher geben kann, die sie am Penis oder an der Scheide berühren oder sich von den Kindern dort berühren lassen möchten, und dies nicht in Ordnung ist, selbst wenn sie denjenigen sehr gern haben etc. Kindern muss gesagt werden, dass Hilfe holen kein Petzen und kein Verrat ist. Und der konkrete Hinweis, an wen sie sich wenden können, darf nicht fehlen. Diese Herangehensweise ist auch für Grundschulkinder geeignet. Den Begriff „sexueller Missbrauch“ sollten Kinder ab dem Grundschulalter in kindgerechter Sprache erläutert bekommen und kennen. Mit älteren Kindern und Jugendlichen sollte auch über mögliche Anbahnungen von Tätern und Täterinnen im Internet oder über Handykontakte gesprochen werden (vgl. „Mutig fragen – besonnen handeln“) . Kinder sollten in ihrem Körperbewusstsein unterstützt werden. Jede positive Körpererfahrung – vom Matschen im Sand bis zum Kennenlernen des eigenen Körpers – unterstützt das Körperbewusstsein von Kindern. Eine frühzeitige Sexualerziehung mit einer positiv besetzten Sprache für den gesamten Körper, einschließlich der Genitalien, macht einen positiven Körperbezug leichter und unterstützt die Fähigkeit in Sprache zu fassen, sollte sich ein sexueller Missbrauch ereignen. 16 Zu 2. Zur fachlich-menschlich engagierten Unterstützung von Mitarbeitern in Institutionen gehört a. regelmäßige Fortbildung und Supervision zur Sensibilisierung der Selbst- und fremdwahrnehmung sowie zur Förderung des mutigen Eintretens für die Schutzbefohlenen. Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendhilfe müssen durch spezielle Aus- und Fortbildung von Fachkräften so qualifiziert werden, dass sie drohenden sexuellen Missbrauch erkennen und verhindern können. b. offener und institutionalisierter Austausch in der Einrichtung über Informationen, wer Täter/innen sein können und zu ergreifende Maßnahmen. Hierzu gehört das Wissen, wonach Menschen mit sexuellen Interessen an Kindern vielfach sehr gezielt Beschäftigungen in Institutionen für Kinder und Jugendliche suchen. Achten Erzieher auf Grenzverletzungen untereinander (Vorbildfunktion) und bei den Kindern und greifen ein, erleben Schutzbefohlene Beziehungen, die ihnen gut tun und in denen sie respektiert werden. Dies ist ein wichtiger Baustein der Prävention von sexuellem Missbrauch. Prävention bedeutet auch, dass Erwachsene für die Rechte der Kinder eintreten und sie darin unterstützen, dies auch selbst zu tun (vgl. „Mutig fragen – besonnen handeln“) Achtsames Zuhören und behutsames Nachfragen können das Sprechen erleichtern, wenn Erzieher bei einem Kind auffälliges, altersunangemessenes, möglicherweise sexualisiertes Verhalten beobachten oder das Kind Andeutungen macht. Insgesamt fällt es Kindern leichter, über sexuellen Missbrauch zu berichten, wenn dieses Thema bereits einmal zur Sprache gekommen ist und sie die Haltung ihrer Erzieher einschätzen können. Zu 3. Hierüber hinaus können Verantwortliche in Institutionen durch vorbeugende Maßnahmen im Hinblick auf sexuelle Gewalt Strukturen schaffen, die zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und besonders schutzbedürftigen Personen beitragen. Dazu zählen bezogen auf Mitarbeiter: Mitarbeiter mit Bedacht auswählen und Absprachen mit ihnen treffen . Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses von allen Fachkräften einer Einrichtung in regelmäßigen Abständen – ausgeweitet auch auf ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Verhaltensregeln für Mitarbeiter/innen und Ehrenamtliche gegenüber Kindern und Jugendlichen Schutzvereinbarungen mit den Mitarbeiter/innen und Ehrenamtlichen, die das Verhalten klar benennen, das Kindern gegenüber keinesfalls geduldet wird. Maßnahmen bezogen auf Eltern der Kinder: Ein fachlich durchdachtes sexualpädagogisches Konzept allen Mitarbeitern und den Eltern transparent machen. Elternabenden organisieren, die das Thema sexueller Missbrauch, Prävention und angrenzende Themen behandeln. Auf unterschiedliche Angebote für Eltern, z. B. bei Migrationshintergrund oder Eltern von behinderten Kindern und Jugendlichen achten. Maßnahmen bezogen auf die Kinder: 17 Altersangemessene Information der Kinder über ihre Rechte in der Einrichtung öffentlich machen. Nur Kinder, die ihre Rechte kennen, können ein Bewusstsein von Handlungsoptionen zugunsten ihrer Grundbedürfnisse entwickeln. Altersgemäßes Mitspracherechte für Kinder und Jugendliche, beispielsweise in Form von regelmäßigen Kinderkonferenzen etablieren. Kinder bei der Entwicklung von institutionellen Regelungen beteiligen. Kinder werden sich nur dann für ihre Rechte stark machen, wenn sie der Überzeugung sind, dass sie sich artikulieren und sich Gehör verschaffen können. Ein aktives Beschwerdemanagement einrichten, das auch kritische Rückmeldungen von Kindern und Eltern begrüßt. Informationsmaterial für Mitarbeiter, Eltern und Kinder bereitstellen Zu 4. Eine wirksame Prävention muss auch bei den potenziellen Tätern ansetzen. Sie muss verhindern helfen, dass pädophil geneigte Männer Gewalt an Minderjährigen begehen. So bietet beispielsweise das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité in Berlin seit 2005 diagnostisch-therapeutische Angebote für Männer, die auf Kinder gerichtete sexuelle Fantasien haben und seit 2010 die Projekte „Kein Täter werden“ am Kieler Universitätsklinikum und an der Universität Regensburg. Intervention Werden Kinder oder Jugendliche trotz aller Prävention, Opfer von Gewalt oder sexueller Gewalt brauchen sie Hilfe und Schutz. Dies geschieht durch professionelle Unterstützung zur Verarbeitung der Geschehnisse. Diese sollte sich auch auf die anderen Kinder der Einrichtung beziehen, die meist verängstigt, verwirrt und sehr verunsichert reagieren. Auch die Fachkräfte bleiben verwirrt zurück, denn die Mitglieder des Teams und die Leitung wurden vom Täter manipuliert, die ja oft zunächst besonders kompetent und engagiert wirken. Entpuppen sich diese Verhaltensmuster nun als manipulative Strategien, so besteht die Gefahr, wenn das Geschehene nicht aufgearbeitet wird, dass bald allen Professionellen und Ehrenamtlichen misstraut wird, die z. B. besonders sozial engagiert sind und sich durch hohe Empathie und Kollegialität auszeichnen. Dies wäre eine verheerende Konsequenz für alle Beteiligten. Für ein schnelles Eingreifen bei sexuell übergriffigem Verhalten sollten Einrichtungen über ein internes, für alle Mitarbeiter verbindliches Verfahren für den Verdachtsfall verfügen, das in Zusammenarbeit von Leitung und Mitarbeiter/innen erstellt und abgestimmt wurde. Die Richtlinien, wie jeweils vorgegangen werden sollte, sollten in Abhängigkeit von der Angebotsform (Schule, Kindergarten, Kommunionunterricht, Freizeitunternehmen) Verantwortlichkeiten definieren und konkrete Schritte zum Umgang mit vagen Vermutungen und begründetem Verdacht vorgeben. Im Verdachtsfall sollten Fachkräfte eine externe Beratung in Anspruch nehmen können, die darin unterstützt, die Wahrnehmungen zu analysieren. So können auch mögliche Loyalitäskonflikte ev. einen Mitarbeiter zu Unrecht zu beschuldigen und dann einrichtungsintern zu beschämen und ev. auch ein Kind aus Angst vor falscher Beschuldigung eines Kollegen nicht zu schützen Bei gewichtigen Anhaltspunkten, die eine Gefährdung des Wohl des Kindes nahe legen, sind soziale Fachkräfte gefordert, konkrete Schritte zur einzuleiten, die helfen das Gefährdungsrisikos abzuklären und dann Maßnahmen zum Schutz des Kindes vor weiteren Beeinträchtigungen einzuleiten und zu ergreifen (vgl. Bundschuh 2010, 67). In jedem Fall muss die Meldung an die Leitung bzw. direkt an den Träger erfolgen, deren Aufgabe es ist 18 weiteren Schritte einzuleiten. Handlungsleitend muss dann bei allen nachfolgenden Maßnahmen das beste Interesse des Kindes sein: Sofortige Unterbrechung des Kontakts zwischen dem Verdächtigten und dem betroffenen Kind. Die beschuldigte Fachkraft muss unter Ausschöpfung vorhandener arbeitsrechtlicher Möglichkeiten die Einrichtung verlassen. Es ist sicher zu stellen, dass dem Kind auch außerhalb der Einrichtung keine Gefahr droht, von der verdächtigten Person manipuliert zu werden. Die Erstattung einer Strafanzeige ist im Grundsatz notwendig und wichtig, um sowohl das aktuell betroffene Kind, als auch zukünftig potenziell betroffene Kinder zu schützen. Es „muss (aber) im Einzelfall das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gegen die notwendigen Belange des Opferschutzes abgewogen werden, um eine sekundäre Traumatisierung zu vermeiden. Das gilt besonders dann, wenn das Opfer selbst keine Strafanzeige wünscht.“ (Landesjugendamt Brandenburg 2007a, 8 in Bunschuh 2010, 69) Literatur Bauer, J. (2002): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt am Main: Eichborn Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg,) 2012: Mutig fragen, besonnen handeln – Informationen für Mütter und Väter zur Thematik des sexuellen Missbrauchs an Mädchen und Jungen (als PDF-Datei verfügbar) Bundschuh, Claudia 2010: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Institutionen Nationaler und internationaler Forschungsstand - Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen" Deutsches Jugendinstitut e.V. Abteilung Familie und Familienpolitik München (als PDF-Datei verfügbar) Österreichische Bischofskonferenz (Hrsg): Die Wahrgeit wird euch frei machen, Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich - Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt (als PDF-Datei verfügbar, auch in einer Kurzfassung) Ehlert M.; Lorke B. (1988): Zur Psychodynamik der traumatischen Reaktion. Psyche, 42(6): 502–565 Ferenczi, S. (1932) Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kinde. Bausteine zur Psychoanalyse ~I~ Bern (Huber) 1939, 511-525. Fischer, G. & Riedesser (1999) Lehrbuch der Psychotraumatologie. München & Basel: Springer-Verlag, Gruen, A (2000). Das Fremde in uns: Stuttgart: Klett-Cotta, 2000 Hirsch, M. (1987) Realer Inzest - Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie. Springer, Berlin u.a.O.: Springer-Verlag 3. Auflage 19 Kindler, Heinz & Schmidt-Ndasi, Daniela 2011: Wirksamkeit von Maßnahmen zur Prävention und Intervention im Fall sexueller Gewalt gegen Kinder - Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ AMYNA e.V. – Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch (als PDF-Datei verfügbar) Shengold, L (1989) Soul murder. Seelenmord - die Auswirkungen von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit. 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Lehrpsychotherapeutin und -analytikerin, Supervisorin und Dozentin. Aktuell neben der Praxistätigkeit vor allem in der Fortbildung auf dem Gebiet der Psychotraumatherapie tätig. Leiterin des Fortbildungsinstituts „Arbeitskreises für Psychotraumatologie und Katathym Imaginative Psychotraumatherapie“ in Darmstadt: www.kipt.eu 20