beruflichen

Transcrição

beruflichen
Berufungscoaching
Systemisches
Coaching in Phasen der
(beruflichen)
Neuorientierung
Alexander Kaiser, Wien
1. Motivation und Problemstellung
Der Begriff Berufung ist vielleicht keiner, der in unserem alltäglichen Sprachgebrauch eine dominierende Rolle innehat. Für manche Menschen hat Berufung ausschließlich etwas mit Berufung im spirituellen und kirchlichen Sinne und damit mit einer Wahl eines kirchlichen Berufes (Priester, Ordensmitglied etc.) zu tun. Diese Sichtweise ist jedoch m.E. eine absolut unzulässige Engführung des Begriffs „Berufung“,
wie auch an anderer Stelle ausführlich beschrieben wird (Kaiser 2004). Das Faszinierende und Kraftvolle am Begriff Berufung ergibt sich aus dem Wortstamm, in dem das
Wort Rufen enthalten ist. Insofern liegt damit die Assoziation mit einem dialogischen
Geschehen, nämlich Ruf und Antwort, auf der Hand, ein Zugang, der auch dem systemischen Coachingansatz sehr nahe steht. „Die Berufung ist ein Wort, das an mich ergeht. Sie ist ein Beziehungsgeschehen, das heißt, dass sie in der Beziehung entsteht und
wächst. Sie wird weniger und schwächer, wenn die Beziehung und das Gespräch weniger werden“ (Martini 1998).
In meiner bisherigen Erfahrung mit der Methode des Berufungscoachings bei etwa
40 Menschen und mehr als 120 Berufungscoachingsitzungen habe ich die Kund/innen
immer selbst entscheiden lassen, ob sie den Begriff Berufung im Prozess verwenden
wollen oder stattdessen lieber etwa Lebensaufgabe, Lebensthema oder etwas anderes
einsetzen möchten. Bis auf eine Ausnahme haben sich alle Kund/innen für den Begriff
Berufung entschieden, meist mit der Begründung, dass dieser Begriff „etwas hat“ und in
ihnen eine Dimension berührt und anspricht, die ihnen wesentlich ist.1
Berufung ist etwas sehr Umfassendes. Berufung hat jedenfalls auch viel mit dem
Beruf eines Menschen zu tun, aber eben nicht nur ausschließlich mit Beruf, sondern
auch einer Grundhaltung, einer Lebensausrichtung und vielem mehr. Berufungscoaching zielt daher in seiner Grundintention auf den gesamten Menschen – gleichsam
ganzheitlich – ab, wobei sich ein Schwerpunkt der Anliegen der Kund/innen dann sehr
wohl auf eine Entscheidungshilfe bei der Berufswahl fokussiert. Berufungscoaching ist
1
Das hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass hier die spirituelle Dimension des Menschen
angesprochen wird. Diese nicht zu berücksichtigen, würde auch bedeuten, etwas Wesentliches des Menschen quasi auszublenden.
Organisationsberatung – Supervision – Coaching, Heft 4/2005, S. 345-358
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somit auch nicht als Konkurrenz zur Berufsberatung zu sehen, sondern vielmehr
Grundlage, Voraussetzung und damit sinnvolle Ergänzung für diese.
Die vorliegende Arbeit stellt ein Prozessmodell für das Berufungscoaching vor und
vergleicht dieses Modell mit dem konventionellen systemischen Coaching. Damit ergibt
sich folgende Gliederung: Nach einer Einführung mit den Grundannahmen der Methode und einer Definition der Zielgruppen für das Berufungscoaching folgt ein Abschnitt
über die psychologischen Grundlagen des Berufungscoachings. Daran anschliessend
wird das Prozessmodell des Berufungscoachings im Detail vorgestellt und mit dem
klassischen Modell des systemischen Coachings verglichen.
2. Einführung
2.1 Grundannahmen
Die Grundannahme, auf der die folgenden Überlegungen aufbauen, besteht darin,
dass es für jeden Menschen eine persönliche Berufung gibt, aus der auch eine individuelle Lebensform und individuelle Aufgaben folgen. Diese Berufung kann von niemand
anderem besser gelebt und erfüllt werden als von dem Menschen, für den diese Berufung bestimmt ist. Das bedeutet auch, dass die Aufgaben, die sich aus dieser Berufung
ergeben, von niemand anderem besser und damit auch für die Allgemeinheit vorteilhafter ausgefüllt werden können, als vom Träger der Berufung selbst.
Vielfach wird davon ausgegangen, dass diese Berufung jedem Menschen bereits
grundgelegt ist (vgl. dazu etwa Painadath 2002; Alphonso 1999; Jones 1998). Die persönliche Berufung entspricht daher auch meinem wahrsten und tiefsten Selbst, der Einmaligkeit und Originalität meiner Person (Alphonso 1999, 13). Im Wesentlichen geht es
um eine Ent-Deckung und damit auch Ent-Faltung dessen, was jede und jeden von uns
einmalig macht.
Wenn wir den Gedanken weiterverfolgen, dass die persönliche Berufung in jedem
Menschen bereits grundgelegt ist, erscheint es gerade deshalb sinnvoll, als Begleitung
zur Entdeckung dieser Berufung auch die Methode des Coachings einzusetzen und von
Berufungscoaching zu sprechen. Der Coachingansatz geht ja davon aus, dass alle Ressourcen in der Kund/in2 bereits angelegt und vorhanden sind und durch das Coaching
und durch eine neue Sichtweise quasi nur aktiviert werden müssen. Die intendierte
Aufgabe von Coaching ist es, auf vorhandene Potenziale und Ressourcen bestmöglich
zugreifen und sie verwenden zu können. Das Finden und Ausüben der persönlichen Berufung hat wesentliche positive Auswirkungen:
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2
Erfülltheit und Zufriedenheit des Einzelnen, weil er/sie in verstärktem Maße das tut
und lebt, was seinen/ihren Fähigkeiten, Charismen, Begabungen etc. entspricht.
Größere Zufriedenheit und positive Auswirkungen auf die nähere und weitere Umgebung des Menschen, weil dadurch, dass jemand seine Berufung gefunden hat und
diese auch leben darf, es einen höchstmöglichen Nutzen für die Umgebung bedeuWir sprechen von Kund/innen (im Gegensatz zu Klient/innen oder gar Patient/innen), um
auch durch die Sprache zu betonen, dass die Kund/in (eigentlich) kundig ist über ihre Berufung und ihr Leben und die Aufgabe des Coaches es „lediglich“ ist, durch eine methodische
Begleitung der Kund/in es zu ermöglichen, verstärkt auf bereits vorhandene Ressourcen zurückgreifen zu können.
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tet, da diese „Aufgabe“ ja laut Definition optimal besetzt ist, weil niemand anderer
sie besser ausüben könnte als der/die, dessen/deren Berufung es ist.
Global gesehen (und den Ansatz der Systemtheorie aufgreifend), kann man sogar
davon sprechen, dass es ein (nicht unwesentlicher) Beitrag zu einer „besseren Welt“
ist, wenn möglichst viele Menschen das leben und umsetzen können, was sie erfüllt
und was ihnen einen größtmöglichen Sinnbezug erfahren lässt.
2.2 „Zielgruppe“ für das Berufungscoaching
Wenn wir anhand unseres eigenen Lebens überlegen, wann wir bereit und offen dafür sind, unsere eigene Berufung zu hinterfragen, bzw. darüber mit anderen Menschen
sprechen wollen, dann wird man wahrscheinlich bald merken, dass dies vor allem in
Phasen der Neuorientierung der Fall ist, also an Wendepunkten im Leben. Prinzipiell
kann man zwischen einer freiwilligen Neuorientierung und einer erzwungenen Neuorientierung unterscheiden. In beiden Fällen kommt das Berufungscoaching sinnvoll zur
Anwendung.
Die erzwungene Neuorientierung im beruflichen Kontext kann in unterschiedlichen
Szenarien auftreten. Sie kann von außen herbeigeführt sein, also durch Umstände oder
Entscheidungen, die jemand anderer herbeiführt oder trifft (Entlassung), oder sie kann
aufgrund physischer und/oder psychischer Beschwerden dringend notwendig werden
(Burnout, latente Unzufriedenheit in Beruf und/oder Lebensform). Die erzwungene
Neuorientierung kann sich aber auch ganz natürlich ergeben, quasi als „Folge der Zeit“
(Schulabschluss, Abschluss einer Ausbildung, Pensionierung) oder im Zusammenhang
mit nicht erreichten Zielen (Schulabbruch, Abbruch einer Ausbildung) oder erreichten
Zielen (Suche nach neuer Herausforderung). Schließlich ist die erzwungene Neuorientierung auch bei Entscheidungssituationen (Auswahl zwischen mehreren, scheinbar
gleichwertigen Möglichkeiten) denkbar. Zusammengefasst hier die potenziellen Möglichkeiten einer erzwungenen Neuorientierung in einer Übersicht:
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Schulabbruch
Schulabschluss
Abbruch einer (weiterführenden) Ausbildung
Abschluss einer (weiterführenden) Ausbildung
Entlassung
Burnout
Pensionierung
Berufswiedereinstieg nach (Kinder-)Pause
(großes) Ziel erreicht und Suche nach neuer Herausforderung
latente Unzufriedenheit im Beruf oder in der Lebensform
Entscheidungssituation zwischen mehreren Möglichkeiten.
Auch die freiwillige Neuorientierung kann in unterschiedlichen Kontexten auftreten, wobei sich einige Situationen der erzwungenen Neuorientierung auch hier wieder
finden, nämlich dann, wenn es in diesen Situationen keinen „dramatischen Leidensdruck“ (finanzieller, physischer oder psychischer Form) gibt, so etwa beim Berufswiedereinstieg nach längerer Pause oder bei einer Unzufriedenheit in Beruf oder Lebensform, oder auch dann, wenn nach dem Erreichen eines (großen) Ziels eine neue Herausforderung angestrebt wird, oder wenn prinzipiell eine Entscheidungssituation zwischen
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mehreren Möglichkeiten existiert. Darüber hinaus ergeben sich folgende zusätzliche
Szenarien:
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Vorsorgegedanke bzw. „persönliche Qualitätssicherung“
„Absichern“ einer (schon fast) getroffenen Entscheidung
Aspekt der Selbsterfahrung.
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass es offenbar unabhängig vom Lebensalter eine große Anzahl von Situationen oder Ereignissen im Leben eines Menschen gibt, in denen man über das Bewusstwerden seiner Berufung in Fragen der Neuorientierung einen wesentlichen Schritt weiterkommen kann. Der Psychologe und
Theologe Monbourquette meint in diesem Zusammenhang, dass es im Leben zwei klar
auszumachende Phasen gibt, während derer sich das Bedürfnis, seine Lebensaufgabe zu
erfüllen, besonders eindringlich auferlegt: diejenigen der Pubertät und der Lebensmitte
(Monbourquette 2003, 32).
3. Psychologische Grundlagen des Berufungscoachings
Wenn wir uns in diesem Abschnitt der Arbeit den psychologischen Grundlagen des
Berufungscoachings zuwenden, dann geht es darum, die Motivation, seine persönliche
Berufung zu entdecken, zu hinterfragen und darauf aufbauend den weiter unten beschriebenen Aufbau des Berufungscoachings zu begründen.
3.1 Warum die eigene Berufung entdecken?
(1) Sinn: „Viktor E. Frankl hat als Ausgangspunkt seiner sinnzentrierten Psychotherapieform festgestellt, dass glückendes menschliches Leben weder im Horizont ungehindert lustvoller Triebbefriedigung noch im Horizont machtstrotzend sozialer Positionen stattfindet. Es bedeutet viel eher ein Leben, erfüllt von sinnvollen Aufgaben, die innerlich bejaht werden und an die man sich freiwillig und freudig hingibt“ (Lukas 2002,
8). Letztlich geht es also darum, einen Sinn im Leben auch über die Tätigkeiten und
Aufgaben zu finden, die ein Mensch zu bewältigen hat. Alphonso etwa sagt, dass wir
ganz spontan das über Bord werfen, was sinnlos ist, und das behalten, verinnerlichen
und assimilieren, was sinnvoll ist (Alphonso 1999, 25). „Die größte Angst des Menschen besteht darin, ein sinnloses Leben gelebt zu haben. Seine Mission zu finden und
sie zu erfüllen, ist vielleicht die sinnvollste Beschäftigung, der sich ein Mensch widmen
kann“ (Jones 1998, 8). „Ein Mensch, der seine Lebensaufgabe gefunden hat, findet
darin Gründe, die das Leben lohnen und mit Freude erfüllen, ganz gleich, auf welche
Hindernisse und Schwierigkeiten er stoßen, oder was für Schweres ihm zugemutet werden mag“ (Monbourquette 2003, 36). „In diesem Zusammenhang zitiert Frankl gerne
den Ausspruch von Nietzsche: ‚Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie‘.“
(Monbourquette 2003, 37).
(2) Nutzen: Auch der Nutzenaspekt ist ein Motivationspunkt, sich auf die Suche
nach der persönlichen Berufung zu machen.3 Dabei muss zwischen dem persönlichen
3
Vgl. dazu auch den ethischen Ansatz des Utilitarismus. Das Modell des Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill, 18. und 19. Jahrhundert) geht ähnlich wie das aristotelische
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Nutzen und dem Nutzen für die gesamte Umgebung des Menschen bzw. für das System, in dem er lebt, unterschieden werden. „Das Universum verarmt, sooft eine Pflanzenoder Tierart verschwindet; erst recht verarmt es, wenn ein bestimmter Mensch seine Lebensaufgabe nicht sieht oder sich dagegen sperrt, sie zu erfüllen. Jedes Mal also, wenn jemand in Freiheit seine Lebensaufgabe erfüllt, wird er zum Mitschöpfer und Mitarbeiter der
Schöpfung und bereichert die Welt“ (Monbourquette 2003, 41). Von Stutz stammt der
Ausspruch: „Zu viele Menschen werden als Original geboren und sterben als Kopie.“4 Das
Folgen der eigenen Berufung hat also eine positive Auswirkung auf die Welt, indem die
Vielfalt einerseits und die Originalität andererseits gefördert wird.
In einer konsequenten Betrachtung des Berufungsgedankens besteht der Nutzen
auch darin, dass niemand anderer als der Träger der Berufung die sich daraus ergebende
Lebensaufgabe und die daraus resultierenden Tätigkeiten besser erfüllen kann. Das bedeutet, je mehr Menschen ihre persönliche Berufung erkennen und ihr auch folgen, desto größer ist der Nutzen für das Gesamtsystem. Aus der Systemtheorie wissen wir, dass
das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (Mücke 2001, 25). Es geht dabei um ein
Auftreten von Eigenschaften, die sich nicht (linear) aus den Eigenschaften der einzelnen
Teile allein ableiten lassen. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass ein großes Potenzial
in der Interaktion und der Verbindung zwischen den Mitgliedern des Systems liegt.
Diese Überlegung kann auch auf den Gedanken der Berufungen in einem System umgelegt werden. Je mehr Individuen ihre Berufung suchen, finden und ihr folgen, desto
mehr Interaktionsmöglichkeiten und Verbindungen ergeben sich in einem System zwischen solchen „berufenen Individuen“, was wiederum zu einem größeren Gesamtnutzen
für das System und einer höheren Qualität des Gesamtsystems führt. Tatsächlich ist es
auch so, dass diese Individuen, die ihrer persönlichen Berufung folgen, durch die Verbindung mit anderen Elementen des Systems diesen ermöglichen, ihre Berufung zu finden oder diesen Prozess zumindest begünstigen.
Neben dem Nutzen für das Gesamtsystem existiert natürlich auch ein Nutzen für
jeden einzelnen Menschen, der seiner Berufung folgen kann. „Wenn ein Mensch seine
eigene Berufung entdeckt, wirkt sich das klärend auf alle seine Lebensbereiche aus.
Seine Lebensaufgabe hilft ihm, weise zu werden, und es hilft ihm, das, was die Entfaltung des Menschen behindert, zurückzudrängen“ (Monbourquette 2003, 37). Im Allgemeinen kann auch beobachtet werden, dass Menschen, die ihrer Berufung folgen und
diese Berufung auch in ihrem Alltag umsetzen und leben können, eine positive Ausstrahlung haben und darauf basierend auch auf sich gut schauen können. Damit können
sie oftmals auch der Gefahr eines „Burnout“ leichter begegnen.
4
Modell davon aus, dass jeder Mensch in seinem Leben nach Glück und Wohlergehen strebt.
Daraus formulieren Utilitaristen ein Prinzip für ethisches Handeln: Diejenigen Handlungen
sind richtig, deren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind – oder anders
formuliert: Kriterium für das Richtige ist das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl.
Die Stärke dieses Prinzips liegt darin, dass bei jeder Handlung die Interessen anderer mitberücksichtigt werden müssen. Die Kritik am Utilitarismus liegt vor allem in der Frage: Wer
setzt fest, was nützt? Im Kontext der persönlichen Berufung (und damit des Berufungscoachings) können wir in Bezug zum Modell des Utilitarismus davon ausgehen, dass das Folgen
der persönlichen Berufung auch einen größtmöglichen Nutzen für die Umwelt desjenigen
Menschen hat, der seiner Berufung folgt, da ja definitionsgemäß diese einzigartige Berufung
und Aufgabe bzw. dieser einzigartige Auftrag von niemand anderem besser und damit auch
„nutzenbringender“ erfüllt werden kann.
gehört bei einem Vortrag im Herbst 2002 im Kardinal König Haus.
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3.2 Wege, die eigene Berufung zu leben
Es ist jedem Menschen eigen, dass er nach einer Betätigung, nach einem Wirken
sucht, bei dem er Spuren in der Welt hinterlässt, bei der er physisch, mental, sozial/emotional und spirituell gefordert ist, und zwar weder überfordert noch unterfordert
(Covey 1998, 40 ff.). Das Erkennen der persönlichen Berufung ist ein entscheidender
Schritt, ebenso wichtig ist es jedoch, diese Berufung in eine konkrete Tätigkeit bzw.
Lebensform umzusetzen. Diese konkrete Umsetzung wird oft als Vision bezeichnet
(etwa bei Jones 1998 oder Cerny 2002). Bildlich gesprochen, ist die Berufung das Fundament einer Pyramide, ein Fundament, das beständig und konstant ist. Darauf aufbauend kann die Berufung dann in eine Vision umgesetzt werden. In unterschiedlichen
Phasen des Lebens werden auch unterschiedliche Formen und Betätigungsfelder, also
unterschiedliche Visionen geeignet sein, sodass sich die Visionen mehrmals, vielleicht
sogar grundlegend, ändern können. Die darunter liegende Berufung ist von diesen Änderungen jedoch im Allgemeinen nicht betroffen.
Die Berufung ist eng mit einer (guten) Lebensphilosophie verknüpft und ermöglicht
damit auch eine große Freiheit in Verantwortung für die Vision, also für die konkrete
Umsetzung der Lebensberufung in Beruf, Familie, Gesellschaft, Gemeinschaft etc. Das
erscheint umso mehr als sinnvoll und notwendig, da sich jeder Mensch im Laufe seines
Lebens weiterentwickelt, an Erfahrungen, Eindrücken etc. gewinnt und von seiner Prägung her jemand anderer ist (im positiven Sinn) als 10 Jahre zuvor.
Wenn wir das oben begonnene Bild der Pyramide mit der Berufung als Fundament
und der darauf aufbauenden Vision vervollständigen, dann stehen an der Spitze dieser
Pyramide Ziele. Es sind Ziele, die sich aus der jeweils aktuellen Vision ergeben und die
notwendig sind, um die Vision auch zu erreichen bzw. sie im alltäglichen Leben umsetzen zu können. Ein konkretes Ziel ist somit also immer von der Berufung gespeist, anders formuliert, ist in diesem Modell die Quelle jedes Handelns meine persönliche Berufung. Je weiter hinauf wir auf dieser Pyramide gelangen, desto „verstandesorientierter“ ist die Arbeit. Während das Finden der eigenen Berufung einer Ent-deckung dessen
gleicht, was bereits im Menschen grundgelegt ist und daher stärker von Intuition und
Gefühlen geprägt ist, ist die zielorientierte Arbeit mehr rational orientiert. Dann können
Techniken und Methoden des Ziel- und Zeitmanagements gut eingesetzt werden, insbesondere des Ziel- und Zeitmanagements der 4.Generation nach Covey (1992, 1998), da
es ganzheitlich orientiert ist und alle Rollen eines Menschen berücksichtigt. Das Berufungscoaching behandelt alle drei Ebenen, also Berufung, Vision und Ziele.
4. Vorgehensweise und Phasen des Berufungscoachings
Im Folgenden wird ein Phasenmodell des Berufungscoachings vorgestellt, nach
dem der Autor der vorliegenden Arbeit in der praktischen Coachingarbeit auch vorgeht.
Diese Phasen sind als Grobstruktur zu verstehen, an denen sich sowohl Kund/in als auch
Coach orientieren können. Klarerweise ist es aber weder möglich und auch gar nicht intendiert, jeder Kund/in ein und dasselbe Modell „überzustülpen“, sodass innerhalb der nun
zu skizzierenden Phasen genügend Freiraum für das individuelle Eingehen auf den jeweiligen Kunden als Original bleiben muss. Gerade beim Thema Berufung und der zugrundeliegenden Definition, dass jeder Mensch einzigartig ist und daher auch eine einzigartige
nicht kopierbare Berufung hat, ist der Aspekt des individuellen Eingehens innerhalb einer
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konstanten Prozessstruktur besonders wichtig. Das Berufungscoaching kann in drei Phasen unterteilt werden: (1) Ent-decken, (2) Stärken, (3) Umsetzen.
In der Praxis hat sich gezeigt, dass diese drei Phasen von den Kund/innen sehr gut
nachvollzogen und angenommen werden und als Orientierung im Prozess sehr hilfreich
sind. Darüber hinaus können von diesen drei Phasen umrandet nochmals drei Schritte
transparent gemacht werden: (1) Berufung, (2) Vision, (3) Ziel. Graphisch lässt sich
das komplette Modell des Berufungscoachings wie in Abbildung-1 darstellen.
Zeitachse
(Sitzungen)
Zeitachse
(Kundenrealität)
Zukunft
Umsetzen
5
Ziel
4
Stärken
Entdecken
Vision
Berufung
2
1
Gegenwart
Abbildung 1:
3
Prozessmodell Berufungscoaching
Im Folgenden werden die einzelnen Phasen des Berufungscoachings und deren charakteristische Inhalte kurz beschrieben.
4.1 Ent-decken
In der ersten Phase des Berufungscoachings steht das Finden bzw. Ent-decken der
eigenen Berufung im Zentrum. Im Unterschied zum „konventionellen“ systemischen
Coaching kommen Kund/innen zum Berufungscoaching in vielen Fällen mit einem
ziemlich konkreten Ziel, nämlich die eigene persönliche Berufung benennen zu können
und davon ausgehend eine geeignete Berufsform zu finden, um diese Berufung auch im
Leben umsetzen und verwirklichen zu können. Damit ist das große Ziel der gesamten
Coachingbegleitung oft bereits sehr schnell definiert. Trotzdem ist der Schilderung des
Anliegens und der Ist-Situation der Kund/in ausreichend Platz und Zeit einzuräumen.
Diesbezüglich kann auch im Berufungscoaching nach dem Grundsatz „so viel wie notwendig und so wenig wie möglich“ gearbeitet werden, um die Grundausrichtung der
Lösungsfokussierung bereits am Beginn des Coachings bestmöglich zu unterstützen.
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Wir gehen ja davon aus, dass die Berufung in jedem Menschen bereits grundgelegt,
also bereits vorhanden ist. Dementsprechend muss nichts von „außen hereingeholt“ werden, sondern vielmehr das Vorhandene entdeckt werden. Wichtig dabei erscheint im Auge
zu behalten, dass die persönliche Berufung nur selten im Kopf der Kund/innen schon parat ist, sondern dass sie vielmehr eben ent-deckt werden muss. Dieses Ent-decken basiert
wesentlich auf der Annahme, dass die persönliche Berufung eng mit dem Selbst des Menschen verbunden ist. D.h. auch, dass im Prozess des Berufungscoachings die Aufmerksamkeit der Kund/in behutsam auf die eigene Intuition, die Gefühle, die eigene „innere
Stimme“ etc. gelenkt wird. Es geht dabei auch darum, Situationen aus der (näheren) Vergangenheit, bei denen die Kund/in erfahren und gefühlt hat, „stimmig“, authentisch, ja
gleichsam aus der eigenen Mitte heraus gehandelt zu haben, wieder ins Bewusstsein zu rufen und dieses dort erfahrene, gute Gefühl neu zu ankern und abrufbar zu machen.
Eine von mehreren Möglichkeiten, diese Phase des Entdeckens gut zu unterstützen,
ist die von Jones vorgeschlagene Übung der Verben – Werte – Arbeitsbereiche. (Jones
1998, 67 ff.; Cerny 2002, 84 ff.) Dabei geht es darum, auf eine Menge von Verben,
Werten und Arbeitsbereichen zu schauen und davon schrittweise und intuitiv (basierend
auf einer stimmigen und erfüllten Situation in der Vergangenheit) welche auszuwählen.
Eine der wesentlichen Aufgaben des Coaches in der ersten Phase des Berufungscoachings ist es, die Kund/in dabei zu unterstützen, dass dies gelingt. Insofern hat dieses
„Werkzeug“ auch einen stark hypnotherapeutischen Bezug (vgl. dazu Schmidt 2005).
Aus den so gewählten Begriffen kann dann so etwas wie ein erster Berufungsauftrag
formuliert werden, der eine Basis für die weitere Arbeit darstellt. Die Kund/in hat dann
bis zur nächsten Sitzung Zeit, zu überlegen und vor allem nachzuspüren, wie sehr sie
dieser Auftrag betrifft, was er beim Kunden selbst und ggf. in der Umgebung des Kunden an Reaktionen etc. auslöst. Es geht darum, diesen Berufungsauftrag im Inneren „arbeiten zu lassen“ und zu beobachten, welche Reaktionen er bewirkt. Eine andere Möglichkeit, die Intuition der Kund/in anzusprechen, besteht auch im Einsatz von geführten
Meditationssequenzen, Imaginationen oder hypnotherapeutischen Werkzeugen.
Die wesentliche Aufgabe des Coaches in der 1.Phase des Berufungscoachings ist
es, die Kund/in durch Fragen, kleine Übungssequenzen etc. bereit zu machen, verstärkt
auf Intuition, Gefühle und Körperwahrnehmung zu vertrauen. Ergebnis dieser Phase ist
eine konkret benennbare (also auch verbalisierbare) Berufung.
4.2 Stärken
In der zweiten Phase des Berufungscoachings steht das Stärken im Mittelpunkt.
Vorerst geht es aber natürlich darum, das Ergebnis der 1. Phase auf Stimmigkeit und
„Korrektheit“ hin zu überprüfen; dabei muss auch genügend Zeit und Raum bleiben,
Änderungen und Adaptionen vorzunehmen. Daran anschließend liegt der Schwerpunkt
der Begleitungsarbeit darin, dass die Kund/in bereits vorhandene Ressourcen, Talente
und Fähigkeiten erkennt, sich bewusst macht, konkret benennt und auch im Bezug auf
die gefundene Berufung betrachtet. Daneben ist es ein wesentlicher Erfolgsfaktor, auch
das vorhandene implizite Wissen eines Kunden – soweit möglich – explizit zu machen.
Dazu hat sich auch ein speziell für diesen Zweck entwickeltes und adaptiertes Werkzeug,
die Übung der Erfolgsbilanz, sehr gut bewährt (vgl. dazu Kaiser 2005). Vielen Kund/innen wird am Ende dieser 2. Phase nach langer Zeit so richtig bewusst, wie viel an Ressourcen und Fähigkeiten bereits vorhanden sind und gleichsam nur aktiviert werden müs-
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sen. Der Coach kann hier ein breites Spektrum der klassischen Fragetechniken aus dem
systemischen Coaching zur Anwendung bringen. Insbesondere können hier zyklische Fragen sinnvoll eingesetzt werden. Ergebnis dieser Phase ist die konkret benennbare Berufung aus Phase 1, ergänzt um eine (große) Menge von explizit gemachten Ressourcen,
Stärken, Talenten und Fähigkeiten, die helfen, diese Berufung zur Entfaltung zu bringen.
Am Ende der 2. Phase des Berufungscoachings wird der Kund/in als Verschreibung
bzw. Intervention die Aufgabe mitgegeben, eine konkrete Vision der Umsetzung ihrer
Berufung zu erstellen (2. Ebene in der Pyramide in Abbildung 1). Hierbei geht es darum, „so zu tun als ob“ die Umsetzung der Berufung im Alltag bereits gelungen ist, und
dann so konkret wie möglich den Ablauf des Alltags niederzuschreiben. Eine Vision ist
im Unterschied zur Berufung oder zur Mission etwas sehr Konkretes, und die Kund/in
wird dazu angehalten, möglichst detailliert und exakt sich vorzustellen, wie und was
sein wird, wenn die Berufung konkret im Leben umgesetzt wird und sich gleichsam
virtuell auch dort hineinzubegeben und das auch niederzuschreiben. Die Vision kann
mit dem Drehbuch eines Films verglichen werden, sie soll ebenso umfassend und konkret sein. Ein wesentlicher Aspekt ist auch, dass die Vision möglichst viele Lebensbereiche der Kund/in beinhaltet und abdeckt. Damit diese Aufgabe gut gelingt, hat es sich
am Ende der 2. Phase auch als nützlich erweisen, die Kund/in mit Hilfe von Fragen,
insbesondere auch zyklischen Fragen, auf die Rollen zu sensibilisieren, die sie in ihrem
derzeitigen Leben einnimmt. Dabei ergibt sich ganz natürlich auch die Überlegung,
welche dieser Rollen auch in Zukunft eingenommen werden sollen, welche Rollen abgegeben werden sollen und welche Rollen eventuell neu hinzukommen sollen.
4.3 Umsetzen
In der 3. Phase des Berufungscoachings geht es um die konkrete Umsetzung der
Berufung im Leben der Kund/in. Welche Möglichkeiten der Realisierung gibt es? Wie
realistisch sind die einzelnen Varianten? Was sind konkrete erste Schritte auf diesem
Weg? Welche Schritte bin ich schon gegangen? Das sind einige der wesentlichen Fragen, die im Rahmen der letzten Phase beantwortet werden sollten.
Von der konkreten Vision ausgehend, werden mit der Kund/in dann mehrere Teilziele formuliert. Insbesondere Techniken des Ziel- und Zeitmanagements der 4. Generation nach Covey (1992, 1998) haben sich hier vor allem wegen des ganzheitlichen
Ansatzes als sehr nützlich erwiesen. Die Kund/in ist durch die Formulierung der Vision
im Geiste schon einmal am Ziel gewesen, und aus dieser Erfahrung heraus ist es dann
auch gut möglich, realistische Teilziele festzulegen. Die „Timeline-Übung“, als Möglichkeit einzelne Teilschritte auf dem Weg zur Vision auch physisch aufzulegen bzw.
aufzustellen, ist genauso gut einsetzbar wie etwa die „Backcasting-Methode“.5 Ergebnis
der letzten Phase ist der Beginn der konkreten Umsetzung des 1. Schritts im Alltag.
5
An die Spiritualität und Theologie anknüpfend, kann man der 3. Phase des Berufungscoachings auch einen gewissen „Sendungscharakter“ zusprechen. Dieser liegt einerseits im gedanklichen Gehen und Nachspüren eines konkreten Weges und Zieles und andererseits in
der ganz konkreten und verbindlichen Formulierung des ersten Schritts auf diesem Weg.
D.h. die Kund/in wird am Ende dieser Begleitung durch das Verbindlichmachen des ersten
Schritts vor sich selbst gleichsam in den Alltag gesendet und „entlassen“. Vergleiche dazu
auch ausführlicher Kaiser (2004).
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5. Vergleich mit wesentlichen Aspekten systemischen Coachings
Kurz soll nun anhand eines Vergleichs mit den Schritten im Prozess des „konventionellen Coachings“ dargestellt werden, dass es sich beim Berufungscoaching um eine
Form des systemisch-konstruktivistischen Coachings handelt, das in bestimmten Anwendungsbereichen (eben der (beruflichen) Neuorientierung) erfolgreich zum Einsatz
kommen kann. Im Prozess des „konventionellen Coachings“ wird vielfach zwischen
den Phasen Anliegen – Ziel – Auftrag – Beratung unterschieden (vgl. dazu etwa Tomaschek 2003, 69 ff.; Backhausen 2003, 133 ff.).
5.1 Anliegen
Auf die potenziellen Anliegen, die Kund/innen dazu veranlassen, das Berufungscoaching in Anspruch zu nehmen, wurde bereits im Abschnitt 2.2 eingegangen.
Genauso wie beim normalen Coaching wird beim Berufungscoaching in der ersten Beratungssitzung der Kund/in die Möglichkeit gegeben, die relevanten Fakten und Informationen über ihr Anliegen zu kommunizieren. Insbesondere in der Phase „Umsetzung“
beim Berufungscoaching wird auf das konkrete Anliegen der Kund/in und damit auf ihre Realität immer wieder Bezug genommen. Auch im normalen Coaching gibt es eine
große Bandbreite bezüglich der „Zeitwidmung“ für das Anliegen der Kund/innen im
Coachingprozess.6 Selbiges ist auch beim Berufungscoaching zu beobachten, sodass es
Kund/innen gibt, die nur wenig über ihr Anliegen erzählen wollen, und wieder andere,
denen es ein großes Bedürfnis ist, über ihr Anliegen zu erzählen, und die oft schon
durch dieses Erzählen ihren Zielen und damit auch ihren Lösungen näher kommen.
5.2 Ziel
Im konventionellen systemischen Coaching kommt der Zielklärung eine besondere
Bedeutung zu (Tomaschek 2003, 78 ff.), da sie der Schlüssel zu einem konsequenten lösungsfokussierten Arbeiten ist. Nicht selten wird für die Zielklärung ein beträchtlicher
Zeitanteil einer Coachingstunde aufgewendet, da oft für die Kund/in in der Klärung des
Ziels schon ein ganz wesentlicher Schritt zur Lösung enthalten ist.
Im Berufungscoaching ist auf den ersten Blick das Ziel bereits vorgegeben, nämlich
eine Klärung der eigenen Berufung sowie deren Umsetzung. Trotzdem, oder vielleicht
auch gerade deswegen, ist die Zielklärung im Rahmen des Berufungscoaching mindestens genauso wichtig wie im „klassischen Coaching“. Aus der Praxiserfahrung lassen
sich bereits jetzt eine Fülle von recht unterschiedlichen Zielrichtungen beobachten: Es
gibt Kund/innen, die ganz klar eine Entscheidung treffen wollen oder müssen, welchen
(beruflichen) Schritt sie als nächstes setzen; hier liegt die Zielfokussierung auf der Phase der Umsetzung und Realisierung. Andere Kund/innen haben in den Mittelpunkt des
Beratungsprozesses tatsächlich ihre Berufung gestellt und als Ziel gleichsam formuliert,
6
Vgl. dazu etwa Steve de Shazer und Insoo Kim Berg oder auch Jürgen Hargens, die dem
Anliegen der Kund/in nur einen sehr geringen Raum im Prozess geben, um der Kund/in nie
die Gelegenheit zu geben, in eine „Problemtrance“ zu verfallen. Auf der anderen Seite
Gunther Schmidt oder die Vertreter des „Kieler Beratungsmodells“ (Uwe Grau, Tomaschek),
die der Anliegensschilderung mehr Platz einräumen.
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mehr Klarheit über eine grundsätzliche Lebensausrichtung zu bekommen. Wieder andere Kund/innen haben den Schwerpunkt auf das Herausfinden ihrer Stärken und Ressourcen gelegt, um davon ausgehend weitergehende Schritte überlegen zu können. Allein aus der Aufzählung dieser drei Zielrichtungen wird klar, dass die Zielklärung im
Berufungscoaching essenziell ist; sowohl das Ziel für den gesamten Prozess (also das
Metaziel), als auch das Ziel für die jeweilige Coachingstunde müssen jedes Mal aufs
Neue hinterfragt und auf Aktualität überprüft werden. Immer wieder kommt es dementsprechend in der Praxis auch vor, dass das ursprünglich in der ersten Coachingsitzung
formulierte übergeordnete Ziel im Laufe der Begleitung von der Kund/in revidiert wird.
5.3 Auftrag
Die starke Betonung der Phase der Klärung des Auftrags an den Coach ist eine Besonderheit etwa des Kieler Beratungsmodells (Tomaschek 2003, 78 ff.). Tatsächlich
geht es unter anderem auch darum, die Erwartungen der Kund/in an den Coach herauszufinden und darüber hinaus auch zu klären, welche Arbeitsweise der Kund/in entweder
bereits vertraut ist oder welche Arbeitsweise ihr gut liegt.
Der Auftrag im Berufungscoaching ist phasenorientiert, in dem Sinn, dass der
Coach am Beginn des Berufungscoachingprozesses – möglicherweise an Hand des „Pyramidenmodells“ – die einzelnen Schritte des Berufungscoachings und deren wesentliche Inhalte und Absichten kurz vorstellt und skizziert. Der Coach holt sich dann von
der Kund/in jeweils den Auftrag, in die nächste Phase weiterzugehen oder aber in der
aktuellen Phase des Berufungscoachings zu verbleiben und dort weiterzuarbeiten. Insofern könnte man hier sogar von einem Auftrag im Auftrag sprechen, da es bei einem
längeren Verweilen in einer Phase des Berufungscoachings auch darum geht, zu klären,
was die Kund/in noch an weiteren Schritten innerhalb dieser Phase mit dem Coach bearbeiten will. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um eine spezifische Form des
Öffentlichmachens, indem der Coach seine Methoden und geplante Vorgehensweise
transparent macht und sich von der Kund/in den Auftrag dazu holt, oder eben einen
ganz anderen Auftrag. Immer wieder kommt es auch vor, dass innerhalb eines Berufungscoachingprozesses die Kund/in zu einem „konventionellen Coaching“ überwechselt. In diesem Fall ist eine neue Auftragsklärung (und damit vorgelagert verbunden,
auch eine neue Zielklärung) erforderlich.
5.4 Beratung
Die Aufgabe des Beratungsteils einer Coachingsitzung im konventionellen Coaching ist es, dass die Kund/in das vereinbarte und festgeschriebene Ziel für die Stunde
erreicht und der Coach gemäß dem vereinbarten Auftrag die Kund/in dabei unterstützt.
Analoges ist beim Berufungscoaching der Fall. In weiterer Folge sollen diejenigen Coachingtechniken zusammenfassend dargestellt werden, die sich im Kontext des Berufungscoachings besonders bewährt haben.
(1) Skalierungsfragen sind in den verschiedensten Phasen des Coachingprozesses
hervorragend zur Strukturierung geeignet. Insbesondere haben sie sich für die Kunden
als hilfreich erwiesen, wenn es darum geht Fortschritte innerhalb eines (vielleicht längeren) Prozesses gleichsam sichtbar zu machen. Im Berufungscoaching können Skalierungsfragen sehr gut in der 1. Phase des Prozesses eingesetzt werden, um sowohl
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Kund/in als auch Coach ein besseres Gefühl dafür zu geben, wie nahe sich die Kund/in
bereits am Beginn des Berufungscoachings ihrer Berufung fühlt bzw. wie weit ihre aktuelle Tätigkeit einer „optimalen Tätigkeit“ (soweit sie schon in den Grundzügen bekannt ist oder eine ungefähre Vorstellung darüber existiert) entspricht. Coachingfragen
wie etwa „Woran werden Sie merken, dass Sie sich auf der Skala um einen Skalierungsschritt nach oben bewegt haben?“ oder „Woran werden Sie merken, dass Sie auf
der Skala bei 10 angelangt sind?“ lösen immer wieder einen sehr intensiven Denkprozess dahingehend aus, was konkrete (Veränderungs)-Wünsche etc. betrifft. Skalierungsfragen sind im Berufungscoaching auch in Kombination mit zyklischen Fragen gut einsetzbar, auch hier schwerpunktmäßig in der 1. Phase des Prozesses.
(2) Die zyklischen Fragen – in einer leicht modifizierten Form – sind im Berufungscoaching ein wichtiges Element in der 2. Phase des Prozesses. Dabei geht es ja
darum, die Kund/in insofern zu stärken, als dass sie sich all ihre Talente, Fähigkeiten,
Stärken und Charismen explizit bewusst machen soll. Dazu hat es sich u.a. sehr bewährt, auf gesammelte, ganz konkrete erfolgreiche Ereignisse im Leben der Kund/in
dann mit Hilfe einer zyklischen Frage gleichsam aus einer Außenposition hinzuschauen.
Dadurch wird es für die Kund/in leichter möglich, „objektive“ Fähigkeiten zu sammeln
und bewusst zu machen. Beispielsweise nennt eine Kund/in als einen Erfolg in ihrem
Leben den Aufbau eines kleinen Vereins in ihrem beruflichen Umfeld. Daran anschließend kann eine Frage etwa lauten: „Wenn ich X fragen würde, welche Fähigkeiten nötig sind, dass jemand (eine beliebige Person) einen Verein aufbaut, was würde er/sie mir
dann sagen?“ Sinn dieser leicht modifizierten Form der zyklischen Frage ist es, dass die
Kund/in ihren Erfolg etwas „entpersonifiziert“ und so leichter mehrere Faktoren sammeln kann, die zum konkreten Erfolgsereignis beigetragen haben (vgl. Kaiser 2005). In
der Beratungspraxis ist es meist so, dass die Kunden eine Vielzahl von erfolgreichen
Ereignissen ihrer Vergangenheit bringen, wenn man ihnen nur genügend Zeit lässt und
immer wieder „nachsetzt“ (frei nach Insoo Kim Berg „what else?“).
(3) Die Frage nach den Ausnahmen in der Vergangenheit zielt im „konventionellen
Coaching“ darauf ab, der Kund/in bewusst zu machen, dass das geschilderte Anliegen
in der Vergangenheit meist in unterschiedlicher Intensität beobachtbar ist, und dann
darauf aufbauend bereits lösungsfokussiert vorzugehen, indem die Verhaltenweisen
derjenigen Situationen herangezogen werden, in denen das Anliegen etwas weniger
massiv aufgetreten ist (vgl. etwa De Shazer 1989, 70 f.). Im Berufungscoaching ist der
Fokus ein etwas anderer, indem hier nicht auf die Ausnahme des Problems in der Vergangenheit abgezielt wird, sondern vielmehr auf das Erfahren der eigenen Berufung in
der Vergangenheit. Eine typische Frage dabei lautet etwa: „In welchen Situationen in
der Vergangenheit haben Sie das Gefühl gehabt, Ihrer Berufung bzw. Lebensaufgabe
entsprechend zu handeln oder zu arbeiten? Was war in diesen Situationen anders, etc.?“
Dabei bietet sich oft auch eine Kombination mit einer zuvor gestellten Skalierungsfrage
an, z.B.: „In welchen Situationen in Ihrer Vergangenheit hatten Sie das Gefühl, Ihrer
Berufung in Ihrer Tätigkeit oder Ihrem Handeln um x Skalenschritte näher zu sein als
heute? Was war in diesen Situationen anders, etc.?“ Mit diesen Fragen wird einerseits
auf ein positives Gefühl der Kund/in in der Vergangenheit abgestellt, und andererseits
werden auch konkrete Handlungen und Tätigkeiten abgefragt, über die gegebenenfalls
dann lösungsfokussiert weiter gearbeitet werden kann.
(4) Adaptierte Form der Wunderfrage: Kernstück des letzten Teils des Berufungscoachings ist die Arbeit an der Vision der Kund/in. Dabei besteht die Aufgabenstellung darin, gleichsam ein Drehbuch für einen idealen Moment in der Zukunft zu
Berufungscoaching
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verfassen, bei dem die Kund/in alle für sie relevanten und auch in der Zukunft wünschenswerten Rollen berücksichtigen soll. Diese Vision soll einerseits realistisch dahingehend verfasst sein, dass all das, was in der Vision niedergeschrieben wird, im Prinzip
möglich und erreichbar sein soll, andererseits soll die Vision aber durchaus auch
„phantastisch“ sein, in dem Sinn, dass all die Wünsche, Sehnsüchte und auch Phantasien darin Platz haben. An der so von der Kund/in erstellten und verfassten Vision (die
Erstellung wird meist als Verschreibung bzw. Hausaufgabe der Kund/in als Arbeit für
daheim mitgegeben) wird dann in der Coachingsitzung weitergearbeitet. Die starken Parallelen zur Arbeit mit der Wunderfrage liegen dabei auf der Hand. Ohne die Wunderfrage explizit anzuwenden, wird trotzdem am „eingetretenen Wunder“ – also der Vision
weitergearbeitet. Es ist auch gut möglich, die Erstellung der Vision gemeinsam mit der
Kund/in in einer Coachingsitzung durch den Einsatz der Wunderfrage zu unterstützen
und zu begleiten.
6. Zusammenfassung, Ausblick und Schlussfolgerungen
Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass das Modell des Berufungscoaching mit
dem systemischen Coaching voll kompatibel ist und sich dabei auf die speziellen Bedürfnisse derjenigen Menschen wenden kann, die auf der Suche nach ihrer Berufung
sind. Die Praxiserfahrungen mit der Methode des Berufungscoachings, die sowohl von
der Anzahl der Kund/innen als auch vom „Querschnitt der Kundenprofile“ als repräsentativ angesehen werden können, sind als sehr positiv zu bewerten. Das Prozessmodell des Berufungscoachings gibt der Kund/in eine Orientierung – gleichsam einen
Fahrplan –, was von einer überwiegenden Anzahl der begleiteten Kund/innen sehr geschätzt und als hilfreich empfunden wird. Es hat sich gezeigt, dass es einerseits einen
aktuellen Bedarf für diese besondere Form des Coachings vor allem in Phasen der beruflichen Neuorientierung gibt und dass es andererseits einer Grundsehnsucht des Menschen entspricht, sich seiner Einzigartigkeit und seiner Berufung und Lebensaufgabe
bewusst zu werden.
Das Prozessmodell des Berufungscoachings lässt genügend Platz und Freiraum, um
ganz individuell auf die Kund/innen eingehen zu können, und es lässt auch offen, jederzeit vom Berufungscoaching zum konventionellen Coaching zu wechseln, ohne dass es
hier zu einem Strukturbruch kommen würde. Weiterhin ist es auch gut möglich (und in
der Praxis bereits eingesetzt worden), einige Elemente des Berufungscoachings in das
konventionelle Coaching zu integrieren. Das erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn
das Thema einer Coachingsitzung die Zielarbeit der Kund/in in einem weiteren Sinn ist.
Zusammenfassung
Es wird ein Prozessmodell für das Berufungscoaching vorgestellt, das in der Coachingpraxis
bereits oftmals erfolgreich angewendet wurde. Die wesentlichen Eckpfeiler des Modells Entdecken – Stärken – Umsetzen werden beschrieben und die im Berufungscoaching eingesetzten
Frage- und Interventionsformen skizziert und mit den Methoden im konventionellen Coaching
verglichen. Die Zielgruppe des Berufungscoaching – nämlich Menschen an (beruflichen) Wendepunkten wird genauer spezifiziert und die Bedürfnisse dieser Gruppe aufgezeigt und dem potenziellen Nutzen der Methode des Berufungscoachings gegenübergestellt.
Schlüsselbegriffe: Berufung, Neuorientierung, Coaching, Berufsfindung.
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Abstract: Vocation-coaching – coaching in phases of personal reorientation
A model for a coaching-method, the “Vocation-coaching” is presented, which was used successfully in the last two years. The main aspects of the model, namely discovering – strengthen –
transfer, are described. The coaching-techniques which are used within the vocation-coaching are
compared to the techniques of the conventional coaching. The target group of the vocationcoaching are individuals at turning points in their lives, especially at turning points in their professions. The needs of these persons are described and compared to the potential use of the
method of the vocation-coaching.
Key words: Vocation, reorientation, coaching, vocation-finding
Literatur
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Kaiser, A. (2004): Berufungscoaching als Methode einer zeitgemäßen Berufungspastoral: theologische, spirituelle und psychologische Grundlagen; www.wave.co.at/berufungspastoral.pdf
– (2005): Erfolgsbilanz – ein Werkzeug des persönlichen Wissensmanagements (in Vorbereitung).
Lukas, E. (2002): Vom Sinn des Augenblicks. München: Kösel.
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Monbourquette, J. (2003): Finde deinen Platz im Leben. Freiburg: Herder Spektrum.
Mücke, K. (2001): Probleme sind Lösungen. Potsdam: Klaus Mücke Öko Systeme.
Painadath, S. (2002): Der Geist reißt Mauern nieder. München: Kösel.
Schmidt, G. (2004): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Heidelberg: Carl-Auer.
Tomaschek, N. (2003): Systemisches Coaching. Wien: Facultas.
White, M. (2002): Die Zähmung der Monster. Heidelberg: Carl-Auer.
Der Autor: Dr. Alexander Kaiser, Jg. 1965, Professor für BWL und Wirtschaftsinformatik an der
Wirtschaftsuniversität Wien, zertifizierter Professional Coach (systemisch-analytisch), als freiberuflicher Coach tätig, Gründer und Leiter von WaVe – Zentrum für Wachstum und Veränderung.
Arbeitsschwerpunkte: Berufungscoaching, Wissensmanagement. Anschrift: Wirtschaftsuniversität Wien, Abteilung für Informationswirtschaft, Augasse 2-6, A-1090 Wien, E-Mail: [email protected], Internet: www.wave.co.at.

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