Katalog als PDF downloaden - Kurt-Kurt

Transcrição

Katalog als PDF downloaden - Kurt-Kurt
P ro j e k t e f ü r d e n ö f f e n t l i ch e n R a u m
K U R T- K U R T
bruno dorn verlag
KURT– KURT
Projekte für den öffentlichen Raum
Hrsg. Simone Zaugg und Pfelder
Les
r.
chumer St
s-ra Bo
tu
fer
Paulstr
a
ße
Kirchst
r.
Thom
asiuss
tr.
Calvin
str.
Spen
erstr.
rst
r.
on
Alt
gst
r.
Jagowstr.
ae
rS
tr.
ga
Bartnin
llee
Rostocker Str.
Bremer
skystr.
Reuc
hlins
tr
er Str.
Wilsnack
Rostocker Str.
Berlichingenstr.
Str.
er Str.
Wilsnack
Lübecker Str.
Stromstraße
Havelberger Str.
Putlitzstr.
Wilhemshavener Str.
Bredowstr.
Bremer
ger Str.
r Str.
Oldenbur
Emdene
Waldstra
ße
Beusselstraße
Jonasstr.
Ottostr.
.
Havelberger Str.
Putlitzstr.
Wilhemshavener Str.
Lübecker Str.
Wiebest
r.
Str.
Bredowstr.
Stromstraße
Jonasstr.
r Str.
Oldenbur
ger Str.
Emdene
Waldstra
ße
Beusselstraße
tra
thonst
Paulstr
a
ße
Kirchst
r.
Thom
asiuss
tr.
Calvin
str.
Spen
erstr.
fer
tu
s-ra
skystr.
Ottostr.
Gotzkow
Str.
Bochumer
Elberfelder Str
.
Bunde
ße
.
be
.
rU
we
str
de
län
lgo
en
ola
Melan
ch
ße
ric
tra
Paulstr
a
Ag
ws
He
Wu
ll
tzo
sin
ve
Les
ße
Le
tr.
ner S
Esse
Putlitzb
rücke
Putlitzb
rücke
Fö
hr
er
St
ra
ße
Fö
hr
er
St
ra
ße
aß
ße
Kru
Turmstr.
Se
Alt-Mo
abit
Ott
r.
ße
pps
tr.
ydl
itzs
o-D
tr.
ix-S
Flemingstr.
tr.
a
Inv
Alt-Mo
abit
lide
e
r
lle
str
nst
r.
aß
e
Friedrich-List-Ufer
Fra
nkl
ins
tra
Ufer
Stadtplan mit Spaziergang in der Umschlagsklappe
Map showing the walk inside cove
1
1
Stadtplan mit Projektstandorten in der Umschlagsklapp
Map showing project sites inside cover
ße
Paulstr
a
r.
gst
sin
Bunde
Elberfelder Str
.
Jagowstr.
Gotzkow
it
Turmstr.
str
Se
e
Neues
ße
zstra
holt
Helm
oab
Alt-M
rS
e
rg
nn
Fe
ß
ra
fer
.
eb
e
erg
tr.
-U
Turmstr
le
rl
Pe
e
lle
Zwinglistr.
r
Pe
be
tr.
rS
pe
str.
tr.
Stephans
rte
Ka
Eras
mus
str.
Waldens
er
c
aß
r.
e
Birk
ens
e
Leh
Flemingstr.
nst
Kaiserin-Augusta-Allee
nstraß
ra
t
rS
str
ide
He
r.
In
Alt-Mo
abit
ide
val
I
Hutte
e
-Ufer
use
h-Kra
st
ee
ßstr.
Gau
traß
tr.
o-D
enss
Siem
wstraß
rS
thonst
.
tr
ix-S
ns
e
straß
Quitzo
rte
Ott
tr.
nva
lide
r.
nst
str.
tr.
abit
itzs
S
afen
Leh
ydl
ge
ickin
th
Wes
ri
Fried
rS
Alt-Mo
Se
aß
we
Se
a
str
eno
ße
e
Se
ss
au
Ch
Berlichingenstr.
e
th
Ra
.
e
raße
pp
str
st
ssel
Turmstr.
ße
r
lle
ße
Ufer
stra
c
e
Be u
linstr
aß
Neues
gallee
str
Friedrich-List-Ufer
tr.
Bartnin
Kru
str.
tr.
rS
ße
ra
St
rS
r.
ae
eb
erg
e
on
Alt
Melan
ch
rl
Pe
rte
rst
ße
.
be
.
rU
we
str
de
län
lgo
en
ola
tr.
aß
ric
tra
Stephans
Leh
Ag
ws
He
Wu
ll
tzo
ra
t
rS
str
ide
He
ve
tr.
Le
tr.
ner S
Esse
rS
it
Turmstr.
we
Ufer
oab
Alt-M
le
tr.
.
r
Pe
be
rS
Turmstr
tr.
r
e
rg
eno
Neues
ße
zstra
holt
Helm
Zwinglistr.
Birk
ens
e
rte
Eras
mus
str.
Waldens
erstr.
e
wstraß
Leh
e
traß
ri
Fried
nn
Fe
e
enss
Siem
Quitzo
-Ufer
use
h-Kra
ß
ra
ns
e
straß
str.
th
Ra
Ufer
Kaiserin-Augusta-Allee
nstraß
afen
aß
st
ee
Hutte
th
Wes
str
ss
au
Ch
S
klin
raße
Neues
ßstr.
Reuc
h
st
ssel
ge
ickin
Fra
n
Be u
Gau
Wiebest
r.
e
Se
e
alid
Inv
ens
Ka
tr.
pe
lle
-U
fer
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 1
Kurt-Kurt
Projekte für den öffentlichen Raum
Urbane Interventionen im Stadtlabor Berlin Moabit
Projects for Public Space
Urban Interventions in the Berlin Moabit City Laboratory
KATALOG_18.1.
2
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 2
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 3
KURT– KURT
Projekte für den öffentlichen Raum
Urbane Interventionen im Stadtlabor Berlin Moabit
Projects for Public Space
Urban Interventions in the Berlin Moabit City Laboratory
Hrsg. Simone Zaugg und Pfelder
bruno dorn verlag Berlin
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 4
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 5
Inhalt
Vorwort / Simone Zaugg und Pfelder
Kurt-Kurt in Moabit / Ralf F. Hartmann
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher / Christian Hasucha
Falsche Blicke aufs richtige Leben / Bertram Weisshaar
7
10
18
26
Projekte 2006–2009
Biografien
33
98
5
KATALOG_18.1.
6
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 6
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 7
Vorwort Simone Zaugg und Pfelder
Das künstlerische Durchdringen des öffentlichen Raumes treibt uns seit vielen Jahren an und um. Der gelebte Raum mit seinen verschiedenen
Facetten von Öffentlichkeit ist Labor und Bühne für unsere künstlerischen Studien sowie für die situativen und performativen Eingriffe
geworden. Die Frage der künstlerischen Strategie, mit der öffentliche Räume und Öffentlichkeit als Gegenbewegung zur Privatisierung und
Ökonomisierung temporär wieder erschlossen und besetzt werden können, ist eine zentrale Frage unserer künstlerischen Auseinandersetzung
geworden. Wie manifestiert sich öffentlicher Raum im urbanen Kontext? Wie findet man den richtigen „Schauplatz“ für Kunst im Kontext mit
Öffentlichkeit und öffentlichem Raum? Wie, wann, wo, warum aktiviert ein Kunstprojekt das Publikum, die Anwohner, die Benutzer des
öffentlichen Raumes und lässt sie daran teilhaben? Wie fügt der Künstler, die Künstlerin persönliche Strategien in den öffentlichen Raum ein,
damit sie Reibung erzeugen, Brücken und Passagen schaffen und Gewohnheiten brechen? Wie entstehen Bezugssysteme, die den Ort und
seine Vielschichtigkeit gezielt unterwandern, infizieren, widerspiegeln, potenzieren? Wie werden die ortsansässigen Energien in ein Kunstprojekt eingebunden? Wie können Kunstprojekte die kontinuierliche Rückeroberung des öffentlichen Raumes sinnvoll vorantreiben als adäquate Alternative zu Grossanlässen wie z.B. Skulptur.Projekte in Münster, documenta Kassel oder Biennalen von Berlin bis Havanna? Welche
Orte und urbanen Räume eignen sich überhaupt für künstlerische Interventionen?
Nun also: Moabit. Diese merk-würdige Insel im Zentrum Berlins ist mit ihrer, im besten Wortsinne, besonderen Normalität bei gleichzeitiger
enormer Vielfältigkeit, mit ihrer eigentümlichen Existenz als weißer Fleck auf der Berliner Stadtkarte und als klar definierter urbaner Raum mit
seiner präzisen Abgrenzung durch die umgebenden Wasserwege ein ideales Stadtlabor für unser künstlerisches Experiment.
Bei unseren umfangreichen Recherchen für das Projekt stießen wir irgendwann auf das Geburtshaus von Kurt Tucholsky in der Lübecker
Straße. Ein leerstehender Laden im Erdgeschoss bildete von nun an den Ausgangspunkt als Projektzentrale für das Hinausgehen in den öffentlichen Raum. Und Tucholsky, dieser große kritisch-konstruktive Geist des letzten Jahrhunderts mit seinem Engagement und seinem ironischen
Humor schwebte als Mentor, aber vor allem als Ansporn und Herausforderung über dem Vorhaben. Es lag etwas in der Luft.
Und so startete im Spätsommer 2006 Kurt-Kurt Projekte für den öffentlichen Raum in Moabit. Seither haben sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren elf Künstlerteams, jeweils eine Frau und ein Mann, auf urbane, kulturelle und vor allem künstlerische Studien eingelassen,
bei der die sinnliche und authentische Erfahrung des städtischen Raumes, das sorgfältige Beobachten des Alltags, das intensive SichEinlassen auf den Ort und auf die großartige Banalität dieser transitorischen Insel mitten in Berlin ebenso wichtig waren wie historische,
geografische und statistische Recherchen und Fakten. Elfmal ist es gelungen, den öffentlichen Raum dieses Stadtteils, den hier gelebten und
erlebten Urbanismus, die Bewegungen und Dynamiken an diesem spezifischen Ort in Wahrnehmung und Produktion von künstlerischen
Vorwort | Simone Zaugg und Pfelder
7
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 8
Statements zu transformieren. In der Projektzentrale an der Lübecker Straße 13 und im öffentlichen Raum Moabits manifestierten sich künstlerische Reflexionen des Alltags, die den öffentlichen „Faden“ aufnahmen und daraus neue „Raumbilder“ strickten.
Die gewohnten Formen der Rezeption im Kunstraum wurden durchbrochen und durch den im urbanen Raum schweifenden Blick erweitert,
so dass die Besucher in den ortsbezogenen, öffentlichen Dialog miteinbezogen wurden und daran teilhaben konnten. Das Projekt Kurt-Kurt
erzeugte Rückkoppelungen zwischen Öffentlichkeit, öffentlichem Raum und Kunstraum, zwischen Exterieur und Interieur, zwischen Künstlern
und lokalem wie internationalem Publikum, zwischen temporärer Intervention und ortsansässigen Passanten.
Kurt-Kurt ist oder war eine herausfordernde Alternative zum arrivierten Kunstgeschehen der Metropole Berlin. Dieser Katalog bildet nun den
vorläufigen Abschluss eines Prozesses. Hier treffen sich die entstandenen lokalen und globalen Erfahrungen, Diskussionen und Netzwerke. Er
bietet sowohl Raum für die Dokumentation der temporären Projekte und Eingriffe als auch Grundlage und Motivation, den angefangenen
Diskurs zum Thema Kunst im und für den öffentlichen Raum weiterzuführen. Und mit dem Spaziergang von Bertram Weisshaar wird das Buch
selbst zum Projekt, mit dem jeder Lesende individuell den städtischen Raum der Insel Moabit für sich entdecken kann.
In diesem Sinne ist Kurt-Kurt zum Moabiter Alltag geworden und sedimentiert nun in Form von erinnerten Bildern, irritierten Sichtweisen,
angefangenen Geschichten, temporär fokussierten und wieder entleerten Orten in weiterhin wirksame Schichten des öffentlichen Bewusstseins.
Foreword Simone Zaugg and Pfelder
The artistic penetration of public space has been on our minds and motivated us for many years. Inhabited space, with its different facets
of public life, has become the laboratory and stage for our art practise as well as for situational and performative interventions. The question
of the artistic strategy of temporarily accessing and occupying public spaces and public life as a counter movement to privatisation and
economisation has become a central one in our artistic engagement. How does public space manifest itself in an urban context? How does
one find the right 'showcase' for art in the context of public life and public space? How, when, where and why does an art project activate
the public, the residents, and the users of public spaces, and allow them to participate? How does the artist integrate his or her personal
strategy in public space to generate friction, bridges and passages, and break habits? How do frames of reference evolve that specifically
undercut, infect, reflect and potentialise the space and its complexity? How is local energy woven into the art project? How can art projects
meaningfully promote the continual recapture of public space as an adequate alternative to great occasions such as, for example, the Münster
sculpture project, documenta Kassel or biennials from Berlin to Havana? Which places and urban spaces are even suitable for art interventions?
8
Vorwort | Simone Zaugg und Pfelder
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 9
Now then: Moabit. This noteworthy island in the centre of Berlin with its special normality, in the best sense of the word, and simultaneously enormous complexity, its idiosyncratic existence as a white mark on the Berlin city map and as a clearly defined urban space with precise
demarcation through its surrounding waterways, is the ideal city laboratory for our artistic experiment.
During our extensive researches for the project we at some point came across the birthplace of Kurt Tucholsky in Lübecker Strasse. An empty
shop on the ground floor now became the Project Centre for the entry into public space. And Tucholsky, this great critical-constructive spirit
of the last century with his engagement and ironic humour, floated as mentor, and above all as stimulus and challenge, over the undertaking.
There was something in the air.
And so, in late summer 2006, Kurt-Kurt Projects for public space started. In the intervening three and a half years, eleven artist teams, each
a man and a woman, have been involved in urban, cultural and especially artistic practises in which the sensual and authentic experience of
the urban space, the careful observation of the everyday, the intensive engagement with the place, and the magnificent banality of this transitory island in the middle of Berlin, were just as important as the historical, geographical, and statistical research and facts. Eleven times the
public space of this district, its lived and experienced urbanity, the movements and dynamics of this particular place were transformed in
public perception through the production of artistic statements. In both the Project Centre in Lübecker Strasse 13 and in Moabit's public spaces,
artistic reflections on the everyday were manifested that incorporated public 'threads' and embroidered new 'space pictures' with them.
The usual forms of reception in an art space were broken and expanded through the sweeping view through urban space, so that visitors
could be included and take part in the open site-specific dialogue. The Kurt-Kurt project generated feedback between the public, public space
and the art space, between the interior and exterior, between artist and a local as well as international public, and between temporary interventions and local passers-by.
Kurt-Kurt is, or was, a challenging alternative to the established art events of the Berlin metropolis. This catalogue now presents the interim end
of a process. Here the resulting local and global experiences, discussions and networks meet. It even offers a space for the documentation
of temporary projects and interventions as well as the background and motivation to continue the current discourse on the theme of art in
public space. And with Bertram Weisshaar's walk, the book itself has become a project in which each reader can discover the civic space
of the island, Moabit, for him- or herself.
In this sense, Kurt-Kurt has become a part of the everyday in Moabit and settles now into continually effective layers in public consciousness
as a form of remembered images, confused perspectives, stories begun, and temporarily in focus and then re-emptied spaces.
Foreword | Simone Zaugg and Pfelder
9
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 10
Kurt-Kurt in Moabit: Ein Projekt an der produktiven Schnittstelle zwischen Intervention und Institution Ralf F. Hartmann
Es gibt ihn, den Kunstort als vertieften Dialog zwischen künstlerischer Arbeit und einem Berliner Stadtteil, der den Vorteil hat, gedankliche
Welten von der Berliner „Kunst-Mitte“ entfernt zu sein: In Moabit, wo zumeist ökonomische Kleinsteinheiten und exotischer Alltagsbedarf
das Bild dieser Wohninsel und ihrer organisatorischen Grundstrukturen dominieren, ist im Geburtshaus Kurt Tucholskys die (Werk-) Stätte zu
finden, in der Kunst im öffentlichen Raum in ihrer Wechselwirkung zwischen Projekt und Umgebung und aller – gleichgültig ob zufällig oder
bewusst – beteiligten Menschen stattfindet. Kurt-Kurt ist eine Projektzentrale für künstlerische Aktivitäten. Sie befindet sich in dem Gebäude,
das bewohnte Gegenwart zugleich mit erinnerter Geschichte an den Dichter beherbergt, für den die enge Anbindung an die alltägliche
Lebensrealität seiner Umgebung wesentlich für die Auseinandersetzung mit anderen politischen und gesellschaftlichen Inhalten wurde.
Simone Zaugg und Pfelder wählten vor gut dreieinhalb Jahren ausdrücklich diese Möglichkeit für ihr Konzept der ganz bewusst im Kiez
verorteten räumlichen und zeitlichen Behauptung, dass Kunst im öffentlichen Raum unter Einbeziehung der realen, lebendigen oder gedachten Umgebung funktioniert.
Seit Walter Grasskamps Ende der 1980er Jahre prominent formuliertem Verdikt gegen eine Kunst, die von exterrestrischen „Versorgungsbombern“ über urbanen Arealen abgeworfen wird, hat die Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum eine erstaunliche Dynamik angenommen.
Innerhalb der gleichermaßen akademischen wie kulturpolitisch geführten Auseinandersetzung vollzog sich eine zumindest theoretisch formulierte Wende, indem nunmehr über Partizipation, Ortsbezogenheit, soziale Problematiken und die Notwendigkeiten einer spezifischen Vermittlung nachgedacht wurde. Überlegungen, wie Kunst im öffentlichen Raum sozial verträglich zu realisieren sei, wie sie weniger das „Revierverhalten empörter Spießer“ (Grasskamp) auszulösen, sondern vielmehr kollektive Prozesse zu initiieren im Stande sein kann, stießen eine
Entwicklung an, die ihre Zeit für erfolgreiche Ergebnisse brauchte.
Derartige Kunstprojekte müssen die Normalität eines fremdartigen Diskurses in der Nachbarschaft diskursunerfahrener Strukturen behaupten und das Nachbarschaftliche mit der notwendigen Ration sozialer Wärme füllen. Nur so lassen sich all jene ansprechen, die sich
gemeinhin von solchen Ideen nicht erreichen lassen wollen bzw. denen eine Erreichbarkeit für weitergehende kulturelle Verhandlungen in
einer Mikrokultur der Nischen nicht zugetraut wird. Das Da Sein, Platznehmen, laut Nachdenken, Beginnen und vor allem: sichtbares Arbeiten
spielt insofern eine erhebliche Rolle in der Kommunikation von künstlerischen Konzepten jenseits der alltäglichen Überlebensökonomie.
Simone Zaugg und Pfelder waren da, haben Platz genommen, laut nachgedacht und das Gespräch mit all jenen gesucht, die es zu führen
gewillt waren: mit Nachbarn, Passanten, Neugierigen, Kulturaktiven, Funktionären und nicht zuletzt ihren eigenen Künstlerkollegen und
-kolleginnen, die jenseits der ersten Begeisterung für eine einigermaßen absurd erscheinende Idee bald merkten, dass es den beiden Projektinitiatoren um Anderes zu tun war. Denn neben der Entwicklung von künstlerischen Ideen, die in Moabit – ebenso aber auch andernorts zu
realisieren wären – ging es ihnen um das bewusste Einlassen all derer, die sie einluden, auf eine urbane Wirklichkeit, die mehr darstellte
10
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 11
und einforderte, als lediglich exotische Differenz zur Welt der Hochkultur. Allein hier sollten die Projekte realisiert werden können, weil sie –
zwar mit einer übergeordneten Perspektive – sich genau jener lokalen Themen annehmen sollten, die den Stadtteil gegenüber anderen Orten
der Welt abgrenzen.
Die Konsequenz der Überlegungen artikulierte sich zuallererst darin, dass Simone Zaugg und Pfelder eine langfristige Projektphase
anstrebten: aus ihrer Perspektive die einzig sinnvolle Vorgehensweise, die Möglichkeiten des nicht-institutionellen Kontexts zu nutzen, nicht
zur ortsunabhängigen Freizeit- und Eventalternative zu verflachen, sondern die unverwechselbare Einmaligkeit von Kunst im öffentlichen
Moabit aufzubauen und zu zelebrieren. Auch von den Künstlerinnen und Künstlern erwarteten sie nicht nur eine längerfristige Beschäftigung
mit den Orten, an denen sie aktiv werden würden, sondern auch eine temporäre Sichtbarkeit mit nachhaltiger Präsenz.
Überdies wurde die Rolle des Projektraums Kurt-Kurt gleich zu Beginn dahingehend definiert, dass dieser Raum weniger als Kunstraum
denn vielmehr als Ausgangspunkt und organisatorischer Nucleus verschiedenster Initiativen im Aktionsfeld Moabit verstanden wurde. Von
ihm sollten die einzelnen Projekte ihren Ausgang nehmen und auch immer wieder inhaltlich wie organisatorisch in ihn zurückgebunden werden. Diese Bindung an einen auffindbaren Ort, die kontinuierliche Präsenz und Ansprechbarkeit von Organisatoren und Projektbeteiligten für
die interessierte Öffentlichkeit stellt einen der wichtigen Unterschiede zu einem Gros von künstlerischen Projekten im öffentlichen Raum
der zurückliegenden 15 Jahre dar. Und sie ist ein wesentlicher Baustein in der Erfolgsgeschichte der Projekte, die unter dem Label Kurt-Kurt
zwischen 2006 und 2009 umgesetzt wurden.
Ein weiterer ist die diskursive Einbindung von Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlicher Herkunft. Neben den eingeladenen internationalen Gästen waren Simone Zaugg und Pfelder besonders daran interessiert, den Kontakt zu lokalen Akteuren, zu Künstlern, Galerien,
Kulturvereinen und anderen Initiativen herzustellen und diese nicht nur um ihre Unterstützung bzw. Komparserie zu bitten, sondern sie aktiv
in das einzubeziehen, was an Themenfeldern, Inhalten und Aktivitäten zur Disposition stand. So entstand im Lauf der dreieinhalb Jahre ein
enges Netz an Kontakten, intensiven Diskussionen und gemeinsam entwickelten Konzepten, das nicht nur vom illustren Import lebte, sondern auch die vielfältig vorhandenen Potentiale Moabits entdeckte und aktivierte. Simone Zaugg und Pfelder ging es insbesondere darum,
künstlerische Konzepte nicht zu implementieren, sondern jene öffentlich wahrnehmbaren Themen aufzugreifen, die sie selbst in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld vorfanden und die auch den eigenen Alltag maßgeblich beeinflussten. Die Initiatoren und ihre eingeladenen Gäste
nahmen sich Themen an wie dem Verlust öffentlichen Freiraums, der Sichtbarmachung verborgener sozialer Strukturen, des mangelnden
Stadtgrüns, der Tabuisierung von Körperlichkeit oder auch der lokalen Geschichte, wie sie beispielsweise in Gestalt des Gefängnisses von
vielen Menschen zuallererst mit Moabit in Verbindung gebracht wird. Diese Themen, die nicht nur den gesellschaftlich aktiven Gruppen des
Stadtteils am Herzen liegen, sondern die von vielen Bewohnern tagtäglich wahrgenommen werden, bildeten über gute drei Jahre das inhaltliche Rückgrat des intensiven Ausstellungs- und Aktionsprogramms Kurt-Kurt im und für den öffentlichen Raum:
Schumacher & Jonas halfen dabei, das Fahrgastschiff „Moabit“ – zumindest in der Vorstellung der Anwohner und Anwohnerinnen – anstelle
eines mittlerweile entstehenden Nahversorgungstankers in den urbanen Freihafen am Rande des Stephankiezes einfahren zu lassen. Heather
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
11
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 12
Allen und Jan Philipp Scheibe flüsterten dem domestizierten Stadtgrün zwischen Balkon und Parkhafen ihre Geschichten des Alltags und
einer wieder gewonnenen Freiheit ein. Salah Saouli schenkte all jenen Gehör, deren Stimmen gemeinhin im lauten Verkehr von Geschäft
und Transport untergehen, und Dellbrügge & de Moll schließlich brachten jene Vorstellung auf den utopischen Punkt, die Moabit in der kollektiven öffentlichen Wahrnehmung zu einer zaunlosen Ausweitung seines Knastes werden lässt. Wie diese beispielhaft herausgestellten
Arbeiten behandelten alle Kurt-Kurt Projekte Themen täglicher Existenz, insofern als diese im Stadtteil präsent sind. In der künstlerischen
Transformation wurden sie jedoch um eine entscheidende Qualität erweitert, nämlich um jene einer signifikanten Form, über die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen miteinander ins Gespräch kommen. Und zwar fanden diese Dialoge sowohl auf Plätzen und Straßen des
Stadtteils, an Kusshaltestellen, unter ShoeTrees und vor sprechenden Obstständen als auch an Schwimmbecken, vor Kleiderständern und in
Gefängniszellen im sicheren Reservat des Projektraums Kurt-Kurt statt, dessen Schwellen trotz dreifacher Treppen plötzlich immens an Höhe
verloren. Nicht nur zu den Eröffnungen, sondern auch während ganz normaler Arbeitstage fanden und finden bis heute Kulturflaneure ebenso wie Nachbarn oder junge Menschen von der Straße ihren Weg in den Ausstellungsraum, fragen nach einer Zigarette, wollen Geld wechseln und stehen mitunter mitten in einem Kunstwerk, ohne es sofort als solches zu registrieren.
Wichtig bleibt die Erfahrung, dass es neben den immer gleichen täglichen Eindrücken zumindest an einem Ort in der Lübecker Straße,
manchmal aber auch in seinem weiteren Umfeld Anderes zu entdecken gilt. Eine visuelle, ästhetische und inhaltliche Differenz, nach deren
Sinn zu fragen einen unmittelbaren Dialog in Gang setzte. Für diesen Austausch, der seine eigene spezifische Zeit benötigte, war die Projektzentrale über mehr als drei Jahre der wesentliche Motor. Denn dort fand man Menschen vor, die an etwas arbeiteten, deren Arbeit sichtbar
war, deren Arbeit Ergebnisse zeitigte und die man fragen konnte, was sie gerade taten.
Und sicher ist es letztlich diese nachvollziehbare Ethik einer sichtbaren Arbeit, einer Formfindung aus planerischem Kalkül und Adaption
an die Notwendigkeiten der Realität, die statt exterrestrisch wirkender Künstler geerdete, normale Menschen wahrnehmbar macht, mit denen
es sich lohnt, ein Gespräch zu beginnen. Eben weil sie mit den Finessen des Materials und den Ecken und Kanten des Ortes ringen, weil
ihnen Dinge gleichermaßen gelingen wie misslingen, weil sie einerseits unabhängig sind, andererseits aber auch Unterstützung benötigen
und zuweilen Anteilnahme öffentlich einfordern, wo diese nicht selbstverständlich gewährt wird. Der künstlerischen Arbeit wird damit ein
wesentlicher elitärer Schleier entrissen, nämlich der, dass sie nur als perfektioniertes Endprodukt in einem definierten und kontextualisierten
Spezialraum ihre volle Wirksamkeit entfalten kann und ohne diese intellektuellen Prothesen der Exklusivität zum Scheitern verurteilt ist.
Simone Zaugg und Pfelder legten immer wieder dezidierten Wert auf die künstlerische Form, nicht nur die ihrer eigenen Produktionen, sondern auch die der von ihnen eingeladenen Künstlerinnen und Künstler. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, dass etwas im Projektraum
funktionierte, sondern stellten die erarbeiteten Projekte auch im öffentlichen Raum auf die entscheidende Probe. Sei es durch die Mobilisierung von Arbeiten, die plötzlich an anderen Orten im Stadtbild auftauchten oder wie im Fall des Projekts +28,33 m3 von Christian
Hasucha dadurch, dass der öffentliche Raum seine eigentliche Ausweitung bzw. Entgrenzung erst im Projektraum selbst erfuhr. Konnte man im
12
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 13
öffentlichen Raum Mitstreiter für einzelne Aktionen gewinnen, war es anderseits genau so wichtig, ob die Akteure, z.B. ein Schifffahrtschor
zur Eröffnung des Projektes von Siri Austeen und Stefan Schröder, auch im Projektraum gewillt waren, an einem künstlerischen Experiment
teilzunehmen.
Dieses vertiefte Interesse an den Menschen des Stadtteils und das alltägliche Zusammenleben machten es möglich, dass der Chor tatsächlich kam und sang, dass die Enkel der ersten Gastarbeitergenerationen an künstlerischen Workshops teilnahmen, und dass man auch
in Moabit immer wieder Kleidungsstücke an Männern und Frauen sieht, die Simone Zaugg im Rahmen eines eigenen Projekts mit literarisch-philosophischen Sentenzen aus ihrem Second-Hand-Dornröschenschlaf erweckte.
Genau diese vielfachen Beziehungen, Rückversicherungen, Querverweise und Rollenwechsel waren es, die das Projekt Kurt-Kurt zu
einem ungemein interessanten Prozess werden ließen, in dessen Rahmen sich die gesellschaftlichen Sphären begegneten und im idealen
Fall gemeinsam zu agieren begannen. Diese Erfahrungen einer dialogischen Annäherung über das Medium Kunst sind somit initiiert und
ihre Halbwertzeit ist nicht annähernd abzusehen.
Konsequent ist die Entscheidung von Simone Zaugg und Pfelder, Kurt-Kurt zeitlich zu begrenzen und einem präzisen Abschluss entgegen
zu führen. Gerade an dem neuralgischen Punkt zwischen dynamischer Intervention und konsolidierter Institution macht der klare Schnitt
deutlich, dass es den beiden Initiatoren um den öffentlichen Raum und seine eigenen Gesetzmäßigkeiten geht und eben nicht um die abgehobene Qualität einer dauerhaften Einrichtung, in der beständig weiter experimentiert wird und damit die Unmittelbarkeit der Dialogaufnahme
zwischen Kunst und Alltagsrealität verloren gehen würde. Diesem Prozess eines zeitlich begrenzten und räumlich verorteten Kunstprojekts
im und für den öffentlichen Raum beiwohnen zu können, war eine intensive und wertvolle kulturelle Erfahrung, die man nur selten erlebt.
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
13
Kurt-Kurt Projektzentrale mit Intervention Waldparkplatz von Jan Philip Scheibe
KATALOG_18.1.
14
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 14
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 15
Kurt-Kurt in Moabit: A Project on the productive Interface between Intervention and Institution Ralf F. Hartmann
There is such a thing as the art site as the deepest dialogue between artistic work and a district of Berlin that has the advantage of being
intellectually far away from Berlin’s ‘art centre’: its (work) place is to be found in the birthplace of Kurt Tucholsky in Moabit, where mostly economic minutiae and exotic daily needs dominate the picture of this residential island and its organisatory structures. Here, art in public spaces
takes place, interacting between project, environment and all those involved – whether they are conscious of it or not. Kurt-Kurt is a project
centre for artistic activities. It is located in the building that contains both the lived present and the remembered stories of the poet, for whom
the close connection to the daily realities of life in his surroundings were crucial to a debate with other political and social themes.
Simone Zaugg and Pfelder expressly chose, a good three and a half years ago, this possibility for their concept of a proposition consciously
embedded in space and time in this neighbourhood, that art in public spaces functions with the inclusion of real, lively or designed surroundings.
Since Walter Grasskamp’s verdict, prominently formulated at the end of the 1980’s, against an art that was dropped over urban areas by
extraterrestrial ‘supply bombers’, the discussion over art in public spaces has taken on an astonishing dynamic. Within the as much academically as politically led confrontation, an at least theoretically formulated turnabout took place in which participation, site specificity, social
problematics and the requirements of a specific mediation were henceforth taken into account. Considerations of how art in public spaces
could be realised in a socially accommodating manner, how it unleashes less the ‘territorially outraged bourgeois’ (Grasskamp) and far more
enables collective processes, initiated a development that needed time for successful results.
Such art projects must maintain an alien discourse in a neighbourhood of discursively inexperienced structures, and fill the neighbourhood with the necessary ration of social warmth. Only then can all those be spoken to who would not normally involve themselves in such
matters, that is, those who are not expected to access advanced cultural negotiations in a micro-culture of niches. In this respect, the being
there, taking a place, thinking aloud, beginning and, above all, visible work, play significant roles in the communication of artistic concepts
beyond the economics of daily survival.
Simone Zaugg and Pfelder were there, took their place, thought aloud and sought to talk to all those who were willing to respond: with
neighbours, passers-by, the curious, the culturally active, functionaries and not least, their own artist colleagues who, once past an initial
enthusiasm for an apparently fairly absurd idea, soon noticed that for both of the project initiators it was about something different.
For, besides the development of artistic ideas that were to be realised in Moabit – just as elsewhere – they wanted those that they invited to
consciously take in an urban reality that presented and demanded more than just an exotic difference to the world of high culture. The projects
should only be realisable here because they should engage specifically – albeit from a higher perspective – with each local theme that marks
out this part of the city from other places in the world.
The consequence of these deliberations was that, first of all, Simone Zaugg and Pfelder aimed for a long-term duration of the project: from their
perspective the only sensible approach to using the possibilities of this non-institutional context, not to flatten it to site-unspecific alternatives of
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
15
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 16
leisure activities and events, but to build up and celebrate the singularity of art in the public spaces of Moabit. They also expected from the artists
not only a lengthy engagement with the spaces in which they would be active, but also a temporary visibility with a sustainable presence.
Moreover, the role of the Kurt-Kurt Project Centre was defined right at the beginning as less of an art space and much more as a starting
point and organisational nucleus for very different initiatives in the Moabit sphere of activity. It should be the source of individual projects that
would again and again be tied back into it in terms of content and organisation. The connection to a locatable place and the continuous presence
and approachability of the organisers and project participants presented a crucial difference to the bulk of art in public spaces over the last 15 years.
And they are important building blocks in the project’s successes that were implemented under the label, Kurt-Kurt, between 2006 and 2009.
Another building block is the discursive bonding of artists from different backgrounds. Alongside invited international guests, Simone
Zaugg and Pfelder were especially interested in building contacts to local actors, to artists, galleries, Kunstvereins and other initiatives, and not
only to request their support and respective participation but to actively involve them in the themes, contents and activities at their disposal.
Thus, over the three and a half year period, a close network of contacts, intensive discussions and collectively developed concepts evolved
that not only lived on illustrious imports but also discovered and activated the multi-faceted potential available in Moabit. Simone Zaugg and
Pfelder’s specific aim was not so much the simple implementation of artistic concepts but the tackling of those perceptible public themes that
they themselves saw in their immediate surroundings and which significantly influenced their own daily lives. The initiators and their invited
guests took on such themes as the loss of free public space, the making visible of concealed social structures, the deficit of green city areas, the
taboos on corporality, and also local history; how many people, for example, first of all connect Moabit with the prison. These themes that
lie not only in the hearts of the socially active groups in this district but are also perceived every day by many residents, built up over the
three years the backbone, with regards to content, of the intensive exhibition and action programme, Kurt-Kurt, in and for public spaces.
Schumacher & Jonas’s contribution was to let the passenger ship, ‘Moabit’, – at least in the imaginations of the residents – sail into the
urban open-air harbour on the edge of the Stephan area, instead of the local provisions tanker that is meanwhile under construction. Heather
Allen and Jan Philip Scheibe whispered their stories of the everyday and a newly regained freedom to the domesticated city greenery between
balcony and park haven. Salah Saouli listened to all those whose voices are generally drowned out by the noise of traffic and business.
Dellbrügge & de Moll ultimately brought the imagination to a utopian point in which Moabit became, in the collective public perception, a
fenceless extension of its prison. Like these selected examples of works, all Kurt-Kurt projects dealt with themes of daily existence in so far as
they are present in this district. In their artistic transformation, however, they were enhanced by a vital quality, namely, a significant form
through which different social groups could come together and dialogue. In fact, these dialogues took place in the squares and streets of this
district, at kiss stops, under shoe trees, in front of talking fruit stalls, beside swimming pools, as well as in front of clothing stands and in prison
cells in the Kurt-Kurt Project Centre’s secure reservation, whose threshold suddenly became far easier to cross, in spite of having to climb three
steps. Not only at the openings but also during completely normal workdays, those out on a cultural stroll, as well as neighbours, or young
people from the street came and continue to come into the project space to ask for a cigarette or to change money, and stand in the middle
of an art work without immediately registering that they are doing so.
16
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 17
The experience that, alongside the round of always similar daily events, there is at least one place on Lübecker Strasse, and sometimes in
its wider surroundings, where something different can be discovered remains important. A visual, aesthetic and content-related difference that,
when questioned, immediately starts up a dialogue. The Kurt-Kurt Project Centre was the motor for over three years for this exchange, which
needs its own particular time to develop. For here were to be found people who were working on something, whose work was visible and
produced results, and whom one could ask what they were actually doing.
And it is without doubt this understandable ethic of visible work, of finding a form out of a planned calculation and adaptation to the
necessities of reality that, instead of landing apparently extraterrestrial artists, makes normal human beings perceptible with whom it is worth
starting a conversation. Precisely because they wrestle with the refinements of the materials and the corners and edges of the place, because
they succeed and fail in equal measure, because they are on the one hand independent and on the other need support, and from time to
time demand public sympathy where it is not granted as a matter of course. A major elitist veil is thereby ripped away from art, namely the
prejudice that it can only unfold its full potency as a perfect end product in a special, defined and contextualised space and that it is doomed
to failure without these intellectual prostheses of exclusivity.
Simone Zaugg and Pfelder repeatedly placed a decisive value on the artistic form, not only with their own work but also with that of the
artists they invited. They were not satisfied that something functioned in the Project Centre, but placed the acquired projects in public spaces
as a critical experiment, be it through the mobilisation of works that suddenly appeared in other places in the cityscape or, as in the case of
+28.33 m3 from Christian Hasucha, that a public space finally experienced its own expansion and the respective dissolution of its boundaries in the Project Centre itself. If one could win a fellow campaigner for individual actions in the public realm, it was just as important
that the actors were also willing to take part in an artistic experiment in the Project Centre, for example, a shipping choir’s performance at
the opening of Siri Austeen and Stefan Schröder’s project.
This deepened interest in the inhabitants of the district and their daily co-existence made it possible that the choir actually came and
sang, that the grandchildren of the first generation of immigrant workers took part in art workshops, and that one repeatedly sees in Moabit
articles of men’s and women’s clothing that Simone Zaugg, in her own project, awoke from their sleeping-beauty-sleep with literary-philosophical sentences.
Precisely these multi-faceted relationships, reassurances, cross-references and role swapping allowed the Kurt-Kurt project to become
exceptionally interesting; social spheres crossed paths within its framework and, in ideal cases, began to operate together. These experiences
of a dialogical convergence through the medium of art are thereby initiated and their half-life period can only be approximately gauged.
Simone Zaugg and Pfelder made the consequent decision to temporally limit Kurt-Kurt, and to lead it to a precise conclusion. This clear
cut makes it obvious at exactly the neuralgic point between dynamic intervention and consolidated institution, that for both initiators it is
about public space and its own laws and not the elevated quality of an institution for persistent experimentation leading to the loss of dialogic immediacy between art and everyday reality. To be able to witness this process of a temporally limited and spatially located art project
in and for public spaces was an intensive and valuable cultural experience that one only rarely receives.
Kurt-Kurt in Moabit | Ralf F. Hartmann
17
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 18
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher Christian Hasucha
I
Da beginnt ein Bauarbeiter mit Signalweste und Transportkarre voll Material irgendwo in Berlin eine Baustelle einzurichten, indem er Warnbaken aufstellt. Sorgfältig wählt er die Stelle aus, wo er mit einem Erdbohrer eine enge zylindrische Grube gräbt und einen VerkehrsSperrpfosten hineinsetzt. Er nimmt einen Maurertrog, füllt Wasser aus einem mitgebrachten Kanister hinein und öffnet einen Sack Fertigbeton.
Mit dem Spaten vermengt er alles zu einem feuchten Gemisch und schüttet es in das Erdloch um den Pfosten herum bis kurz unter die Grubenöffnung. Mit der Wasserwaage wird der Pfosten ausgerichtet und die Grube mit etwas Aushubsand aufgefüllt. Dann kehrt der Bauarbeiter die
restlichen Arbeitsspuren zusammen, lädt alles wieder auf seine Karre und verlässt die
Stelle. Zurück bleibt ein scheinbar funktionsgerecht eingesetzter Verkehrspoller.
Der Poller wird kaum einem Stadtbewohner auffallen. Er kann dennoch wegen seiner
Ununterscheidbarkeit gegenüber allen amtlich gesetzten Pollern Verunsicherung hervorrufen. Voraussetzung für diese Verunsicherung ist die Kenntnis, dass ein Künstler
diese Aktion mit 16 Verkehrs-Sperrpfosten im Frühjahr 2009 an verschiedenen Orten
in Berlin durchgeführt hat. Der Künstler streut die Information über seine Aktion sukzessive. Eine Hinweisliste der Implantations-Orte wird es nicht geben. Welches ist
nun ein behördlich, welches ein künstlerisch gesetztes Objekt?
Die Beurteilung, welche Pfähle in der Stadt ausschließlich aufgrund räumlichästhetischer Kriterien gesetzt wurden, wird den Empfängern der Information überlassen.
Generiert sich dennoch Künstlerisches an manchen Orten? Wer ist dann der Autor?
II
Da beginnt der Künstler in einem Raum in Moabit, der seit zwei Jahren als Ausstellungsraum benutzt wird, Unterkonstruktionen für einen
Komplettumbau zu montieren. Anwohner und Passanten, denen die Bauarbeiten nicht verborgen bleiben, fragen nach, was für ein Laden
hier entstehen soll. Ein paar Tage später wird sogar die große Schaufensterscheibe herausgenommen, so dass hier der Moabiter Außenraum
in das Haus eindringen kann. Es wird eine Schalung für eine Betontreppe vor die Fassade gesetzt. Die Innenraumwände sind mittlerweile
mit Trockenputzplatten vollständig verkleidet. Nach Aushärtung der Betontreppe wird nebenan eine Vernissage veranstaltet, man sitzt auf
den Stufen und trinkt Bier. Über die Treppe ist der öffentliche Raumfortsatz Tag und Nacht zugänglich, und wird rege genutzt, wie die Spuren
an den Wänden, Erzählungen von Nachbarn und der Einsatz der Feuerwehr, die eine hilflose Person dort vorfindet, beweisen.
18
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher | Christian Hasucha
16 Poller | Intervention von Christian Hasucha
Täuschungen
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 19
Störungen
Für wen führe ich solche Interventionen* durch? Es gab eine Zeit, da beschäftigte mich diese Frage sehr und ich reiste mit Werkzeug und
umgebautem Lieferwagen ein Jahr lang durch Randgebiete Europas bis nach Kleinasien und hinterließ auf meiner Strecke an inspirierenden
Orten meine interventionistischen Arbeiten zur zufälligen Entdeckung. Ich wollte wissen, ob es mir reichen würde, anonym und ohne direkte
Resonanz zu arbeiten. Die Antwort war: es reichte mir nicht; andererseits wurde mir klar, dass ich immer mehr dazu übergegangen war,
nicht mehr auf einen alleingültigen Zustand der Präsentation hin zu arbeiten, der dann womöglich konserviert werden sollte. Nach meiner
Rückkehr stellte ich fest, dass bei vielen Kollegen und Kunstinteressierten die Dokumentation, die Skizzen und Erzählungen meiner ReiseArbeiten ausreichte, um sie präsent werden zu lassen. In gewisser Weise wurden diese sogar als konsequenter eingeschätzt als das, was ich
bisher innerhalb des Ausstellungsrituals eines Kunstvereins oder einer Galerie realisierte. Mir wurde klar, dass bei Interventionen in alltägliche
Strukturen die punktuell hinzukommenden Vernissagenbesucher selbst die Störfaktoren sein können, sofern sie nicht konzeptionell zum
„Bild“ gehören. Bei den Pollern habe ich bis auf „Beweisbegleitung“ auf Publikum verzichtet, bei der Moabiter Kunstraum-Entkernung fand
im hinteren Gebäudeteil eine zweite Vernissage statt, so dass der Irritationsgrad für zufällig Vorbeikommende bezüglich meiner Intervention
erhalten blieb. Sind nun „Eröffnungen“ für Interventionskunst kontrakonstruktiv? Durchaus, wenn sich vor den eigentlichen Adressaten (Anwohnern, Passanten etc.) das Kunstpublikum spreizt. Nicht, wenn der eigentliche Eingriff von diesem Ritual unbehelligt
bleibt oder die Wahrnehmung der Intervention innerhalb des gewohnten Alltagsgefüges stattfindet, was zum Beispiel dann geschehen kann, wenn die Information dazu
sukzessive distribuiert wird, so dass ein Pulk von Kunstbesuchern vermieden, ein „stilles“
Miterleben dennoch ermöglicht wird.
Werde ich um Beiträge für eine eher traditionelle Ausstellung gebeten, bei denen
ich zunehmend die künstlerische Dokumentation und die Relikte meiner Interventionen
zeige, begrüße ich regelmäßig Personen im Vernissagenpublikum, die sich als langjährige, bisher „stille“ Teilhabende meiner öffentlichen Arbeiten und Impulse outen.
Schnittstellen
Rückblickend kann ich sagen, dass viele meiner Interventionen, deren Wirkungsweisen
und gestalterische Varianten ich in kompletter Eigenregie erprobte, mir Perspektiven
und Möglichkeiten für neue öffentliche Projekte aufzeigten**. Es gab da zwar die
Schwierigkeiten, von den Ordnungsbehörden akzeptiert zu werden. Oft vermied ich
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher | Christian Hasucha
19
+ 28,33 m3 | Intervention von Christian Hasucha in der Kurt-Kurt Projektzentrale
KATALOG_18.1.
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 20
daher den amtlichen Kontakt. Bei kleineren Arbeiten schien mir ein aufwändiges Genehmigungsprozedere nicht notwendig, bei anderen war
mir klar, dass ich eine Erlaubnis nie bekommen würde. Es stellte sich aber heraus, dass einstmals ungenehmigt durchgeführte Interventionen
sich später durch die schlichte Tatsache legitimierten, dass sie bereits anderswo realisiert worden sind und allein deshalb genehmigungsfähig wurden („Herr Individual geht“, „P“, „Die Insel“ etc.). Das erste Ausprobieren neuer Projekte – mein eigentliches „Kunst-Studium“, welches
ich immer noch praktiziere – erfordert ständige Offenheit gegenüber dem Projektverlauf und der Wirkung der Eingriffe. Es führt dazu, dass
ich immer wieder mit dem Perspektivenwechsel spiele und die Sicht der Anwohner einnehme.
Für beauftragte Eingriffe ergab sich dann die Notwendigkeit der Kooperation mit institutionellen oder behördlichen Veranstaltern. Deren
organisatorische oder finanzielle Hilfestellungen waren oft mit gravierenden Einschränkungen verbunden. Konnte ich bei den in Eigenregie
realisierten Arbeiten die Ausführungs-Choreografie konzeptgerecht entwickeln, so lief kaum eine Intervention mit städtischen Kooperationspartnern ohne konzeptferne Verhandlungen über Sicherheit, Wirksamkeit (im Sinne der Publicity-Interessen des Veranstalters), Dauerhaftigkeit oder Nachhaltigkeit ab (extrem beschränkende oder erwartungsbeladene Beispiele finden sich auch heute noch in vielen Ausschreibungsunterlagen für Kunst-am-Bau-Wettbewerbe). Kunst wird dabei immer wieder instrumentalisiert, aber auch von kompromissbereiten
Kollegen und Kolleginnen bereitwillig den Erwartungen und Themenvorgaben angepasst. Der künstlerische Horizont der daraufhin realisierten
Arbeiten reicht dann über die eingrenzenden Vorstellungen der Auslober oft nicht hinaus. Ich versuche mir einzureden, dass es besser sei,
mit eigenwilligen Entwürfen abgelehnt zu werden, weil deren Entstehung regelmäßig von einer Vielzahl künstlerischer Einfälle begleitet wird,
die anderswo mit weniger Beschränkung adäquat umgesetzt werden können.
Ermöglicher
Ermöglicher sind Personen, die per Amt oder aufgrund ihrer Privatinitiative in der Lage sind, neue künstlerische Projekte anzuregen, zu begleiten
und zu unterstützen. Gerade wenn es nicht ihre eigenen Mittel sind, über die sie für eine Realisierung verfügen, so sind diese zwar notwendig
aber nicht hinreichend, was von vielen Projektmanagern verkannt wird. Viele glauben, dass die Bereitstellung von knapp gehaltenen Finanzmitteln ausreichen würde, um ein größeres Projekt neu zu entwickeln. Es ist aber seitens der Organisatoren ein spürbares Qualitäts-Interesse
(was längst nicht immer der Fall ist, wenn prominente Namen im Spiel sind) an der gemeinsam zu realisierenden Idee nötig. Ohne die begleitende Aufmerksamkeit und Diskussion, ohne Wohlwollen für das lange Zeit Undeutliche, ohne Vertrauen für das Entstehende und ohne die
Bereitschaft, ein möglichst günstiges Bedingungsfeld zu schaffen, wird der lediglich aufs Finanzielle und auf die Publicity achtende Ermöglicher nur Wiedergänger oder Abklatschkunst ernten können. Nicht jeder, der hier Ko-Künstler sein könnte, begreift sich als solcher, am
wenigsten die Ermöglicher in Ausübung administrativer Funktion. Die sich als Über- oder Gesamtkünstler begreifenden Großausstellungsmacher komponieren zwar oft faszinierende Parcours, greifen dennoch meist auf bereits Geschaffenes zurück*** und sind eher interessengeführte Zusammenträger als Neuentwicklungsförderer. Ermöglicher sind sie nur insofern, als sie andere Unterstützer auf ihre Kandidaten
aufmerksam machen können.
20
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher | Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 21
Der entscheidende Moment ist folgerichtig der, bei dem ich zu spüren glaube, dass ich bei meinem Gegenüber eine eigene Begeisterung für
meinen Entwurf ausgelöst habe. Vorausgegangen sind Anrufe, Mails oder Briefe, in denen eine Einladung formuliert wurde, die aufgrund der
Kenntnis meiner vorangegangenen Arbeiten erfolgte. Oft sind in den Einladungen thematische, formale oder wirtschaftliche Ziele verborgen,
die es zu erkennen gilt. In diesen Fällen versuche ich regelmäßig, den vorgegebenen Rahmen zu sprengen und eine eigene Form der Annäherung an die Situation zu finden. Mit denjenigen, die dies zulassen oder sogar fördern, gelingt dann ab und an eine Realisierung, die über
das aktuelle Arbeitsfeld hinausweisen kann und mir und anderen eine Weiterentwicklungs-Perspektive aufzeigt. Glücklicherweise traf und
treffe ich immer wieder auf solche Kuratorinnen und Kuratoren, und es kann etwas entstehen wie das Projekt in Berlin-Moabit, bei dem sich
in ein Mietshaus für kurze Zeit 28,33 m3 Außenraum einstülpen konnten.
*
Interventionen sind im Gegensatz zu Installationen nicht auf ein konvergent erzeugtes und dann fixiertes Bild hin ausgerichtet. Sämtliche Komponenten ihrer Genese,
ihrer Dauer, ihres Verschwindens sowie ihrer Kommunikation sind Bestandteil und werden je nach Möglichkeit vom Künstler oder von Teilhabenden bearbeitet. Es
kann sich im Laufe des Nachbearbeitungsprozesses aber ergeben, dass einige Komponenten – ohne dass der Künstler dies beabsichtigt hätte – verwertet werden.
Die Implementierung in den Kunstbetrieb bedeutet entweder eine nachgelagerte Änderung des Projektgefüges oder sie erfolgt, falls konzeptuell vertretbar, als Reliktund Dokumentationspräsentation. Hierbei wird Sekundärmaterial gezeigt, was dann in Fachkreisen oft als missverstandenes künstlerisches Primärmaterial zirkuliert.
**
Wie entwickelt sich eine Intervention? Abgesehen von professionellen Beteiligten, mit denen ich mich intensiv austausche, gibt es jemanden, den ich den FiktionalTeilhabenden (FT) nenne. Der FT ist meine Prüfinstanz bei der Entwicklung der Intervention. Je nach Variation versuche ich mir seine Haltung dazu vorzustellen. Als
FT stelle ich mir eine Person vor, die an den Seltsamkeiten der jeweiligen Umgebung ebenfalls interessiert ist und die dann zum Beispiel zufällig an die Information
mit den 16 Pollern gerät und sie in ihrem mentalen Depot für Merkwürdigkeiten ablegt. Ich lasse sie dann in meiner Vorstellung auf einen seltsam positionierten
Verkehrspfahl oder auf einen kurzen Tunnel in einem Haus treffen, wo sie sich an seiner Seltsamkeit wärmen oder einfach die eigene Irritation genießen kann.
*** Parallel zur begrenzbaren Präsentations- und Spekulationskunst entwickelte sich seit den frühen Achtzigern eine Kunst mit sich völlig davon unterscheidenden
Parametern: nicht das isoliert zeig- und verwertbare, sich selbst genügende Einzelwerk, sondern das Arbeiten mit den zur Zeit herrschenden Bedingungen, den
Strukturen und Wahrnehmungsvarianten innerhalb einer sich ändernden, jeweiligen Umgebung steht im Fokus. Kunstfreunde, deren Blicke nach wie vor nur auf die
Handelszentralen und Präsentations-Knotenpunkte gerichtet sind, könnten die Scheuklappen ablegen.
Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher | Christian Hasucha
21
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 22
Deceptions, Disturbances, Interfaces and Enablers Christian Hasucha
Deceptions
I
Now, a worker somewhere in Berlin with a fluorescent vest and a trolley full of materials begins to set up a building site by placing warning
signs. He chooses the position carefully, drills a narrow cylindrical hole with an auger and places a traffic bollard in it. He takes a trough,
fills it with water from a canister that he’s brought with him, and opens a sack of pre-mixed cement. Using a spade he folds it all together
into a damp mixture and fills the hole around the post to just under ground level. The post is straightened with a spirit level and the hole
filled up with some sand. Then the worker collects the remaining materials together, puts them all in his trolley and leaves the site. An apparently functional traffic bollard remains.
The bollard will hardly attract the attention of the city’s inhabitants. However, being indistinguishable from all other official bollards it can
create uncertainty. The precondition for this uncertainty is the knowledge that an artist carried out this action in the spring of 2009 in different
sites in Berlin with 16 bollards. The artist gradually disseminates information about his action. A list of the ‘implantation’ sites is not available.
The question is: which is an official and which an artistically placed object?
The decision about which post in the city is installed according to purely aesthetic and spatial criteria is left to the recipient of this information. However, is something artistic generated in some places? Who then is the author?
II
Now, the artist begins to build the supporting structure for a complete reconstruction of a space in Moabit that has been used as an exhibition
venue for the last two years. Residents and passers-by, from whom the building work cannot be concealed, enquire as to what kind of shop is
going to be here. A couple of days later even the large shop window is taken out so that the Moabit outside space can enter the building.
A casing for concrete steps is placed in front of the façade. In the meantime, the interior walls are completely covered with plasterboards.
After the concrete steps have set an opening takes place beside them, people sit on the steps and drink beer. Going up the steps, the public
extension of the space is open day and night and is actively used, as the traces on the walls, anecdotes from the neighbours and the appearance of the fire brigade coming to the aid of a destitute person they found there attest.
Disturbances
For whom do I carry out such interventions?* There was a time when I was very concerned with this question, and travelled for a year with
tools and a converted delivery van from the fringes of Europe to Asia Minor, and left behind me my interventions to be discovered by chance
22
Deceptions, Disturbances, Interfaces and Enablers | Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 23
in the places that inspired me. I wanted to know if it would be enough for me to work anonymously and without direct feedback. The answer
was: no, it wasn’t. On the other hand, it became clear to me that I increasingly moved away from a type of presentation that was intended
to be conserved if possible. After my return, I realised that for many of my colleagues and people interested in art the documentation, sketches
and stories of my travel-works sufficed to make them present. In a certain way they were rated as even more consistent than what I had
realised within the exhibition ritual of a Kunstverein or gallery. It became clear to me that in interventions in daily structures the punctual
private view visitor could himself be the disturbing factor if he did not conceptually belong to the ‘image’. I had no public for the intervention
with bollards except my own accompanying witness. In the back part of the building alongside the gutting of the Moabit exhibition space a
second opening took place, so that the confusion factor for casual passers-by was maintained. Are ‘openings’ for interventionist art now counterconstructive? Absolutely, if the art public spreads itself through the actual target audience (neighbours, passers-by, etc.). Not, if the intervention
itself remains undisturbed by this ritual or the perception of the intervention takes place within the normal daily structure, which can happen
when the relevant information is gradually distributed thus avoiding a mass of art visitors and enabling a ‘quiet’ witnessing of the action.
Should I be requested to make a more traditional exhibition in which I increasingly show the artistic documentation and relicts of my
interventions, I would be regularly meeting members of the public at the opening who declare themselves to be long-standing ‘silent’ participants
in my public works and impulses.
Interfaces
Looking back, I can say that many of my interventions, whose modes of execution and design variations I carried out single-handedly, pointed
out many perspectives and possibilities for new public projects.** Certainly there were difficulties in being accepted by the authorities and
I often avoided official contact. The elaborate permission process for small works seemed unnecessary to me, and with other works it was
clear that I would never get permission. It transpired, however, that once an unauthorised work was carried out it would later be legitimised
through the simple fact that it had been realised elsewhere and could be authorised solely on that ground (‘Herr Individual geht’, ‘P’, ‘Die
Insel’, etc.). The first try-out of a new project – my real ‘art studies’ that I still practise – demands constant openness to the progression of
the project and the effects of the intervention. It leads to my repeated playing with perception and taking on the resident’s point of view.
Commissioned interventions, then, necessitated a co-operation with institutions or official organisers. Their organisational or financial provision was often connected to serious limitations. Whereas I could develop a conceptually rounded presentation choreography for those works
that I realised under my own control, hardly a single intervention in collaboration with official partners ran without conceptually irrelevant
negotiations about security, effectiveness (in terms of the publicity interests of the organisers), durability or sustainability (examples that are
extremely limiting or laden with expectations are still to be found in many specifications for ‘Per Cent for Art’ competitions today). Art is thereby
repeatedly instrumentalised, and also adapted to these expectations and thematic requirements by artist colleagues who are willing to compromise. The artistic horizon of the resulting works often does not go beyond the limited imagination of the client. I try to persuade myself
Deceptions, Disturbances, Interfaces and Enablers | Christian Hasucha
23
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 24
+28,33m3 | Entfernen der Schaufensterscheibe für die Intervention von Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
that it is better to have my idiosyncratic proposals rejected
because they are regularly accompanied by numerous artistic
ideas that could be adequately realised elsewhere with fewer
limitations.
Enablers
Enablers are people who, through their office or because of their
private initiative, are able to initiate, accompany and support
new art projects. When the funding they have available to realise
a project is not their own, it is certainly necessary but not sufficient,
something that many project managers misjudge. Many believe
that the allocation of meagrely held funds would suffice to develop a new large-scale project. A tangible interest in quality is,
however, necessary on the part of the organisers for the joint
realisation of the idea (which is not always the case when prominent names are in the game). Without the accompanying
attention and discussion, without goodwill for what will for a
long time remain obscure, without trust in the result and without
the willingness to create the best possible conditions, the finance
and publicity oriented enabler will only gather repetitive or imitative art. Not everyone who could be a co-artist considers himself to be such, and least of all the enabler in the exercise of his
administrative function. The self-styled super or total artist-maker
of large-scale exhibitions often puts together a fascinating obstacle
course but usually resorts to art that has already been done***
and are more interest-led compilers than supporters of new
developments. They are only enablers in that they can bring
their candidates to the attention of other supporters.
The deciding moment is that in which I sense that I have
aroused an enthusiasm for my proposal in my counterpart.
24
Deceptions, Disturbances, Interfaces and Enablers | Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 25
Phone calls, emails and letters led the way in which an invitation was formulated based on knowledge of my previous works. These invitations often contained concealed thematic, formal or economic requirements that needed to be revealed. In these cases I regularly sought to
dismantle the predefined framework and to find my own way to approach the situation. With those who allow or even support this, a work
is realised every now and then that can go further than the actual work situation and shows me and others perspectives for further development. Luckily I met and still meet such curators, and projects such as the one in Berlin-Moabit can take place, in which 28.33 m3 of public
space could temporarily invade an apartment house.
*
Interventions, unlike installations, are not aligned to a convergent generated and then fixed image. All components of its genesis, its duration, its disappearance as
well as its communication are elements and are, when possible, formed by the artist or by participants. It can happen, however, that during the finishing process
certain components are made use of without the artist intending it. Its implementation within the art industry means either a post-completion alteration of the project
or it takes place, when conceptually reasonable, as a presentation of documents and relicts. In this case secondary material is shown and then often misunderstood
amongst expert circles as primary artistic material.
**
How does an intervention develop? Apart from professional participants with whom I have intensive exchanges, there is someone I call the Fictional Participant (FP).
The FP is my quality controller in the development of an intervention. Depending on the variation, I try to imagine his mind-set towards it. I imagine the FP as a person
who is interested in the oddities of the respective environments and who then, for example, stumbles across the information about the16 bollards and stores them in
his mental depot as curiosities. In my imagination, I let him come across a strangely positioned traffic bollard or a short tunnel in a house whose oddity he warms to,
or he can simply enjoy his own confusion.
*** Parallel to determinable presentation and speculation art, an art with completely different parameters developed from the early 1980’s: not the isolated demonstrable
and exploitable, sufficient-unto-itself monograph, but works dealing with contemporary ruling conditions, structures and perceptual variants within a changing environment came into focus. Art lovers who still only had their eye on the trading centres and hubs of presentation could take off their blinkers.
Deceptions, Disturbances, Interfaces and Enablers | Christian Hasucha
25
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 26
Falsche Blicke aufs richtige Leben / Ein Spaziergang in Moabit Bertram Weisshaar
Im Chrom- und Glamour-Schatten des Hauptbahnhofs, gleich hinter „Ostsee fish & chips“, „Noodles & Rice“, „Hot Dog“ und „Super Döner“
fängt er an, unser Weg durch den märkischen Sand. Nur noch eine schwierige Straße bleibt zu überqueren, die aus dem Tunnel unter dem
Hauptbahnhof herauf führt und zahlreiche Fahrzeuge auswirft. Doch dann, loser Sand unter der Sohle, zumindest bis zum ersten Zaun.
Wenn wir Glück haben und das Tor auch heute nicht verschlossen ist, führt der Weg uns weiter nach hinten, entlang einem Feldweg, hinein
in das Bau-Erwartungsland. „Erwartungsland“ – davon gibt es ja reichlich in Berlin. Hingegen lesen wir bei Kurt Tucholsky: „Erwarte nichts.
Heute: das ist dein Leben.“ Tucholsky hat diese Zeile nicht für Moabit geschrieben, und dennoch passt sie sehr gut zu den Szenen des
Spaziergangs. Diese Abfolge ergibt nicht notwendig ein schlüssiges Ganzes. Wie im richtigen
Leben existieren die Szenen jeweils für sich isoliert, dicht nebeneinander, ohne von einander
besondere Notiz zu nehmen oder sich gar zu einer kontinuierlichen Welterklärung aufzureihen.
So führt der Feldweg auf eine weite, leere Betonfläche. Leitplanken. Bremsspuren. Im Hintergrund ein einzeln stehendes Verwaltungsgebäude.
Nebenan, in der Heidestraße, steht am Straßenrand ein komfortabler Wohnwagen mit der
Aufschrift „Berlin intim. clever poppen!“. Ein paar Meter weiter noch ein Wohnwagen, aber
ein ganz billiger.
Bevor die Straße abbiegt über die Fennbrücke, stoßen wir auf eine kleine Grünanlage am
Ufer des Nordhafens. Ein einzelner Arbeiter harkt hier gemächlich das Laub zusammen. In
den aus drei Richtungen einfallenden Verkehrslärm mischen sich die Schreie der über dem
Hafenbecken kreisenden Möven. Unvermittelt kommt der „Fliegende Holländer“ um die Ecke
26
Falsche Blicke aufs richtige Leben | Bertram Weisshaar
Stadtentwicklungsgebiet Heidestraße
Was kann man falsch machen, beim Blick auf das Leben in den Straßen? Leicht kann man dem Gelesenen, den Zahlen und den Fakten zu
viel oder auch zu wenig Bedeutung zubilligen. Informiert man sich beispielsweise über Moabit, um sich ein Bild zu machen, bevor man
selbst das erste Mal in diesen Berliner Stadtteil fährt, liest man allerhand (und geht vielleicht erst gar nicht hin). Kommt man dann selbst
an in den Straßen von Moabit, erscheint hier eigentlich alles sehr gewöhnlich. Mein erster Eindruck, an einem Samstag-Spätnachmittag im
November, ist beinahe ein etwas gelangweilter. Also lebt es sich vermutlich recht entspannt hier, denke ich mir. Und auf die sonst überall
anzutreffenden Filialen der globalen Handelsketten kann man ohnehin leicht einmal verzichten.
Ein schöner Spazierweg fand sich ganz leicht. Nicht unbedingt ein atemberaubender, wie nirgendwo sonst auf der Welt, aber doch ein
unverwechselbarer und die Gedanken anregender. Es macht Spaß, diesen Weg zu gehen. Mehr Rechtfertigung braucht ein Spaziergang nicht.
Gehen wir los.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 27
herum gebogen. Es sind keine Gäste an Bord des Fahrgastbootes. Der Kellner serviert dem
Kapitän eine Pizza.
Zurück auf der Straße gilt es eine breite Kreuzung zu überqueren. Dahinter, hoch oben in
der Luft, auf einer elegant gebogenen Brücke, überqueren Fernzüge die Straße „FriedrichKrause-Ufer“. Erstaunlich viele Fußgänger sieht man in dieser doch sehr abgelegenen Straße.
Und einige Meter weiter erklärt sich der Anlass für deren Weg in diese Straße. Fast alle biegen ein in die Ausländerbehörde, Abteilung Zuwanderung, im „Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten“. (Gnade meiner Geburt habe ich mit diesem Amt nichts zu tun.)
Hingegen in den zweigeschossigen Verkaufspavillon „Gute Laune Bäder Schau“, nur wenige
Meter weiter, will mal wieder keiner.
Weiter führt ein Trampelpfad durch einen schmalen Grünstreifen. Vergessenes Grün zwischen
Straße und Kanal. Wir straucheln hindurch bis zur „Centrale Moabit“. Ein Kahn legt an an dessen
Krananlage und bringt neue Kohle für das Kraftwerk. Dieses war eine der allerersten Fabriken, in denen Kraft hergestellt wurde. Insbesondere
der Blick zurück, von der nahen Kreuzung aus, zeigt deutlich den Sprung der Dimension zwischen dessen historischer Fassade und dem
dahinter liegenden heutigen Kraftwerksbau.
Von der Kreuzung aus folgen wir einem Fußgänger-Wegweiser, der uns den Weg zeigt zum „Kreuzfahrt-Terminal Westhafen, 300 m“. Auf
dem Weg dorthin kommen wir vorbei an der „Schifferkirche“ im Haus der Schiffergemeinde und an „Brummis Imbiss“. Im ersten historischen Hafen-Gebäude, in der ehemaligen „Hafenwirtschaft“, befindet sich eine Werkstatt der BWB Berlin Werkstätten. Menschen mit für
uns ungewöhnlichem psychischem Verhalten arbeiten hier in dem Projekt „Kunst als Chance“. Der Werkstattleiter versteht die Einrichtung
im Sinne von Joseph Beuys als Soziale Plastik und als eine „angstfreie Werkstätte“. Man kann also einmal hineinschauen.
Im Hafenbecken warten bunte und eher kleine Fahrgastschiffe, daneben, auf der Kaimauer, ruhen die alten, grauen Hafenkräne, wie man
solche heute nur noch selten findet. Ein Bauschild klärt auf über den Ausbau der denkmalgeschützten Lagerhalle zu Büro- & Lagerflächen,
die nach Mieterwunsch gestaltet werden können. Erwartungsland also auch hier.
Wir gehen entlang der Straße, die zwischen Sandlagerflächen und Müllcontainerlager aus dem Hafengebiet hinausführt, und biegen dann
nach links über die Beusselbrücke. Diese überspannt ein weites, scheinbar nur zur Hälfte genutztes Gleisfeld. Von der Brücke aus blicken
wir auf einen Stadtrand – wir kommen zurück nach Moabit. Auf der rechten Straßenseite fällt ein größeres, leerstehendes Ladengeschäft in
den Blick. Auf der linken Straßenecke versucht der Laden „Manolito Erotica“ die Blicke auf sich zu lenken, um gebrauchte, abgegriffene
Pornomagazine an den Mann zu bringen. Gebrauchte Fetische einer ganz anderen Preisklasse finden sich wenige Querstraßen weiter in der
Sickingenstraße im „Meilenwerk“. In einer alten Fabrikhalle werden hier begehrte Oldtimer neben jenen Neuwagen behütet und verwahrt,
die nicht so sehr für das Fahren an sich, sondern vielmehr als Statussymbol und Begierde-Objekt gebaut werden. Es scheint, mit den
Menschen, die hier in der Nachbarschaft leben, hat dies alles nichts zu tun. Gehen wir und folgen wir der Huttenstraße. Auch hier ein Haus
Falsche Blicke aufs richtige Leben | Bertram Weisshaar
27
Kraftwerk Moabit
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 28
voller Hochglanzautos. Und auch hier der Verdacht, dass sich dieses höchstens beiläufig an
die Bewohner von Moabit richtet.
Hingegen eine alte Fabrikhalle, das würde passen zu dem tradierten Bild von Moabit. Wir
finden diese in der Berlichingenstraße – die 1909 von Peter Behrens entworfene „Turbinenhalle“. In diesem Meilenstein der Industriearchitektur wird noch heute gearbeitet. Doch die
hier arbeiten, müssen nicht unbedingt auch in diesem Stadtteil leben. In dem Licht, das aus
der hohen Halle durch die Fabrikwand in die Straße fällt, sieht man die Menschen zu ihren
Autos laufen und davonfahren.
Anders verhält sich dies augenscheinlich mit der Moabiter Markthalle in der Bremer
Straße (und vermutlich auch bei den zahlreichen Spielhallen drum herum). Die Kundschaft,
die den Weg hierher findet, kann man sich kaum anders als aus der nahen Nachbarschaft
denken. Denn das Bauwerk lohnt den Besuch auf jeden Fall, doch für die Dinge, die hier angeboten werden, ist dies nicht so eindeutig zu sagen – und dies, obwohl beispielsweise bei einem Schlachterstand etwa ein Viertel seiner
Verkaufsauslagenfläche ausschließlich mit Qualitäts-Urkunden belegt ist. Jeder, der eine weitere Distanz zurückzulegen hat, findet das Meiste
von dem, was es hier gibt, unterwegs schon zweimal.
Verlässt man die Markthalle zur Bugenhagenstraße, stößt man auf den „Verkehrsgarten“. Hier wachsen Kleinkinder heran zu „Verkehrsteilnehmern“, damit sie in unserer Verkehrswelt nicht gleich totgefahren werden. Was für ein „Garten“!
Nicht weit entfernt, in der Birkenstraße, können Kinder in dem Schulgarten „Ratschlag“ lernen, wie beispielsweise Möhren aus der Erde
kommen. Oder sie können durch das eigene mit den Händen in der Erde Wühlen eine Erfahrung machen, die heute meist als verzichtbar
eingeschätzt wird, die für frühere Generationen aber so selbstverständlich war wie der Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Wir hingegen
erwarten heute mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit, dass alle Sorten von Gemüse in jedem Monat des Jahres in mehr als ausreichender
Menge in der Auslage der Verkaufshalle angeboten werden. Und schon sind wir wieder mitten drin im Erwartungsland. An der Ecke Birkenstraße / Lübecker Straße wird gerade ein Neues gebaut, ein ganz Großes.
Auf dem Weg zu Kurt-Kurt entlang der Lübecker Straße frage ich mich, ob es Ihnen vielleicht ganz ähnlich erging wie mir bei diesem
Spaziergang. Ständig ertappte ich mich selbst, wie ich dachte: „Jetzt hab ich’s. So ist es.“ Und just dann kam mir Kurt wieder in Erinnerung
mit seiner Weisheit: „Dies ist, glaube ich, die Fundamentalregel alles Seins: «Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders.»“ (aus: Kurt
Tucholsky, Zwischen Gestern und Morgen; Eine Auswahl aus seinen Schriften, S.133).
Zu diesem Spaziergang finden Sie einen Stadtplan in der Umschlagsklappe hinten.
28
Falsche Blicke aufs richtige Leben | Bertram Weisshaar
AEG Turbinenhalle
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 29
A Wrong Look at the Right Life / A Walk through Moabit Bertram Weisshaar
What can go wrong looking at life on the streets? One can easily give too much or too little meaning to what is read, to information and to
facts. If, for example, one wants to inform oneself about Moabit to get an idea of this part of Berlin before going there, one reads all kinds
of things (and perhaps even decides not to go there). Then, when one is actually on the streets of Moabit everything appears very normal.
My first impression, on a late Saturday afternoon in November, is almost one of boredom. ‘So,’ I think, ‘life here is probably very relaxed’.
And, besides, it is possible here to manage without branches of the otherwise ubiquitous global chain stores.
It was easy to make a pleasant walk. Not particularly breathtaking, as if nowhere else in the world, but still distinctive and thought provoking. It is fun to go here. A walk does not need further justification. Let’s go.
Our path through the Mark Brandenburg sand starts in the chrome and glamour shadow of the main train station, directly behind ‘Ostsee
fish & chips’, ‘Noodles & Rice’, ‘Hot Dog’ and ‘Super Döner’. We just have to make a difficult crossing over a road that emerges from the
tunnel under the station, spewing forth numerous vehicles. And then, loose sand under our feet, at least until the first fence. If we are lucky
and the gate is still open today, our path leads further back, along a dirt track into the land of building expectations. ‘Land of expectation’ –
there are certainly a lot of them in Berlin.
By contrast, one reads from Kurt Tucholsky, ‘Do not expect anything. Today: that is your life’. Tucholsky did not write this line for Moabit,
and yet it fits to the scenes along this walk. Their sequence does not necessarily give a coherent whole. As in real life, these scenes each
exist for themselves, isolated, close to each other without taking any special notice of each other, and not stringing together a continuous
explanation of the world.
And so the dirt track leads to a wide, empty concrete area. Crash barriers. Tyre marks. In
the background stands a single administration building.
Alongside, in the Heidestrasse, a luxurious camper van with words, ‘Berin intim. clever
poppen!’ (intimate Berlin, slick bonking!) stands by the roadside. A few yards further along
stands another camper van, this time a very cheap one.
Before the road bends round over Fennbrücke, we come across a small green area on the
riverside of ‘Nordhafen’ (North Dock). A lone worker leisurely rakes the leaves together. The
traffic noise from three directions mixes with the cries of the gulls circling over the dock basin.
Suddenly the ‘Fliegende Holländer’ (Flying Dutchman) comes curving around the bend.
There are no guests on board the passenger ship. The waiter is serving a pizza to the captain.
Back on the street we have to negotiate a wide crossroads. Behind it, up in the air, longdistance trains cross an elegantly arched bridge over the Friedrich-Krause-Ufer. It is astonishing
A Wrong Look at the Right Life | Bertram Weisshaar
29
Stadtentwicklungsgebiet Heidestraße
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 30
how many pedestrians there are on this actually very remote street. A few metres further
along, the reason for their presence here is explained. Almost all of them go into the
Foreigners’ Registration Office, Immigration Department, in the ‘State Office for Civic and
Regulatory Affairs’. (Thanks to my birth I have nothing to do with this office). By way of contrast, no one wants to go into the two-storey sales pavilion, ‘Gute Laune Bäder Schau’
(Happy Mood Bath Show), a few metres further along the road.
A track leads further into a small green strip of land. Forgotten greenery between street
and canal. We stumble through to ‘Centrale Moabit’. A barge is moored at its crane system,
bringing new coal for its power station. This was one of the very first factories in which power
was produced. Notably, the view back from the nearby crossroads clearly shows the jump in
dimensions between its historic façade and the current power plant construction standing
behind it.
Leaving the crossroads we follow a footpath sign that shows us the way to ‘Westhafen Cruise Terminal, 300 m’. On the way there we pass
the ‘Schifferkirche’ (Mariner’s Church) in the premises of the Shipping Community, and the ‘Brummis Imbiss’ (Truckers’ Fast-Food Stand). In the
first historical dock building, the former ‘Port Canteen’, is now to be found one of the BWB Berlin workshops. People with, for us, unusual
psychic behaviour work here in a project called ‘Art for Chance’. The workshop leader understands the establishment in the sense of Joseph
Beuys’ social sculpture, and as an ‘anxiety-free’ workshop. You can have a look inside.
Colourful and rather small passenger ships wait in the dock basin, old grey dock cranes that one hardly ever sees nowadays, rest alongside
on the harbour wall. A building sign explains about the conversion of the listed storage depot
to offices and storage spaces that can be designed according to the tenant’s wishes. So, here
too, ‘Expectation Land’.
We carry on along the street that leads through the sand storage and waste bin areas of
the port and turns left onto Beusselbrücke. This spans wide, apparently only half-used train
tracks. We look at the outskirts – and come back into Moabit. On the right side of the street
a large, empty shop falls into view. On the left side the shop, ‘Manolito Erotica’, tries to draw
attention to itself in an effort to sell used, worn porno magazines to men. Used fetish objects
of a completely different price bracket are to be found a few streets further on in ‘Meilenwerk’
in Sickingenstrasse. This old factory hall protects and stores treasured old timers alongside
those new cars that are built not so much for driving but to be status symbols and objects of
lust. It appears that it has nothing at all to do with the people who live in the neighbourhood.
We will go and follow Huttenstrasse. Here, too, is a showroom full of highly polished cars.
30
A Wrong Look at the Right Life | Bertram Weisshaar
Westhafen
Bahnbrücke über Friedrich-Krause-Ufer
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 31
And also the suspicion that they are only casually targeted at the inhabitants of Moabit.
Across the road is an old factory hall that would fit the handed-down image of Moabit. It is
situated in Berlichingenstrasse – the ‘Turbine Hall’ designed in 1909 by Peter Behrens.
People still work in this milestone of industrial architecture today, yet those who work here
do not necessarily live here. In the light that falls on the street from the high hall people can
be seen walking to their cars and driving away.
This is certainly not the case with the market hall in Bremer Strasse (and probably with
the numerous casinos around here). It is hard to think otherwise than that the customers
who make their way here come from the nearby neighbourhood. The building is certainly worth
a visit but that cannot be said for the things that are on offer here – even when, for example,
a quarter of the sales area of a butcher’s stall is covered with certificates of quality. Those who
have a longer distance to walk find that most things are on offer at least twice on their way.
Going from the market hall into Bugenhagenstrasse, one comes across the ‘Traffic Garden’. Here, small children are trained to be ‘traffic
participants’ so that they are not run over in our traffic world. What a ‘garden’!
Not far away, in Birkenstrasse, children can learn, by way of contrast, how carrots come from the earth. Or they can experience burrowing
in the earth with their own hands, something considered today to be avoidable but was as natural to earlier generations as the sun rising
and setting. We, however, expect all sorts of vegetables in sufficient quantities to be on offer every month of the year in the shops today. And
here we are again, in the ‘Land of Expectation’. On the corner of Birkenstrasse and Lübecker Strasse a new one rises, a huge one.
On the way to Kurt-Kurt along Lübecker Strasse, I ask myself whether it was the same for you as for me on this walk. I constantly caught
myself thinking, ‘Now I’ve got it. That’s what it’s like.’ And then Kurt’s wisdom came to mind again: ‘This is, I believe, the fundamental rule
of all existence: ‘Life is not that. It is completely different’.’ (from Kurt Tucholsky, Zwischen Gestern und Morgen; Eine Auswahl aus seinen
Schriften, p.133).
The map for this walk is inside the back cover.
A Wrong Look at the Right Life | Bertram Weisshaar
31
Brandmauer Lübecker Straße
KATALOG_18.1.
KATALOG_18.1.
32
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 32
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 33
Kurt-Kurt Projekte 2006 – 2009
Simone Zaugg und Pfelder
Schumacher & Jonas
Irena Eden und Stijn Lernout
Heather Allen und Jan Philip Scheibe
Diana Dodson und Reto Leibundgut
Siri Austeen und Stefan Schröder
María Linares und Christian Hasucha
Haus am Gern / Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
Ariane Epars und Salah Saouli
Dellbrügge & de Moll
Bertine Bosch und Bert Meinen
34
40
44
48
54
58
64
70
74
80
84
Kurt-Kurt spezial
90
Standorte der Projekte siehe Stadtplan Umschlagsklappe vorn
Project sites on map inside front cover
33
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 34
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder | 24. August – 1. Oktober 2006
Ja, die Berliner Luft, Luft, Luft. Sie ist nicht in jedem Stadtteil gleich. In Moabit hat sie die richtigen
Bestandteile für die beiden Künstler und Projektinitiatoren Simone Zaugg und Pfelder. Für sie lag hier
etwas in der Luft, als sie im Sommer 2006 das Kurt-Kurt Projekt in den Räumlichkeiten an der
Lübecker Straße 13, dem Geburtshaus von Kurt Tucholsky, mit einer programmatischen Präsentation
eröffneten. Der von der Straße einsehbare Ladenraum war mit 1500 Ballons gefüllt, so dass die ersten
Besucher zunächst dutzende Luftballons hinaus auf die Straße in den öffentlichen Raum befördern
mussten, um Kurt-Kurt überhaupt betreten zu können. Zur Eröffnung entschwebten ungefähr die Hälfte
der mit dem Satz „Es liegt was in der Luft“ bedruckten Ballons durch die Moabiter Luft in den Berliner
Himmel. Die andere Hälfte hielt sich tapfer im Kurt-Kurt Raum und sank nach Tagen langsam zu
Boden. Zur Finissage wurde eine zweite Variante der Installation „Es liegt was in der Luft“ präsentiert.
Die Ballons verschwanden, und eine öffentliche blaue Sitzbank aus dem Moabiter Krankenhaus-Areal
und ihr Kollege, der blaue Mülleimer, besuchten den inzwischen leeren Raum. Jungs aus den Straßen
von Moabit zauberten den Satz „Es liegt was in der Luft“ als Graffiti-Bild an eine Plastikfolien-Wand.
Zwei Übersetzer überführten laut lesend, doch durch ihre Ohrenschützer einander nicht hörend, Auszüge aus Tucholskys Roman „Rheinsberg“ während der Performance „Simultaneous Translation“ aus dem Deutschen ins Englische.
Ein kleiner Sehschlitz in der Tür zu einem weiteren Raum führte die Blicke des Publikums zunächst ins Dunkle, bis sie auf einen schlauen,
kleinen Fuchs trafen. Er personifizierte die Reinkarnation von Kurt Tucholsky und geisterte als Mitglied der Familie „Panter, Tiger & Co.“ in
der Ausstellung herum.
„Rundum“, eine Videoinstallation im hinteren Ausstellungsraum, stellte alles auf den Kopf. Die Kinosessel im kleinen Vorstellungsraum
mit 12 Plätzen hingen an der Decke. Der Film lief kopfüber. Wer seine Schwerkraft nicht ausschalten konnte, gewöhnte sich nach ein paar
Minuten an die neue Perspektive und tastete mit der Kamera die Ränder und Grenzen der Insel Moabit ab, dort wo sich Land und Wasser
treffen. Die ungewohnten Bilder der um 180° gedrehten Perspektive, z.B. vom Hauptbahnhof, vom unspektakulär verlaufenden Uferweg oder
von den Beamtinnen und Beamten, die entsprechend mit ihren Füssen an der Decke hingen, zeigten, wie ungewöhnlich alltäglich dieser
Stadtteil gesehen und erlebt werden kann.
34
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 35
Es liegt was in der Luft | Installation Teil 1
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg and Pfelder
Yes, the Berlin air, air, air. It is not the same in every part of the city. In Moabit it has the right ingredients for the artists and project initiators,
Simone Zaugg and Pfelder. For them, there was certainly something in the air as they opened the Kurt-Kurt project in rooms in Lübecker
Strasse 13, the birthplace of Kurt Tucholsky, with a programmatic presentation in the summer of 2006. The shop space, visible from the
street, was filled with 1,500 balloons so that the first visitors had to send dozens of balloons out into the street in order to even be able to
enter Kurt-Kurt. During the opening about half of the balloons, which were printed with the words, 'Es liegt was in der Luft' (There's something in the air), floated away through the Moabit air into the Berlin sky. The other half courageously remained inside Kurt-Kurt and over
several days sank slowly to the floor.
A variation of 'Es liegt was in der Luft' was presented at the closing event. The balloons disappeared and a blue public bench from the Moabit
hospital grounds and its colleague, a blue waste bin visited the now empty space. Moabit youths conjured up the sentence, 'Es liegt was in der
Luft', as graffiti on a plastic sheet wall. Two translators, wearing ear protectors so that they could not hear each other, loudly translated passages
from Kurt Tucholsky's novel, 'Rheinsberg', from German into
English during the performance, 'Simultaneous Translation'.
A small peephole in the door to a further room led the public's eyes into darkness until they met a small cunning fox. It was
the reincarnation of Kurt Tucholsky and wandered like a ghost
through the exhibition as a member of the family, 'Panter, Tiger
& Co.'
'Rundum', a video installation in the rear exhibition room,
stood everything on its head. The cinema seats for 12 people in
the small performance room hung from the ceiling. The film ran
overhead. Those who could not disregard gravity became used
to the new perspective in a couple of minutes and sampled the
edges and borders of the Moabit island, where land and water
meet, via a camera. The unusual images of the 180° rotated
perspective, for example, of the main train station, of unspectacular
river paths or the office workers who accordingly hung from the
ceiling by their feet, showed the unusual everyday that can be
seen and experienced in this district.
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
35
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 36
Es liegt was in der Luft | Installation Teil 1
KATALOG_18.1.
36
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 37
Rundum | Videostills
Rundum | Video-Raum-Installation
KATALOG_18.1.
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
37
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 38
Es liegt was in der Luft | Installation Teil 2 (unten)
Panter, Tiger & Co. | Projektion (oben)
KATALOG_18.1.
38
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 39
Simultaneous Translation | Performance von Peter Cripps und Alexander Schmitt
KATALOG_18.1.
Es liegt was in der Luft | Simone Zaugg und Pfelder
39
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 40
Wir wollen das Schiff zurück! | Schumacher & Jonas | 3. – 19. Mai 2007
Mit ihrer Legende vom Schiff, das einst auf der Brache der ehemaligen Paechbrot-Fabrik
gestrandet ist, haben Birgit Anna Schumacher und Uwe Jonas ein modernes „urban myth“
geschaffen. Sie kreierten das Bild eines Ausflugdampfers, der auf der Paechbrot-Brache
gestrandet war. Kurz nachdem ihre Plakate vom im märkischen Sand gelandeten Spreeschiff mit der Botschaft „Wir wollen unser Schiff zurück!“ im ganzen Stadtteil verteilt waren,
war diese Geschichte Gesprächsthema Nummer eins in Moabit, und man fragte sich: Wann
genau war das Schiff denn gestrandet? Wie kam es überhaupt hier hin? Warum ist es nicht
mehr da? Wir hätten es behalten und zu einem Treffpunkt machen sollen! Und überhaupt,
weshalb kann ich mich nicht mehr daran erinnern, ich wohne doch schon seit 25 Jahren
hier mit Blick auf das Paechbrot-Areal?
Das Künstlerteam hatte mit seiner Legende die ideale Projektionsfläche geschaffen, um Befindlichkeiten, Defizite, Wünsche und Erinnerungen der Moabiterinnen und Moabiter aller Generationen an die Oberfläche zu holen. Die nachbarschaftlichen Gespräche drehten sich für
ein paar Wochen um das Schiff an diesem besonderen Ort. Man redete über früher, diskutierte die Lage jetzt und spekulierte, was wohl
kommen mag.
Das Schiff lebt noch in den Köpfen weiter. Doch die Legende ist zu Ende: Der Landeplatz, die Paechbrot-Brache, ist einer riesigen Baustelle gewichen, auf der in Windeseile Betonwände in die Höhe wachsen und bis zu fünf Baukräne dafür sorgen, dass bald ein neuer
Konsumtempel fertig wird. Oder wollen wir doch lieber das Schiff zurück?
Ergänzt wurde die Plakataktion im öffentlichen Raum von einer Installation in der Projektzentrale mit Gegenständen aus der Seefahrt und
einer Diashow von einem echten Seemann, dem Vater des Künstlers Uwe Jonas.
40
Wir wollen das Schiff zurück!
| Schumacher & Jonas
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 41
Wir wollen das Schiff zurück! | Plakataktion in Moabit
KATALOG_18.1.
Wir wollen das Schiff zurück!
| Schumacher & Jonas
41
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 42
Wir wollen das Schiff zurück! | Plakataktion in Moabit
KATALOG_18.1.
42
Wir wollen das Schiff zurück!
| Schumacher & Jonas
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 43
Wir wollen das Schiff zurück! | Schumacher & Jonas
Wir wollen das Schiff zurück! | Installation und Diashow in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
With their legend about a steamer ship that was once stranded
on the waste ground of the Paechbrot factory, Birgit Anna
Schumacher and Uwe Jonas created a modern ‘urban myth’.
Shortly after their poster of a River Spree boat aground on the
‘Märkischer Sand’ (sands of Mark Brandenburg) with the demand,
‘We want our ship back!’ was distributed throughout the district,
the story was the number one theme in Moabit, and people
began to ask, ‘When was that ship stranded, then? How did it
get there? Why isn’t it there now? We should have kept it and
made it into a venue! And anyway, I’ve lived across from the
Paechbrot site for 25 years – why don’t I remember it?
The artist team’s legend provided the perfect projection
screen for drawing out the sensitivities, deficits, wishes and
memories of Moabit inhabitants of all generations.
For a couple of weeks local conversations were about the
ship in this special place. People talked about what used to be
there, what it is like now and what could happen to it.
The ship still lives in the imagination but the legend has
come to an end: the Paechbrot land is now a huge building site
and in no time at all cement walls grow high and up to five cranes
ensure that a new temple of consumption will soon be ready.
Or would we rather have our ship back?
The poster action in public spaces was extended by an installation in the Project Centre, with seafaring objects and a
slide show of photographs taken by an actual seaman – Uwe
Jonas’ father.
Wir wollen das Schiff zurück!
| Schumacher & Jonas
43
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 44
La isla bonita | Irena Eden und Stijn Lernout | 31. Mai – 16. Juni 2007
So nah kann Istanbul sein. Irena Eden und Stijn Lernout haben ihr virtuelles Reiseprogramm „Berlin Next Door“ um zwei Stationen auf der „isla bonita“ Moabit erweitert, so dass
die Route nun an der Kurt-Kurt Projektzentrale startete und bei der Hagia Sofia in Istanbul
endete. In Wirklichkeit dauerte die Reise keine sieben Minuten und führte das Kunstpublikum vom Kurt-Kurt Ausstellungsraum durch die Lübecker Straße über die Birkenstraße
direkt zur Ayasofya Camii Moschee in der Stromstraße. Zur Eröffnung wurde den Reisegästen ein Taxi-Shuttle-Dienst mit deutschem Pkw, Schweizer Nummernschild und auf
dem Schwarzmarkt in Tiflis gekauften Taxischildern angeboten. Eine überschaubare Reise,
und doch entführte sie das Kunstreisepublikum in eine andere, teilweise fremde Welt.
Dass Künstler und Moscheen kooperieren, gehört nicht zum Moabiter Alltag. Umso
spannender war die Zusammenarbeit. Die Besucher wurden im Teepavillon, der von den beiden Künstlern auf dem Moscheegelände gebaut
worden war, empfangen. Im Gegenzug für das bedachte Teehaus öffnete die Moschee dem Kunstpublikum die Türen und gab Einblick in
das religiöse Leben, in Sitten und Bräuche der islamischen Gemeinde. Ob im behelfsmäßig zur Moschee umfunktionierten ehemaligen
Mietshaus oder beim Tee im Hof, der Dialog wurde beiderseits gesucht und auch gefunden.
Wer nach dieser kleinen, großen Reise durch die kulturelle Vielfalt in Moabit weiter unterwegs sein wollte, kehrte in die Projektzentrale
an der Lübecker Straße 13 zurück. Hier stand eine Infosäule mit Computer, an dem man verschiedene Reisestationen auf dem Weg von
Berlin über den Balkan bis zum Bosporus anklicken konnte. In Wirklichkeit lagen die vermeintlichen Reiseorte alle in Berlin. Hinter ihren
Namen, die auf den Balkan verweisen, steckten z.B. Restaurants, Hotels, Reisebüros oder Frisöre im Berliner Stadtgebiet. Sie fungierten
sozusagen als Platzhalter und man konnte in die Ferne reisen, ohne Berlin zu verlassen.
Zur Finissage boten Irena Eden und Stijn Lernout eine Wegzehrung vom Grill an, welche die Leute auf ihren innerstädtischen Reisen begleitete und kulinarisch in fremde Länder versetzte.
44
La isla bonita | Irena Eden und Stijn Lernout
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 45
La isla bonita | Irena Eden and Stijn Lernout
Istanbul can be so near. Irena Eden and Stijn Lernout have extended their virtual travel itinerary, ‘Berlin Next Door’, to include two stops on
the ‘isla bonita’ of Moabit so that the route starts at the Kurt-Kurt Project Centre and ends at the Hagia Sofia in Istanbul. In reality the journey
lasts less than seven minutes and takes the Kurt-Kurt’s exhibition audience along Lübecker Strasse and across Birkenstrasse, directly to the
Ayasofya Camii Mosque in Stromstrasse. At the exhibition opening the travelling guests were offered a shuttle taxi service in a German car
with Swiss number plates and a taxi sign bought on the black market in Tbilisi. A manageable journey, and yet one which took the art trip
audience into another, partly foreign world.
A co-operation between artist and mosque is not an everyday
event in Moabit, making this collaboration even more exciting.
The visitors were received in a tea pavilion built in the grounds
of the mosque by the artists. In return for the roofed teahouse,
the mosque opened its doors to the art audience to give them a
glimpse into the religious life, customs and rites of the Islamic
congregation. Whether in the provisory mosque within a former
apartment building or having tea in the courtyard, a two-sided
dialogue was sought and found.
Those who wanted to continue the short long journey
through the cultural complexity of Moabit, returned to the Project
Centre in Lübecker Strasse 13 where they found an information
column incorporating a computer on which they could click on
different stops on the journey from Berlin over the Balkans to the
Bosporus. Actually the travel stops were all in Berlin. Hidden
behind the place names, which referred to the Balkans, were,
for example, restaurants, hotels, travel bureaus or hairdressers
from the Berlin region. They functioned, as it were, as placeholders
and one could travel abroad without leaving Berlin.
At the final event Irena Eden and Stijn Lernout offered grilled
provisions for the travellers to take with them on their inner city
journey, culinarily transposing them into foreign lands…
La isla bonita | Irena Eden und Stijn Lernout
45
La isla bonita | Installation vor der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
Berlin Next Door | Screenshot aus der interaktiven DVD
La isla bonita | Infosäule in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
46
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 46
La isla bonita | Irena Eden und Stijn Lernout
La isla bonita | Eröffnung mit Taxishuttle und Begegnungen in der Ayasofya Camii Moschee in Moabit
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 47
La isla bonita | Irena Eden und Stijn Lernout
47
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 48
Einladungskarte
Oasenschatten | Heather Allen und Jan Philip Scheibe | 28. Juni – 14. Juli 2007
Waldparkplatz Jan Philip Scheibe
Nüchtern, aber echt ist sie, die Lübecker Straße. Jan Philip Scheibe war gleichzeitig fasziniert und irritiert von der Atmosphäre dieser Straße, an der der subversiv kritische Schriftsteller Kurt Tucholsky geboren wurde. Irgendetwas stimmte hier nicht. Des Rätsels Lösung:
An der Lübecker Straße steht kein einziger Baum. Eigentlich keine Außerordentlichkeit für
eine Großstadt, wohl aber für Berlin. Wenn man den Blick mit diesem Fokus auf die Lübecker
Straße richtet, merkt man, dass im Sommer hier nicht nur die Schatten fehlen oder das
„Singen“ des Windes in den Blättern, sondern auch die Wurzeln, die sich tief in den Moabiter
Sandboden graben. Jan Philip Scheibe spendete diesem Ort für die Zeit seines Projektes
einen kleinen Wald. Ein Stück Natur in der rein urbanen Funktionalität. Auf einem Anhänger kamen sieben Birken zu Besuch und zeigten,
wie viel Farbe, Geräusche und Duft sie in dieser schmucklosen Straße verbreiten können. Die Botschaft des kleinen Birkenwaldes im grauen
Stadtalltag ging aber darüber hinaus: Er bewegte die Menschen durch die Ruhe, die er ausstrahlte, durch das Gefühl, in die Erde und in den
Himmel wachsen zu können und am meisten durch seine unverhoffte, begrenzte Anwesenheit.
Balcony Heather Allen
Ganz unerwartet trafen die Besucher im hinteren Ausstellungsraum von Kurt-Kurt, einem typischen Berliner Zimmer mit Blick auf den Hinterhof, auf einen Balkon. Plötzlich war nicht mehr klar, ob wir drinnen oder draußen sind. Heather Allen untersuchte mit ihrer Installation den
Balkon als eine Architektur, die sich außerhalb der privaten Wohnung befindet, aber dennoch Teil davon ist und sozusagen in den öffentlichen Raum hineingehängt ist. Dieses Spiel mit der Grenze zwischen Wohnung und Außenraum, zwischen Privat und Öffentlich, unterstrich
die Künstlerin mit einer Soundinstallation, die die Zuschauer zu Zuhörern familiärer Intimitäten machte. Irritiert vom Indoor Balkon mit blühender Pflanzenpracht wurde man ungewollt zum Zeugen einer privaten Diskussion. Nach dem Verlassen der Installation, wieder zurück auf
der sommerlichen Straße, nahm der sensibilisierte Besucher die Vielfalt der Balkone in Moabit war: Stadtoasen, Plattformen zur Selbstdarstellung, Abstellkammern, Tierkäfige, Dschungelzimmer ...
Im vorderen Schauraum zeigte eine Fotoserie von Jan Philip Scheibe Stadtfluchten in den Grunewald, dort wo die Bäume zu Hause sind
und die Großstädter nur am Wochenende die vermeintliche Natur einsaugen. Heather Allen hingegen zeigte in ihrer Fotoarbeit einen abstrahierten Blick von unten an die Kante der Stadtbalkone, wo sich Architektur, Natur und blauer Himmel treffen.
48
Oasenschatten | Heather Allen und Jan Philip Scheibe
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 49
Oasenschatten | Heather Allen and Jan Philip Scheibe
Waldparkplatz Jan Philip Scheibe
Austere but real, such is Lübecker Strasse. Jan Philip Scheibe was both fascinated and confused by the atmosphere of this street in which
the subversive, critical author, Kurt Tucholsky, was born. Something was not right here. The answer to the puzzle: there is not one single
tree on Lübecker Strasse. Nothing out of the ordinary for a large city, but certainly for Berlin. Looking at Lübecker Strasse from this angle,
one realises that not only shadows or the ‘singing’ of the wind in the leaves are missing, but also the roots that spread deep into Moabit’s
sandy soil.
Jan Philip Scheibe donated a small wood to the street for this project. A piece of nature in the purely urban functionality. Seven birch
trees in a trailer came to visit, and showed how colour, sounds and smells could spread through this bleak street. The message of this small
birch wood in the grey daily life of the city went further than this: the peacefulness that it emanated through the feeling of growing in both
heaven and earth, and even more its unexpected, limited presence touched people.
Balcony Heather Allen
Visitors to the rear exhibition space in Kurt-Kurt, a typical Berlin room with a view over the inner courtyard, were unexpectedly met by a balcony.
Suddenly it was no longer clear whether we were inside or outside. Heather Allen’s installation explored the balcony as an architecture that is a
part of but found outside the private sphere, that is, as it were, hung in a public space. This play with the borders between the home and
the outside, between the private and the public was underscored by a sound installation sited within the balcony that turned visitors into
listeners-in on family intimacies. Confused by an indoor balcony of flowery splendour, they inadvertently became witnesses to a private
discussion. Leaving the installation and going back onto the street, the sensitised visitor became aware of the variety of balconies in Moabit:
city oases, platforms for self-presentation, storage places, animal cages, jungle rooms…
In the front exhibition space Jan Philip Scheibe showed a series of photographs of city escapees in the Grunewald where the trees are at
home and city dwellers soak up what they perceive as nature, but only at weekends. Heather Allen, by contrast, showed in her photographs
an abstracted view from under the edge of the city’s balconies where architecture, nature and blue sky meet.
Oasenschatten | Heather Allen und Jan Philip Scheibe
49
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 50
Balcony | Installation in der Projektzentrale von Heather Allen
KATALOG_18.1.
Oasenschatten
Heather Allen und Jan Philip Scheibe
18.01.2010
16:23 Uhr
xxxxxxxxxx Xxxxxxxxxx X xxxxx
Waldparkplatz | Intervention von Jan Philip Scheibe
KATALOG_18.1.
Seite 51
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 52
Oasis 1–4 | Fotoserie von Heather Allen
KATALOG_18.1.
52
Oasenschatten | Heather Allen und Jan Philip Scheibe
Lichtung | Installation von Jan Philip Scheibe in der Projektzentrale
Stadtwald | Fotoserie von Jan Philip Scheibe
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 53
Oasenschatten | Heather Allen und Jan Phillip Scheibe
53
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 54
Kusshaltestelle | Diana Dodson und Reto Leibundgut
27. September – 13. Oktober 2007
Die Künstlerin Diana Dodson und der Künstler Reto Leibundgut haben die „Liebe“ zum verborgenen Schatz der Insel Moabit erklärt. Damit sie nun nicht mehr nur im Versteckten
gelebt werden muss, haben sie über Moabit verstreut sieben öffentliche Kusshaltestellen
aufgestellt.
Verspielte Orte, die zum Küssen einladen, leuchteten in Orange bis Pink im sonst eher
farblosen Stadtbild Moabits. Filigrane Kussarchitekturen, vornehmlich aus Holz gearbeitet,
erinnerten an Bauten eines Lustgartens – ein durchlässiger Paravent, ein kleiner Tempel
oder eine mehrstufige Bank – alle waren mit dem Schriftzug „Kusshaltestelle“ gekennzeichnet und mit passenden eingeschnitzten Zitaten von Kurt Tucholsky zum Thema Liebe versehen.
Ob in einem Brückenwinkel an der Spree, in einem kleinen Sträucherbeet neben einem Wohnblock oder neben dem Altkleider-Container
vor der Schule, man konnte die farbigen Kussstationen trotz unspektakulärer Standortwahl nicht übersehen.
Als das Grünflächenamt nach kaum 24 Stunden die Kusshaltestelle im kleinen Tiergarten entfernen wollte, waren sofort ein paar Mitbürger zur Stelle, die hier ihr temporäres Wohnzimmer haben und sich für das Kunstwerk und dessen Verbleiben im Park verantwortlich fühlten.
Ob sie die durchlässige Kusswand auch aktiv benutzten und dem Küssen im Park freien Lauf ließen, verrieten sie uns nicht.
Das Kusshaltestellen-Logo zierte auch die Fensterfront der Kurt-Kurt Projektzentrale und stellte so die visuelle Verbindung zwischen den
Kusssatelliten im öffentlichen Raum und der Informationszentrale her. Hier fand das Publikum Stadtpläne, die den Weg für eine Kusstour
durch Moabit zu allen Kusshaltestellen und ihren Standorten wiesen. Zusätzlich wurde ein Abriss zum filmischen Kuss und seinen verschiedenen Bedeutungsebenen als Videoprojektion präsentiert. Die kurze Einführung in die Geschichte des Kusses führte vom Liebeskuss über
den Abschiedskuss bis zum politischen Kuss.
54
Kusshaltestelle | Diana Dodson und Reto Leibundgut
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 55
Kusshaltestelle | Installation mit Video in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
Kusshaltestelle | Diana Dodson und Reto Leibundgut
55
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 56
Kusshaltestelle an der Perleberger Straße
Kusshaltestelle | Diana Dodson and Reto Leibundgut
The artists, Diana Dodson and Reto Leibundgut, declared ‘love’ to be a buried treasure in Moabit. To bring it out into the open they installed
seven public kissing stops around Moabit. Playful locations, vibrant in orange and pink, invited kissing in the usually colourless Moabit cityscape. The filigree architecture of the kiss stops, mainly out of wood, was reminiscent of the buildings in a pleasure garden – a fretwork
screen, a small temple or a multi-level bench. All were inscribed with the word ‘Kusshaltestelle’ and furnished with relevant quotes on love
from Kurt Tucholsky.
Whether in the corner of a bridge over the Spree, in small bushes and trees next to an apartment block or beside a collection container
for old clothes, the colourful kiss stops stood out in these otherwise unspectacular sites. When the Parks Department wanted to remove the
stop in Kleine Tiergarten within 24 hours of its installation, a couple of fellow citizens for whom it was their temporary living room and who
felt responsible for its retention in the park, were immediately there to save it. They did not reveal whether they also actively used the fretwork
kissing wall to freely kiss in the park.
The kiss stop logo also adorned the Kurt-Kurt Project Centre
window, establishing a visual connection between the kissing
stops in public sites with the information centre in the gallery.
Here, the public could find maps showing the route for a kissing
tour through Moabit with all kissing stops and their sites marked.
In addition, a summary of the filmic kiss with its different levels
of meaning was presented as a video. The short introduction to
the history of kissing led from the loving kiss to the goodbye kiss
to the political kiss.
56
Kusshaltestelle | Diana Dodson und Reto Leibundgut
Kusshaltestellen im kleinen Tiergarten (o.l.), an der Birkenstraße (u.l.) und am Bundesratsufer (rechts)
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 57
Kusshaltestelle | Diana Dodson und Reto Leibundgut
57
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 58
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder | 15. – 31. Mai 2008
Schon von Weitem hörte man in der Lübecker Straße den Gemüsehändler schreien. Kam
man näher, gab es tatsächlich vor der Kurt-Kurt Projektzentrale eine kleine Obst- und Gemüseauslage. Doch beim zweiten Hinhören merkte das Publikum, dass der Händler mit türkischem Akzent gar keine Ware, sondern die einzelnen Straßen Moabits anbot: heute ganz,
ganz frische Turmstraße, feine, feine Kirchstraße, Alt Moabit im Angebot! etc.
Inspiriert waren die beiden Künstler Siri Austeen und Stefan Schröder durch die schriftlichen Zeugnisse und den Text „Unser kleiner Mozart“ von Wolfgang Borchert, der gegen
Ende des Zweiten Weltkrieges im Moabiter Zellengefängnis neben dem Lehrter Bahnhof eingesperrt war. Von der Außenwelt abgeschlossen, hörte er durch ein kleines Fenster 800 Mal
am Tag die Ansage der Stationssprecherin: „Lehrter Bahnhof“.
Im hinteren Raum der Projektzentrale verwies eine installativ angedeutete Gefängniszelle auf Borchert, aber ebenso auf die für Moabit
immer noch aktuellen Gefängnisbauten wie die JVA, das Frauengefängnis oder die Abschiebehaft.
In einem absoluten Kontrast zu der beklemmenden Gefängnisarchitektur im hinteren Raum stand die Installation im vorderen Raum, die
die Wasserläufe um die Insel Moabit in verkleinertem Maßstab modellhaft abbildete. Ausgehend vom Moabiter Westhafen führen die
Wasserwege in die Weltmeere und bedeuten so das Tor zur Welt. Auf dem Model-Wasserkanal fuhr ein kleines Schiff mit Lautsprecher, aus
dem der Schifffahrts-Chor Berlin mit dem skandinavischen Lied „Vem kann segla förutan vind / Wer kann segeln ohne Wind“ ertönte. Die
Künstlerin Siri Austeen hatte es mit dem Chor einstudiert, der zur Eröffnung live auftrat.
An der Wand der Kurt-Kurt Projektzentrale hingen die originalen Displays der Schifferkirche im Westhafen. Im Austausch hierfür erhielt
die Kirche farbige Schautafeln, angefertigt von den Künstlern. An den Fenstern der Kirche erklang ebenfalls der Schifffahrts-Chor mit seinen
Liedern, die in die Weite hallten.
Auf einem Videomonitor in der Projektzentrale erzählte der Pfarrer der Schiffergemeinde aus seinem Berufsalltag. Er kennt keine festen
Arbeitszeiten, sondern fährt mit seinem zu einer Kirche umfunktionierten Schiff dorthin, wo er gebraucht wird. Getauft, geheiratet und beerdigt
wird bei ihm, wenn die Binnenschiffer gerade mal Zeit haben und keine Fracht im Hafen wartet, bevor es wieder hinaus geht in die große,
weite Welt.
58
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
Display Exchange Moabits2 | Installation mit Modell der Wasserstraßen um Moabit und ferngesteuertem Boot
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 59
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
59
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 60
Display Exchange Moabits2 | Installation einer Gefängniszelle in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
60
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 61
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen and Stefan Schröder
One could hear the cries of the vegetable seller from afar. Coming closer, one could see that there was actually a small fruit and vegetable
stand in front of the Kurt-Kurt Project Centre. Listening closer, the public realised that the Turkish-accented seller was not offering his wares
but individual streets in Moabit: today, very, very fresh Turmstrasse, fine, fine Kirchstrasse, Alt-Moabit on offer! etc. The artists, Siri Austeen
and Stefan Schröder, were inspired by the written evidence and text, ‘Our little Mozart’, of Wolfgang Borchert who was imprisoned in the
Moabit prison cells next to the Lehrter Bahnhof (train station) at the end of the World War II. Shut off from the world outside, he heard the
female station announcer’s ‘Lehrter Bahnhof’ 800 times a day through his small window.
In the rear room of the Project Centre a prison cell-like installation referred not only to Borchert, but also to the prison buildings such as
the penal institution, the women’s prison or the deportation centre that current Moabiters live with.
In complete contrast to the oppressive prison architecture in the rear room, the front room contained an installation of the waterways
surrounding Moabit in the form of a small-scale model. Originating at Moabit’s Westhafen, the waterways lead to the world’s oceans and
could thus be seen as the door to the world. A small ship with
a loudspeaker sailed on the model waterway, playing a
Scandinavian song, ‘Who can sail without wind’, from the Berlin
Shipping Choir. Siri Austeen had rehearsed with this choir, who
also gave a live performance at the opening.
Original displays from the Mariner’s Church at Westhafen
harbour hung on the walls of the Project Centre. In exchange the
church received coloured displays produced by the artists, and
the songs of the Shipping Choir resounded from the church’s
windows, echoing in its expanse of space.
In the Project Centre a video monitor showed a priest from the
shipping community talking about his daily rounds. He has no
fixed hours of work but sails with his ship, which has been converted into a church, to where he is needed. He carries out
christenings, marriages and burials when the waterway workers
have the time and there is no freight waiting in the harbour to
start its journey into the big, wide world.
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
61
Display Exchange Moabits2 | Installation in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
Display Exchange Moabits2 | Auftritt des Schifffahrtschores zur Eröffnung
Display Exchange Moabits2 | Display-Austausch zwischen Kurt-Kurt und der Schifferkirche im Westhafen
KATALOG_18.1.
62
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 62
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 63
Display Exchange Moabits2 | Installation mit Sound und Gemüsestand vor der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
Display Exchange Moabits2 | Siri Austeen und Stefan Schröder
63
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 64
Einladungskarte
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
11. – 27. September 2008
VIDEO PORTRAITS María Linares
María Linares hat in Moabit verborgene Spuren gesucht. Sie hat mit ihrem prozesshaften
künstlerischen Dialog nach den Beziehungen zwischen den in Moabit lebenden Menschen
geforscht und sandte ein Befragungsteam aus, das Vorurteile und Klischees der Moabiterinnen und Moabiter gegenüber anderen Nationalitäten und Ethnien sammelte.
Aus den gefundenen Statements formulierte die Künstlerin in Zusammenarbeit mit dem
Befragungsteam und einer Drehbuchautorin kurze szenische Texte. Mit 18 in Moabit lebenden Laiendarstellerinnen und -darstellern, die durch ihren Migrationshintergrund die entsprechende Nationalität für eines der Vorurteile mitbrachten, inszenierte sie die Rollen in den jeweiligen Muttersprachen vor der Kamera.
Präsentiert wurden die gespielten Monologe über drei Videokanäle in der Kurt-Kurt Projektzentrale. Das Publikum wurde akustisch und
visuell mit drei verschiedenen Nationalitäten und Vorurteilen gleichzeitig konfrontiert. Die muttersprachlichen Aussagen der Darsteller wurden mit deutschen Untertiteln übersetzt.
Zunächst leicht überfordert und provoziert von den irritierend krassen Aussagen der Darsteller über ihre eigene Nationalität, tauchten die
Zuschauer rasch in die spielerisch, laienhaft überzeichneten Vorurteile ein und landeten ganz unmerklich bei sich und beim Überdenken der
eigenen Vor-Urteile gegenüber den „Anderen“.
María Linares Projekt VIDEO PORTRAITS wurde sowohl für die am Projekt Beteiligten wie auch für das Publikum zu einer Gratwanderung
zwischen Identifikation und Distanzierung, zwischen vorschnellem Urteil und Reflexion, zwischen Unverständnis / Verständnislosigkeit und
toleranteren / respektvolleren Sichtweisen auf andere Mitmenschen.
64
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 65
VIDEO PORTRAITS | 3-Kanal Videoinstallation von María Linares
KATALOG_18.1.
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
65
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 66
VIDEO PORTRAITS | Befragung (oben) und Dreharbeiten zum Projekt von María Linares
KATALOG_18.1.
VIDEO PORTRAITS María Linares
María Linares looked for hidden traces in Moabit. Using a processbased artistic dialogue, she examined the relationships between
Moabit inhabitants and sent out a team of investigators to collect
the prejudices and clichés of the Moabiters about other nationalities and ethnic groups.
The artist then constructed, in collaboration with her investigation team and a scriptwriter, short text scenes from the collected statements. 18 lay actors and actresses from Moabit,
whose nationality was prejudicially referred to, played out their
roles in the relevant mother tongue in front of the camera.
The monologues were presented on three video channels in
the Kurt-Kurt Project Centre. The audience was consecutively
confronted with three different nationalities and prejudices.
German sub-titles translated the words of the actors.
Initially slightly overwhelmed and provoked by the confusing
and crass statements of the actors about their own nationality, the
viewer quickly plunged into the playful, amateurish, exaggerated
prejudices and landed imperceptibly into a consideration of his
or her own prejudices and judgements in respect of ‘others’.
María Linares’ project, VIDEO PORTRAITS, was a balancing
act for the participants as well as the public between identification and distance, between rash judgements and reflection,
between misunderstanding / lack of understanding and tolerant /
respectful attitudes towards fellow human beings.
66
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 67
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
+ 28,33 m3 Christian Hasucha
+28,33m3 | Blick in die Intervention von Christian Hasucha
Christian Hasucha, bekannt durch seinen vielschichtigen Umgang mit öffentlichem Raum
und Öffentlichkeit, hatte auch für Kurt-Kurt und Moabit eine simple und absolut bestechende
künstlerische Formulierung entwickelt. Diesmal wollte er mit seiner Arbeit nicht in den öffentlichen Raum vordringen und diesen damit neu apostrophieren, interpretieren oder umdefinieren. Mit seinem Projekt ließ er öffentlichen Raum in den „privaten“ Raum der Projektzentrale von Kurt-Kurt eindringen. Der Laden mit Fensterfront verschwand für einige Wochen
und wurde öffentlicher Raum, das heißt: 28,33 m3 zusätzliches Volumen, das Hasucha der
Öffentlichkeit 24 Stunden am Tag zur individuellen Nutzung bereitstellte.
Die Fortsetzung des gepflasterten Bürgersteigs war über eine vierstufige Treppe erschlossen, die in die tunnelähnliche, gepflasterte
Einstülpung führte. Alle Eingriffe und Umbauten des Künstlers
waren so natürlich und verwandt mit ihren Vorbildern im öffentlichen Raum, dass weder ortsunkundige Besucher noch Ordnungshüter und Anwohner die Veränderung als künstlerischen Eingriff
wahrnahmen.
Und doch gab es immer wieder neugierige Passanten, die
sich in den temporären Außenraumfortsatz verirrten. Aktive, die
sich an den noch jungfräulichen Trockenputzwänden zu schaffen machten, aber auch Randfiguren unserer Gesellschaft, die
hier Schutz suchten.
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
67
+28,33m3 | Blick aus der Intervention von Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 68
+ 28,33 m3 Christian Hasucha
Christian Hasucha, known for his complex interactions with
public spaces and the public in general, developed a simple
and absolutely fascinating artistic formulation for Kurt-Kurt
and Moabit. This time his aim was not to penetrate public space
and apostrophise, interpret or redefine it anew, rather he wanted
to let public space penetrate the ‘private’ space of the KurtKurt Project Centre. The shop and its window disappeared for
several weeks and became an open public space. In other
words, Christian Hasucha made an extra 28.33 m3 of public
space available 24 hours a day for individual use.
The continuation of the cobbled pavement was accessible
up four steps leading into a tunnel-like, cobbled inversion. All
the artist’s activities and constructions looked so natural and in
agreement with their public counterparts that visitors, vigilantes
and neighbours did not realise that it was an artistic intervention.
And yet there were always curious passers-by who were
confused by this temporary extension of outside space. Some
were active, wanting to create something on the virgin plasterboard walls, whilst others, figures on the edges of our society,
sought refuge within.
68
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 69
+28,33m3 | Intervention von Christian Hasucha
KATALOG_18.1.
VIDEO PORTRAITS María Linares | +28,33 m3 Christian Hasucha
69
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 70
Der Paechbrotbaum | Haus am Gern / Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
19. Oktober – 8. November 2008
Einen Winter lang trug das Baumskelett auf der Brache der ehemaligen Paech-Brotfabrik farbige
Schuhe. Nun wird dort das größte Edeka-Center Deutschlands gebaut, und zwischen Baukränen, Betonmischern und sich grau in grau auftürmenden Betonwänden ist kein Platz mehr für Kunst, Natur oder
farbige Schuhe.
Haus am Gern setzte mit seiner Aktion in verschiedener Hinsicht ein Zeichen. Im Herbst, wenn die
Bäume ihre Blätter verlieren, zog der tote Baum an der Ecke Birken-/Stephanstraße auf der damals
noch unbebauten Brache (ein paar Meter neben dem Bauplakat für den größten Edeka-Supermarkt)
seine Schuhe an. Das Künstlerteam formulierte an dieser für Moabit neuralgischen Stelle ein bildhaft
subversives Statement, das die langjährige und komplexe Geschichte der ehemaligen Brotfabrik über
Besetzer und Investoren hin zu Anwohner-Initiativen und Politikern nochmals in Erinnerung rief. Die
Besucher der Eröffnung schleppten eigenhändig Dutzende Paar Schuhe aus der Kurt-Kurt Projektzentrale zum Baum und schleuderten sie mit Verve und Vergnügen in denselbigen. Dieser in den Alltag
eingebettete, aber deutlich sichtbare Kommentar im Stadtbild Moabits spiegelte die Befindlichkeit vieler
Kurt-Kurt Besucher und Anwohner wider, die sich lustvoll an der Aktion beteiligten.
Leider ganz im Gegensatz zu zwei Dienst habenden Polizisten, welche die Aktion, als sie in vollem Gange war, mit Verweis auf die öffentliche Sicherheit kurzerhand unterbanden. Die tausend Paar Schuhe, die in der Kurt-Kurt Projektzentrale auf ihren Wurf warteten, fanden zwar
nicht alle ihren Weg auf den Baum, doch immer wieder verirrte sich über den Winter 2008/2009 ein neues Paar Schuhe in die kahlen Äste.
Als es Frühjahr wurde, hingen plötzlich in ganz Berlin gelbe Gummistiefel über Verkehrsampeln. Hat die Idee vom Moabiter „shoetree“ so
schnell Früchte getragen? Oder handelte es sich hier um einen Werbegag?
Als Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta das nächste Mal nach Berlin kamen und an einem frühlingshaften Samstagmorgen den
Paechbrotbaum besuchen wollten, fanden sie anstelle des Baumes einen Bauarbeiter mit Kettensäge vor, der gerade dessen Überreste lautstark eliminierte. Ein zweiter Arbeiter war damit beschäftigt, feinsäuberlich die Schuhe vom gefällten Baum zu trennen. Die Künstler kamen
genau richtig, um den Schlusspunkt ihres künstlerischen Kommentars zu dokumentieren.
70
Der Paechbrotbaum | Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 71
Der Paechbrotbaum | Intervention an der Ecke Birken- und Stephanstraße
KATALOG_18.1.
Der Paechbrotbaum | Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
71
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 72
Der Paechbrotbaum | Außenansicht Projektzentrale
KATALOG_18.1.
72
Der Paechbrotbaum | Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 73
Der Paechbrotbaum | Haus am Gern / Rudolf Steiner and Barbara Meyer Cesta
Colourful shoes hung in the skeleton of a tree on the wasteland of the former Paechbrot factory for a whole winter. Now the biggest Edeka
centre in Germany is being built there, and between cranes, cement mixers and grey on grey towering concrete walls there is no longer a
place for art, nature or colourful shoes.
Haus am Gern’s action deployed a symbol in different ways. In the autumn, when the trees lose their leaves, the dead tree at the corner
of Birken- and Stephanstrasse on an as yet undeveloped patch of waste ground (a couple of metres away from the information billboard for
the biggest Edeka supermarket) put on its shoes. The artists had constructed a pictorially subversive statement at this neuralgic spot that
recalled to mind the long and complex history of the former bread factory, from squatters and investors to neighbourhood initiatives and
politicians. Visitors to the opening carried dozens of pairs of shoes from the Kurt-Kurt Project Centre to the tree and slung them into it with
energy and enthusiasm. This commentary, embedded in the everyday but clearly visible, reflected the feelings of the many Kurt-Kurt visitors
and neighbours who had taken part in the action.
Unfortunately their feelings were not shared by two on-duty
policemen who, without further ado, banned the action while it
was in full flow on the grounds of safety. Not all of the thousand
pairs of shoes that were in the Kurt-Kurt Project Centre waiting
to be thrown found their way into the tree. Nevertheless, now
and again another pair somehow appeared in the bare branches
over the winter of 2008/2009. As spring came, yellow gumboots suddenly hung on traffic lights all over Berlin. Had the
idea of the Moabit ‘shoe tree’ borne fruit so quickly? Or was it a
publicity stunt?
The next time Rudolf Steiner and Barbara Meyer Cesta came
to Berlin one Saturday morning in spring to visit the Paechbrot
tree, they found instead a building worker loudly demolishing its
remains with a chainsaw. A second worker was busy carefully
separating the shoes from the fallen tree. The artists had arrived
at exactly the right moment to document the finale of their artistic
comment.
Der Paechbrotbaum | Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta
73
Der Paechbrotbaum | Situation in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 74
Einladungskarte
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli | 28. Mai – 13. Juni 2009
Ariane Epars
Die Erde Moabits. Auf der Suche nach Antworten, wie Moabit zu dem geworden war, was
es heute ist, stieß Ariane Epars immer wieder auf das Fremde. König Friedrich Wilhelm I.
hatte die bis dahin unberührten sandig-sumpfigen Wiesen an der Spree vertriebenen Hugenotten überlassen. Im Gegenzug erwartete er von ihnen, dass sie das Land, das ab dieser
Zeit Moabit genannt wurde, urbar machten und kultivierten. Heute ist die Insel Moabit mit
dem Westhafen und seinen ethnisch stark durchmischten Bewohnern ein Stadtteil, wo sich
das Fremde und das Hiesige treffen.
Ariane Epars untersuchte die Prozesse des Ankommens, des Sich-Niederlassens und
des Sich-Verwurzelns früher wie heute. Sie suchte nach Handlungen, Orten, Gerüchen,
Speisen, die das sich Verorten der in Moabit angekommenen und lebenden Menschen begleiten. Gleichzeitig beobachtete sie aber auch die
Gewohnheiten der hier schon lange ansässigen Menschen.
Sie entdeckte im Bepflanzen eines kleinen Stückchens Erde, sei es im Schrebergarten, Hinterhof oder auf dem Balkon ein identifikationsstiftendes Moment, das im wörtlichen wie im bildlichen Sinne den Prozess des Sich-Verwurzelns an einem neuen Ort begleitet.
Die Bodenarbeit, die den ungepflegten, grauen Hinterhof an der Lübecker Straße 13 mit 756 knallig orange farbigen Apollo Tagetes in
ein Lichtfeld verwandelte, übersetzte die intellektuelle Forschungsarbeit Ariane Epars in ein begehbares Bild. Einen Sommer lang breitete
sich in diesem Hof zwischen baumloser Lübecker Straße und Hochhaus auf dem benachbarten Gelände des ehemaligen Krankenhauses ein
strahlender Blumenteppich aus. Das Kurt-Kurt Publikum und die Hausbewohner reagierten mit Freude, Respekt und Pflege auf ihren neuen
Garten.
Ohne Worte, dafür mit orange leuchtenden Blumenlinien, schrieb Ariane Epars mit ihrer ganz eigenen künstlerischen Handschrift eine
aktuelle Geschichte vom Ankommen, Fremdsein, Fuß fassen, Wurzeln schlagen, sich Einrichten und sich Ausrichten auf dem Moabiter Boden.
„dazwischen ist oft niemandsland“. Mit diesem schlichten Satz auf der Fensterfront von Kurt-Kurt begrüßte und verabschiedete die
Künstlerin die Besucher und regte dazu an, unsere territorialen Befindlichkeiten zu überdenken.
Inzwischen hat die Hausverwaltung die Pflege der Blumen auf den früher verwaisten Hinterhofflächen übernommen.
74
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 75
Ariane Epars
The ground of Moabit. Looking for the answer to how Moabit became what it is, Ariane Epars repeatedly encountered foreignness. King Friedrich
Wilhelm I had given the untouched sandy-swampy meadows by the Spree to refugee Huguenots. In return he expected them to reclaim and
cultivate the land, which has been called Moabit ever since. Today the island of
Moabit, including the Westhafen harbour, with its highly ethnically mixed population
is a district where the foreign and the local meet.
Ariane Epars explored the processes of arrival, settlement and the laying down
of roots, both earlier and today. She sought out actions, places, smells, and foods
that accompany the relocation of those coming to and living in Moabit. At the same
time she observed the habits of long-established inhabitants.
She discovered in the planting of small areas of earth, whether they be in allotments, backyards or balconies, a moment of identification that literally and pictorially
accompanied the process of taking root.
The planting of 756 bright orange Apollo marigolds transformed the unkempt,
grey courtyard of Lübecker Strasse 13 into a field of light, and translated Ariane
Epars’s intellectual research into a walk-in image. For the whole summer a sparkling carpet of flowers spread out in this yard between the treeless Lübecker Strasse
and the high-rise building on the neighbouring former hospital grounds. The KurtKurt audience and the house inhabitants reacted with pleasure, respect and care to
their new garden.
Ariane Epars described with her own special artistic signature, not with words
but with luminous orange rows of flowers, the current history of arrival, being
foreign, settling down, laying down roots, settling in and adapting in Moabit.
‘dazwischen ist oft niemandsland’ (in-between is often no-man’s-land). With this
simple sentence on the front window of Kurt-Kurt, the artist greeted and said goodbye to visitors, and motivated us to consider our territorial sensitivities.
In the meantime the house managers have taken over the care of the flowers
in this previously desolate backyard.
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
75
Terre de Moab | Intervention im Hinterhof der Lübecker Straße 13 von Ariane Epars
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 76
Terre de Moab | Intervention mit 756 Apollo Tagetes von Ariane Epars
KATALOG_18.1.
76
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
dazwischen ist oft niemandsland | Textintervention am Schaufenster der Projektzentrale von Ariane Epars
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 77
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
77
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 78
Flüsterbogen | Eingang in die Installation von Salah Saouli
KATALOG_18.1.
Flüsterbogen Salah Saouli
Wer sich in den dunklen stoffbespannten Tunnel von Salah
Saouli mitten in der Kurt-Kurt Projektzentrale begab, verlor jegliche Orientierung. Die Zeit stand still. Der Raum war weg. Umhüllt von tiefem Schwarz sammelten sich langsam die Sinne
und leise Stimmen ertönten. Mit tastenden Händen und blind
vor Dunkelheit wurde der Besucher von den gesprochenen Worten angezogen, bis die Stimmen so nah waren, dass man in die
Geschichten eintauchen konnte.
Vier Personen aus verschiedenen Generationen, die immer
oder sehr lange in Moabit gelebt haben, führten uns durch ihren
Kiez. Viermal wurde ein ganz persönliches und individuelles
Stadtbild von dieser innerstädtischen Insel gezeichnet. Die Hörbilder erzählten über Freud und Leid, Krieg und Zerstörung, Umbruch und Aufbau, Sehenswürdigkeiten und Normalität, Wünsche
und Wirklichkeiten, soziale Differenzen und multikulturellen Alltag,
Leben und Arbeiten in diesem ganz gewöhnlichen und doch so
außerordentlichen Stadtteil Berlins.
Salah Saouli holte mit seiner Soundinstallation unerhörte Geschichten an die Oberfläche.
Ohne Licht und visuelle Wahrnehmung, nur dem eigenen
Tast- und Hörsinn vertrauend, musste sich der Besucher auf die
geflüsterten Erzählungen konzentrieren und sich ganz auf die
Bilder einlassen, die im eigenen Kopf entstanden.
78
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 79
Flüsterbogen | Installation mit Sound von Salah Saouli
KATALOG_18.1.
Flüsterbogen Salah Saouli
Whoever entered the dark, stretched cloth tunnel that Salah
Saouli installed in Kurt-Kurt Project Centre soon lost all sense of
orientation. Time stood still. The room disappeared. Shrouded in
deep black, the senses slowly came back and soft voices could
be heard. With searching hands and blind from the darkness,
the visitor was drawn to the whispered words until they were so
near that he could submerge himself in their stories.
Four people of different generations who had always or for a
long time lived in Moabit led us through their neighbourhood.
Four times a very personal and individual image of this inner-city
island was recounted. The sound images told of joy and sorrow,
war and destruction, radical change and construction, the special
and the normal, desires and reality, social difference and the
multicultural everyday, living and working in this very ordinary
and yet extraordinary district in Berlin.
Salah Saouli’s sound installation gave a voice to unheard stories.
Without light and visual perception and trusting only his own
sense of touch and sound, the visitor had to concentrate on the
whispered stories and immerse himself in the images that formed
in his own mind.
Terre de Moab Ariane Epars | Flüsterbogen Salah Saouli
79
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 80
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll | 18. September – 3. Oktober 2009
Für Dellbrügge & de Moll wurde die gesamte Insel Moabit zum Tatort. Beim Durchqueren des Stadtteils
stießen sie immer wieder auf die Justizvollzugsanstalt. Kein anderes Bauwerk, keine Institution, dominiert den Stadtteil stärker und funktioniert selbstverständlicher als pars pro toto. Mit dem Gefängnis
machten Dellbrügge & de Moll Moabits markanteste Einrichtung zum Dreh- und Angelpunkt eines
Modells, das in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt ist. Sie entwarfen das Szenario einer
Gefängnisinsel.
„2020 steigt die Kriminalitätsrate in der EU um 400 Prozent. Der Berliner Stadtteil Moabit wird zum
Hochsicherheitsgefängnis der gesamten Union. Eine 15 m hohe Sicherheitsmauer wird entlang des
Spreeufers, am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, Westhafenkanal und am Charlottenburger Verbindungskanal errichtet. Sie umschließt ganz Moabit. Brücken und Wasserwege sind vermint. Truppen von
Europol sind wie eine Armee um die Insel postiert. Auf der Gefängnisinsel gibt es keine Wärter, nur
Gefangene und die Welten, die sie schufen. Die Regeln sind einfach: Bist du mal drin, kommst du nicht
wieder raus.“
Eine Vision? Eine Dystopie? Eine künstlerische Strategie? Angelehnt an John Carpenters „Escape
from New York“ (1981) schufen Dellbrügge & de Moll in der Projektzentrale Kurt-Kurt mit wenigen, gezielten Eingriffen eine vielschichtige
Inszenierung einer möglichen Zukunft und Nutzung des öffentlichen Raums in Moabit. Die territoriale Abgeschlossenheit dieser Fiktion einer
Gefängnisinsel generiert anarchisch-chaotische Verhältnisse mit eigenen Regeln, Hierarchien, und Überlebensstrategien. Oder funktioniert
Moabit nach anderen Gesetzen und die Gefängnisinsel wird im Jahr 2020 zum utopischen Labor einer funktionierenden Gesellschaft, die
auf Selbstverantwortung, Respekt und Toleranz basiert?
80
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll
Einladungskarte
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 81
Gefängnisinsel Moabit | Video
KATALOG_18.1.
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll
81
Gefängnisinsel Moabit | Installation mit Video, Text und Fotografie in der Projektzentrale
KATALOG_18.1.
82
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 82
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 83
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll
For Dellbrügge & de Moll the whole of Moabit became a scenario for their action. Wherever they went in this part of Berlin they came across
a prison. No other building, no other institution dominates this district more or functions more naturally as pars pro toto. Dellbrügge & de
Moll made the prison, Moabit’s most striking institution, into the pivotal point and hub of a model located in the not too distant future. They
designed the scenario of a prison island.
‘In 2020 crime rises in the EU by 400 per cent. The Berlin district of Moabit will become the maximum-security prison of the EU. A 15 metre
high security wall will be built along the banks of the Spree, along the Berlin-Spandau shipping canal, the Westhafen canal and the
Charlottenburg junction canal. They enclose the whole of Moabit, bridges and waterways are mined. Europol troops are stationed around
the island like an army. There are no guards on the island, only prisoners and the worlds
they create. The rules are simple: once you’re in, you never get out.’
A vision? A dystopia? An artistic strategy? Referencing John Carpenter’s ‘Escape from
New York’ (1981), Dellbrügge & de Moll created a complex staging of a possible future
and function for the public spaces in Moabit with minimum, targeted interventions.
The territorial seclusion of this fiction about a prison island generates anarchic-chaotic
conditions with its own rules, hierarchies and survival strategies. Or does Moabit function
according to other principles and the prison island of 2020 will be the utopian laboratory
of a functioning society based on self-responsibility, respect and tolerance?
Gefängnisinsel Moabit | Dellbrügge & de Moll
83
Gefängnisinsel Moabit | Installation einer zusätzlichen Säule im Schaufenster
KATALOG_18.1.
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 84
Einladungskarte
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen | 22. Oktober – 7. November 2009
Freibad Bertine Bosch
Wie ein magischer Kreis zog im Schaufenster von Kurt-Kurt der riesige schwarze Schwimmring die Besucher an, in dessen Mitte „Freibad 2009“ stand. Wahrscheinlich wurde die
Neugierde bei den Meisten deshalb geweckt, weil die derzeitigen Temperaturen und das
Berliner Wetter so gar nicht zum Gedanken an Freibad passten. Wer dann die paar Treppenstufen hochging und das „Freibad“ betrat, wurde mit einer vielschichtigen Installation von
Bertine Bosch belohnt. Ihr Vorbild war das seit einigen Jahren geschlossene und bis vor
Kurzem als Zeltplatz genutzte Moabiter Freibad neben dem alten Poststadion. Die Künstlerin
war fasziniert von dem leeren, unbenutzten, umfunktionierten Badeort in unmittelbarer Nähe
zum Hauptbahnhof. Als sie dann erfuhr, dass dieser Ort einem Wellness-Tempel weichen soll, beschloss sie, eine Hommage an dieses Freibad,
und stellvertretend an alle geschlossenen Freibäder, die sie seit einem Jahrzehnt fotografisch dokumentiert, zu schaffen. Die Installation war
weder Kopie noch Dokumentation des Freibades an der Seydlitzstraße. Bertine Bosch schuf vielmehr eine Atmosphäre aus verschiedenen visuellen, zeichenhaften, installativen und olfaktorischen Elementen, die das Publikum einzig in ihrer Gesamtheit in diese einmalige Sommer-FreibadZufriedenheit-Stimmung versetzte. In weißen Badestühlen sitzend, sahen die Besucher anstatt des Badewassers zigmal das Wort Blau an der
Wand, anstatt eines großen Swimmingpools kleine Fußbecken mit aufziehbaren Plastikschwimmern und anstatt Blätterrauschen hörten sie das
Quietschen einer Obsttrocknungsmaschine, die warmen Baumwiesenchlorwasserduft versprühte. Die Illusion war perfekt – Wellness pur.
Farben von Moabit Bert Meinen
Die Videoinstallation von Bert Meinen präsentierte eine Art Moabiter Kaleidoskop. Der Künstler sammelte auf seinem Parcours durch Moabit
Impressionen und nicht Bilder, obwohl er sie mit der Fotokamera festhielt. Er markierte die realen Orte, an denen die Fotografien entstanden
sind, mit kleinen gegossenen Betonkreuzen und fotografierte sie mit den befestigten Kreuzen noch einmal. Auf einer großen, runden Leinwand konnten die Besucher schließlich die Überlagerungen der beiden Fotozyklen als unscharfe, aber sehr farbintensive Bildeindrücke auf
sich wirken lassen. Da beide Zyklen ungleiche Rhythmen hatten, sah man immer wieder ähnliche, aber nie gleiche Bildfolgen. Der Künstler
gab sich bewusst selbst ein paar Spielregeln, damit keine Abbilder entstanden. Mit seiner konzeptuellen Foto-Video-Arbeit hat er die uns
bekannten urbanen Phänomene überwunden und dem Publikum den Blick für neue Dimensionen und Farbimpressionen dieses Stadtteils
geöffnet. Anhand eines vorbereiteten Stadtplanes konnten Besucher die Tour von Bert Meinen verfolgen und versuchen, die kleinen Betonkreuze im Stadtraum zu entdecken. Wenn dies gelang, gewann der Blick auf den Ort wieder an Schärfe.
84
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 85
Freibad | Installation von Bertine Bosch
KATALOG_18.1.
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
85
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 86
Freibad | Installation von Bertine Bosch
KATALOG_18.1.
86
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 87
In geuren en kleuren | Bertine Bosch and Bert Meinen
Freibad Bertine Bosch
A huge black swimming ring with ‘Freibad 2009’ (Open-Air Swimming Pool 2009) written in the middle stood in Kurt-Kurt’s shop window
like a magic circle. Probably most people’s curiosity was aroused by the fact that the temperature and Berlin’s weather at that time in no
way gave rise to thoughts of swimming in the open air. Those who walked up the steps and entered the swimming pool were rewarded with
a complex installation from Bertine Bosch. Her inspiration was the Moabit open-air pool, closed for years and lately used as a campsite, next
to the old Post Stadium. The artist was fascinated by the empty, unused, non-functioning bathing site in close proximity to the main train
station. When she found out about plans to make this site a wellness centre, she decided to create a homage to this open-air pool and all
such closed pools that she has photographically documented over the last decade.
The installation was neither a copy nor a documentation of the Seydlitzstrasse pool. Bertine Bosch created far more an atmosphere out
of the different visual, symbolic, installative and olfactory elements that, in their entirety, drew the audience into that special summer-openair swimming pool-happiness mood. Sitting in white poolside chairs, visitors saw not pool water but a multitude of the word, ‘Blau’ (blue),
on the wall, instead of a large swimming pool, small basins with wind-up plastic swimmers, and instead of the rustling of leaves they heard
the squeaking of a fruit-drying machine that sprayed out the smell of warm trees, meadows and chlorinated water. The illusion was perfect
– pure wellness.
Farben von Moabit Bert Meinen
The video installation from Bert Meinen presented a kind of Moabit kaleidoscope. On his travels through Moabit, the artist collected impressions rather than images, although he gathered them with a camera. He photographed certain sites, then re-photographed them with a small
cast concrete cross mounted in them. Visitors could see both photographic cycles projected onto a large round screen, overlayed and producing
unfocused but very intensively coloured impressions of an image. Because the cycles had a different rhythm, one saw similar but never the
same images.
The artist consciously followed certain self-imposed rules so that no direct images were shown. His conceptual photo-video work changed
the urban phenomena that we already knew and opened our eyes to new dimensions and colour impressions of this district. Visitors could
follow Bert Meinen’s tour with the aid of a prepared map, and try to discover the small concrete crosses in Moabit’s urban environment.
Those who did gained a refocused view of the sites.
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
87
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 88
Farben von Moabit | 2-Kanal Videoinstallation von Bert Meinen
KATALOG_18.1.
88
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 89
Farben von Moabit | 2-Kanal Videoinstallation von Bert Meinen
KATALOG_18.1.
In geuren en kleuren | Bertine Bosch und Bert Meinen
89
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 90
Kurt-Kurt spezial / Kurt-Kurt special
Parallel zum Kurt-Kurt Hauptprojekt wurden unter dem Label „Kurt-Kurt spezial“ vier
Installationen präsentiert, die als künstlerische Einzelpositionen den Umgang mit den
Begriffen Skulptur, Raum und Ort reflektierten.
Parallel to the Kurt-Kurt main projects, four installations were presented under the
label, 'Kurt-Kurt special' in which individual artistic positions reflected approaches to
the terms, sculpture, space and place.
Untitled (Sonar) | Michael Sailstorfer | 9. Februar – 1. März 2008
Ein dumpfer, unbestimmbarer Ton dehnt sich aus, wird lauter und scheint den Raum zu sprengen. Das Fensterglas zerbirst. Der Ton bricht ab.
Der Künstler Michael Sailstorfer installierte eine physikalische Versuchsanordnung im Kurt-Kurt Showroom. Unter dem Titel „Untitled
(Sonar)“ baute er einen Laborraum mit Tür und Fenster. Sailstorfer beschallte das 1 m2 große Fenster seines Versuchsraums mit einem Sinuston. Trifft dieser Ton die Eigenfrequenz der Scheibe, beginnt das Glas zunächst zu schwingen, um schließlich zu zerbersten.
Michael Sailstorfer untersucht in seiner Arbeit den Skulpturbegriff und dehnt ihn bis an seine Grenzen und sogar bis darüber hinaus aus.
Der hörbare, physisch spürbare Ton erfüllte den Raum und wurde schließlich in seiner Wirkung beim Zerspringen der Scheibe sichtbar. Der
Ton wird zur Sound-Skulptur, die nicht statisch ist, sondern sich ausdehnt und mit allen Sinnen erlebbar ist.
An indefinable thumping sound expands, getting louder and louder, as if it is going to blow the room apart. The window smashes. The sound stops.
The artist, Michael Sailstorfer, installed a physical experiment in the Kurt-Kurt showroom. He built a laboratory with a door and a window
entitled, ‘Untitled (Sonar)’. Sailstorfer blasted the 1 m2 window of the test room with a pure tone. When this tone equalled the resonance
frequency of the glass pane, the glass began to vibrate and finally split.
Michael Sailstorfer’s work explores the term, sculpture, pushing it to its limits and even beyond. The audible, physically tangible sound
filled the room and became finally visible in the smashing of the window. The tone becomes a sound sculpture that is not static, rather it
expands and can be experienced with all the senses.
90
Untitled (Sonar) | Michael Sailstorfer
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 91
Untitled (Sonar) | Installation mit Laborraum, Sound und Video
KATALOG_18.1.
Untitled (Sonar) | Michael Sailstorfer
91
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 92
DAGMAR brennt (nicht) | Pfelder | 26. – 29. Juni 2008
Ausschließlich von außen durch die große Schaufensterscheibe konnten die Besucher die von Pfelder als Wortraum inszenierte Lichtinstallation einsehen. Die Leuchtschrift spielte mit drei Worten in unterschiedlichen Licht- und Farbausführungen. 96 Stunden nonstop liefen
die sich abwechselnd ein- und ausschaltenden Wort-Licht-Installationen: „DAGMAR brennt“ oder „brennt nicht“.
Dagmar brennt (nicht) | Installation
Visitors to Pfelder’s ‘word room’, presented as a light installation, could only view it from the outside, through the large shop window. The
illuminated signs played with three words in different light and colour combinations. It ran for 96 hours non-stop, delivering an on-off wordlight installation: ‘DAGMAR brennt’ or ‘brennt nicht’.
92
DAGMAR brennt (nicht) | Pfelder
Dagmar brennt (nicht) | Installation mit einer Neonschrift und zwei Leuchtkästen
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
DAGMAR brennt (nicht) | Pfelder
Seite 93
93
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 94
ausglühen | Pfelder | 31. Dezember 2008 – 10. Januar 2009
Eine von der Decke hängende herkömmliche 25-Watt-Glühbirne wurde von sechs 500-Watt-Baustrahlern angestrahlt. Plötzlich erlosch das
Licht der Strahler, und die 25-Watt-Glühbirne beleuchtete einsam und schwach die sie anhimmelnde Scheinwerferschar.
„ausglühen“ war eine Hommage von Pfelder an die langsam verglühende Zeit der Glühbirnen. Zum Ausglühen des Jahres 2008 und zum
Einglühen von 2009 wurde die Glühbirne in seiner energietechnisch ineffizienten und absurden Installation nochmals zum Star eines untergehenden Zeitalters erklärt.
ausglühen | Installation
A single conventional 25 watt light bulb hanging from the ceiling was illuminated by six 500 watt spotlights. Suddenly the spotlights went
out and the 25 watt bulb, alone and weak, illuminated the spotlights.
‘ausglühen’ was a homage from Pfelder to the slowly dying era of the light bulb. Between the dimming of 2008 and the arrival of 2009
the light bulb, in its energy inefficiency and its absurd installation, became the star of a sinking former time.
94
ausglühen | Pfelder
ausglühen | Installation mit sechs Baustrahlern und einer 25-Watt-Glühbirne
KATALOG_18.1.
18.01.2010
ausglühen | Pfelder
16:23 Uhr
Seite 95
95
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 96
Sewing Poetry | Simone Zaugg | 25. – 28. Juni 2009
Under the label, A.WAY, Simone Zaugg sewed and embroidered second-hand pieces of clothing with fragments of Kurt Tucholsky’s poetry
and her own prose. The lyrical sentences charged the textiles with poetry and transformed the ready-made clothes into unique items.
At the opening Simone Zaugg staged her poetical art clothes as a fashion performance and presented the word games on the catwalk.
Her sewing workshop was open daily and the public could see how fashion and poetry fused together under her sewing machine. The finished
pieces were for sale, thus finding their way into the public realm.
96
Sewing Poetry | Simone Zaugg
Sewing Poetry | Installation mit Arbeits- und Verkaufssituation
Unter dem Label A.WAY benähte und bestickte Simone Zaugg gekaufte second-hand Kleidungsstücke mit Poesiefragmenten von Kurt
Tucholsky und mit selbst verfasster Prosa. Mit den lyrischen Sätzen lud sie die Textilien mit Poesie auf und verwandelte die Stangenware in
Unikate.
Zur Eröffnung präsentierte Simone Zaugg ihre poetische Kleiderkunst als Fashion Performance und inszenierte die Wortspielereien auf
dem Laufsteg. Ihr Nähatelier war täglich geöffnet und das Publikum konnte zuschauen, wie Mode und Poesie unter der Nähmaschine zu
Kunst verschmolzen. Die fertigen Stücke waren käuflich zu erwerben und wurden so hinaus in den öffentlichen Raum getragen.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 97
Sewing Poetry | Kleiderpräsentation
KATALOG_18.1.
Sewing Poetry | Simone Zaugg
97
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 98
Initiatoren und Kuratoren
Künstlerinnen und Künstler 2007
Pfelder (D)
Schumacher & Jonas
1965 geboren in Hamburg, lebt in Berlin
www.pfelder.de
Simone Zaugg (CH)
1968 geboren in Bern, lebt in Bern und Berlin
www.simonezaugg.net
Autoren
Dr. Ralf F. Hartmann (D)
Kunstwissenschaftler und Direktor des
Kunstvereins Tiergarten Berlin
1963 geboren in Bad Karlshafen, lebt in Berlin
www.kunstverein-tiergarten.de
Birgit Anna Schumacher (D)
1961 geboren in Mechernich, lebt in Berlin
Uwe Jonas (D)
1962 geboren in Hamburg, lebt in Berlin
Die Künstler arbeiteten bis 2008 zusammen.
www.schumacher-jonas.de
Eden – Lernout
Irena Eden (D)
1974 geboren in Hamburg
Stijn Lernout (B)
1972 geboren in Antwerpen
Die Künstler arbeiten seit 2004 zusammen und leben in Wien.
www.eden-lernout.com
Christian Hasucha (D)
Künstler, prägte den Begriff der Öffentlichen Interventionen
1955 geboren in Berlin, lebt in Berlin
www.hasucha.de
Bertram Weisshaar (D)
Spaziergangsforscher
1962 geboren in Trossingen, lebt in Leipzig
www.atelier-latent.de
Heather Allen (GB)
1952 geboren in Romford, lebt in Berlin
www.heatherallen.net
Jan Philip Scheibe (D)
1972 geboren in Lemgo, lebt in Hamburg
www.jan-philip-scheibe.de
Diana Dodson (CH/USA)
1963 geboren in Zürich, lebt in Basel
www.ovra-archives.com
Reto Leibundgut (CH)
98
1966 geboren in Büren zum Hof, lebt in Thun und Basel
www.leibundgut.nu
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 99
Künstlerinnen und Künstler 2008
Künstlerinnen und Künstler 2009
Michael Sailstorfer (D)
Ariane Epars (CH)
1979 geboren in Velden / Vils, lebt in Berlin
www.sailstorfer.de
Siri Austeen (N)
1961 geboren in Skien, lebt in Oslo
www.austeen.no
Stefan Schröder (D)
1966 geboren in Dresden, lebt in Dresden und Oslo
www.schroederstefan.com
María Linares (KOL)
1970 geboren in Bogotá, lebt in Berlin
www.marialinares.com
1959 geboren in Penthalaz, lebt in Cully
www.arianepars.ch
Salah Saouli (Libanon/D)
1962 geboren in Beirut, lebt in Beirut und Berlin
www.salahsaouli.net
Dellbrügge & de Moll
Christiane Dellbrügge (D/USA)
1961 geboren in Moline
Ralf de Moll (D)
1961 geboren in Saarlouis
Die Künstler arbeiten seit 1984 zusammen und leben in Berlin
www.workworkwork.de
Christian Hasucha (D)
1955 geboren in Berlin, lebt in Berlin
www.hasucha.de
Bertine Bosch (NL)
1948 geboren in Enschede, lebt in Delden
www.bertinebosch.nl
Haus am Gern
Barbara Meyer Cesta (CH)
1959 geboren in Aarau
Rudolf Steiner (CH)
Bert Meinen (NL)
1945 Geboren in Hengelo, lebt in Delden
www.bertmeinen.nl
1964 geboren in Niederbipp
Die Künstler arbeiten seit 1997 als «rsbmc» oder unter
dem Label „Haus am Gern“ zusammen und leben in Biel
www.hausamgern.ch
99
KATALOG_18.1.
18.01.2010
16:23 Uhr
Seite 100
Herausgeber / Publisher
Redaktion / Editor
Texte / Texts
Kurztexte / Short texts
Simone Zaugg und Pfelder
Simone Zaugg und Pfelder
Ralf F. Hartmann, Christian Hasucha, Bertram Weisshaar
Simone Zaugg und Pfelder
Lektorat / Proofreading
Übersetzung / Translation
Fotonachweis / Photo credits
Layout / Layout
Umschlag / Cover design
Schrift / Typeface
Papier / Paper
Herstellung / Print and binding
Auflage / Edition
Heather Allen, Urte Evert, Constanze Musterer, Pfelder, Simone Zaugg
Heather Allen
Pfelder, Simone Zaugg, Jannis Chavakis, Martin Tervoort und die Künstler
büro mahlke grafik, Berlin
büro mahlke grafik, Berlin
News Gothic
xxxxxxxxx
Druckerei Conrad GmbH, Berlin
750 Exemplare / 750 copies
© VG-Bild-Kunst, Bonn 2010 für die Werke von H. Allen, C. Dellbrügge, R. de Moll, I. Eden, C. Hasucha,
S. Lernout, M. Linares, Pfelder, M. Sailstorfer, J. P. Scheibe, A. B. Schumacher, B. Weisshaar, S. Zaugg
© Berlin 2010, Künstler und Autoren / artists and authors
Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
Printed in Germany
ISBN 978-3-9810382-4-8
bruno dorn verlag, Torstraße 37, 10119 Berlin
www.debook.de, [email protected]
Mit freundlicher Unterstützung von / with support from
Bezirkskulturfonds Bezirksamt Mitte von Berlin
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Aargauer Kuratorium, Senat Berlin, Druckerei Conrad, büro mahlke grafik
4D Architektur & Mediendesign, Ayasofya Camii Moschee Moabit, Balloonerie Berlin, Bruimann Industrie- und Bauglas GmbH, BürSte e.V., Duotone Reclameproductie BV, GSZ Moabit,
Institut 21 von Frecher Spatz e.V., Kunstverein Tiergarten, Lorberg Baumschulerzeugnisse, Pick Up Anhänger, Schiffergemeinde Westhafen Berlin, Tektat Lebensmittelmarkt, TKH Sitzplatzanlagen, V.D. Riet, Waitschull Garten-Center
Unser besonderer Dank gilt allen Künstlerinnen und Künstlern, Autoren, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Stadtteil Moabit und /
special thanks to all artists, authors, colleagues, the district of Moabit and
Babatunde Agboola, Greta Barbieri, Dagmar Bedbur, Cindy Blanco Rojas, Szymon Bochniak, Jannis Chavakis, Dieneba Cisse, Peter Cripps, Simone Dabel, Thomas Dittmann, Dogan Dogan,
Lala Georgiou, Marliese Hoff, Katrin Höhne, Gary Hurst, Heike Krüger, Susanne und Thomas Kulli, Julian Landweer, Levke, Emilia Lischke, Harm Lux, Robin Mallick, Anna-Lena Meisenberg,
Melk 1, Bruno Nagel, Donia Najjar, Frau und Herr Neumann, Gabriel Niño, Pfarrer Pfister, Suln Röschka, Lutz Scheffen, Schiffahrts-Chor Berlin e.V., Alexander Schmitt, Hans-Michael
Stahl, Claudia Szulc, Leily Tabatabai, Martin Tervoort, Bernhard Thome, Marco Vinci, Pamela Weber, Terrance Wilms, Harald und Marlies Witt, Tahir Yerligül, Fred und Marlis Zaugg,
Franziska Zaugg, Judith Zaugg, Maxim Zelentsov, Anton Zenk
www.kurt-kurt.de

Documentos relacionados