Der Chor in Mozarts Requiem - Interpretatorische Streitfragen

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Der Chor in Mozarts Requiem - Interpretatorische Streitfragen
Der Chor in Mozarts Requiem Interpretatorische Streitfragen
Wissenschaftlicher Teil der künstlerischen Masterarbeit
von
Yoshinao KIHARA
Zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Institut 1 Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren
Studienrichtung Chordirigieren
eingereicht bei:
Ao.Univ.Prof. Dr.phil. Renate Bozic
Künstlerische Masterarbeit
eingereicht bei:
O.Univ.Prof. Mag.art. Johannes Prinz
Graz, 2016
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Seite
1
1. Die Fassung
1.1 Welche Fassungen gibt es?
1.2 Die Fassung von Franz Xaver Süßmayr
1
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1.3 Die Fassung von Franz Beyer (erschienen 1980)
2
1.4 Die Fassung von Robert D. Levin (erschienen 1993)
4
1.5 Eklektische Aufnahmen von Claudio Abbado mit den Berliner 6
Philharmonikern und dem Swedish Radio Choir
1.6 Meine Lösung
2. Das Tempo
2.1 Das Adagio-Tempo des Requiems
2.2 Welches Tempo ist für die Fuge im Requiem am besten
2.3 Das Tempo für „Dies Irae“ mit Allegro assai
2.4 Stücke ohne Tempoangabe
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7
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8
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3. Die Dynamik
3.1 Die große Diskussion über die Dynamik im „Dies irae“
3.2 Die Phrasierungsdynamik
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11
11
4. Rex tremendae und Confutatis
4.1 Rex tremendae
4.1.1 Wie lange sind die ersten drei Viertelnoten?
4.1.2 Wie drückt man den kontrastreichen Inhalt des Textes aus?
4.1.3 Wie lange ist die Sechzehntelnote?
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4.2 Confutatis
4.2.1 Die letzte Silbe des Wortes
4.2.2 Wie lange ist die Sechzehntelnote der zweiten Silbe?
Literaturverzeichnis
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Vorwort
Am 24. Februar 2016 führte ich als Dirigent das Requiem (in seiner Fassung mit Orgel)
von Wolfgang Amadeus Mozart in der Sumida Triphony Hall in Tokio, Japan, auf. Die
Mitwirkenden waren der Wiener Singverein, japanische SolistInnen sowie der Organist
Robert Kovac. Die Bearbeitung für die Orgelversion stammt von Martin Focke.
Die Proben mit dem Wiener Singverein für das Konzert in Tokio wurden in Wien und
Tokio abgehalten. Dies war eine sehr interessante Erfahrung für mich.
Den Probenarbeiten und dem Konzert ging meinerseits eine intensive
Auseinandersetzung mit dem Requiem voraus. Natürlich studierte ich nicht nur die
Orgelversion, sondern auch andere Orchesterversionen. Dafür hörte ich viele
Aufnahmen verschiedener Dirigenten sowie deren unterschiedliche Interpretationen und
verglich die verschiedenen Fassungen miteinander.
Durch das intensive Studium des Requiems stieß ich auf jene musikalischen Fragen, die
ich durch meine eigene Interpretation des Werkes zu beantworten versuchte und diese
auch in der hier vorliegenden Arbeit beschreiben werde.
1. Die Fassung
1.1 Welche Fassungen gibt es?
W.A. Mozart konnte aufgrund seines Ablebens das Requiem nicht fertigstellen.
Deswegen vollendete sein Schüler Franz Xaver Süßmayr diese Komposition.
Heutzutage wird vor allem die Fassung von Süßmayr zur Aufführung gebracht.
Neben der Requiem-Version von Süßmayr gibt es auch weitere Fassungen etwa von
Franz Beyer (erschienen 1980, Überarbeitung 2005), Richard Munder (erschienen
1988), H. C. Robbins Landon (erschienen 1992), Duncan Druce (erschienen 1993) und
Robert D. Levin (erschienen 1993).
In der Konzertvorbereitung konzentrierte ich mich besonders auf die drei
repräsentativsten Fassungen, jene von Franz Xaver Süßmayr, Franz Beyer und Robert D.
Levin.
1
1.2 Die Fassung von Franz Xaver Süßmayr
Bevor Mozart starb, war Süßmayr während der Komposition des Requiems an seiner
Seite und bekam auf diese Art und Weise direkte Hinweise von Komponisten selbst.
Deswegen werden die ursprünglichen Absichten und Überlegungen von Mozart in der
Fassung von Süßmayr am besten widergespiegelt.
1.3 Die Fassung von Franz Beyer (erschienen 1980)
Franz Beyer führte im Vergleich zur Version von Süßmayr kleine Korrekturen an der
Orchestrierung beziehungsweise an manchen Chorstellen durch. Zum Beispiel:
-
Im Kyrie sowie im Cum sanctis tuis spielen nach der letzten Fermate die Pauke
und die Trompeten den Auftakt mit, da auch die letzten beiden Takte von
derselben Besetzung gespielt werden.
-
Im Tuba mirum werden ab Takt 24 die Posaunen weggestrichen, um durch das
Weglassen der kontrapunktischen Melodie die Orchestrierung zu vereinfachen.
-
Im Rex traemendae fällt der zweiten Schlag im ersten Takt (gespielt von
Posaune, Corni di Basetto und Fagotti) weg, da „Mozarts dramatischer Dialog
der beiden Außenstimmen (1.Violine und Bässe) durch Süßmayrs zusätzliche
Terzen erheblich abgeschwächt wird.“1
-
Im Confutatis werden die Pauke und die Trompeten an den forte-Stellen auf dem
ersten und dritten Schlag gestrichen, da ansonsten die Orchestrierung zu dick
und intensiv wäre.
-
Im Lacrimosa wird der typische, eindrucksvolle „Aufstieg“ der Tenorstimme,
Altstimme und Bassstimme in Takt 24, 25 und 26 geändert. Der Grund für diese
Änderung ist folgender: „Eine satztechnische Lösung für die Takte 24-26 ergibt
sich eigentlich wie von selbst durch die hier vorgeschlagene imitatorische
Stimmführung der Tenöre. Selbstverständlich folgen die Orchesterbässe der
1
Mozart: Requiem (Die Fassung von Franz Beyer, Edition Kunzelmann,Lottstetten 2005 )
2
absteigenden Vokalbasslinie, während der Alt den Ausgangspunkt d ¹ durch
seinen Halteton befestigt.“2
-
Im Domine Jesu ist von Takt 7 bis 9 der Rhythmus nicht synkopisch, da der
Rhythmus an dieser Stelle auch bei Süßmayer nicht typisch „mozartisch“ ist.
Es gibt jedoch eine Ausnahme: Im Hostias und Sanctus fügt Beyer in der Fuge (mit dem
Text Hosanna in excelsis) 5 Takte hinzu, wie auch im Hosanna in der c-Moll-Messe KV
427.
Verglichen mit der Fassung von Süßmayr ist der Klang des Orchesters bei Beyer
meinem Empfinden nach viel trockener.
Beyers Requiemfassung wurde sowohl von Nikolaus Harnoncourt als auch von
Leonard Bernstein aufgenommen. Diese beiden Aufnahmen unterscheiden sich jedoch
wesentlich voneinander.
Harnoncourt Interpretation folgt der Fassung von Beyer. Nur im Teil der Fuge Hosanna
in excelsis lässt er die von Beyer hinzugefügten 4 Takte weg und greift an dieser Stelle
auf die Fassung von Franz Xaver Süßmayr zurück. Ich denke, dass Harnoncourt die
Fassung von Süßmayr so „treu“ wie möglich zur Aufführung bringen wollte. Da es sich
bei den vier zusätzlichen Takten um eine Bearbeitung handelt, dirigierte er diese nicht.
An allen anderen Stellen folgt er der Fassung von Franz Beyer.
Auch Bernstein folgte im Allgemeinen der Version von Beyer, auch wenn er im Rex
tremendae seine ganz eigene Interpretation aufstellt, indem er die Orgel hinzufügt. Die
erste Fuge Hossanna in excelsis folgt der Fassung von Süßmayr, die zweite der von
Beyer mit den hinzugefügten 5 Takten.
1.4 Die Fassung von Robert D. Levin (erschienen 1993)
Im letzten Teil des Lacrimosa fügt Robert D. Levin eine Amen-Fuge hinzu. Diese
besteht aus 88 Takten. Das ist völlig neu. Die Fuge steht in d-Moll und enthält keine
Modulation. Der Grund für die zusätzliche Amen-Fuge ist folgender: „Betrachtet man
2
Mozart: Requiem (Die Fassung von Franz Beyer, Edition Kunzelmann, Lottstetten 2005 )
3
die zwei von Mozart entworfenen Fugen (Kyrie, Quam olim Abrahae), so fällt auf, dass
sie in zwei verschiedenen Stilen geschrieben sind – die erste streng nach händelschem
Vorbild, die zweite mit einem loseren Chorgefüge, das auf dem unterstützenden Motiv
in Orchesterbass und Violine beruht und eindeutig rokokohafte Züge trägt (T. 67-71).
Da
Mozarts
Skizze
zur
Amen-Fuge
einen
sehr
verschlungenen,
„schwierigen“ Kontrapunkt vorschreibt (man vergleiche die Stimmkreuzung), wurde
absichtlich eine sehr reibungsgeladene Führung der Stimmen gewählt. Die Qual und
Angst des jüngsten Gerichtes (d.h. der SEQUENZ) schien diese durch Dissonanzen
geprägte Lösung strukturell wie dramaturgisch zu rechtfertigen. Dass eine solche
kontrapunktische Musiksprache beim späten Mozart auftritt, ist leicht zu belegen: vgl.
u.a. das Streichquartett F-Dur KV 590, 4. Satz, T. 86-96 bzw. 257-267; das
Streichquartett D-Dur LV 593, 2. Satz, T. 53-56, und die Fantasie f-Moll für eine
Orgelwalze KV 608. Aus den schon erwähnten Gründen wurde Wert darauf gelegt, die
Fuge nichtmodulierend auszuführen.“3
Vor der Amen-Fuge gibt es bei Robert D. Levin einen neuen Übergang. Die
harmonischen Schritte des Übergangs führen zu einem Halbschluss in d-Moll. Dies ist
ganz anders als in der Fassung von Süßmayr beziehungsweise von Beyer, in denen der
Übergang zu einem Ganzschluss führt und somit das Lacrimosa beendet.
Im Lacrimosa gibt es jedoch auch noch andere Unterschiede zwischen der Version von
Robert D. Levin und der Fassung von Süßmayr. Zum Beispiel:
-
Von Takt 9 bis 14 verwendet Levin aufgrund „der harmonischen Widersprüche
und der fragwürdigen Stimmführung eine andere Bassbewegung.“4
-
Takt 21 wird in der Fassung von Levin zur Gänze gestrichen. Der Grund dieser
Änderung liegt „in der Vermeidung der Tautologie der Kadenza in Takt 21 und
22 in der Fassung von Süßmayr“.5
Auch in anderen Teilen des Requiems können Unterschiede beobachtet werden:
An vielen Stellen wird die Orchestrierung geändert. So ist etwa „der Anfang der
3
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
4
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
5
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
4
obligaten Führung der Geigenstimme im Sanctus von Mozarts c-Moll-Messe (KV 427)
inspiriert.“6
-
Im Agnus Dei wird die Abfolge der Harmonie und Melodie geändert. Folgende
Gründe lassen sich für diese Änderung angeben: „Das AGNUS DEI blieb
strukturell unangetastet, aus den Abschnitten zwei und drei werden Süßmayrs
Mängel beseitigt. Die Anbindung der beiden Abschnitte (Agnus Die – dona eis
Requiem) wurde anders erzielt, und die erste Bassnote von T. 11 wurde von
Süßmayrs A in f um geändert, um das Motiv (vgl. Sopran) organisch zu behalten.
[…] Einen einfachen Trugschluss auf Ges ersetzt Süßmayrs verminderten
Septakkord in T. 45, der zu großen Stimmführungsproblemen führt und eine
wenig überzeugende Verbindung zum folgenden Ges-Dur-Dreiklang schafft.“7
-
Im Benedictus, vor der Fuge Hosanna in excelsis, kommt es zu anderen
Modulationen, da diese Fuge nach der Modulationen in D-Dur (bei Süßmayr in
B-Dur) beginnt.
Darüber hinaus wird die Fuge Hosanna in excelsis im Sanctus noch mehr als bereits in
der Fassung von Beyer erweitert. „Die neukomponierte Hosanna-Fuge weist die
Proportionen einer mozartischen Kirchenfuge auf (Vorlage: c-Moll-Messe), wobei
versucht wurde, die Länge eher zu beschränken, um der hinzugefügten Musik möglichst
wenig Gewicht zu verleihen.“8
Im Benedictus wird die Hosanna-Fuge jedoch gekürzt. Bezüglich der Tonart steht die
Fuge bei Levin beide Male in D-Dur. Folgendes kann dazu gesagt werden: „Ein
neukomponierter Übergang, dessen Quellen der Requiem-Satz (für T. 50-54) und das
Kyrie d-Moll KV 341 (für T. 54-56) bilden, führt zur gekürzten Wiederholung der
Hosanna-Fuge in der Originaltonart D-Dur (nicht, wie bei Süßmayr, in B-Dur; […]).
Die Entscheidung, die Reprise der Fuge zu kürzen, hatte drei Gründe:
Erstens schien es hinsichtlich der Harmonik wichtig, auf einen Halbschluss in d-Moll zu
zielen (um an die Haupttonart d-Moll zu erinnern, statt von B-Dur direkt nach D-Dur zu
gehen). Da die Hosanna-Fuge auf der Tonika beginnt, wäre eine Gesamtwiedergabe
dadurch nicht möglich. Zweitens wird die Hosanna-Fuge der c-Moll-Messe nach dem
6
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
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Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
8
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
5
Benedictus ebenfalls in gekürzter Form wiederholt. Drittens konnte dadurch nochmals
der Anteil neukomponierter Musik begrenzt werden.“9
Meiner Meinung nach könnte man diese Fassung beinahe als Bearbeitung des Requiems
betrachten. Deshalb würde ich bei einer Aufführung des Requiems persönlich von dieser
Version absehen.
1.5 Eklektische Aufnahme von Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern
und dem Swedish Radio Choir
Die Aufnahme (1999) von Claudio Abbado vermischt und verbindet die sehr
unterschiedlichen Fassungen von Franz Beyer und Robert D. Levin. Abbado sagte dazu:
„Durch die Verwendung der Fassung von Franz Beyer und Robert D. Levin wird
Süßmayrs Fassung repariert.“10
Im Lacrimosa streicht Abbado den Takt 21, wie in Levins Fassung des Requiems
vorgesehen. Auch dessen Amen-Fuge am Ende dieses Teils lässt er aus und greift an
dieser Stelle erneut auf die Fassung von Beyer zurück.
Ich denke, dass die Auswahl der jeweiligen Fassung Geschmackssache ist und dem
jeweiligen Dirigenten/der jeweiligen Dirigentin selbst überlassen sein sollte.
Grundsätzlich halte ich es jedoch für eine gute Idee, die verschiedenen Fassungen zu
mischen und sie zu kombinieren, wie etwa Claudio Abbado es tat.
1.6 Meine Lösung
Ich habe im Zuge der dieser Arbeit vorangegangenen Recherchearbeiten mir die
Aufnahmen der jeweiligen Fassung von Franz Xaver Süßmayr, Franz Beyer und Robert
D. Levin angehört. Danach war ich der Meinung, dass im Allgemeinen auf die von
Süßmayr angefertigte Version zurückzugreifen sei, vor allem, weil er bei der
Komposition des Requiems direkt mit Mozart zusammenarbeitete und diese, nach
9
10
Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
http://www.ne.jp/asahi/jurassic/page/talk/mozart/abbado.htm
6
Mozarts Tod, ergänzte und vollendete.
Nichtsdestotrotz denke ich, dass Süßmayrs Fassung gewisse Schwächen in der
Orchestrierung aufweist und es sich besonders bei der Orchestrierung im Tuba mirum
und im Confutatis an manchen Stellen empfiehlt, auf Beyers Fassung zurückzugreifen.
2. Das Tempo
In Mozarts Requiem gibt es fünf unterschiedliche Tempoangaben. An manchen Stellen,
wie zum Beispiel im Rex Tremendae, Reccordare, Lacrimosa, Agnus dei und Lux
aeterna gibt es keine Tempoangaben. Bei der Vorstellung der unterschiedlichen Tempi
stellten sich mir so manche Fragen.
2.1 Das Adagio-Tempo des Requiems
Wenn ich als Dirigent Adagio-Stellen dirigiere, stelle ich mir eine wesentliche Frage:
Dirigiere ich in 4 oder in 8?
In Bezug auf das Requiem von Mozart habe ich Videoaufnahmen unterschiedlicher
Dirigenten gesehen, die jeweils ein unterschiedliches Tempo für das Adagio wählten.
Würde man das Requiem aeternam und das Sanctus in 8 dirigieren, so wäre das Tempo
langsamer und schwerer als wenn man es in 4 dirigieren würde. Mozart schrieb jedoch
4/4, und nicht 8/8. Deswegen denke ich, dass man es grundsätzlich in 4 dirigieren sollte,
weil die Musik dadurch viel fließender ist.
Natürlich besitzt die Musik für Requiem aeternam und Sanctus Achtel-Impulse und ich
meine, dass die würdigen Schritte der Achtelnoten in der 4/4-Bewegung sehr gut gezeigt
werden können. Deswegen bettete ich in die 4/4-Bewegung die Achtel-Impulse ein, um
beide Tempovorstellungen in meinem Dirigat zu verbinden.
Das Lux aeterna besitzt keine Tempoangabe. Da die Musik jedoch ganz gleich wie im
Requiem aeternam ist, ist auch hier Adagio als Tempo zu wählen.
2.2 Welches Tempo ist für die Fuge im Requiem am besten?
Eine meiner größten Fragen war die Wahl des Tempos für die Fuge Kyrie eleison,
Hosanna in excelsis, Quam olim Abrahae und Cum sanctis tuis. Als Tempo wird Allegro
7
oder Andante con moto für alle Fugen angegeben. Die Frage ist jedoch, wie schnell das
jeweilige Tempo gewählt werden soll? Die Tempoangabe ist ein Maßstab, der jedoch
unterschiedlich gestaltet werden kann.
Die Form der Fuge ist grundsätzlich durch Dux, Comes und Contre Sujet aufgebaut.
Dieses Material soll sehr deutlich gespielt werden. Deswegen ist das Tempo wichtig.
Wenn ich die Fugen des Requiems dirigiere, bemühe ich mich vor allem darum, dass
das Publikum das wichtigste Material der Fuge hören und erkennen kann. Wenn man zu
schnell dirigieren würde, wäre es für die KonzertbesucherInnen unmöglich, die Form
der Komposition zu erkennen. Wird das Tempo zu langsam gewählt, verliert die Musik
ihren Fluss. Darüber hinaus ist ein „geringer musikalischer Fluss“ für die
ChorsängerInnen unangenehm; besonders weil Mozart die Chorstellen der Fuge sehr
„instrumentalistisch“ komponierte.
Ich denke, dass das Tempo dann optimal gewählt wurde, wenn es für die Fuge fließend
und für die ChorsängerInnen angenehm ist, auch wenn als Tempoangabe Allegro oder
Andante con moto steht.
2.3 Das Tempo für „Dies Irae“ mit Allegro assai
Eine Konzerttournee führte den Wiener Singverein im Jahr 2012 nach Japan. Der
Dirigent des dort aufgeführten Mozart-Requiems war Alois Glasner. Er dirigierte das
Dies Irae in Halben. Meiner Meinung nach kann dadurch ein großer musikalischer
Effekt erzielt werden und die Halben eignen sich hervorragend, um die musikalische
Linie zu zeigen. Glasners Aufführung mit dem Wiener Singverein empfand ich als sehr
fließend.
Die Tempoangabe für das Dies Irae ist bei Mozart jedoch nicht in Halben, sondern in
4/4.
Ich denke, dass ein Dirigieren in Halben zwar für den Chor, jedoch nicht für das
Orchester möglich ist. Die Strenge des Orchesterrhythmus und die raschen Impulse auf
jeden Schlag können nur so, jedoch nicht durch eine Zweier-Bewegung, zum Ausdruck
kommen. Darüber hinaus setzen die gespannte Sechzehntel-Bewegung und die
Synkopen des Orchesters viel Energie frei. Um diese energiegeladene Spannung
8
auszudrücken, dirigierte ich in Vierteln.
Die Tempoangabe im Dies Irae ist Allegro assai, also kein reines Allegro. Warum?
Ich glaube, dass der Grund dafür in der Atmosphäre der Musik liegt. Nicht nur auf
textlicher Ebene wird im Dies Irae die Furcht vor Gott spürbar. Manche Leute würden
vermutlich in Panik geraten, wenn sie sich Gottes Letztem Gericht stellen müssten. Es
ist somit ein sehr spannender Moment. Die Situation, in der wir uns befinden, ist eine
sehr außergewöhnliche. Deswegen denke ich, dass auch Mozart an dieser Stelle kein
normales, sondern eben ein besonderes Allegro schreiben wollte und sich für ein Allegro
Assai entschied. Die besondere Atmosphäre muss musikalisch ausgedrückt werden.
2.4 Stücke ohne Tempoangabe
Eine besonders interessante Frage ist die Wahl des Tempos an jenen Stellen, an denen
vom Komponisten keine Tempoangabe vorgesehen ist. Für welches Tempo soll man
sich entscheiden? Meine Kriterien für die Wahl des Tempos sind folgende:
-
Der Inhalt des Textes
-
Die Taktart (z.B. 4/4 oder Halbe)
-
Der Charakter des Requiems
-
Die Tonart
-
Die Beziehung zum jeweils vorangehenden Satz
Ein Requiem ist die Heilige Messe für Verstorbene. Der Charakter dieser Totenmesse ist
sehr ernst und kennzeichnet sich durch eine sehr würdige Atmosphäre. Deswegen denke
ich, dass das Tempo eines Requiems im Allgemeinen nicht zu schnell gewählt werden
sollte.
Als ich das Tempo für Rex tremendae bestimmte, beschäftigte ich mich zuerst mit dem
Inhalt des Textes. Aus diesem Grund war es für mich sehr eindeutig, dass die Musik
dieses musikalischen Satzes sehr würdevoll, wenngleich auch gewichtig gestaltet
werden muss.
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Dieser Satz steht im 4/4-Takt und nicht im 8/8-Takt. Auch wenn die Musik in
Vierer-Bewegungen steht, fühlte ich die schweren und bedeutenden Achtel-Impulse. Ich
denke, dass die Achtel-Impulse die heroischen Schritte des Königs (rex), also Jesu
Christi, repräsentieren. Deswegen wählte ich ein langsames Tempo mit natürlichem
musikalischem Fluss.
Das Lacrimosa und das Agnus dei wurden beide in d-Moll komponiert. Der Charakter
dieser Tonart drückt die Angst und die Erhabenheit aus. Darüber hinaus bringt der Text
der beiden Sätze die Traurigkeit und das Bitten für Frieden zum Ausdruck. Meiner
Meinung nach kann man diese beiden Gefühle mit einem normalen, langsamen Tempo
nicht ausdrücken beziehungsweise vermitteln. Deswegen dachte ich, dass die beiden
Sätze ein bestimmtes natürliches Gewicht brauchen. Um dieses Gewicht auszudrücken,
dirigierte ich das Lacrimosa und das Agnus dei mit der sogenannten „natürlichen
musikalischen Bremse“ (nach Prof. Johannes Prinz).
Auf den heftigen Satz des Dies Irae folgt das Reccordare. Dieser Satz wird von nur vier
SolistInnen gesungen, also nicht vom Chor. Meiner Meinung ist das Reccordare kein
dramatischer Satz, sondern spiegelt das fromme Gebet wider, welches ein ruhiges
Tempo verlangt. Ruhig bedeutet in diesem Zusammenhang jedoch nicht langsam. Das
Tempo muss fließen; das legato-Gefühl mit jeder Note gegeben sein.
3. Die Dynamik
An manchen Stellen fügt Mozart in seiner Komposition Dynamikangaben hinzu, jedoch
nicht in konsequenter Weise und auch nicht vollständig. An den Stellen, ohne
Dynamikangaben, liegt die interpretatorische Verantwortung bei den MusikerInnen
selbst.
3.1 Die große Diskussion über die Dynamik im „Dies irae“
Das Motiv des Quantus tremor est futurus, welches vom dritten Schlag in Takt 40 bis
zum zweiten Schlag in Takt 42 reicht, wird dreimal wiederholt. Die von mir studierten
Aufnahmen zeigten, dass es unterschiedliche Interpretationen dieses Motivs gibt und
man auf viele verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zurückgreifen kann (drei Mal
gleiche Dynamik, drei Mal unterschiedliche Dynamiken, und so weiter).
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Herbert von Karajan zum Beispiel wählte ein dreimaliges forte. Nikolaus Harnoncourt,
im Gegensatz, entschied sich drei Mal für piano in Verbindung mit der natürlichen
Phrasierungsdynamik.
Ich persönlich begann mit einem forte, wechselte jedoch sofort ins piano. Darauf folgte
ein cresc. hin zu (fu-)turus.
3.2 Die Phrasierungsdynamik
Auch wenn Mozart an vielen Stellen keine genauen Angaben in Bezug auf die Dynamik
machte, können wir aufgrund der Wörter des Textes auf die natürliche
Phrasierungsdynamik schließen. Dabei stellt sich die Frage nach dem natürlichen
Sprech-Schwerpunkt der Wörter oder Sätze, wie etwa bei Lacrimosa oder bei Domine
Jesu Christe.
Ich denke, dass man an solchen Stellen ein Wort oder eine Phrase so singen muss, wie
man es/sie auch sprechen würde. Außerdem finde ich, dass der Schwerpunkt eines
Wortes oder eines Satzes eng mit der harmonischen Spannung in Verbindung steht. Die
Gestaltung der Harmonie hängt fast immer mit dem Text zusammen.
4. Rex tremendae und Confutatis
Beim Studium des Requiems stellten sich mir im Rex tremendae und im Confutatis
besonders viele musikalische Fragen, welche ich gemeinsam mit ihren jeweiligen
Lösungsvorschlägen im Folgenden zu beantworten versuche.
4.1 Rex tremendae
4.1.1 Wie lange sind die ersten drei Viertelnoten?
Am Beginn des Stückes singt der Chor drei Mal Rex, jeweils eine Viertelnote lang. Aber
wie lange muss der Chor diese drei Viertelnoten jeweils aushalten? Mir scheint dies eine
sehr wesentliche interpretatorische Frage zu sein, auf die es unterschiedliche Antworten
gibt.
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Die erste Interpretationsmöglichkeit ist jene, dass der Ton (das Wort) Rex mit einer
schnellen Abphrasierung gesungen wird. In der Barockmusik wurde diese Art der
Interpretation sehr oft verwendet. Diese Art der Interpretation hat eine leichte
Verkürzung des Klanges zur Folge. Als Beispiel dafür kann die Interpretation von
Nikolaus Harnoncourt gesehen werden. Als Mozart dieses Requiem komponierte,
interessierte er sich sehr für die Barockmusik. Deswegen denke ich, dass auch die erste
Interpretation möglich ist und ihre Legitimität besitzt.
Die zweite Interpretationsmöglichkeit ist, die genaue Länge der jeweiligen Viertelnote
zu singen. Auch diese Interpretation ist möglich, weil Mozart eben genau diese
Viertelnoten komponierte. Es kommt dabei zu keiner Abphrasierung (quasi mit tenuto)
und die Spannung der Viertelnote wird gehalten. Herbert Karajan und Leonard
Bernstein bedienten sich dieser Interpretationsmöglichkeit.
Auch ich entschied mich bei meiner persönlichen Interpretation für die zweite. Der
Grund dafür ist folgender: Rex bedeutet „der König“. Der König ist Christus. Er ist von
großer Bedeutung für die Menschheit. Darüber hinaus wurde Rex tremendae majestatis
ins Deutsche mit König schrecklicher Gewalten übersetzt. Das heißt also, dass die
Menschen die Macht Christi fürchten. Um diese beiden Gefühle auszudrücken, eignet
sich meiner Meinung nach die zweite Interpretation am besten.
4.1.2 Wie drückt man den kontrastreichen Inhalt des Textes aus?
Von Takt 7 bis 11 und von Takt 12 bis 14 muss der Chor die kontrastreichen Inhalte der
Texte, die allesamt gleichzeitig gesungen werden, ausführen. Auf der einen Seite singt
der Chor Rex tremendae majestatis (König schrecklicher Gewalten). Dieser Text bringt
ein ängstliches Gefühl zum Ausdruck. Dem gegenüber steht Qui salvandos, salvas
gratis (Der du die zur Rettung bestimmten errettest aus Gnade). Der Inhalt dieses Textes
ist sehr bittend.
Um diese beiden, sehr unterschiedlichen Gefühle dem Publikum mitzuteilen, entschied
ich mich dafür, das Rex tremendae majestatis stärker, wie ein Schreien mit sehr klaren
Rhythmen auszudrücken. Qui salvandos, salvas gratis ist hingegen weicher, netter und
dunkler und wird mit einem legato gesungen.
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4.1.3 Wie lange ist die Sechzehntelnote?
Die nächste große musikalische Fragestellung lautet: Wie wird die Sechzehntelnote
gesungen. Müssen die Sechzehntelnoten den Einfluss der französischen Ouvertüre aus
der Barockzeit aufnehmen oder nicht?
In den Aufnahmen von Herbert von Karajan und Leonard Bernstein werden alle
Sechzehntelnoten in ihrer genauen Notenlänge gespielt. Die Version der Interpretation
nenne ich Come scritto-Version, weil Mozart die Sechzehntelnoten genauso
komponierte.
Die andere Version nenne ich Version der französischen Ouverture in der Barockzeit. In
dieser Version werden die Sechzehntelnoten wie Zweiunddreißigstelnoten gesungen.
Diese Version kann man in der Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt hören.
An seinem Lebensabend erforschte Mozart die Barockmusik. In seiner letzten
Symphonie Nr. 41, der Jupitersymphonie, und seiner letzten Oper, Die Zauberflöte,
kann man jeweils eine große Fuge finden. Die Fuge wurde von Johann Sebastian Bach
zur Blüte gebracht. Bach, als ein großer Komponist der Barockzeit, übte wesentlichen
Einfluss auf Mozart.
Das Requiem ist das letzte Werk von Wolfgang Amadeus Mozart. Auch im Requiem
kann man die große Fuge hören, insbesondere Kyrie eleison und Cum sanctis tuis in
aeternam: Diese beiden sind Doppelfugen.
Aus diesem Grund denke ich, dass das Requiem grundsätzlich sowohl stilistisch als
auch interpretatorisch der Barockmusik folgen muss. Als ich das Requiem in Japan mit
dem Wiener Singverein aufführte, entschied ich mich grundsätzlich für die Version von
der französischen Ouvertüre in der Barockzeit.
Es gibt jedoch eine Ausnahme: Aufgrund der Bedeutung des Textes muss der letzte
Textteil des salva me (Takt 18 und 19) weicher und mit sehr genauer Sechzehntelnote
gesungen werden. Salva me bedeutet auf Deutsch Hilf mir. Singt man diesen Text mit
Zweiunddreißigstelnoten (die Version von der französischen Ouvertüre in der
Barockzeit), so ist dies zu scharf und das Gefühl des Gebets nimmt ab.
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4.2 Confutatis
4.2.1 Die letzte Silbe des Wortes
Die letzte Silbe der Wörter Confutatis, maledictis und addictis endet kompositorisch
gesehen auf jeweils einer Viertelnote. Die letzte Silbe der drei Wörter ist jedoch kurz.
Deswegen ist eine Viertelnote dafür zu lang, würde man sie in ihrer vorgesehenen Dauer
singen. Als ich den Wiener Singverein dirigierte, ließ ich diese Silben auf quasi
Achtelnoten enden, weil dies viel natürlicher klingt und dem allgemeinen Sprachgefühl
entspricht.
4.2.2 Wie lange ist die Sechzehntelnote der zweiten Silbe?
Die zweite Silbe für Confutatis und maledictis ist mittels Sechzehntelnoten notiert. An
dieser Stelle gibt es drei interpretatorische Möglichkeiten.
Die erste Möglichkeit ist, die genaue Länge der Note zu singen (Come scritto-Version).
Eine solche Interpretation stammt etwa von Herbert von Karajan. Ich denke jedoch, dass
diese Version zu lang für die der Note entsprechenden Silbe ist.
Die zweite Version greift auf Zweiunddreißigstelnoten zurück, wie eben die
französische Ouvertüre in der Barockzeit. Diese Version kann man in Aufnahme von
Abbado hören. Meiner Meinung nach ist diese Version im Vergleich zur Silbe zu kurz.
Meine persönliche Antwort auf die Frage nach der Länge der Sechzehntelnote der
zweiten Silbe ist folgende: Man wähle die „natürliche Kürze“, weil genau diese Länge
die beste und natürlichste Interpretation der zweiten Silbe ist. Deswegen entschied ich
mich auch für diese Version, als ich den Wiener Singverein in Japan dirigierte.
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Literaturverzeichnis
Die Partituren
1. Mozart: Requiem (Die Fassung von Franz Xaver Süßmayr, Stuttgarter
Mozart-Ausgaben, Urtext, Stuttgart 2007)
2. Mozart: Requiem (Die Fassung von Franz Beyer, Edition Kunzelmann, Lottstetten
2005 )
3. Mozart: Requiem (Die Fassung von Robert D.Levin, Stuttgarter Mozart-Ausgaben)
Internet
1. https://www.youtube.com/watch?v=ia8ceqIDSJw (24.-27. April 2016)
2. https://www.youtube.com/watch?v=m3wFdajeAwU (24.-27. April 2016)
3. https://www.youtube.com/watch?v=T7gUlr2ag7Y (24.-27. April 2016)
4. http://www.dailymotion.com/video/xm6fba_mozart-s-requiem_music (24.-27. April
2016)
5. https://ja.wikipedia.org/wiki/%E3%83%AC%E3%82%AF%E3%82%A4%E3%82%
A8%E3%83%A0_(%E3%83%A2%E3%83%BC%E3%83%84%E3%82%A1%E3%
83%AB%E3%83%88) (25.-28. Mai 2016)
6. http://www.ne.jp/asahi/jurassic/page/talk/mozart/bayer.htm (24.-28. April 2016)
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