Nietzsche: Zur Genealogie der Moral

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Nietzsche: Zur Genealogie der Moral
Joachim Stiller
Nietzsche: Zur
Genealogie der Moral
Materialien zu dem Werk
„Zur Genealogie der Moral“ von
Nietzsche
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Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift ist ein philosophisches Werk von Friedrich
Nietzsche aus dem Jahr 1887.
Das Werk, das aus einer Vorrede und drei „Abhandlungen“ besteht, gehört zu den
einflussreichsten Schriften Nietzsches. Er legte hier keine Aphorismen vor wie in den meisten
anderen seiner Werke, sondern längere, systematische Texte mit durchaus wissenschaftlichem
Anspruch: Er stellt darin soziologische, historische und psychologische Thesen auf. Nietzsche
wollte anders als klassische Moralphilosophen keine Moral herleiten oder begründen, sondern
die geschichtliche Entwicklung und die psychischen Voraussetzungen bestimmter moralischer
Wertvorstellungen nachvollziehen. Er fragt also nicht, wie die Menschen handeln sollten,
sondern warum Menschen (Einzelne oder Gruppen) glauben, sie sollten auf bestimmte Weise
handeln, oder andere dazu bringen wollen, so oder so zu handeln.
Der Gegensatz einer „Sklavenmoral“ und einer „Herrenmoral“ aus der ersten Abhandlung ist,
zumindest schlagwortartig, recht bekannt geworden. Die dritte Abhandlung, in der Nietzsche
die asketischen Ideale einer ausführlichen Kritik unterzieht, ist grundlegend für das
Verständnis aller seiner Spätschriften.
Die Genealogie beeinflusste zahlreiche Denker, unter anderem Sigmund Freud und Michel
Foucault. Insbesondere in der französischen Nietzsche-Rezeption in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts war sie ein vielbesprochenes Werk.
Das übliche Sigel der Schrift ist GM.
Inhaltsverzeichnis
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1 Inhalt
o 1.1 Vorrede
o 1.2 Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«.
o 1.3 Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes.
o 1.4 Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?
2 Entstehung und Einreihung in Nietzsches Schriften
3 Wirkungsgeschichte
4 Literatur
o 4.1 Ausgaben
o 4.2 Sekundärliteratur
5 Weblinks
Inhalt
Die Genealogie der Moral besteht aus einer Vorrede und drei Abhandlungen, von denen die
dritte die längste ist.
Vorrede
In den ersten sieben Abschnitten der Vorrede erläutert Nietzsche die Motivation seiner Arbeit:
„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe
nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine
Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie
sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als
Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel,
als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch
auch nur begehrt worden ist.“
– Vorrede, Abschnitt 6:KSA 5, S. 253
Er verweist dazu – wie in der ganzen Schrift noch häufiger – auf einige seiner früheren Werke
und kritisiert Paul Rées Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877). Rée und
seinesgleichen seien viel zu sehr voreingenommen für moderne, utilitaristische und
altruistische Moralvorstellungen, um die Genealogie der moralischen Werte zu verstehen.
Im achten und letzten Abschnitt der Vorrede geht Nietzsche auf das Problem der
Verständlichkeit seiner Schriften ein und fordert ein genaues Lesen, eine „Kunst der
Auslegung“. Als Beispiel habe er der dritten Abhandlung einen Aphorismus vorangestellt, die
Abhandlung selbst sei dessen langsame, systematische Auslegung.
Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«.
Hier wird der von Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches (Nr. 45) angedeutete
Unterschied zwischen einer Herren- und Sklavenmoral erläutert. Diesen unterschiedlichen
Arten der Moral entspricht jeweils ein Gegensatzpaar:
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Privilegierte Gesellschaftsschichten haben nach Nietzsche ihre eigenen Handlungen
als „gut“ definiert; „gut“ in der Bedeutung von „edel“, „vornehm“, „mächtig“,
„glücklich“ etc. Dagegen schätzen diese „Herren“ die Handlungen der anderen,
niedrigeren Menschen als „schlecht“ im Sinne von „schlicht“, „(all)gemein“,
„unvornehm“ ab, ohne ihnen daraus einen Vorwurf zu machen.
Umgekehrt geht die Wertung der Unterprivilegierten, Niedrigen, Armen, Kranken, der
„Sklaven“ vor: Ihre Empfindung beruht auf Ressentiment, sie schätzen zuerst die
anderen als die „Bösen“, den „bösen Feind“ ab. Sich selbst definieren sie erst danach
als die „Guten“ eben im Gegensatz zu jenen Bösen – das heißt, sie selbst sind „gut“,
weil sie nicht „böse“ sind, ihr Begriff von „Gut“ ist reaktiv statt aktiv wie bei den
Vornehmen und beruht auf einer Wertumkehr.
Die zweite Art der Wertung sieht Nietzsche im Judentum und Christentum, der ersten ordnet
er das römische Reich, aber auch noch die Renaissance und Napoléon zu. Freilich würde der
Gegensatz zwischen diesen Arten der Moral immer noch in einzelnen, zwiespältigen
Menschen ausgekämpft; in den höheren und geistigeren Naturen seien heute beide Arten der
Wertschätzung vorhanden und im Kampf miteinander. Im ganzen sei allerdings die
Sklavenmoral siegreich gewesen. Nietzsche selbst drückt mehrfach – wenn auch nicht ohne
Vorbehalte und Differenzierungen – seine deutlich stärkere Sympathie für die „vornehme“
Weltsicht aus, und scheint zu hoffen, dass sie dank seiner Philosophie den Kampf gegen die
„pöbelhafte“ Moral wieder aufnehmen kann.
Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes.
Hierin untersucht Nietzsche die Herkunft der Idee, Menschen könnten „Verantwortung“ für
etwas übernehmen, und das im Tierreich außergewöhnliche menschliche Gedächtnis
überhaupt. Den moralischen Begriff der „Schuld“ sieht er im materiellen Begriff der
„Schulden“ gegen einen Gläubiger begründet. Er deutet die vielfältigen vorgeblichen und
realen Zwecke an, die die Strafe in der Geschichte diverser Kulturen gespielt habe. Sie sei,
wie alle Tatbestände, unter neuen Machtkonstellationen immer neuen Interpretationen
unterworfen gewesen. Das schlechte Gewissen hat nach Nietzsche seinen Ursprung in der
Zivilisierung des Menschen, der unter dem Druck, in einer organisierten Gesellschaft zu
leben, seinen aggressiven Trieb nach innen und gegen sich selbst lenke.
Der Abschnitt 12 dieser Abhandlung sticht etwas heraus, da Nietzsche hier vergleichsweise
ausführlich auf seine Lehre des „Willens zur Macht“ eingeht.
Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?
Diese Abhandlung weist eine formale Besonderheit auf, worauf Nietzsche in der Vorrede
hingewiesen hat: im ersten Abschnitt präsentiert er in knapper, aphoristischer Form seine
Ergebnisse, um dann – nach Protest eines fiktiven Lesers – in der eigentlichen Abhandlung
eine genauere Herleitung und Ausarbeitung davon zu geben.
Nietzsche untersucht die unterschiedlichen Gestalten, in denen asketische Ideale in der
Geschichte aufgetreten sind und heute auftreten, sowie ihre vielfältigen (vermeintlichen und
tatsächlichen) Zwecke. Er deutet und bewertet das Verfolgen solcher Ideale bei Künstlern –
Richard Wagners Parsifal als Beispiel –, Philosophen – besonders Schopenhauers
Willensverneinung –, bei Priestern, bei den nach eigener Einschätzung „Guten und
Gerechten“, bei Heiligen und schließlich auch bei modernen vermeintlichen Gegen-Idealisten,
Atheisten, Wissenschaftlern und kritischen, antimetaphysischen Philosophen. Deren
unbedingter „Wille zur Wahrheit“ sei die letzte, feine Gestalt des asketischen Ideals. Nach
einer Betrachtung des gegenwärtigen und kommenden Nihilismus in Europa gibt Nietzsche
einen letzten Grund an, warum bisher das asketische Ideal fast als einziges geehrt worden sei:
nämlich schlicht in Ermangelung eines besseren Ideals. Der Mensch könne nicht „nicht
wollen“, und so habe er bisher lieber noch in Nihilismus und Askese „das Nichts gewollt“.
Alle drei Abhandlungen enden mit der Aussicht auf eine neue Moral, für die Nietzsche auf
seinen Zarathustra verweist. Diese neue Moral ist allerdings nach Ansicht aller Rezipienten
nicht so klar und deutlich zu erkennen wie Nietzsches Kritik der bisherigen „Moralen“.
Entstehung und Einreihung in Nietzsches Schriften
Nietzsche hatte eigentlich mit Jenseits von Gut und Böse und den 1886/87 gedruckten,
veränderten Neuauflagen früherer Schriften sein Werk als vorläufig abgeschlossen angesehen
und wollte sich Zeit fürs Durchdenken neuer Themen nehmen. Im Sommer 1887 war er in
sehr niedergedrückter Stimmung, und schrieb dann recht plötzlich (zwischen dem 10. und 30.
Juli) die drei Abhandlungen der Genealogie, wobei er allerdings auf frühere Aufzeichnungen
zurückgriff. Er ließ es auf eigene Kosten beim Verlag C. G. Naumann in Leipzig drucken und
las gemeinsam mit Heinrich Köselitz Korrektur, wobei noch einige Änderungen
vorgenommen wurden. In einer Auflage von 600 Exemplaren erschien das Buch im
November 1887.
Nietzsche legte Wert darauf, dass das Buch auch äußerlich dem vorherigen Jenseits von Gut
und Böse „zum Verwechseln ähnlich“ sein sollte. Der Erstdruck enthielt auf der Rückseite des
Titelblatts den Hinweis „Dem letztveröffentlichten „Jenseits von Gut und Böse“ zur
Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben.“ Nietzsche hatte sich schon von Jenseits erhofft,
neue Leser zu finden, und ließ auch Exemplare der Genealogie an mehrere kulturell
einflussreiche Personen senden. Die vielen Verweise auf frühere Schriften sollten wohl auch
als Werbung dienen; Nietzsche selbst nannte seine Schriften ab Jenseits von Gut und Böse
„Angelhaken“.
Das Werk wurde für ihn noch einmal im folgenden Jahr bedeutsam, als er seinen Plan aufgab,
Der Wille zur Macht zu schreiben. Es wird vermutet, dass ihn die erneute Lektüre der
Genealogie dazu brachte oder darin bestärkte. Sein Spätwerk Der Antichrist, das
gewissermaßen ein Ersatz für den Willen zur Macht war, weist stilistisch große Ähnlichkeit
zur Genealogie auf und bezieht sich auch inhaltlich darauf.
Zu Nietzsches Kritik an Paul Rées Ursprung der moralischen Empfindungen in der Vorrede
ist zu bemerken, dass Rée und Nietzsche in den späten 1870er Jahren eng befreundet waren
und viele, auch die beiden selbst, das genannte Werk Rées und Nietzsches Menschliches,
Allzumenschliches als nächstverwandt gesehen hatten. Die Freundschaft mit Rée war 1882
zerbrochen.
Wirkungsgeschichte
Starken Einfluss übte das Werk auf Sigmund Freud aus, der aus dem Gedanken der
Wiederaufnahme des Gewissens wegen der Grausamkeiten Das Unbehagen in der Kultur
schrieb. Ebenfalls regte Nietzsches Genealogie Max Scheler dazu an, Das Ressentiment im
Aufbau der Moralen zu verfassen.
Die Genealogie gilt als Wegbereiter der postmodernen Philosophie. So ist zum Beispiel das
Werk Michel Foucaults von Bezügen zur Genealogie der Moral durchzogen. Ebenfalls lässt
sich für die französischen postmodernen Denker das jüngere Werk Die feinen Unterschiede
von Pierre Bourdieu auf Ideen aus der Genealogie der Moral zurückverfolgen. Hierbei geht
der Kerngedanke von den herrenmoralischen Ressentiments aus, nämlich das Schlechte durch
feine Unterschiede auf vielen Ebenen des Lebens vom Guten abzugrenzen.
Literatur
Ausgaben
Siehe Nietzsche-Ausgabe für allgemeine Informationen.
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In der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari gegründeten Kritischen
Gesamtausgabe ist Zur Genealogie der Moral zu finden in
o Abteilung VI, Band 2 (zusammen mit Jenseits von Gut und Böse). ISBN 9783-11-005175-9. Ein Nachbericht, d.h. kritischer Apparat, fehlt zu diesem Band
noch.
Denselben Text liefert die Kritische Studienausgabe in Band 5 (zusammen mit
Jenseits von Gut und Böse und mit einem Nachwort von Giorgio Colli). Dieser
erscheint auch als Einzelband unter der ISBN 978-3-423-30155-8. Der zugehörige
Apparat befindet sich im Kommentarband (KSA 14), S. 377–382.
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Ebenfalls auf dieser Edition basiert die aktuelle Ausgabe bei Reclam, ISBN 978-3-15007123-6. Sie enthält ein Nachwort von Volker Gerhardt.
Sekundärliteratur
Alle großen Monographien zu Nietzsche behandeln auch Zur Genealogie der Moral, siehe
deswegen grundsätzlich die Literaturliste im Artikel „Friedrich Nietzsche“. Für eine
ausführliche Bibliographie siehe Weblinks.
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Lars Niehaus: Das Problem der Moral: Zum Verhältnis von Kritik und historischer
Betrachtung im Spätwerk Nietzsches, Königshausen u. Neumann, Würzburg 2009.
ISBN 978-3826041327.
Richard Schacht (Hrsg.): Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche's “On
the Genealogy of Morals”. University of California Press, Berkeley 1994, ISBN 9780-520-08318-9.
Werner Stegmaier: Nietzsches ›Genealogie der Moral‹. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 978-3-534-10410-9.
Weblinks
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Vollständiger Text
o bei Nietzsche Source, Colli / Montinari-Ausgabe
Literatur zu Zur Genealogie der Moral, Verzeichnis der Weimarer NietzscheBibliographie
Joachim Stiller
Münster, 2015
Ende
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