Amor Fati - Rationalgalerie

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Amor Fati
Der pathologische Nietzsche
Autor: Botho Cude
Datum: 08. Juni 2011
----Buchtitel: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche
Buchautor: Franz Overbeck
Verlag: Berenberg
Was hat nicht alles vorbildlich gewirkt in der Welt, bloß durch die starke Persönlichkeit, die
so viel Zweifelhaftes zusammenhielt, und durch das entgegenkommende Bedürfnis einer
Jüngerschaft!Franz Overbeck, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche /1/
?auch in unseren Tagen?, wo der Pragmatismus auf der einen Seite, Nietzsche auf der
andern Seite die einfache Vorstellung Goethes in die Philosophie eingeführt haben ? daß
nämlich von uns das biologisch Nützliche wahr genannt werde ?, hört das Gerede von den
ewigen Wahrheiten nicht auf?Fritz Mauthner, Philosophisches Wörterbuch /2/
Anfang Januar 1889 umarmt ein geistig Verwirrter auf der Piazza Carlo Alberto
in Turin einen geschundenen Droschkengaul. Sein guter Schweizer Freund
Franz Overbeck reist mit Irrenarzt und Wärter im Gefolge an und führt den
Rasenden nach Basel.Damals ist Nietzsche schon seit Jahren sehr krank. Er
leidet unter schwersten Migräneanfällen und Schlaflosigkeit, ist abhängig von
Chloralhydrat und Morphium. Overbeck will die zunehmende Geistesstörung in
den Briefen und Schriften des Freundes unterbewusst wahrgenommen haben.
Aber erst als Jacob Burckhardt ihn aufsucht und einen jener ?Wahnsinnszettel?
Nietzsches vorweist, von denen er selbst zwei erhalten hat, wird ihm der wahre
Zustand des Freundes offenbar und er fährt nach Turin.
Später stellt in Jena der berühmte Psychiater Otto Binswanger die Diagnose:
progressive Paralyse. Paul Deussen, Nietzsches ehemaliger Mitschüler in
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Schulpforta, überliefert die dazu passende Anekdote aus der Bonner
Studentenzeit. Der Dienstmann führt den kurzsichtigen Nietzsche, anstatt ins
Restaurant, in ein einschlägiges Etablissement.Andererseits ist schon der Vater
in geistiger Umnachtung gestorben und somit eine Prädisposition Nietzsches
auch ohne Syphilisinfektion unübersehbar.
Eine illustre Professorenschaft hatte sich 1870 an der kleinen Universität Basel
zusammengefunden: Der Altphilologe Friedrich Nietzsche, der Theologe Franz
Overbeck, der Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen (Entdecker des
Mutterrechts) und Jacob Burckhardt, der Kulturhistoriker. Die jungen Wilden
Nietzsche und Overbeck bewohnen das selbe Haus (die ?Baumannshöhle?) und
freunden sich schnell an. Als Nietzsche zum Wintersemester 1876 aus
Gesundheitsgründen vom Lehramt beurlaubt wird und nach Italien geht,
beginnt der bedeutende Briefwechsel mit Overbeck, das Zeugnis einer
Herzensfreundschaft. Der praktische Baseler Pfahlbürger verwaltet für den
fernen Freund die Finanzen, überweist Gelder und legt überschüssiges Kapital
an. Er versorgt ihn mit Büchern und speziellem Tee und übernimmt zeitweilig
den Briefkontakt zu Nietzsches Mutter und Schwester.
Jetzt sind bei Berenberg nach über hundert Jahren Franz Overbecks
?Erinnerungen an Friedrich Nietzsche? endlich zwischen zwei Buchdeckeln
erschienen, ergänzt um Briefe an Heinrich Köselitz (für den Nietzsche das
Pseudonym Peter Gast erfand). Diese Briefe sind die erste und beste Quelle über
Nietzsches Zusammenbruch.Dennoch sollte man nicht zu viel erwarten. Ohne
?Nietzsches Briefwechsel mit Overbeck?, erschienen 1916 im Insel-Verlag, oder
besser noch die historisch-kritische Edition der Briefe durch Colli/Montinari,
bleibt für den Leser manches im Dunkeln.
Auch deshalb hätte man sich Heinrich Deterings Essay, der ein Nachwort
ersetzt, noch mehr biografisch gewünscht. Schließlich handelt es sich um
Erinnerungen. Die Stilisierung Overbecks zum berufenen Nietzsche-Kritiker
scheint etwas hoch gegriffen. Der um sieben Jahre Ältere, der übrig Gebliebene,
der treue Freund, er kann nicht aus seiner theologischen Haut.
Friedrich Nietzsche, das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche
Sprachgenie /3/, dürfte als erster Philosoph die Schreibmaschine benutzt haben,
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seiner extremen Myopie wegen./4/ Im Gegensatz zu manchen Autoren des 20.
Jahrhunderts merkt man seinen Texten das mechanische Geklapper nicht an.
Allerdings bietet der aphoristisch-fragmentarische Stil reichlich Spielraum für
Deutung und Distorsion.
Es sind drei Perioden in Nietzsches Denken behauptet worden: zuerst die
Metaphysische, danach die Positivistische und endlich die Prophetische. Die
Werke der letzten Phase halten manche für obsolet, weil sie von einem
Paralytiker verfasst seien. Dieser Ansatz ist schlicht falsch, denn was ist ein
Prophet anderes als ein Religionsverkünder?Mit dem ?Zarathustra? wird
Nietzsche, der antrat als Philosoph, zum Religionsstifter. Das ist so wunderbar
nicht, denn außerhalb der Erkenntnistheorie hat die Philosophie große
Schnittmengen mit der Religion. Man denke nur an die Ethik, die heutzutage
mit Kommissionen gemacht wird, die von der FIFA oder der Bundesregierung
eingesetzt werden.Geistige Gesundheit ist bei Religionsstiftern kein Kriterium
für den Erfolg ihrer Lehren, ebenso wenig wie Zurechnungsfähigkeit von ihren
fanatischen Anhängern zu erwarten ist.Overbeck der ungläubige Theologe
beobachtet verwundert Nietzsches Transformation in Zarathustra den
Propheten, für ihn im Nachhinein das fatale Phänomen eines Geisteskranken,
der sich selbst deifiziert.
Overbecks Erinnerungen sind wie Nietzsches ?Wille zur Macht? ursprünglich
nichts als ein ungeordnetes Nachlasskonvolut, Notizen in einem Zettelkasten.
Ganz ähnlich, wie Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast aus Nietzsches
Fragmenten das philosophische ?Hauptwerk? basteln, schneidert Carl Albrecht
Bernoulli aus Overbecks Notizen ein Büchlein, das 1906 nach dessen Tod in der
?Neuen Rundschau? erscheint.Und noch eine editorische Gemeinsamkeit
zeichnet die Freunde aus: Verlässliche historisch-kritische Gesamtausgaben
ihrer Werke erscheinen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denen
lassen sich endlich die fragmentierten Originaltexte entnehmen.
Overbeck als kritischer Theologe weiß um den unermesslichen Wert der
schriftlichen Überlieferung. Er rettet Nietzsches Nachlass, der sonst vielleicht in
Turin im Kamin geendet hätte, und gibt ihn blauäugig in die Hände der Familie
Nietzsche. Damit geht die Deutungshoheit über das Werk an die Schwester
Elisabeth Förster-Nietzsche, die der Bruder ironisch als ?das Lama? titulierte.
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Sie nimmt zuletzt die stumme Hülle in Pflege, gründet das Weimarer
Nietzsche-Archiv und rührt die Propagandatrommel. Sie schreibt die erste
Nietzschebiografie, ediert und ?redigiert? die frühen Werksausgaben.Franz
Overbeck führt mit dem Archiv einen verzweifelten Kampf um den wahren
Nietzsche, er, der mit dem Freund intellektuell auf Augenhöhe stand, mit
dessen schwer antisemitischer Schwester, die Nietzsches Philosophie bei
Rudolf Steiner lernte. Nietzsche selbst bezeichnete sich einst gegenüber der
Schwester als ?Anti-Antisemiten?. Sein letzter Brief an Overbeck endet: Ich lasse
eben alle Antisemiten erschießen? Dionysos /5/ Da war er komplett verrückt.
Bald nach Nietzsches Zusammenbruch nahen sich der zunehmend berühmten
Ruine schillernde Gestalten. Der völkische Julius Langbehn, auch genannt ?der
Rembranddeutsche?, und der Mystagoge Alfred Schuler wollen
Wunderheilungen an dem Kranken vornehmen. Rudolf Steiner, der später die
Anthroposophie erfindet, und Lou Andreas-Salomé, die einst von Nietzsche
Angebetete und nachmalige Psychoanalytikerin, melden sich zu Wort. Als
Nietzsche im Jahr 1900 stirbt, ist er hochmodern.
In der Folge werden Nietzsches Schriften von den selbst ernannten Jüngern
sehr verschieden ausgelegt. Die Nazis haben seine Lehre um den
Untermenschen bereichert, der ? scheinbar logisch ? aus dem Übermenschen
folgt. Ernst Nolte sieht in ihm den Propheten eines Weltbürgerkrieges des 20.
Jahrhunderts. Sogar über den großen Teich ist der Mythos von der blonden
Bestie gewandert bis nach Hollywood und hat TV-Serien mit
schwarzgekleideten, muskelbepackten Nietzscheanern erzeugt, von denen
deutsche Samenbanken nur träumen können.
Wachsende Überbevölkerung (geschätzte 9 Milliarden bis 2030) und
Klimakatastrophe machen die Erde eng. Die künftige Zuchtwahl der
Anspruchslosesten (es müssen nicht immer die Bestien sein) spricht eher
gegen eine Renaissance von Nietzsches Übermenschen, der übrigens nicht
physisch, sondern spirituell gedacht war.Das, was ihr als Überbevölkerung der Erde in
greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, gibt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe
in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet,
mit vielen Milliarden von Blüten, die alle nebeneinander Früchte werden sollen, und die
Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. /6/
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Anmerkungen/1/ Franz Overbeck, Erinnerungen an Nietzsche, Berenberg 2011,
S. 111/2/ Fritz Mauthner, Philosophisches Wörterbuch, Felix Meiner 1923, Bd. 1, S.
457/3/ Gottfried Benn, Nietzsche ? nach fünfzig Jahren (Gesammelte Werke,
Limes Verlag 1968, Bd.1, S. 1047)/4/ Vgl. Killy, Literaturlexikon, Bd. 8, S. 418/5/
Nietzsches Briefwechsel mit Overbeck, Insel Verlag 1916, S.460 (Anm.)/6/
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 189 (Sämtliche Werke
in zwölf Bänden, Kröner 1965, Bd. III, Teil II, S. 262 f.)
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