Grundsätze liberaler Sozialpolitik - Instituto Friedrich Naumann, Brasil

Transcrição

Grundsätze liberaler Sozialpolitik - Instituto Friedrich Naumann, Brasil
Grundsätze
liberaler
Sozialpolitik
12 Thesen
mit Erläuterungen
von Dr. Gerhart Raichle
2
Liberales Institut
der
Friedrich-Naumann-Stiftung
Truman-Haus
Karl-Marx-Str. 2
14482 Potsdam-Babelsberg
[email protected]
3
Inhalt
Seite
Einleitung.
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These 1: Liberale Politik ist sozial
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These 2: Gezielte Hilfe statt allgemeiner Nivellierung . 13
These 3: Der Grundsatz der Subsidiarität
These 4: Der Grundsatz der Effizienz
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These 6: So wenig Zwang wie möglich
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These 5: Freiheit vor Sicherheit
These 7: Wettbewerb ist liberal und sozial zugleich
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These 8: Der Grundsatz der Transparenz.
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These 9: Trennung zwischen Transfer- und Versicherungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . .
30
These 10: Subjekthilfe statt Objektsubvention bzw.
Markteingriff . . . . . . . . . . . . .
34
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4
These 11:Generationengerechtigkeit oder
Der Grundsatz der Nachhaltigkeit
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These 12:Anreize zur Vermeidung, nicht zur Herbeiführung des Leistungsfalls:
Der Grundsatz der Verantwortlichkeit . . .
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37
. 40
5
6
Einleitung
Die zwölf Thesen "Grundsätze liberaler Sozialpolitik" wurden
vom Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung am 23. August
1999 beschlossen. Entstanden sind sie im Rahmen eines Projekts des Liberalen Instituts der Stiftung, an dem hochrangige Experten beteiligt waren und das in dem von Otto Graf
Lambsdorff herausgegebenen Buch "Freiheit und soziale Verantwortung – Grundsätze liberaler Sozialpolitik"1 gipfelte.
Wer sich gründlich mit den Überlegungen auseinandersetzen
will, die hinter unseren Thesen stehen, muss dieses Buch lesen. Für diejenigen politisch Interessierten, die sich mit
geringerem Aufwand einen Eindruck davon verschaffen wollen,
wie Liberale die sozialpolitischen Probleme der Gegenwart
und der Zukunft angehen, will die vorliegende Broschüre einen Überblick oder auch eine erste Einführung geben.
Dabei geht es, wie schon der Titel sagt, um Grundsätzliches
und nicht etwa um Tagespolitik. Das soll nicht heißen, dass
die beiden nichts miteinander zu tun haben: Grundsätze, die
keine brauchbare Orientierung auch für tagespolitische Entscheidungen gäben, wären wertlos. Aber eben: Orientierung,
nicht fertige Rezepte. Wenn man sich eine nach den vorliegenden Grundsätzen gestaltete Sozialpolitik vorstellt, wird
man teilweise dramatische Unterschiede zur real existierenden Sozialpolitik in Deutschland (und anderswo) finden.
Schon weil der Weg dahin lang und nicht in allen Einzelheiten vorauszuplanen ist, kann es hier nicht um ein "Aktionsprogramm" gehen, sondern um Orientierungshilfe beim Erstellen von Aktionsprogrammen. Eine vollständig den hier vertretenen Grundsätzen entsprechende Sozialpolitik wird noch für
längere Zeit Utopie (im positiven Sinne des Wortes) bleiben.
Aber auch die längste Reise beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt, und es kann für die Erreichung auch sehr ferner Ziele nur nützlich sein, wenn Klarheit darüber herrscht,
in welche Richtung nicht nur der erste, sondern auch die
folgenden Schritte gehen sollen.
1
Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung –
Grundsätze liberaler Sozialpolitik.
F.A.Z.-Buchverlag, Frankfurt
a.M. 2001.
7
Noch in einem weiteren Sinn hängen die "Grundsätze" mit dem
vorgefundenen sozialpolitischen Status quo zusammen: sie beruhen ganz wesentlich auf einer Analyse der Fehlentwicklungen, die diesen kennzeichnen. Denn die Ursachen für diese
Fehlentwicklungen liegen zu einem frappierend hohen Maß in
der Missachtung elementarer liberaler Prinzipien, wie sie
lange vor jeder sozialpolitischen Spezialisierung gelten: in
der Vernachlässigung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, im Verstoß gegen die Grundregeln von Subsidiarität
und Staatsmacht-Begrenzung, in der geradezu systematischen
Verschleierung von Preis-Leistungs-Relationen und damit auch
von Verantwortlichkeiten. Man braucht zu manchen dieser Krisen-Ursachen nur das direkte Gegenteil zu formulieren, und
schon hat man ein liberales Prinzip.
Ein ganz wesentlicher Teil dieser Ursachen lässt sich auf
einen einfachen Nenner bringen:
(Über-) Politisierung.
Das mag verblüffen: Kann denn etwas, was mit Recht "Politik"
heißt (eben Sozialpolitik), zu politisch sein?
Es kann, und zwar aufgrund einer vielleicht betrüblichen,
aber unwiderleglichen Lebenserfahrung: dass (fast) alle guten Dinge ihren Preis haben. Das gilt selbst für etwas so
unbestreitbar Gutes wie die Demokratie. Der Preis, den wir
für sie bezahlen, besteht in den Anreizen, die sie für die
Politiker setzt: die wollen (wieder-) gewählt werden. Dafür
sind sie ihrerseits bereit, einen Preis zu zahlen – wenn
möglich mit dem Geld anderer Leute. Das Pro-blem besteht
darin, dass Politiker zu den wenigen Personengruppen gehören, die dazu beinahe täglich Gelegenheit haben.
Das macht die Anreiz-Situation noch einmal um eine Größenordnung problematischer. Denn notabene geht es hier nicht in
billiger Stammtisch-Manier um die persönliche Moral der Politiker (die ist nicht besser und nicht schlechter als die
der meisten anderen Menschen), sondern um die Anfechtungen,
denen sie ausgesetzt ist. Und diese Anfechtungen geraten
dann in die Nähe der Unwiderstehlichkeit, wenn sich die Möglichkeit des Zugriffs auf Steuern und andere Zwangsabgaben
mit der Möglichkeit der wählerwirksamen Verausgabung dieser
Mittel verbindet.
Die daraus resultierende Praxis, für die sich die Bezeichnung "Gefälligkeitsdemokratie" eingebürgert hat, ist zwei-
8
fellos der schlimmste Feind einer soliden und effizienten
Sozialpolitik. Die Sache wird nicht dadurch besser, dass die
meisten Politiker dabei das denkbar beste Gewissen haben –
sie tun ja Gutes für "benachteiligte Gruppen" (die freilich
meistens zugleich wahlstrategische Zielgruppen sind) – und
dass der Griff in die Taschen der Steuer- und Beitragszahler
durch Parolen wie "Solidarität" und "soziale Gerechtigkeit"
ziemlich leicht moralisch immunisiert werden kann.
Es muss also darum gehen, "die Zahl der Stellschrauben, an
denen die Politiker drehen können, so klein wie möglich zu
halten."2 Das ist zugegebenermaßen ein äußerst ambitioniertes Vorhaben, denn es läuft darauf hinaus, die Politiker dazu zu bewegen, ihr liebstes Spielzeug selber aus der Hand zu
geben – zumindest teilweise. Dass das geschehen könnte, ist
eigentlich nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: die eine
ist ein Krisen-Szenario, das so bedrohlich ist, dass wesentliche Teile der Wählerschaft gegen die Gefälligkeitspolitik
aufbegehren; und die andere besteht darin, dass an die Stelle des politisch motivierten Gebens und Wegnehmens so weit
als möglich 'objektive' Maßstäbe und Regeln treten können,
die von möglichst vielen Betroffenen als fair und gerecht
empfunden werden.
Auf das Eintreten der ersten dieser Voraussetzungen kann man
sich leider ziemlich sicher verlassen. Die jahrzehntelange
Politik nach dem Motto "Wohltaten für alle" hat unsere sozialen Sicherungssysteme dermaßen überlastet, daß der Zeitpunkt, wo der Crash nicht mehr durch bloße Detailreparaturen
aufzuhalten ist, immer schneller näherrückt.3 Die Zahl derer, die noch an die Sicherheit der Renten glauben, wird desto geringer, je jünger der befragte Jahrgang ist; und um
einzusehen, dass die Umlagerente (bei der Beitrags- und Rentenhöhe politisch festgesetzt werden!) bei steigender Lebenserwartung, sinkender Lebensarbeitszeit und kollabierenden Geburtenraten nicht mehr funktionieren kann, genügt eigentlich das kleine Einmaleins. Die Krise wird kommen, so
sicher wie das Amen in der Kirche.
2
Otto Graf Lambsdorff, in: Ders. (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 8.
3
Vgl. dazu Bernd Raffelhüschen, Eine Generationenbilanz der deutschen
Wirtschafts- und Sozialpolitik, in:
Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.),
Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 241-260.
9
Die zweite Voraussetzung läuft auf exakt die Art von Grundsätzen hinaus, um die es in dieser Schrift geht. In ihnen
sollen einmal die Werte zum Ausdruck kommen, deren Verwirklichung eine Politik dienen soll. Es müssen also die Quellen aufgezeigt werden, aus denen sich das soziale Engagement
der Liberalen speist. Zum andern müssen sie zum "Wie" der
Sozialpolitik – also wie die durch Werte definierten Ziele
im einzelnen erreicht werden sollen – klare Festlegungen
treffen. Und zwar Festlegungen, die Willkür-Spielräume einengen, wenn schon nicht beseitigen. Denn natürlich ist in
einer Materie, die so außergewöhnlich verteilungsintensiv
und damit interessensensibel ist wie die Sozialpolitik, keine volle Objektivität in dem Sinne erreichbar, daß gewissermaßen ein Entscheidungs-Automatismus hergestellt würde. Es
wäre illusorisch und ist auch gar nicht wünschenswert, die
Politik völlig aus dem Sozialbereich zu verbannen. Vielmehr
geht es darum, sie auf ihre eigentliche Rolle zu verweisen.
Was damit gemeint ist, lässt sich am ehesten an einem Beispiel klarmachen: Ob und vor allem in welcher Höhe jemandem
geholfen werden soll, der die marktgerechte Miete für eine
angemessene Wohnung nicht aufbringen kann, wird stets eine
politische und politisch zu entscheidende Frage bleiben. Ob
aber solche Hilfe als direkte Subjekt-Hilfe (Wohngeld) oder
durch Objekt-Subvention ("Sozialer Wohnungsbau")
bzw.
Markteingriff (Mietpreisregulierung) geleistet werden soll;
ob sie durch einen einzigen "Kanal" und damit in höchstmöglicher Transparenz fließen oder auf viele Stellen im
Haushalt verteilt und damit gut ver-steckt werden soll; ob
sie die Gestalt eines steuerfinanzierten Transfers haben
oder im Rahmen einer "Sozialversicherung" mitlaufen soll; ob
sie unabhängig davon beansprucht werden kann, ob dem Empfänger auch andere – z.B. familiäre – Lösungsmöglichkeiten zur
Verfügung stehen: für Fragen dieser Art sind generelle Regeln immerhin denkbar, die als eine Art Leitplanken für die
politische Praxis dienen und insoweit dem Tagesstreit entzogen sein könnten – zumindest und zunächst unter Liberalen.
Ob ein solcher Konsens auch noch auf weitere Kreise ausgedehnt werden kann, ist sicherlich – abgesehen davon, dass es
auch von der ersten der oben genannten Voraussetzungen abhängt – mit großer Vorsicht zu beurteilen. Gewiss sind Fragen, die sich vorwiegend mit den Modalitäten der Sozialpolitik befassen, eher einer rationalen Diskussion zugänglich
10
als die hochpolitischen Fragen des "Ob" und "Wieviel". Da
aber, wie sich auf den folgenden Seiten dieses Heftes zeigen
wird, auch Modalitäten keineswegs immer ganz wertneutral
(geschweige denn interessenneutral) sind, kann man den Umfang und die Schwierigkeit der zu leistenden Überzeugungsarbeit gar nicht überschätzen.
Sehen wir einmal davon ab, dass ihn ein Gesetz der Hölle dazu gezwungen hat, und stellen wir fest: Sisyphus war ein Liberaler. Er hat es trotz aller Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten immer wieder versucht. Beginnen wir also mit These eins.
11
1. Liberale Politik ist sozial
Liberale Politik ist ihrem Wesen nach sozial. Indem sie
für Rechtsstaatlichkeit eintritt, schützt sie die Freiheitsrechte der Schwachen vor der Willkür der Starken. Indem sie die Marktwirtschaft verficht, sorgt sie für faire
Chancen für alle. Indem sie die Begrenzung des Staates
durchsetzt, wehrt sie dem Missbrauch, dass im Verteilungskampf die Staatsmacht vor allem den Interessen der Mächtigen dient. Indem sie Überregulierung und Kartelle abbaut auch auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes -, schafft sie die
Voraussetzungen für Arbeitsplätze für alle. Indem sie die
Stabilität des Geldwertes sichert, macht sie verlässliche
Vorsorge für Alter und Notfälle überhaupt erst möglich.
Indem sie gegen eine alle nur denkbaren Interessen bedienende Umverteilungspolitik eintritt, sichert sie die Ressourcen für gezielte und nachhaltige Hilfe da, wo sie gebraucht wird. Indem sie die Abgabenlast senkt, schafft sie
Raum für mitmenschliche Solidarität dort, wo deren Platz
ist: im Privaten. Indem sie den Irrglauben bekämpft, Mitmenschlichkeit könne von Staats wegen organisiert werden,
schärft sie das Ver-antwortungsbewusstsein der Menschen
füreinander. Sozialpolitik im engeren Sinn muss zu einem
guten Teil Schäden reparieren, die durch Missachtung liberaler Grundsätze entstanden sind.
Die vorliegenden Grundsatz-Thesen befassen sich mit Sozialpolitik im engeren Sinn, d.h. mit der Politik der sozialen
Sicherungssysteme. Die Gründe dafür finden sich in der Erläuterung zu These 2. Bevor man sich aber der so definierten
"eigentlichen" Sozialpolitik zuwendet, ist es nützlich und
aufschlussreich, über die soziale Dimension des Liberalismus
als Ganzes und insbesondere außerhalb des engeren Bereichs
der Sozialpolitik Klarheit zu schaffen.
Wenn man als "sozial" in einem zunächst sehr allgemeinen und
umfassenden Sinn alles bezeichnet, was die Rechte und legitimen Interessen der schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft gegenüber den Großen und Starken schützt, dann entpuppt sich der Liberalismus schon vor jeder Sozialpolitik
12
als ein außergewöhnlich soziales Projekt.4 Die Erklärung dafür ist in dem Grundanliegen des Liberalismus zu finden: der
größtmöglichen Freiheit jedes einzelnen Bürgers. Dieses Ziel
ist nur durch gesicherte gleiche (Freiheits-) Rechte für alle zu erreichen. Der Rechtsstaat, in dem alle vor dem Gesetz
gleich sind, in dem die Starken und Mächtigen nicht mehr
Rechte haben als die Kleinen und Schwachen – und in dem die
Kleinen sich gegen Übergriffe der Großen wehren können!, ist
die eine große Errungenschaft des Liberalismus.
Die andere ist die Marktwirtschaft. Dass sie in der Produktion allgemeinen Wohlstands allen Alternativen haushoch
überlegen ist und damit auch die Finanzmittel, mit denen man
überhaupt erst Sozialpolitik betreiben kann, am zuverlässigsten und reichlichsten bereitstellt, bestreitet kaum jemand.
Hingegen stößt die These, dass gerade auch die Marktwirtschaft im Interesse der Schwachen sei, selbst bei Gutwilligen oft auf ungläubiges Staunen: Ist der Markt denn nicht
der geradezu bilderbuchmäßige Tummelplatz für die Starken,
die mit ihrer Kapital- und Organisationsmacht die Schwachen
an die Wand drücken – Raubtierkonkurrenz, Wettbewerb nach
dem Gesetz des Dschungels?
Dieses Vorurteil – denn es
breitet wie es falsch ist.
sie die hohe Produktivität
glauben, dass der Markt vor
ist ein Vorurteil – ist so verDie meisten Menschen (auch wenn
der Marktwirtschaft anerkennen)
allem die Starken begünstigt.
Vielleicht hätten sie recht, wenn am Markt wirklich die Gesetze des Dschungels gälten. In manchen Ländern Osteuropas
kann man beobachten, was passiert, wenn man einen "Markt"
ohne jeden rechtlichen Ordnungsrahmen ins Kraut schießen
lässt: er funktioniert bestenfalls höchst unvollkommen. Um
seine Vorzüge voll zu entfalten, braucht der Markt Ordnung:
Wettbewerbsregeln, die unfaire Vorteile durch Betrug, Gewalt
oder wettbewerbswidrige Absprachen verhindern, ein verlässliches Schuld-, Vertrags- und Haftungsrecht – u. dgl. m.
Anders ausgedrückt: Auch die Marktwirtschaft gedeiht am besten unter rechtsstaatlichen Bedingungen.
4
Vgl. Hubertus Müller-Groeling, Zur sozialen Dimension liberaler Politik, in: Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 11-30.
13
Man darf allerdings nicht "Ordnungsrahmen" mit "Markteingriff" verwechseln. Der Ordnungsrahmen setzt Regeln für den
Wettbewerb, er soll nicht ein bestimmtes Wettbewerbsergebnis
vorprogrammieren. Das Ergebnis eines Wettbewerbs – auch desjenigen um die Verteilung des Sozialprodukts – halten Liberale dann für gerecht, wenn er unter Einhaltung fairer, d.h.
alle Teilnehmer gleichbehandelnder Regeln abläuft. An eine
"Ergebnisgerechtigkeit", die durch manipulierende Eingriffe
in den Wettbewerbsverlauf zustandekommt, glauben hingegen
die Sozialisten unterschiedlichster Couleur.
(Natürlich
setzt das Konzept der Regelgerechtigkeit ein möglichst hohes
Maß an Startchancen-Gleichheit voraus – nicht in dem Sinn,
dass Unterschiede der Begabung oder gar des Leistungswillens
wegnivelliert werden, sondern so, dass jeder seine vorhandene Begabung und Leistungsfähigkeit auch ausbilden und in den
Wettbewerb einbringen kann. Deshalb ist ein leistungsfähiges
und für alle zugängliches Bildungswesen ein weiteres liberales Anliegen mit hoher Sozialwirkung.)
Wenden wir uns nach diesen notwendigen Vorklärungen wieder
der Frage zu: Wie verteilt der Markt die Chancen zwischen
Starken und Schwachen, Großen und Kleinen? – so lässt sich
das gängige Vorurteil "Der Markt begünstigt die Starken"
nicht aufrecht erhalten; jedenfalls dann nicht, wenn wir es
mit einem funktionierenden Markt mit wirksamem Wettbewerb zu
tun haben. Gerade die Schwachen und Kleinen sind (eben weil
sie schwach und klein sind) meistens willens und häufig in
der Lage, ihr Produkt oder ihre Arbeitskraft zu besonders
günstigen Preisen und Bedingungen anzubieten – wenn man sie
lässt!
Hier liegt des Pudels Kern: wenn die Starken die
Schwachen aus dem Markt drängen, so tun sie es fast nie mit
Mitteln des Wettbewerbs am Markt (indem sie noch günstiger
anbieten), sondern unter Einsatz politischer Macht. Die haben sie allerdings den Schwachen voraus, und sie nutzen sie,
indem sie sich durch Mindestlöhne, Subventionen, Zölle,
Kontingentierung, Verbindlichmachen hoher Sozial- und Umweltstandards etc. die "schwachen" Konkurrenten vom Hals
halten. Der Fachausdruck dafür heißt "Protektionismus":
Protektionismus ist die Ausschaltung bzw. Behinderung unliebsamer Konkurrenz durch Einsatz politischer Macht. Die
Tatsache, dass er stets von den (politisch) Starken und gegen die "Schwachen" eingesetzt wird, zeigt deutlich, wer am
Markt, d.h. ohne den verzerrenden politischen Einfluss, die
besseren oder mindestens gute Chancen hat bzw. hätte: die
14
"Schwachen", die an einem wirklich freien Markt am Ende gar
nicht so schwach wären.
Fazit: Der Markt gibt allen eine Chance – der Markt ist sozial.
Das wird übrigens durch eindeutige empirische Forschungsergebnisse bestätigt: Je größer die Marktfreiheit in einem
Land ist, desto höher sind nicht nur Wirtschaftswachstum und
Durchschnittseinkommen - desto geringer ist auch die Armut
nach dem Human Poverty Index der Vereinten Nationen, und desto höher ist sogar die Lebenserwartung der Bürger!5
Freilich gibt es immer auch Menschen, die selbst die größten
von Markt und Wettbewerb gebotenen Chancen nicht oder nur
eingeschränkt wahrnehmen können: Behinderte zum Beispiel.
Deren muss sich dann in der Tat die Sozialpolitik im engeren
Sinn annehmen.
Ein Bereich, in dem sich die Außerkraftsetzung des Marktes
besonders verheerend ausgewirkt hat, ist der Arbeitsmarkt.
Weder Löhne noch Arbeitskonditionen kommen in Deutschland
nach Marktregeln zustande, sondern teils durch Gesetze,
teils durch Tarifverträge, die Kartellcharakter haben, protektionistische Ziele verfolgen und streckenweise schlicht
kon-traproduktiv wirken (so sorgen z.B. inflexible und komplizierte Kündigungsschutz-Paragra-phen dafür, dass Unternehmen sich mit Einstellungen zurückhalten und lieber Überstunden fahren). Das Tarifrecht entpuppt sich bei näherem
Hinsehen als Protektionismus der Arbeitsplatz-Besitzer zum
Nachteil der Arbeitssuchenden (also wieder einmal der Schwächeren). Zugegeben: ein freier Arbeitsmarkt würde wahrscheinlich in manchen Branchen vorübergehend zu niedrigeren
Löhnen führen6 – aber er würde Hunderttausende, wahrscheinlich Millionen von heute Arbeitslosen in Arbeit bringen (und
nach einer solchen Entlastung würden die Löhne wohl auch
5
James Gwartney und Robert Lawson, Economic Freedom of the World,
2001 Annual Report, in Deutschland herausgegeben vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, S. 9-12.
6
Die liberale Lösung für Fälle, wo der marktgerechte Lohn unter das
Maß des Zumutbaren fällt (was fast ausnahmslos Fälle von vorher Arbeitslosen sein werden – also Arbeitsplätze, die es heute gar nicht
gibt),
ist in der Erläuterung zu These 10 unter dem Stichwort "Bürgergeld"
skizziert.
15
bald wieder steigen). Etwas Sozialeres lässt sich kaum denken.
Fazit: Die Außerkraftsetzung des Marktes, also der Verstoß
gegen liberale Grundsätze, schafft erst das soziale Problem.
Der liberale Weg ist der soziale, und jedes Abweichen von
ihm kommt uns teuer zu stehen. Diese Schäden muß dann die
Sozialpolitik im engeren Sinn reparieren, der die folgenden
elf Thesen gewidmet sind.
Davor ist aber noch ein weiterer Punkt klärungsbedürftig:
das Thema "Solidarität". Die Behauptung in der These, der
Platz mitmenschlicher Solidarität sei eigentlich im Privaten, empfinden manche als starken Tobak: Soll denn die Umverteilung von gewaltigen Milliardenbeträgen, die unser
Staat im Namen der Solidarität mit den Ärmsten und Schwächsten unserer Gesellschaft vornimmt, gar nichts wert sein?
Darum geht es nicht. Vom Umfang einmal abgesehen, ist es
überhaupt nicht strittig, dass Umverteilung zugunsten der
Ärmsten und Schwächsten sein muss, und zwar auch und gerade
mit der Zwangsgewalt des Staates. Die Frage ist vielmehr,
was von der Art, wie dies gewöhnlich geschieht, moralisch zu
halten ist, denn der Begriff "Solidarität" kommt ja in aller
Regel mit einem hohen moralischen Anspruch daher. Die Botschaft lautet ungefähr: Wer dafür nicht gerne bezahlt, soll
sich schämen.
Nun bleibt es jedem selber überlassen, ob er seine Steuern
und sonstigen Zwangsabgaben gerne oder eher widerwillig bezahlt. Bezahlen muss er so oder so, eine Wahl hat er nicht –
und das ist der springende Punkt: denn eine moralische Qualität kann nur ein Verhalten haben, bei dem man eine Wahl
hat, sich so oder auch anders zu verhalten. Anders ausgedrückt, nur was man freiwillig tut, kann einen moralischen
Wert haben. Was man unter Zwang tut, ohne eine Alternative
zu haben, mag nötig und nützlich sein – einen moralischen
Kredit kann man dafür schwerlich beanspruchen.
Deshalb ist die Idee einer Zwangs-Solidarität ein Widerspruch in sich selbst – jedenfalls solange man Solidarität
als eine moralische Kategorie begreift. Der Versuchung, genau diesen Widerspruch auszunutzen, indem sie mit dem Geld
anderer Leute "Gutes tun", dadurch ihre eigene Wiederwahl
16
fördern und dem Ganzen obendrein ein moralisches Mäntelchen
umhängen, können Politiker verständlicherweise nur schwer
widerstehen. Deshalb sollten Wähler gegenüber politischen
Solidaritätsappellen, die auf hohem moralischem Ross daherkommen, besonders misstrauisch sein. Hingegen kann man die
freiwillig gegenüber den Mitmenschen geübte Solidarität gar
nicht hoch genug preisen. Zu ihr wird die Bereitschaft desto größer sein, je weniger Geld einem mit pseudomoralischen
Solidaritätsparolen zwangsweise aus der Tasche gezogen wird.
Mehr dazu unter dem Stichwort "Subsidiarität" (These 3).
17
2. Gezielte Hilfe statt allgemeiner Nivellierung
Der Sinn liberaler Sozialpolitik besteht darin, Menschen in
Not zu helfen und Vorsorge gegen Notlagen zu veranlassen,
aber nicht darin, soziale Unterschiede zu egalisieren. Sie
greift dort helfend ein, wo akute oder potentielle Notlagen
die Möglichkeit bedrohen, Freiheit zu leben und Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Allein
an diesem Ziel soll sich sowohl die direkte Hilfe durch
Transferleistungen als auch alle kollektive Vorsorge gegen
individuell nicht zu bewältigende Risiken orientieren.
Hier geht es um Ziel und Gegenstand – und damit auch um die
Grenzen – der Sozialpolitik. Und wenn es um Ziele geht, geht
es Liberalen immer zuallererst um die Freiheit. Sie ist das
A und O jeder liberalen Politik.
Deshalb lautet die liberale Antwort auf die Frage "Wann
braucht ein Mensch staatliche Hilfe?" logischerweise: "Wenn
seine Freiheit bedroht ist!" Und da es in der Sozialpolitik
um Bedrohungen durch Mangel an materiellen Ressourcen geht,
besteht das Ziel liberaler Sozialpolitik darin, Menschen
dann zu helfen, wenn ihre Freiheit durch Mangel an materiellen Ressourcen – oder einfacher gesagt: durch Mittellosigkeit bedroht ist.
Hier gibt es offenbar einiges zu erläutern und vor allem zu
präzisieren. Von welcher Freiheit ist die Rede, und wie wird
ihre Bedrohung definiert? Und wie können solche Bedrohungen
abgewehrt werden, ohne in die Freiheit der Anderen - aber
auch dessen, dem geholfen werden soll! - mehr als unbedingt
nötig einzugreifen?
Der Reihe nach. Um die philosophischen Subtilitäten der unterschiedlichen Freiheitsbegriffe auszubreiten, ist hier
nicht der Ort.7 Wichtig ist, dass Freiheit nicht über Optionen oder Spielräume definiert wird (also nicht einfach desto
7
Vgl. dazu und zu anderen Fragen dieser These Gerhart Raichle, Zu Begründung und Inhalt liberaler Sozialpolitik, in: Otto Graf
Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1),
S. 79-88.
18
größer ist, je mehr Geld man hat), sondern als die unbehinderte Selbstbestimmung eines jeden Bürgers. Diese kann dadurch bedroht sein, daß ein bestimmtes Niveau der Bedürfnisbefriedigung unterschritten wird. Im Klartext: Wer Hunger
und Durst leidet, friert, kein Dach über dem Kopf und nichts
anzuziehen hat, wer krank ist und weder einen Arzt in Anspruch nehmen noch ein Medikament kaufen kann, der mag (je
nach philosophischem Denkansatz) vielleicht sogar in einem
sehr theoretischen Sinne frei sein, aber er kann Freiheit
nicht leben; er kann in wesentlichen Bereichen nicht – was
zu jedem ernstzunehmenden Freiheitsverständnis gehört – für
sich selbst Verantwortung übernehmen. Von Verantwortung für
Andere, also von Solidarität, ganz zu schweigen.
Dass ein solcher Mensch Hilfe braucht, kann man selbstverständlich auch aus anderen Motiven bejahen: aus christlicher
Nächstenliebe zum Beispiel, oder einfach aus mitmenschlicher
Solidarität. Solche Motive vertragen sich mit dem liberalen
Freiheitsmotiv ganz problemlos und können gut (und tun das
auch häufig) mit ihm gemeinsam auftreten. Man kann aus solchen Motiven auch noch weit mehr für einen Bedürftigen tun
als zur bloßen Abwehr von Freiheitsbedrohungen nötig ist.
Auch das widerspricht liberalem Denken und Fühlen nicht im
geringsten – solange es freiwillig geschieht. Die Schwelle,
deren Unterschreitung die Freiheitsbedrohung ausmacht, soll
nämlich "nur" (in Anführungszeichen, weil das in Wahrheit
außerordentlich wichtig ist) die Zulässigkeit von Zwang eingrenzen, aber nicht etwa der Möglichkeit des Helfens überhaupt. Wo es um Hilfe für Menschen geht, die unter diese
Schwelle sinken oder zu sinken drohen, ist der jeder Umverteilungspolitik innewohnende Zwang gerechtfertigt. Oberhalb
dieser Grenze sollten der Freiwilligkeit keine Schranken gesetzt sein, aber Zwang aus dem Spiel bleiben.
Wenn also diese Schrift fast ausschließlich von einer Sozialpolitik handelt, die sich auf die Bekämpfung (inklusive
Verhinderung) freiheitsbedrohender Notlagen bezieht, so geschieht dies einfach deshalb, weil hier von staatlicher Sozialpolitik die Rede ist. Diese soll sich (aus Gründen, die
bei These 3 erläutert werden) auf das beschränken, wozu das
Zwangsinstrumentarium des Staates gebraucht wird. Warum das
überhaupt nicht bedeutet, dass darüber hinausgehende freiwillige Anstrengungen abgewertet oder geringgeschätzt werden, steht ebenfalls bei These 3.
19
Ist also (staatliche) Sozialpolitik als Bekämpfung und Verhinderung von Notlagen mit Hilfe des spezifischen staatlichen (= Zwangs-) Instrumentariums definiert, dann ist damit
nicht nur gesagt, was sie einschließt, sondern sehr deutlich
auch, was nicht dazu gehört bzw. nicht damit vereinbar ist.
Eine explizite Absage erteilt die These der "allgemeinen Nivellierung" bzw. der "Egalisierung sozialer Unterschiede"
als sozialpolitischen Zielen. Der Liberalismus betrachtet
Ungleichheit in der Verteilung materieller Güter als etwas
Normales8, ja als zwangsläufige Folge und Ausdruck der Freiheit, und die Beseitigung oder Verringerung dieser Ungleichheit so lange nicht als politisches Ziel, als diese nicht
freiheitsbedrohend wirkt. Das bedeutet nicht nur, dass Nivellierung kein Ziel der Sozialpolitik ist, sondern auch,
dass diese nicht in ihren Dienst gestellt werden darf.
Das ist die Absage an "Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik", d.h. an die Indienstnahme der Sozialpolitik für Ziele,
die außerhalb ihrer selbst liegen. Dass es zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik einerseits und Sozialpolitik
andererseits Wechselwirkungen gibt, ist in These 1 ausführlich dargestellt worden. Es ist wichtig, sich stets daran zu
erinnern, dass liberale Gesellschafts- und insbesondere
Wirtschaftspolitik (aber auch z.B. liberale Rechts- oder
Bildungspolitik) positive soziale Auswirkungen haben. Das
tun sie aber deshalb, weil jede in ihrem Bereich ein Maximum
an Freiheit verwirklicht, und nicht weil die eine in den
Dienst der anderen gestellt wird.
Sogenannte "gesellschaftspolitische Ziele" in der Sozialpolitik sind in Wahrheit nichts anderes als das Trojanische
Pferd, mit dem die Interessen-, Klientel- und Gefälligkeitspolitik in diese hineingeschmuggelt wird. Was kann man
schließlich nicht zum "gesellschaftspolitischen Ziel" erklären? Gruppe X ist unterprivilegiert, Gruppe Y hat Nachholbedarf, Gruppe Z leidet unter verschärfter Konkurrenz am globalisierten Weltmarkt (oder auch zu Hause von seiten bescheidener gewordener Arbeitsloser oder pfiffiger Innovato-
8
Regelgerechtigkeit im Verteilungsprozess vorausgesetzt.
20
ren). Die Sozialpolitik soll's richten? Die Sozialpolitik
geht dabei vor die Hunde!9
Deshalb ist Sozialpolitik im liberalen Sinne und im Sinne
dieser Broschüre strikt die Politik der sozialen Sicherungssysteme,10 und zwar solcher Sicherungssysteme, deren Zweck
die Behebung oder Verhinderung von auf Mittellosigkeit beruhenden freiheits- und existenzbedrohenden Notlagen ist.
Behebung oder Verhinderung: das verweist auf zwei unterschiedliche Aufgaben. Eine akute Notlage erfordert Hilfe,
und die kann, wenn die Betroffenen nicht Vorsorge getroffen
haben und ihnen niemand anders hilft, nur durch Transferleistungen der Allgemeinheit erbracht werden – also durch
staatliche Umverteilung. Gegen eine noch nicht eingetretene
Notlage hingegen ist Vorsorge möglich, und die können die
Betroffenen, solange sie noch nicht in Not sind, selber
treffen (zumindest teilweise). Hier geht es also darum, sie
zur Vorsorge anzuhalten; anders ausgedrückt: einen Versicherungsschutz verbindlich vorzuschreiben.
All das hat etwas mit Zwang zu tun: die Hilfe im akuten Notfall, weil sie im Wege der zwangsweisen Umverteilung erfolgt; die obligatorische Vorsorge gegen die potentielle
Notlage, weil sie die Bürger einer Versicherungspflicht unterwirft. Nimmt man die weiter oben aufgestellte Regel
ernst, daß Eingriffe in die Freiheit aller Betroffenen auf
das absolut Notwendige beschränkt werden sollen, dann ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen für den Umfang sowohl
von Transferleistungen als auch von gesetzlichen Versicherungspflichten. Was ist in diesen Fällen "das absolut Notwendige"?
9
10
Sollten Angehörige der Gruppen X, Y oder Z in freiheitsbedrohende
Notlagen geraten, würden sie allerdings Adressaten liberaler Sozialpolitik – aber eben deshalb und nicht weil sie Angehörige irgendwelcher Gruppen sind.
Die Absage an eine "Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik" ist nicht
auch schon eine Absage an die Gesellschaftspolitik selbst. Es mag
durchaus sinnvoll sein, etwa Bedingungen zu verbessern, die tatsächlich bestimmte Gruppen benachteiligen, oder eine Politik zur Förderung breitgestreuten Eigentums zu betreiben. Hier geht es ausschließlich darum, dass mit solchen Zielen nicht die Sozialpolitik befrachtet werden darf.
21
Notwendig ist, was die Not wendet, d.h. die Freiheits- und
Existenzbedrohung abwehrt. Im allgemeinen wird der Geldbetrag, der dazu in einer bestimmten Zeiteinheit erforderlich
ist, als Existenzminimum bezeichnet. Wieviel das genau ist,
wird immer Gegenstand politischer Kontroverse bleiben und
deshalb letztlich politisch entschieden werden müssen. Entscheidend ist aber, dass es für eine darüber hinausgehende
Umverteilung – genauer: für den damit verbundenen Zwang –
keine Legitimationsgrundlage gibt. Diese reicht genau so
weit wie die Not, aus der sie sich ableitet, und nicht weiter. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass jeder Bürger eines
liberal regierten Staates sicher sein kann, in einer wirklichen Notlage nicht im Stich gelassen zu werden.
Das gleiche gilt im Prinzip für den Zwang zur Vorsorge. Dass
der Staat ein Recht zu dieser Zwangsausübung hat, ergibt
sich aus der soeben getroffenen Feststellung, dass er jedem
Bürger im Notfall das Existenzminimum garantieren muss. Dafür kann er im Gegenzug verlangen, dass seine Bürger sich
nicht mutwillig oder fahrlässig solchen Notlagen aussetzen;
dass sie sich also, solange und soweit sie das können, dagegen absichern - aber auch das nur in dem Umfang, in dem er
(der Staat) sonst für sie aufkommen müsste, und das ist, wie
dargelegt, das Existenzminimum. Wir kommen auf diese Problematik bei These 6 zurück.
Die andere Frage ist, gegen welche Risiken der Staat eine
Versicherungspflicht verfügen darf und soll. Auch diese Frage lässt sich aufgrund der bisher aufgestellten Kriterien
beantworten: Gegen diejenigen Risiken, die im Falle des Eintretens zu einer Notlage im oben definierten Sinn führen
würden. Hier gibt es natürlich Abgrenzungsprobleme, von denen einige uns an anderer Stelle noch beschäftigen werden.
Das Prinzip wird durch sie aber nicht in Frage gestellt.
22
3. Der Grundsatz der Subsidiarität
"Subsidiär" heißt "unterstützend, ergänzend". Im Sinne des
Subsidiaritätsprinzips greift liberale Sozialpolitik nur
dort ein, wo individuelle oder gemeinschaftliche Selbsthilfe nicht möglich ist oder nicht ausreicht. Wie alle liberale Politik setzt liberale Sozialpolitik zuvörderst auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit. Der Staat soll auch in
der Sozialpolitik nur dort tätig werden, wo es ohne sein
spezifisches Instrumentarium schlechterdings nicht geht.
Das Subsidiaritätsprinzip ist vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Besonders häufig wird es stark verengend interpretiert: als bloß auf das Verhältnis zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen anwendbar, oder als ein leicht esoterisches Rezept aus der katholischen Soziallehre. Und
manchmal führt mangelnde Sorgfalt im Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip sogar zum Gegenteil dessen, was sein eigentlicher Sinn ist, nämlich zur Zentralisierung statt zu
dezentralen Lösungen.11
Dabei ist das Subsidiaritätsprinzip, richtig verstanden, Liberalismus pur. Es besagt nämlich nichts anderes als dass
Entscheidungsmacht immer so nahe wie möglich bei den Betroffenen bleiben soll. Was der Einzelne für sich selbst entscheiden kann, soll nicht ein Kollektiv über ihn entscheiden; was in der Kleingruppe, der Familie oder in freiwilligen Zusammenschlüssen gelöst werden kann, sollte nicht der
Zwangsgewalt des Staates überantwortet werden; was auf Gemeindeebene regelbar ist, gehört nicht auf die Landes- oder
Bundesebene –- und so weiter.
Dahinter steht die einfache Überlegung, dass Selbstbestimmung mehr Freiheit beinhaltet als Mitbestimmung, und dass
Mitbestimmung desto mehr Freiheit ermöglicht, mit je weniger
Anderen man die Entscheidungsmacht teilen muss – je kleiner
also die Einheit ist, in der gemeinsame Entscheidungen getroffen werden. Kleinere Einheit heißt größere Freiheit!12
11
12
Vgl. Hartmut Kliemt, Das zweischneidige Schwert der Subsidiarität,
in:
Otto
Graf
Lambsdorff
(Hrsg.),
Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 89-112.
Jedenfalls dann, wenn die Entscheidungen demokratisch getroffen werden. Dass in sehr kleinen Einheiten wie Familie oder Kleingruppe auch
23
Eine unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität besonders
kritische Schnittstelle ist diejenige zwischen nichtstaatlichem Bereich ("Zivilgesellschaft") und Staat. Denn was den
Staat von allen anderen Formen menschlichen Zusammenlebens
unterscheidet, ist seine Zwangsgewalt. Was der staatlichen
Entscheidung überlassen ist, wird mit dieser Zwangsgewalt
um- und durchgesetzt. Deshalb wollen Liberale dem Staat und
seinen Entscheidungsmechanismen möglichst nur jene Angelegenheiten überlassen, bei denen es ohne Zwang nicht geht.13
Dazu gehören auch wichtige Bereiche der Sozialpolitik: überall wo Umverteilung oder allgemeine Rechtsverpflichtungen
nötig sind – also im wesentlichen für die in These 2 definierten Ziele – wird auch das "spezifische staatliche Instrumentarium", alias die Staatsgewalt, gebraucht. Das bedeutet aber umgekehrt: Nur diese Bereiche sollen Gegenstand
staatlicher Sozialpolitik sein. Alles andere soll den vielfältigen Formen nichtstaatlicher Problemlösung überlassen
bleiben – also der familiären, gemeinschaftlichen, genossenschaftlichen, im weitesten Sinne "zivilgesellschaftlichen"
(Selbst-) Hilfe – aber auch der Sicherung über das kommerzielle Angebot des Marktes.
Das wird von manchen Gegnern des Liberalismus so interpretiert, als solle der ganze dem staatlichen Zugriff entzogene
Teil sozialpolitischer Aktivitäten als zweitrangig, vernachlässigbar oder gar überflüssig behandelt werden. Diese Einschätzung ist nicht nur grundfalsch, sie verrät auch eine
hochgradig staatsgläubige Blickverengung: Diese Kritiker
können sich offenbar nur das als politisch gewollt und als
"richtige" Sozialpolitik vorstellen, was von Staats wegen
geschieht.
Liberale sehen es eher umgekehrt: sie achten zwar die staatliche Sozialpolitik keineswegs gering, aber sie bewerten
das, was freie Bürger ohne staatlichen Zwang leisten können,
besonders hoch, und sie haben Vertrauen in die Fähigkeit der
13
informelle Machtstrukturen herrschen können, ist offenkundig; dies
ist allerdings nicht dem Subsidiaritätsprinzip anzulasten, und soweit
es sich um freiwillige Gruppierungen handelt, besteht i.d.R. die Möglichkeit, sich solchen Machtansprüchen zu entziehen.
Sonst allenfalls noch solche, wo es eindeutige Kosten- oder Effizienz-Vorteile gibt ("öffentliche Güter").
24
Menschen und ihrer freien Inititative, ihre eigenen Probleme
und oft auch die ihrer Mitmenschen ohne Bevormundung von
"oben" zu lösen.
Der Einwand, das sei doch blauäugig, am Ende finde das, was
nicht staatlich reguliert ist, auch nicht statt, sticht
nicht. Zum einen widerspricht er aller historischen Erfahrung: im 19. Jahrhundert gab es z.B. in Deutschland eine erstaunliche Vielzahl durchaus leistungsfähiger genossenschaftlicher oder anderer privater Selbsthilfe-Initiativen
–- bis Bismarcks Sozialpolitik von oben sie buchstäblich
"plattmachte".14
Zum andern ist die Vorstellung, private soziale Initiative
könne in jedem Fall nur auf selbst-verleugnerischem Altruismus beruhen und sei deshalb nicht im nötigen Umfang zu erwarten, unrealistisch. Erstens gibt es sehr wohl auf selbstloser Nächstenliebe beruhende private Initiativen: für sie
gilt es Freiräume zu sichern. Zweitens aber ist gegenseitiges Füreinander-Einstehen und wechselseitige Hilfe stets im
wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten; und mit sozial
nützlichen Angeboten Geld zu verdienen, wie es z.B. Versicherungsunternehmen oder private Pflegedienste tun, ist – im
Gegensatz zu den weltfremden Ansichten der wahrhaft Blauäugigen – durch und durch ehrenhaft.
Subsidiarität im sozialen Bereich funktioniert nicht deshalb, weil die Menschen von altruistischer Selbstverleugnung
triefen, sondern weil sie sowohl zur freiwilligen Solidarität als auch zum Erkennen und Wahrnehmen ihres "aufgeklärten
Eigeninteresses" fähig sind.
14
Vgl. Detmar Doering, Liberale Ordnung und privater Gemeinsinn, in:
Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung
(s.o. Anm. 1), S. 113-139.
25
4. Der Grundsatz der Effizienz
Liberale Sozialpolitik verfolgt explizit deklarierte, klar
formulierte Ziele mit Mitteln, die rational und ökonomisch
auf diese Ziele ausgerichtet sind und deren Wirksamkeit an
der Erreichung der formulierten Ziele zu messen ist. Besonders unabdingbar ist die unzweideutige Zieldefinition
bei allen Transferleistungen. Alle hier aufgeführten
Grundsätze (insbesondere diejenigen der Subsidiarität, des
Wettbewerbs, der Transparenz, der Subjekthilfe und der
Verantwortlichkeit) tragen auch zur Effizienz der Sozialpolitik bei.
Selbstverständlich muss Effizienz und eine klare ZielMittel-Relation von jeder Politik verlangt werden. In einem
Bereich, wo es um dreistellige Milliardenbeträge geht, kommt
dieser Forderung aber eine ganz besondere Bedeutung zu, denn
hier läuft jede auch geringfügige Verfehlung dieses Ziels
gleich auf eine gigantische Geldverschwendung (oder doch zumindest Fehlleitung, was nicht unbedingt besser ist) hinaus.
Dass ein rationaler und rationeller Mitteleinsatz nur möglich ist, wenn die Ziele klar sind, gehört ebenfalls zu den
Selbstverständlichkeiten. Nur leider sind sie das in der
Praxis ziemlich selten. Nehmen wir als Beispiel die Gesetzliche Rentenversicherung: Dient sie der Vermeidung von Altersarmut oder der Sicherung des erreichten Lebensstandards?
Soll sie umverteilen – und wenn ja, von wem zu wem in welcher Höhe? – oder soll sie nach dem Versicherungsprinzip jedem eine Rente sichern, die sich aus seinen eingezahlten
Beiträgen errechnet?15 Gehört Generationengerechtigkeit zu
ihren Zielen (und wenn ja, wie wird diese definiert)? Gehört
es zu ihren Aufgaben, den Arbeitsmarkt bei den schwervermittelbaren Über-Fünfzigjährigen zu entlasten, oder nicht? Auf
diese Fragen ist es schwer, klare – und unmöglich, gleich15
Auch das Versicherungsprinzip beinhaltet Umverteilung (von denjenigen, bei denen der Versicherungsfall nicht oder selten eintritt, zu
denen, wo er eintritt; oder bei der Rentenversicherung von denen, die
früher sterben, zu denen, die länger leben als der Durchschnitt); um
diese "versicherungsimmanente Umverteilung" geht es hier aber nicht,
sondern um politisch gewollte Umverteilung z.B. von den Einkommensstärkeren zu den Einkommensschwächeren oder von den Kinderlosen zu
den Kinderreichen; Näheres dazu bei These 9.
26
lautende Antworten zu bekommen, wenn man die berufenen Interpreten befragt.
Freilich: an Gemeinplätzen ist kein Mangel. Soziale Gerechtigkeit heißt das Ziel! Leider hilft diese Allerweltsformel
überhaupt nicht weiter, denn darüber, worin denn soziale Gerechtigkeit bestehe, hat jeder (Politiker) seine eigene –
und haben sehr viele überhaupt keine konkrete Vorstellung.
Nicht umsonst hat der Nobelpreisträger Friedrich August von
Hayek bekannt, er habe sich 10 Jahre lang vergeblich herauszufinden bemüht, was dieser Begriff bedeutet, und sei zu dem
Ergebnis gekommen, dass er gar nichts bedeutet. Die meisten,
die ihn im Munde führen, verbinden damit vermutlich eine vage Idee, dass soziale Unterschiede wegnivelliert werden sollen – je mehr, desto besser. Dass und warum dies mit liberalen Vorstellungen nichts zu tun hat, wurde bei These 2 erläutert. Aber auch unabhängig davon taugt ein so unbestimmtes Konzept nicht entfernt für die Art von Zielbestimmung,
wie sie für eine effiziente Sozialpolitik unerlässlich ist.
Warum tun sich Politiker mit der Festlegung klarer, operationalisierbarer und überprüfbarer Ziele so schwer? Nicht
nur, weil das zugegebenermaßen nicht einfach ist, sondern
vor allem weil sie damit Spielräume aus der Hand geben. Je
vager die Zieldefinition, desto mehr kann man darin "unterbringen", insbesondere an nicht-deklarierten Zielsetzungen,
die z.B. bestimmte Sonderinteressen bedienen (und darum das
Deklariertwerden nicht so gut vertragen). Daher ist neben
der klaren Formulierung die explizite Deklarierung aller mit
einer sozialpolitischen Maßnahme verfolgten Ziele so wichtig. Anders ausgedrückt: Es darf keine stillschweigenden
oder gar vorsätzlich verschleierten Zielsetzungen geben.
Auch das klingt wie eine selbstverständliche Banalität und
steht doch einer äußerst komplexen Realität gegenüber. Kehren wir kurz zum Beispiel Rentenversicherung zurück und unterstellen wir, die Frage der (Haupt-) Zielsetzung sei im
Sinne der Vermeidung von Altersarmut beantwortet. Unterstellen wir ferner, es sei politisch entschieden, wo die Armutsgrenze für Menschen im Rentenalter anzusetzen ist: Dann ist
klar, dass für alle Bürger sichergestellt werden muss, dass
ihnen im Alter mindestens ein Einkommen in dieser Höhe zur
Verfügung steht. Klammern wir nun zunächst die heikle Frage
aus, ob Bürger, bei denen ein solches Einkommen auch ohne
27
staatliche Maßnahmen gesichert ist, überhaupt noch in staatliche (Zwangs-) Programme einbezogen werden sollen, dann
stehen für die Erreichung der bis hierhin festgelegten Ziele
drei Instrumente zur Auswahl: eine kapitalgedeckte Versicherung, ein Umlageverfahren oder eine steuerfinanzierte Grundrente.
Die Wahl unter diesen Instrumenten wird logischerweise (oder
sollte zumindest) davon abhängen, welche weiteren Ziele verfolgt werden, also z.B. davon, ob Umverteilung oder Generationengerechtigkeit16 angestrebt wird. Ein konsequentes17
Versicherungsmodell bietet größtmögliche Gewähr für Generationengerechtigkeit und schließt (andere als versicherungsimmanente) Umverteilung weitgehend aus; ein Umlageverfahren birgt (abhängig von der demographischen Entwicklung)
ein hohes Risiko der Generationen-Ungerechtigkeit und kann
in dem Maß umverteilend wirken, wie dies politisch gewollt
wird; eine steuerfinanzierte Rente wirkt in jedem Fall umverteilend und ist nur dann generationengerecht, wenn sie
aus aktuellem (also nicht künftigem, über Verschuldung herangezogenem) Steueraufkommen finanziert wird (und demographische Ausschläge ausbleiben).
Es darf also gewählt werden – aber es sollte rational, d.h.
zielorientiert, und unter Offenlegung aller angestrebten
Ziele gewählt werden!
16
17
Darunter soll verstanden werden, dass keine Generation der anderen größere Lasten aufbürdet als sie selbst zu tragen bereit ist,
oder einfacher: dass keine Generation per Saldo auf Kosten der anderen lebt.
D.h. eines, das ausschließlich nach Versicherungsgrundsätzen
(Äquivalenzprinzip) gestaltet und manipulierenden politischen Eingriffen entzogen ist; s. These 9 und dortige Erläuterungen.
28
5. Freiheit vor Sicherheit
Keine Sozialpolitik, auch eine liberale nicht, kann eine
vollkommene Sicherung gegen alle Lebensrisiken bieten. Liberale Sozialpolitik will dies auch gar nicht, weil jede
staatlich verordnete Risikovorsorge zu Lasten von Selbstverantwortung und Freiheit der Betroffenen geht. In der
stets notwendigen Abwägung zwischen (ungewisser) Sicherheit
und Freiheit entscheidet sich der Liberalismus auch hier im
Zweifel für die Freiheit, d.h. er befürwortet einen (Ver)Sicherungszwang nur gegen Risiken, die (a) existenz- oder
lebensbedrohend und (b) im Regelfall nicht vom einzelnen
selbst zu bewältigen sind.
Wer alle denkbaren Risiken vermeiden will, tut gut daran,
gar nicht erst auf die Welt zu kommen. Leben heißt immer,
Risiken ausgesetzt zu sein. Einigen davon kann man aus dem
Weg gehen, gegen andere kann man sich schützen – gegen alle
nicht. Die eigentlich inter-essante Frage ist daher, gegen
welche Risiken ein vorbeugender Schutz sinnvoll ist, wie das
zweckmäßigerweise geschehen kann – und um welchen Preis.
Es gibt Risiken, die sind so alltäglich und normal, dass sie
kaum noch als solche empfunden werden. Wer ein Auto hat,
weiß, dass irgendwann einmal Reparaturkosten auf ihn zukommen, und denkt nicht daran, für diesen Fall eine Versicherung abzuschließen. Auch Risiken mit zwar großer Schadenshöhe, aber extrem geringer Wahrscheinlichkeit – sagen wir: Meteoriten-Einschlag – eignen sich schlecht für eine Versicherung, weil sie aufgrund ihrer Seltenheit vernachlässigbar
(und wohl kaum versicherungsmathematisch kalkulierbar) sind.
"Versicherungsgeeignet" sind also nur Risiken18, die (a) der
Wahrscheinlichkeit nach weder vernachlässigbar noch mit hoher Sicherheit zu erwarten19 und (b) der Höhe nach so bedeu18
19
Eine Versicherung schützt, genau genommen, immer nur gegen die
finanziellen Folgen des "versicherten" Risikos: auch die beste Krankenversicherung bewahrt mich nicht davor, krank zu werden; sie entlastet mich lediglich von den Krankheitskosten. Der Einfachheit halber
ist – auch in dieser Broschüre – häufig verkürzend von einer Versicherung "gegen Krankheit" oder andere (kostenverursachende) Risiken
die Rede.
Im Falle einer Rentenversicherung versichern wir uns nicht oder
kaum gegen das "Risiko", das Rentenalter zu erreichen (in dieser Beziehung hat sie eher die Funktion einer Sparbüchse), sondern gegen
29
tend sind, dass man sie nicht "aus dem laufenden Haushalt"
erledigt.
"Versicherungsgeeignet" ist aber nicht dasselbe wie "geeignet für eine Pflichtversicherung". Es gibt zahlreiche Risiken, gegen die vernünftige Menschen sich in der Regel aus
Eigeninteresse versichern werden (je nach eher ängstlichem
oder eher risikofreudigem Temperament mehr oder weniger),
die aber, wenn sie ohne Versicherungsschutz eintreten, den
Betroffenen nicht gleich ruinieren. Nach dem in These zwei
dargestellten Grundsatz, dass staatliche Sozialpolitik sich
auf Notlagen-Bekämpfung konzentrieren soll, hat der Staat in
diesem Bereich nichts zu suchen. Hier geht es um individuelle Entscheidungen und Interessen-Abwägungen, die mündige
Bürger in eigener Verantwortung treffen können und sollen.
Dem entspricht unsere sozialpolitische Praxis durchaus
nicht. Versichern wir in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht auch Krankheiten, die eher dem Beispiel mit der
Autoreparatur gleichen: Eintreten irgendwann unvermeidlich,
Kosten keineswegs existenzbedrohend? Und ist es wirklich nötig, mündigen Bürgern vorzuschreiben, wie sie - über eine
Mindestsicherung gegen Altersarmut hinaus – den Konsum ihres
Lebenseinkommens auf verschiedene Lebensphasen verteilen
sollen?
Hier geht eindeutig ein übertriebenes Sicherheitsstreben zu
Lasten der Bürgerfreiheit. Und zwar nicht ein Sicherheitsstreben der Betroffenen selbst (die können sich versichern,
wogegen sie wollen!), sondern eine "fürsorglich" von oben
verordnete Zwangs-Sicherheit, die den Betroffenen Entscheidungen abnimmt, die sie gut in eigener Verantwortung treffen
könnten, und sie dadurch entmündigt.
Das bringt uns zurück zum Dauerthema "legitimer und illegitimer Zwang" und führt schon mittenhinein in die nächste
These. So viel sollte an dieser Stelle deutlich werden: Mündas sehr erfreuliche "Risiko", dass wir älter werden als die Statistiker voraussagen. Eigentlicher Gegenstand der Versicherung, d.h.
der Risikostreuung unter einer Vielzahl von Versicherten, ist hier
also nicht der Eintretensfall, sondern die durch die Dauer des Rentenbezugs bedingte Gesamt-Höhe des Mittelbedarfs. Insoweit fällt auch
die Rentenversicherung in den hier beschriebenen Wahrscheinlichkeitsbereich.
30
dige Bürger können und sollen grundsätzlich in eigener Verantwortung entscheiden, gegen welche Risiken sie sich in
welcher Höhe versichern. Das Recht, nicht durch eine unerwünschte Zwangs-Sicherheit in seiner Freiheit beschnitten zu
werden, findet seine Grenze nur da, wo es zu Lasten Anderer
ausgeübt wird, d.h. wo unverantwortlicherweise eine mögliche
Sicherung gegen Risiken unterlassen wird, bei deren Eintreten man dann der Allgemeinheit zur Last fällt. Solche, eine
Versicherungspflicht begründende Risiken sind mit Sicherheit
Mittellosigkeit im Alter, Invalidität, Pflegebedürftigkeit
und ernsthafte, insbesondere kostspielige Erkrankungen –
aber nicht eine gewöhnliche Grippe oder eine LebensstandardMinderung auf hohem Niveau.
31
6. So wenig Zwang wie möglich
Liberale Sozialpolitik wendet nicht mehr als das notwendige
Minimum an Zwang an. Soweit Sozialpolitik Umverteilung ist,
ist Zwang unvermeidlich und bedarf daher einer an sehr
strengen Maßstäben zu messenden Legitimation. Das gleiche
gilt für Zwang zur Risikovorsorge durch die Betroffenen
selbst (Versicherungszwang). In beiden Fällen ist nur so
viel Zwang zu rechtfertigen, als nötig ist, eine Sicherung
gegen existenzbedrohende Notlagen zu gewährleisten. Für
darüber hinausgehende Sicherung bzw. Vorsorge sind politisch gesetzte Anreize denkbar, aber kein Zwang. Auch wo
Zwang unumgänglich ist, lässt er sich meist mehr oder weniger freiheitsverträglich gestalten. Mehr Freiheitsverträglichkeit bedeutet vor allem, dass im Rahmen des Minimums an
Zwang ein Maximum an Wahlmöglichkeiten (etwa in Form von
Versicherungsoptionen) offengehalten wird.
Das Thema "Zwang in einer liberalen Sozialpolitik" hat uns
schon wiederholt beschäftigt (vor allem bei These 2, aber
auch bei der vorhergehenden These 5), und es wird uns auch
bei den nachfolgenden Thesen immer wieder beschäftigen. Das
ist kein Wunder, denn das Haupt- und Generalthema des Liberalismus ist und bleibt die Freiheit, und deshalb muss jede
auch noch so geringfügige Einschränkung der Freiheit die
denkbar strengsten Prüfungen bestehen, bevor sie als unvermeidlich durchgehen kann.
Dass es gerade um der Freiheit willen manchmal nicht ganz
ohne Zwang geht, haben die Überlegungen zu These 2 gezeigt:
Denen, die sich in freiheitsbedrohenden Notlagen befinden,
muss gegebenenfalls auch durch "Zwangs-Solidarität", d.h.
durch zwangsweise Umverteilung geholfen werden. Und denen,
die nicht von sich aus gegen solche Notlagen Vorsorge treffen wollen, solange sie dazu in der Lage sind, muss notfalls
mit ein wenig Zwang nachgeholfen werden.
Damit ist das Ausmaß legitimen Zwangs aber auch schon erschöpfend umschrieben. Was darüber ist, ist vom Übel.20
20
Vgl. Gerhard Schwarz, Wieviel Zwang ist mit einer liberalen Sozialpolitik verträglich? in: Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und
soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 167-193.
32
Diese Feststellung ermöglicht nun auch die Beantwortung einiger bisher (vor allem bei These 4) noch offengelassener
Fragen. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz hatten wir bei
der Altersvorsorge eine Entscheidung für das Ziel "Altersarmut-Vermeidung" nur hypothetisch unterstellt – unter dem Gesichtspunkt der Zwangsminimierung ist sie die einzig zulässige. Das war auch bei These 5 schon angedeutet: Solange jemand sich nicht so verhält, dass er im Alter seinen Mitmenschen (und sei es auch "nur" in Gestalt der Steuerzahler)
zur Last fallen muss, muss er selbst entscheiden dürfen,
wann er sein Lebenseinkommen ausgibt. Gewiss werden die meisten Menschen es für unvernünftig halten, wenn jemand sein
Geld überwiegend in der Jugend ausgeben und im Alter nur vom
Existenzminimum leben will. Aber erstens schließt Freiheit
das Recht zu unvernünftigem Verhalten ein, solange man damit
nicht anderen Menschen schadet. Und das tut man zweitens
eben dann nicht, wenn das Existenzminimum gesichert ist. Damit entfällt die Rechtfertigung für eine weitergehende
Zwangsausübung, selbst wenn es ein "Zwang zur Vernunft" wäre.
Weniger kritisch sind dagegen "Anreize zur Vernunft" zu beurteilen. Die kann man z.B. durch eine (auch aus anderen
Gründen sinnvolle) "nachgelagerte Besteuerung" setzen, die
die zur Altersvorsorge aufgewendeten Einkommensteile während
des Arbeitslebens steuerfrei stellt und erst später die daraus bezogene Rente besteuert.
Eine andere bei These 4 zurückgestellte und dort zu Recht
als "heikel" bezeichnete Frage lässt sich nun ebenfalls beantworten: Soll man Menschen, deren Notfall-Vorsorge ohnehin
gesichert ist, in staatlich vorgeschriebene VorsorgeProgramme hineinzwingen? Natürlich lautet die Antwort Nein,
denn wenn die Erreichung des gesetzten Zwecks auch so gesichert ist, lässt sich kein Zwang mehr rechtfertigen. Heikel
ist die Sache deshalb, weil hier leicht der Anschein entsteht, als würden die Reichen von einer Pflicht freigestellt, die eigentlich für alle gilt. Das ist zwar nicht so,
denn die Pflicht lautet "Existenzminimum für das Alter sicherstellen", und dies gilt selbstverständlich auch für Gutsituierte. Es sieht allerdings dann wie eine Ausnahmeregelung aus, wenn man die Sicherungspflicht an bestimmte institutionelle Formen (z.B. staatliche Versicherungsanstalten)
33
bindet. Das aber ist nicht nur für die Reichen unnötig, sondern für alle – jedenfalls solange man mit der Sicherungspflicht keine Umverteilungsabsichten verbindet!
Hier liegt offenbar der Hase im Pfeffer: Bei staatlich regulierten Pflichtversicherungen gibt es jede Menge Manipulationsmöglichkeiten – und zwar solche, wo die Manipulation
nicht ohne weiteres ins Auge springt. Wer denkt schon, wenn
er in eine Anstalt einzahlt, die sich "Versicherung" nennt,
daran, dass er damit möglicherweise nicht nur für die Absicherung seiner eigenen Risiken, sondern auch noch für ganz
andere Zwecke zahlt? Wir haben es hier offensichtlich mit
einem jener "Volksbeglückungs-Instrumente" (um nicht zu sagen "Lieblingsspielzeuge") zu tun, die Politiker (insbesondere sozialistische) so ungern aus der Hand geben.
Hält man dagegen Vorsorge und (nicht-versicherungsimmanente)
Umverteilung getrennt, wie wir es in These 9 fordern und begründen werden, braucht man ganz sicher keine Pflichtversicherung, ja genaugenommen nicht einmal eine Versicherungspflicht: eine Sicherungspflicht genügt. Diese nähme in der
Praxis die Gestalt einer Nachweispflicht an, dass man die
nötige Vorsorge getroffen hat; deren Art und Weise bliebe
jedem selber überlassen. Will man so weit nicht gehen, lautet die Lösung "Versicherungspflicht" – ähnlich wie bei der
Kfz-Haftpflicht -, aber keineswegs "Pflichtversicherung(sanstalt)" (die es ja bei der Kfz-Versi-cherung auch
nicht gibt).21
Der feine Unterschied zwischen Sicherungspflicht und Versicherungspflicht hat sicher eher für die Altersvorsorge Bedeutung als für die Vorsorge für den Krankheitsfall. Sich
gegen Krankheitsfolgen sichern heißt in aller Regel sich
versichern.22 Dies zeigt allein die Tatsache, dass in
Deutschland, wo die Krankenversicherungspflicht nur bis zu
einer gewissen Einkommenshöhe gilt, sich von denen, die
oberhalb dieser Grenze liegen, die allermeisten freiwillig
versichern.23
21
22
23
Zum Vorwurf der "Entsolidarisierung", der an dieser Stelle regelmäßig auftaucht, s.u. These 9.
Natürlich: wenn man sehr reich ist, hat man auch das nicht nötig.
Es zeigt außerdem, dass mündige Bürger das Vernünftige, das in
ihrem eigenen Interesse liegt, auch ohne staatlichen Zwang tun!
34
Aber auch im Rahmen einer Versicherungspflicht ist so manches Stück Freiwilligkeit möglich. In These 5 haben wir argumentiert, dass man nicht gegen jeden Schnupfen eine Versicherungspflicht braucht. Im Prinzip gilt dieses Argument für
alle Krankheiten, deren Kosten erfahrungsgemäß nicht ruinös,
also – wenn man das will – auch ohne Versicherungsschutz zu
verkraften sind. Warum sollen die, die das wollen, nicht die
Möglichkeit dazu haben? D.h. die Versicherungspflicht müsste
auch hier unserer alten Regel folgen, sich nur auf diejenigen Risiken (hier: Krankheitskosten) zu erstrecken, die existenzbedrohend sind. Alles andere wäre freiwillig versicherbar – und man kann sich darauf verlassen, dass die Versicherungswirtschaft dafür vielfältige, ja häufig individuell
maßgeschneiderte Angebote entwickeln wird. Für die freiwillig-privat Versicherten gibt es das schon heute: ein weiterer Grund, die Versicherungspflicht (vielleicht wäre "Grundversicherungspflicht"
treffender)
der
EinheitsPflichtversicherung vorzuziehen.
35
7. Wettbewerb ist liberal und sozial zugleich
Auch soziale Sicherungsmechanismen werden ohne Wettbewerb
ineffizient, inflexibel, teuer - und damit letztlich unsozial. Liberale Sozialpolitik orientiert sich an der Erkenntnis, dass der Wettbewerb selbst in hohem Maße sozial
ist: er sichert Chancen für alle - auch für die Schwachen,
wenn sie ihre Leistung marktgerecht anbieten. Auch der
Wettbewerb
unter
den
Leistungsanbietern,
(Ver)Sicherungsträgern und –syste-men dient zuallererst den
Adressaten sozialer Leistungen und hat daher in einer liberalen Sozialpolitik einen hohen Rang. Wo dennoch soziale
Härten auftreten - wie bei der Versicherbarkeit unverschuldeter "schlechter Risiken" -, hilft sie durch gezielte Subjektsubvention in Form der Transferzahlung.
Bei These 1 wurde dargestellt, dass der Markt eine höchst
soziale Einrichtung ist, weil er jedem – auch den Schwachen
– eine Chance für ein selbstverantwortetes Leben gibt. Dabei
haben wir unterstellt, dass es um Märkte geht, deren wesentliches Merkmal der Wettbewerb ist (die also nicht durch Monopol- oder Kartellstrukturen degeneriert sind). Genaugenommen ist es also der Wettbewerb, der die dort beschriebenen
segensreichen Wirkungen entfaltet.
Sieht man genauer hin24, so tut er das auf zweierlei Weise:
einmal in der beschriebenen, durch das Eröffnen vielfältigster Chancen. Zum andern aber auch dadurch, dass jeder funktionierende Wettbewerb "den Kunden zum König macht" – und
der Kunde ist im Falle der Sozialpolitik der Endverbraucher
all dessen, worum es im sozialen Bereich geht. Das ist mit
Absicht vage formuliert, denn es ist ein Abgrenzungsproblem
darin versteckt: Was und wieviel von den Renten, Medikamenten, ärztlichen und anderen Leistungen, Sozialhilfe, Wohngeld usw. usw. Gegenstand staatlicher Sozialpolitik sein
muss, hängt eben wesentlich auch davon ab, wieweit diese
Dinge (auch) im Wettbewerb bereitgestellt werden können und
tatsächlich werden. Wir haben dies bei der vorangehenden
These gesehen: Reduziert man bei der Vorsorge den Zwang auf
24
Vgl. Gisela Babel, Wettbewerb im sozialen Bereich, in: Otto Graf
Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1),
S. 181-193.
36
den notwendigen Kern – also eine Versicherungs- oder gar nur
Sicherungspflicht -, dann kann (und wird) ein Großteil der
weiteren staatlichen Eingriffe durch das konkurrierende, auf
individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Angebot vieler privater Anbieter ersetzt werden. Das erweitert nicht nur die
Wahlmöglichkeiten der Konsumenten, es senkt nach aller Erfahrung auch die Preise.
Dass unsere Sozialpolitik, insbesondere im Bereich der Krankenversicherung, Kostensenkung dringend brauchen kann, steht
außer Frage, und dass der Weg dazu über mehr Wettbewerb
führt, ebenfalls. Zugegebenermaßen ist dieser Weg gerade in
der Gesundheitspolitik alles andere als einfach – aber allein das, was wir bis jetzt in diesem Sinn erörtert haben,
wäre schon ein beachtlicher Schritt in die richtige Richtung: Eine Begrenzung der Versicherungspflicht auf die Großrisiken würde die Prämien in diesem Bereich senken, während
der dadurch gewachsene "Bereich der Freiwilligkeit" ohne
Einschränkungen in den Wettbewerb des Marktes entlassen wäre
und davon seinerseits profitieren würde. An anderer Stelle
diskutierte Reformen wie erhöhte Transparenz durch Erstattungs- statt Sachleistungsprinzip (These 8) und erhöhte Eigenverantwortung durch angemessene Selbstbeteiligung (These
12) sind ebenfalls Beiträge zu mehr Wettbewerb und geringeren Kosten.
Wie erfolgreich auch immer eine Kostensenkungspolitik durch
mehr Wettbewerb sein mag – es wird trotzdem stets Menschen
geben, für die auch eine elementare Grundsicherung zu teuer
bleibt, d.h. die ihre Versicherungsprämie nicht oder nicht
vollständig selber bezahlen können. Da es sich um eine unerlässliche Grundsicherung handelt, ist hier einer der Fälle
gegeben, wo der Staat helfend einspringen muss. Warum eine
solche Subvention an den Versicherten selbst und nicht an
die Versicherungsgesellschaft gehen soll, ist bei These 10,
und warum sie von den Steuerzahlern und nicht von den anderen Versicherten aufgebracht werden soll, bei These 9 begründet.
Geradezu
lebenswichtig
ist
eine
solche
PrämienSubventionierung für Personen, die ein so hohes und zugleich
hochwahrscheinliches Risiko zu versichern haben, dass sie
normalerweise keine Versicherung mehr annimmt (z.B. HIVPositive). Solche Fälle könnten sogar ein besonders überzeu-
37
gendes Modell für das Zusammenwirken von staatlicher Hilfe
und effizientem Wettbewerb bilden: Es gibt Vorschläge, wonach der Staat die Subventionierung solcher "schlechter Risiken" in einer Auktion ausloben soll, an der sich alle Versicherungsunternehmen beteiligen können; nach dem günstigsten Gebot richtet sich dann der staatliche PrämienZuschuss.
38
8. Der Grundsatz der Transparenz
Die Forderung, dass Politik und ihre Auswirkungen für den
Bürger durchschaubar, kalkulierbar und zurechenbar sein
müssen, ist besonders unabdingbar in einem Bereich, wo
riesige Geldmengen umverteilt und Lebenschancen direkt und
nachhaltig beein-flusst werden. Liberale Sozialpolitik
strebt deshalb nach Transparenz, d.h. es sollte auch ohne
Expertenwissen und ohne exzessive Mühe erkennbar sein, wer
für welche Zwecke in welcher Höhe belastet wird und welche
Leistungsansprüche daraus unter welchen Voraussetzungen
erworben werden, bzw. welche Umverteilungsströme von wo
nach wo in welcher Höhe fließen. Das bedingt eine klare
Trennung der verschiedenen Bereiche, eine möglichst kleine
Zahl von Instrumenten - im Idealfall ein Instrument pro
angestrebten Zweck - und klare Kostenzuordnung: an liberaler Sozialpolitik befinden sich Preisschilder.
Man sollte meinen, dass diese These unter Demokraten nicht
kontrovers sein kann. Ist es denn nicht die bare Selbstverständlichkeit, dass jeder Bürger wissen können muss, was mit
seinem Geld geschieht und wen er dafür ggfs. zur Verantwortung ziehen kann? Leider wird man eines schlechteren nicht
nur durch die Reaktion vieler Politiker auf dieses "Ansinnen" belehrt, sondern auch durch eine genauere Betrachtung
unserer wohlfahrtsstaatlichen Realität. Man findet dort nämlich ein dermaßen kompliziertes Um- und Rück- und Hin-undher-Verteilungsgewirr, dass man schon ziemlich arglos sein
muss, um das für bloßen Zufall zu halten. Mit anderen Worten: Das harte Urteil, hier werde systematisch verschleiert,
lässt sich nur mit Mühe vermeiden.
Oder wie soll man es sonst bezeichnen, wenn z.B. das Ziel
einer sozialen Egalisierung zwischen Schwächer- und Besserverdienenden gleichzeitig mit so unterschiedlichen Instrumenten verfolgt wird wie Steuerprogression, umverteilende
Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge und Wohngeld
und/oder Sozialmiete? Oder das Ziel der Familienförderung
durch Steuerbegünstigung, Kindergeld, kostenlose Mitversicherung in der Krankenversicherung und Mitversicherung in
der Rentenversicherung (Witwen- und Waisenrente)? Wohlgemerkt: es geht hier nicht darum, ob diese Ziele förderungswürdig sind oder nicht, sondern ausschließlich darum, dass
39
bei einer so verästelten Vielfalt der Förderungswege am Ende
niemand mehr sagen kann, wieviel für den jeweiligen Zweck
insgesamt umverteilt wird. Und dass dadurch jeder Wähler
überfordert ist, wenn er entscheiden soll, ob er damit einverstanden ist.25
Setzt man gegen diesen Dschungel die Forderung nach klar und
leicht durchschaubaren Kosten-Leistungs-Relationen, also salopp dahingesagt – nach "Preisschildern", so kann man
manch blaues Wunder erleben. Dies sei ein Appell an den Egoismus der Besitzenden, heißt es dann; wenn man denen so
deutlich vorrechne, wieviel ihnen insgesamt für umverteilende Zwecke abgenommen wird, so mobilisiere man doch nur ihren
Widerstand. Und das sei aus übergeordneten "sozialen" Gründen unerwünscht.
Man muss sich wirklich schonungslos klarmachen, was da gesagt wird. Nämlich folgendes: "Wenn man die Wähler selber
sehen lässt, wieviel sie für bestimmte Umverteilungsprogramme tatsächlich bezahlen, dann werden sie vielleicht nicht
mehr mitspielen und öfters anders entscheiden als die Politiker. Das muss verhindert werden, denn die Bürger können
diese Dinge nicht so gut beurteilen wie die Politiker und
geben sich – ganz im Unterschied zu diesen – nur ihren niedrigen egoistischen Instinkten hin. Deshalb lässt man sie
besser über die wahren Sachverhalte im Dunkeln." Das ist
nichts anderes als die zum Programm erhobene Entmündigung
der Bürger.26
Gerade dieser Widerstand zeigt, wie wichtig Transparenz
ist.27 Zu ihrer Herstellung können so einfache aber wirkungsvolle Maßnahmen dienen wie das Erstattungsprinzip in der
25
26
27
Die Aufzählung der verschiedenen Umverteilungsinstrumente ist bei
keinem der beiden Beispiele vollständig. Am Lehrstuhl Prof. Mitschke
an der Universität Frankfurt a.M. wurde 1996 eine Liste von 155 verschiedenen Sozialleistungen erstellt, die von 38 verschiedenen Behörden verwaltet werden.
Mancher Leser wird hier denken, das sei nun wirklich übertrieben
und polemisch dargestellt. Diese Illusion muss ihm leider genommen
werden: man kann die oben wiedergegebene "Argumentation" (natürlich
nicht in unserer Klartext-Übersetzung) tatsächlich hören, und gar
nicht einmal so selten.
Vgl. Gerhard Schwarz, Plädoyer für mehr Transparenz, in: Otto
Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o.
Anm. 1), S. 195-201.
40
Krankenversicherung: Nur wenn die Berechnung zunächst ihm
gegenüber erfolgt, erfährt der Versicherte überhaupt, was
seine Krankheit bzw. deren Behandlung kostet. Aber auch
schwereres Geschütz gehört hierher, wie die Abschaffung der
sogenannten "Arbeitgeber-Beiträge" zur Sozialversicherung,
die in Wahrheit nichts anderes sind als sozialkostenverschleiernde Lohnbestandteile und daher auch wie Lohn behandelt, d.h. ausbezahlt werden sollten (und zwar steuerfrei,
damit der Lohn- oder Gehaltsempfänger damit seine Versicherungsbeiträge ohne Einbuße bezahlen kann).
Das allerschwerste Geschütz ist aber ohne Zweifel die "EinInstrument-pro-Ziel-Regel". Sie wird sich, um das gleich zuzugeben, kaum in voller Reinheit und Ausnahmslosigkeit
durchsetzen lassen, aber als Ziel, dem man sich so weit wie
nur möglich annähern soll, ist sie von großer Bedeutung. Man
stelle sich nur einmal vor, bei den eingangs zitierten Beispielen würden all die vielen unübersichtlichen EinzelUmverteilungen zu einem einzigen Transfer zusammengefasst:
Dann lägen die Karten auf dem Tisch, und jeder, Politiker
wie Wähler, könnte rational entscheiden: "Ist mir dieses
Ziel diesen Preis wert?" Bei dem bestehenden Dschungel ist
eine solche rationale Entscheidung prinzipiell nicht möglich, und das kostet seinerseits einen Preis, den es ganz
gewiss nicht wert ist.
41
9. Trennung zwischen Transfer- und Versicherungsbereich
Konsequent liberale Sozialpolitik vermeidet jede Vermengung zwischen Versicherungsprinzip und Transferleistungen.
Transfers sind Umverteilung; zur Versicherung gehört hingegen das Äquivalenzprinzip, d.h. es herrscht eine objektive versicherungsmathematische Relation zwischen Beitrag
und Leistung, die der Manipulation durch politische Eingriffe entzogen bleiben muss. Daher sollten in einer liberalen Sozialpolitik Transferleistungen ausschließlich aus
allgemeinen Steuern und Versicherungsleistungen ausschließlich aus äquivalenten Prämien finanziert werden.
Wird aus sozialen Gründen ein Versicherungsschutz für notwendig erachtet, den der Betroffene nicht aus eigener
Kraft erwerben kann, ist die liberale Lösung die Subventionierung der Versicherungsprämie durch subjektbezogenen
Transfer.
Diese These kommt scheinbar ganz harmlos "technisch" daher –
und enthält doch in Wahrheit von allen hier behandelten Thesen die größte Sprengkraft. Sie verlangt nämlich nicht mehr
und
nicht
weniger,
als
den
Bereich
der
nichtversicherungsimmanenten Umverteilung klar abgegrenzt separat
zu stellen – und alles andere der politischen Einflussnahme
weitestgehend zu entziehen.
Warum diese strenge Trennung? Weil Hilfe bei Bedürftigkeit
und Not einerseits und Vorsorge für eventuelle künftige Notfälle andererseits zwei verschiedene Dinge mit je ihrer eigenen Logik sind und weil eine Vermengung von Vorsorgemaßnahmen mit Umverteilungsvorgängen das Tor für fast unbegrenzte politische Manipulation öffnet. Aber auch deshalb,
weil zu jedem begründeten Anspruch auf Solidarität die richtige Solidargemeinschaft gehört.
Wer soll mit denen solidarisch sein, die eine teure Krankenbehandlung oder auch einen
überdurchschnittlich langen Ruhestand finanziell nicht verkraften können – aber noch gar
nicht wissen, ob ihnen so etwas bevorsteht? Natürlich die,
die das selbst auch noch nicht wissen, aber nach dem gleichen Wahrscheinlichkeitskalkül damit rechnen müssen. Sie le-
42
gen, solange sie noch nicht wissen, wen "es trifft", ihre
Beiträge in eine Versicherungskasse, damit für die, die "es
trifft", dann die nötigen Mittel bereitstehen. Da sie diesen
Pakt abschließen, bevor sie wissen, wen der "Versicherungsfall" treffen wird, handeln sie aus klug kalkuliertem Eigeninteresse; da sie übereinkommen, denen beizustehen, die "es
trifft", üben sie in einem gewissen Sinn aber auch Solidarität. An diesen Zusammenhängen ändert sich grundsätzlich
nichts, wenn die Betroffenen dieses Versicherungsarrangement
nicht selbst organisieren, sondern es von einem kommerziellen - oder öffentlich-rechtlichen – Dienstleister (einer
Versicherungsgesellschaft) organisieren lassen.
Und wer soll mit denen solidarisch sein, die in Not und Bedürftigkeit geraten, ohne dass sie sich dagegen sichern
konnten (oder jedenfalls: ohne dass sie sich gesichert haben)? Die Antwort kann hier nur lauten: Alle. Für bereits
eingetretene, im übrigen meist unspezifizierte und unkalkulierbare "Risiken" gibt es keine spezielle, durch gleiche
Interessenlage definierte Solidargemeinschaft; da muss (wenn
nicht irgendwoher freiwillige Hilfe kommt) die Allgemeinheit
einstehen. Diese "Allgemeinheit" besteht in der Praxis allerdings nur aus denjenigen, die (je nach Leistungsfähigkeit) etwas in die "allgemeine Kasse" beitragen – also aus
den Steuerzahlern. Und es sind ihre Steuern, aus denen die
Nothilfe (incl. notwendige Hilfe zur Vorsorge) finanziert
wird, die also insoweit umverteilt werden.
Natürlich ist die Versuchung groß, diese Praxis der Umverteilung auch in Versicherungsarrangements hineinzutragen:
Einigen Gruppen nimmt man höhere, anderen geringere Beiträge
ab, obwohl alle dafür prinzipiell den gleichen Leistungsanspruch erwerben; oder man gewährt ihnen für gleiche Beiträge
unterschiedliche Leistungen. D.h. das Prinzip des Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung, das für echte Versicherungen konstitutiv ist28, wird außer Kraft gesetzt.
28
Dieses Gleichgewicht besteht nicht darin, dass man gleich viel
zurückerhält wie man eingezahlt hat (dann könnte man sich das Versichern sparen, bzw. einfach statt des Versicherns sparen). Vielmehr
bedeutet "Äquivalenz" im versicherungsmathematischen Sinn, dass sich
die Versicherungsprämie nach dem Risiko vor Eintreten des individuellen Versicherungsfalls bemisst.
43
Dieser Versuchung wird besonders dann ziemlich widerstandslos nachgegeben, wenn eine Versicherung im Zugriffsbereich
der Politik liegt. Man bürdet ihr versicherungsfremde, umverteilende Aufgaben auf, die eigentlich – wenn man sie
überhaupt für nötig hält – in das Pflichtenheft der Steuerzahler-Gemeinschaft gehören. Eine solche mit versicherungsfremden Umverteilungsaufgaben befrachtete "Versicherung"
(die keine Versicherung mehr ist) nennt man dann "Sozialversicherung" – wobei der Begriff "sozial" zum Synonym für "politisch beliebig manipulierbar" verkommt.
Sarkasmus beiseite: An der deutschen Sozialversicherung kann
man besichtigen, wohin die Vermischung von Versicherungsund Umverteilungsprinzip führt.29 Letztlich wird alles politisch entschieden: Beiträge, Leistungen, Anspruchsgrundlagen, Vertragskonditionen und so weiter – all dies bestimmt
der Bundestag und nicht die Versicherungslogik. Und die Politiker bringen in diesem undurchschaubaren Amalgam mühelos
ihre "speziellen Anliegen" unter – inklusive diejenigen der
verschiedensten Interessengruppen. Über Bord geht dabei als
erstes die Transparenz, in ihrer Folge die Effizienz –- und
am Ende die Finanzierbarkeit.
Wer daraus den Schluss zieht, eine strikte Trennung von Versicherung und Umverteilung zu fordern, muss sich im allgemeinen mit mindestens zwei Einwänden auseinandersetzen. Der
eine lautet, die versicherungsfremden Leistungen würden doch
durch den Bundeszuschuss zur Sozialversicherung – und damit,
wie hier gefordert, aus Steuermitteln – ausgeglichen. Das
ist soweit richtig – jedenfalls wenn man unterstellt, dass
der am Ende der DM-Ära immerhin dreistellige Milliardenbetrag ausreicht, die niemals genau quantifizierten versicherungsfremden Leistungen im engeren Sinne abzudecken. Aber
zum einen muss man hier tatsächlich versicherungsfremde Leistungen im "engeren" und im "weiteren Sinne" unterscheiden;
die Leistungen, die der Bundeszuschuss abdecken soll, sind
nämlich nur jene, die auch die Anhänger einer "Sozialversicherung mit Umverteilungselementen" als systemfremd anerkennen: Spätaussiedler- und Neue-Bundesländer-Renten30, Frühver29
30
Vgl. Walter Hamm, Von der Umverteilungsmaschine zur Versicherung,
in: Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung
(s.o. Anm. 1), S. 203-222.
D.h. Renten, denen keine oder kaum Beitragszahlungen in die BundesRentenkasse gegenüberstehen.
44
rentungen zur Entlastung des Arbeitsmarktes und dergleichen
mehr. Nicht ausgleichen soll der Bundeszuschuss dagegen die
abgestuften Beitrags-Leistungs-Relationen, die ebenfalls Abweichungen vom Versicherungsprinzip, aber "aus sozialen
Gründen" gewollt (und als "versicherungsfremd im weiteren
Sinn" eigentlich viel zu verharmlosend umschrieben) sind.
Zum anderen hat sich der Bundeszuschuss in seiner Höhe noch
nie nach dem – ohnehin nie genau ermittelten – Umfang der
versicherungsfremden Leistungen gerichtet, sondern nach dem
jeweiligen Loch in der Rentenkasse bzw. nach der Einschätzung, ob man den Versicherten gerade eine Beitragserhöhung
zumuten kann oder nicht.31
Und zum dritten löst der Bundeszuschuss kein einziges der
beschriebenen Probleme. Es bleibt die Intransparenz, es
bleibt die Unkalkulierbarkeit infolge Außerkraftsetzung des
Äquivalenzprinzips, und es bleibt die politische Manipulierbarkeit – ja die dürfte sogar noch zunehmen, denn wenn die
Politik schon so beträchtliche Mittel aus "ihrer" Steuerkasse zuschießt, dann will sie natürlich auch "entsprechenden"
Einfluss auf die Sozialversicherung nehmen. (Beziehungsweise, da sie das ohnehin tut, tut sie es aufgrund der zugeschossenen Milliarden nun auch noch mit reinem Gewissen.)
Der andere, ungleich gewichtigere Einwand lautet, das Herausnehmen aller nicht-versiche-rungsimmanenten Umverteilungselemente aus der Sozialversicherung bedeute eine Entsoli-darisierung. Hier muss man genau hinsehen: von welcher
Solidarität ist da die Rede? Wie oben ausgeführt, enthält ja
auch das Versicherungsprinzip selbst ein Element der Solidarität, bezogen auf den Versicherungszweck, also das "versicherte Risiko". Diese Solidarität meinen die Kritiker aber
nicht (sie wird ja auch nicht angetastet), sondern die anderen, in der Sozialversicherung offen oder unausgesprochen
mitlaufenden Umverteilungsvorgänge: zugunsten der Einkommensschwachen, zugunsten der Verheirateten, zugunsten der
Kinderreichen – ja sogar zugunsten der Langzeit-Studenten
(durch rentenerhöhende "Ersatzzeiten"), und noch einige andere mehr. Kurz gesagt, unter "solidarisch" verstehen diese
Kritiker, dass auch Belastungen, die mit dem versicherten
Risiko gar nichts zu tun haben, durch die Versicherung aus31
Vgl. Gisela Babel, Die Gesundbeter. Rentendebatten in Deutschland, Academia Verlag St. Augustin 2001.
45
geglichen oder gemildert werden. Das macht in ihren Augen
den Unterschied zwischen einer Sozialversicherung und einer
"gewöhnlichen" Versicherung aus.
Man braucht die genannten Solidaritäts-Ziele gar nicht in
Zweifel zu ziehen, um die entscheidende Frage zu stellen:
Ist dafür die Gemeinschaft der Versicherten die richtige Solidargemeinschaft? Warum sollen für die Einkommensschwachen,
Verheirateten, Kinderreichen etc., wenn man ihnen denn helfen will, ausgerechnet die Kranken- und Rentenversicherten
einstehen und nicht die Steuerzahler?
Beantwortet man diese Frage im Sinne unserer obigen Überlegungen "zugunsten" der Steuerzahler, so ist nicht einzusehen, was daran weniger solidarisch sein soll als bei einer
Belastung der Versicherten. Es handelt sich lediglich um die
Zuordnung zur richtigen Solidargemeinschaft. Erfolgt diese
Zuordnung dann noch unter Beachtung von These 10 – Subjekthilfe statt Objektsubvention -, dann handelt man sich
damit folgende Vorteile ein:
_ Versicherungen können auch dann, wenn sie sozialpolitischen Zielsetzungen dienen, ausschließlich nach Versicherungsgrundsätzen (Äquivalenzprinzip) gestaltet werden und
werden dadurch für die Versicherten kalkulierbar: Jeder
weiß, für welche Beiträge er welche Leistungen zu erwarten hat, und kann sich darauf einrichten (z.B. bei der
Wahl zwischen verschiedenen Tarifangeboten).
_ Sozial motivierte Umverteilungen sind, wenn sie möglichst
ausnahmslos einem steuerfinanzierten Transfer-Haushalt
zugewiesen sind, viel besser als solche zu erkennen und
damit der bewussten Entscheidung der Wähler weit eher zugänglich. Denn erst durch eine solche Zusammenführung
werden die Gesamtaufwendungen pro sozialpolitisches Ziel
wirklich transparent.32
_ Die Rechtfertigung für politische Eingriffe in alle versicherungsförmigen Varianten so-zialer Sicherung entfällt; die Manipulierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme wird dadurch drastisch verringert.
32
Das setzt voraus, dass Umverteilungs-Aufwendungen zugunsten ein- und
desselben Ziels nicht an verschiedenen Stellen des Haushalts eingestellt (d.h. versteckt) werden.
46
_ Indem die Politik auf die "legitime Umverteilungsmasse"
des Steueraufkommens in sehr transparenzerhöhender Weise
zugleich verwiesen und beschränkt wird, wird ihre demokratische Verantwortlichkeit (accountability) erheblich
gestärkt.
Man kann das – zugespitzt, aber durchaus nicht falsch – auch
auf die Formel bringen: Durch eine klare Trennung von Versicherungs- und Umverteilungs-/Transfer-Bereich wird der Sektor der Sozialpolitik, der objektiven Regeln unterliegt,
ganz erheblich ausgeweitet und der Sektor der Willkür ganz
erheblich eingeschränkt.
Am Ende bleibt nur noch ein Scheinproblem übrig: Wenn all
die Beitragsermäßigungen bzw. Leistungserhöhungen wg. Einkommensschwäche, Ehestand, Kinderreichtum etc. in der Sozialversicherung wegfallen und nur noch äquivalente Prämien
gelten sollen – wo sollen dann all die Einkommensschwachen,
Kinderreichen etc. bleiben, die diese äquivalenten Prämien
nicht bezahlen können?
Das ist deshalb ein Scheinproblem, weil die Frage längst beantwortet ist: Dafür ist der Transferbereich zuständig! D.h.
wo sozial notwendige Sicherungen wegen Einkommensschwäche,
Kinderreichtum etc. nicht aus eigener Kraft zu schaffen
sind, müssen sie im Wege des Transfers subventioniert werden. Die Prämien, nicht die Versicherungsanstalten. Das leitet über zu These 10.
47
10. Subjekthilfe statt Objektsubvention bzw.
Markteingriff
Liberale Sozialpolitik hilft den bedürftigen Personen direkt, anstatt durch Markteingriffe oder Subventionierung
auf der Angebotsseite Preise zu manipulieren und Kosten zu
verschleiern. Während Markteingriff und Objektsubvention
regelmäßig zu Verzerrungen und unerwünschten Nebenwirkungen führen und überdies hochgradig regulierungsintensiv
sind, greift die Subjektsubvention in niemandes Selbstbestimmung (außer in die der die Mittel aufbringenden Steuerzahler) ein, hilft dort, wo die Bedürftigkeit tatsächlich existiert, und trägt durch Intaktlassen der
Marktkräfte dazu bei, dass die für soziale Maßnahmen erforderlichen Mittel auch erwirtschaftet werden.
Hilfe für Bedürftige lässt sich auf verschiedenen Wegen realisieren, aber nicht alle entsprechen liberalen Kriterien.
Warum Liberale den Weg der direkten, personenbezogenen Hilfe
(Subjektsubvention) allen Alternativen vorziehen, lässt sich
am ehesten an einem praktischen Beispiel erläutern.
Angenommen, es geht darum, Menschen zu helfen, die nicht in
der Lage sind, die marktübliche Miete für eine angemessene
Wohnung aufzubringen. Um dieses Problem zu lösen, gibt es
drei Möglichkeiten, die alle in der Bundesrepublik Deutschland ausprobiert worden sind, und mit durchaus unterschiedlichem Erfolg.
Der erste Lösungsansatz heißt Mietpreis-Kontrolle. Der Staat
lässt eine marktgesteuerte Preisbildung auf dem Wohnungsmarkt nicht zu, sondern legt fest, was Wohnraum kosten darf;
insbesondere kontrolliert er die Miet-Steigerungsraten. Das
soll preisgünstigen Wohnraum sichern. In Wahrheit produziert
es aber steigende Wohnungsnot, weil Investitionsmittel, deren Rendite im Wohnungsbau künstlich niedrig gehalten wird,
dann eben nicht in den Wohnungsbau gehen, sondern in rentablere Anlageformen. Erzwingt die Abwärts-Spirale am Ende
doch eine Freigabe der Mieten, dann schießen sie allerdings
zunächst leicht in schwindelerregende Höhen, weil der vorangehende Mietstopp eine preistreibende Knappheit geschaffen
48
hat. In beiden Fällen ist der bedürftige Wohnungssuchende
der Dumme.
Lösungsansatz zwei: "Sozialer Wohnungsbau". Der Staat subventioniert aus Steuermitteln Wohnungsbau-Unternehmen, die
dafür Wohnungen zu ermäßigten ("sozialen") Mieten bereitstellen müssen; Anspruch auf solchen verbilligten Wohnraum
haben Personen bzw. Familien unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze. Das geht so lange gut, wie das Einkommen dieser Mieter auch unterhalb der festgelegten Grenze bleibt.
Verbessert sich ihre wirtschaftliche Situation, ist die Wohnung "fehlbelegt": entweder müssen die Mieter aus ihr ausziehen, oder es muss ein Ausgleich für den nunmehr "sozial
ungerechtfertigten" Vorteil der Niedrigmiete geschaffen werden. In einer einfachen Anhebung der Miete auf das Marktniveau kann dieser Ausgleich aber nicht bestehen: Der Vermieter hat die Bau-Subvention ja gerade dafür erhalten, dass er
die Miete unter Marktniveau hält, und er soll nun nicht ein
zweites Mal kassieren. Man muss also entweder den Vermieter
dazu verpflichten, die Mehreinnahmen aus Marktmiete wieder
sozialwohnraum-schaffend zu investieren, oder den Mietern
eine "Fehlbelegungsabgabe" abnehmen. In beiden Fällen wird
ein hoher Kontroll- und Verwaltungsaufwand fällig, und vor
allem: in beiden Fällen hat der ursprüngliche regulierende
Staatseingriff zwangsläufig weiteren Regulierungsbedarf nach
sich gezogen.
Die dritte – die liberale – Lösung heißt "Wohngeld". Auch
hier schießt der Staat aus Steuermitteln zu, aber er tut
dies gegenüber dem bedürftigen Wohnungssuchenden selbst und
direkt. Der so Subventionierte wird in die Lage versetzt,
den seinen Bedürfnissen entsprechenden Wohnraum unter Marktbedingungen und zu Marktpreisen nachzufragen. Die Chance,
dass diese Nachfrage auf ein entsprechendes Angebot trifft,
ist wesentlich höher als bei den beiden anderen Lösungsansätzen, denn wenn der Staat weder mit Preisdiktaten noch mit
verzerrenden und und regulierungsintensiven Subventionen in
den Markt eingreift, wird dieser besser funktionieren und
das Nachgefragte eher zu erschwinglichen Preisen bereitstellen. Dass die Erschwinglichkeit für einen Teil der Nachfrager erst durch eine staatliche Subvention erreicht wird, ist
dann am unschädlichsten, wenn es sich um eine SubjektSubvention (also eine an das bedürftige Subjekt direkt geleistete Subvention) handelt, denn sie bringt die Erforder-
49
nisse eines funktionierenden (Wohnungs-) Marktes und die Bedürfnisse einkommensschwacher Wohnungssuchender am besten
"unter einen Hut". Langfristig wird sie daher auch dazu beitragen, dass die Zahl der Personen, die einer solchen Subven- tion bedürfen, sinkt.
Was hier am Beispiel "Wohnbedarfs-Subventionierung" dargestellt wurde, gilt prinzipiell für alle Formen sozialer Hilfeleistung: die Subjekt-Subvention ist die marktkonforme,
die effizienteste, die für die Betroffenen bedürfnisgerechteste Form der Hilfe.33 Das gilt insbesondere auch im Vergleich mit jener Objekt-Subventionierung bzw. Marktmanipulation, die in der versicherungswidrigen Gestaltung des Beitrags-Leistungs-Verhältnisses in der Sozialversicherung
liegt. Dabei ist unbestritten: sobald in die Sozialversicherung das ungebremste Äquivalenzprinzip Einzug hält, werden
für einige bisher begünstigte Gruppen die Beiträge höher.
Wenn sie wirklich bedürftig sind, sorgt die Subjekthilfe dafür, dass sie nicht auf dieser Erhöhung (die ja nichts anderes dar- und herstellt als den wahren Preis ihres Versicherungsschutzes) sitzen bleiben.
Die Einschränkung "wenn sie wirklich bedürftig sind" verweist auch darauf, dass bei Subjekthilfe die individuelle
Bedürftigkeit viel mehr im Mittelpunkt steht als bei den
"unpersönlichen" Hilfe-Varianten des Markteingriffs oder der
Objektsubvention. Das in These 2 postulierte Prinzip der gezielten, d.h. an der individuellen Situation ausgerichteten
Hilfe findet also hier ein wichtiges Stück seiner praktischen Verwirklichung.
Das gilt besonders dann, wenn die aus unterschiedlichen
Gründen geleisteten Subjekt-Subventionen zu einem einzigen
Transfer zusammengefasst werden. Dies ist die Idee des "Bürgergeldes", das oft auch als "negative Einkommensteuer" bezeichnet wird, wissenschaftlich-korrekt aber "integriertes
Steuer-Transfer-System" heißt, weil Abgabe-Pflichten (Steuer) und Leistungs-Ansprüche (Transfers), die der Einzelne
gegenüber dem Staat hat, in ein einziges System zusammengefasst und gegeneinander aufgerechnet werden. Der Einzelne
zahlt oder erhält einfach den Saldo aus seiner Steuerpflicht
33
Vgl. Friedrich Breyer, Subjekthilfe statt Markteingriff oder Objektsubvention, in: Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 223-239.
50
und der Summe seiner Transfer-Ansprüche (also im Falle einer
Auszahlung eine Art "negative Steuer").
Bei Liberalen genießt das Bürgergeld-Konzept noch aus anderen als rein sozialpolitischen Gründen Sympathie; z.B. weil
damit ein erheblicher Bürokratie-Abbau möglich wäre (man
bräuchte nicht mehr 155 Einzel-Leistungen und 38 Behörden).
Seine herausragende soziale Bedeutung liegt aber darin, dass
ein ganz neuer Arbeitsmarkt-Sektor für marktgerechte, durch
Bürgergeld aufgestockte Niedriglöhne eröffnet würde. D.h.
einfache und niedrig-produktive Arbeit, die heute nicht
stattfindet, weil der damit erzielbare Marktlohn nicht zum
Leben reicht, weil das geltende Tarifrecht es verbietet,
oder weil Sozialhilfe ohne Arbeitsleistung mehr einbringt,
würde mit der Bürgergeld-Aufstockung plötzlich interessant –
und sogar attraktiv, wenn im Unterschied zum geltenden Sozialhilfe-System Erwerbseinkünfte nicht voll, sondern nur zu
einem bestimmten Prozentsatz auf den Bürgergeld-Anspruch angerechnet würden.
Auch wenn das Bürgergeld nicht völlig frei von allen Nachteilen ist, ist diese Lösung doch allemal sinnvoller als das
derzeitige Verfahren, einfache und niedrig-produktive Arbeiten ungetan zu lassen (bzw. in den Schwarzmarkt abzudrängen)
und an die große Zahl derer, die solche Arbeit leisten könnten und wollten, Arbeitslosen- oder Sozialhilfe für unfreiwilliges und demoralisierendes Nichtstun zu zahlen.34 Ganz zu
schweigen von den teuren und wenig erfolgreichen Ansätzen
einer "aktiven Arbeitsmarktpolitik" (ABM, "zweiter Arbeitsmarkt") oder der Suventionierung von und dem Hineinregieren
in Unternehmen, "um Arbeitsplätze zu sichern": Auch wenn es
um die Subventionierung von Arbeitsplätzen geht, ist die
Subjekt-Subvention das überlegene Verfahren.
34
Vgl. Horst Werner, Bürgergeld: Ein integriertes Steuer- und Transfersystem, Friedrich-Naumann-Stiftung 2002, und Joachim Mitschke, Politische Optionen der Bürgergeld-Konzeption, Liberales Institut der
Friedrich-Naumann-Stiftung 2001.
51
11. Generationengerechtigkeit oder der Grundsatz
der Nachhaltigkeit
Liberale Sozialpolitik löst heutige Probleme nicht auf Kosten zukünftiger Generationen; eine Generation darf von der
nachfolgenden nicht mehr erwarten, als sie selbst geleistet
hat. Ein oktroyierter Generationenvertrag nach dem Motto
"nach uns die Sintflut" ist ebenso illiberal wie unsozial.
Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Man wird kaum Politiker oder Parteien finden, die für Generationen-Ungerechtigkeit eintreten. Für eine "faire Verteilung" der Lasten der sozialen Sicherung auf die verschiedenen Generationen sind alle. Auch dürften in diesem Fall die
Meinungen, was als "fair" zu betrachten sei, nicht allzu
weit auseinandergehen: Es geht darum, dass – wie in der These formuliert – keine Generation der nachfolgenden mehr aufbürden darf als sie selbst zur allgemeinen sozialen Sicherung beigetragen hat – oder noch einfacher ausgedrückt: dass
keine Generation auf Kosten der anderen leben darf. Das Problem liegt also nicht so sehr in mangelnder Akzeptanz dieses
Ziels als in seiner mangelnden Umsetzung: die Akzeptanz
bleibt Lippenbekenntnis, oder die Priorität, die dem Ziel
"Generationengerechtigkeit" gegeben wird, ist zu gering, um
praktisch wirksam zu werden.
Das wird leichter verständlich, wenn man sich die Situation
der Altersvorsorge in Deutschland genauer anschaut. Seit
1957 ist diese nach dem Umlageverfahren organisiert, d.h.
die heute eingezahlten Beiträge dienen nicht (wie in einer
Lebens- oder privaten Rentenversicherung) der Ansparung der
zukünftigen Renten, sondern werden sofort für die heutigen
Renten wieder ausgegeben. Das geht so lange gut, wie sich
das Zahlenverhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern nicht wesentlich verändert. Kämen heute wie 1957 auf
einen Rentner ungefähr drei Beitragszahler, gäbe es kaum
Probleme. Aber infolge längerer Lebensdauer, kürzerer Lebensarbeitszeit und implodierender Geburtenraten sind wir
heute schon in der Nähe von zwei Beitragszahlern pro Rentner
und werden in wenigen Jahrzehnten so weit sein, dass jeder
Beitragszahler einen Rentner finanzieren muss. Das heißt im
Klartext nichts anderes als dass diejenigen, die die heuti-
52
gen Renten mit ihren Beiträgen finanzieren, nur äußerst unsichere Aussichten haben, später selbst eine diesen Beitragsleistungen entsprechende Rente zu erhalten: Entweder
werden die Beiträge unbezahlbar hoch oder die Renten äußerst
kümmerlich. (Auch wenn der – gigantische – Fehlbetrag aus
dem Bundeshaushalt zugeschossen wird, muss das die dann lebende Aktiv-Generation – oder im Fall der SchuldenFinanzierung die danach kommende – mit ihren Steuern bezahlen.)
Es gibt leider wenig Zweifel daran, dass die heutige Generation auf Kosten der zukünftigen lebt.35 Das heißt, die Rentenfinanzierung befindet sich nicht in einem langfristigen
soliden Gleichgewicht, oder, modisch-modern formuliert: sie
genügt nicht dem Kriterium der Nachhaltigkeit. Aber wie ist
Nachhaltigkeit zu erreichen?
Die Antwort darauf ist zu einem guten Teil schon bei These 9
gegeben. Sie lautet: Versicherung! Also etwas, was wirklich
eine Versicherung ist und nicht nur irreführend so genannt
wird. Oder noch genauer: etwas, wo Ansprüche sich nach einer
objektiven mathematischen Formel aus den eingezahlten Beiträgen und nicht aus politischen Entscheidungen ergeben.
Mit dem Umlageverfahren ist das selbst dann kaum zu erreichen, wenn politische Willkür weitgehend durch Versicherungsmathematik ersetzt würde: die demographischen Gefährdungen bleiben. Die logische Alternative ist das Kapitaldekkungsverfahren, bei dem jeder durch seine Beiträge einen Kapitalstock anspart, aus dem später seine Rente finanziert
wird.36
Man kann die Grundgedanken von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren ungefähr so zusammenfassen: Das Umlageverfahren
ist gewissermaßen die "Kollektivierung" der uralten Praxis,
dass Kinder für ihre Eltern sorgen, wenn sie alt werden. Dahinter steckt die Idee des Generationenvertrages: schließ35
36
Vgl. Bernd Raffelhüschen, Eine Generationenbilanz der deutschen
Wirtschafts- und Sozialpolitik, in: Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.),
Freiheit und soziale Verantwortung (s.o. Anm. 1), S. 241-260.
Viele Menschen glauben, dass genau dieses in der heutigen "Rentenversicherung" geschehe. Sie durchschauen das Umlageverfahren nicht
– u.a. weil die Bezeichnung "Renten-Versicherung" sie in die Irre
führt.
53
lich haben die Eltern für die Kinder gesorgt, als diese noch
nicht für sich selber sorgen konnten. Geändert hat sich nur
dies: früher sorgte jeder für seine Eltern, jetzt sorgen
durch die Umlage alle Jungen zusammen für alle Alten. Beim
Kapitaldeckungsverfahren hingegen sorgt jeder für sein eigenes Alter vor, es gibt also weder einen Generationenvertrag
noch eine Kollektivierung der Vorsorge. Das mag auf den ersten Blick wenig solidarisch aussehen – aber nachfolgenden
Generationen nicht nahezu unerfüllbare Verpflichtungen aufzubürden ist auch ein Akt der Solidarität, und noch nicht
einmal ein geringer. Genau das leistet das Kapitaldeckungsverfahren, und es ist zugleich ungleich robuster gegenüber
demographischen Schwankungen.
So einleuchtend diese Vorzüge des Kapitaldeckungsverfahrens
sind: das große Problem ist der Übergang zu ihm. Wenn ab
morgen alle Berufsanfänger ihre eigene Rente anzusparen beginnen, statt die Renten der jetzigen Rentner zu bezahlen –
wer bezahlt dann diese? Auch wenn die Betroffenen nie um ihre Zustimmung zu diesem "Generationenvertrag" gefragt wurden: eingehalten werden muss er doch, d.h. die heute und in
den nächsten Jahrzehnten fälligen Renten müssen bezahlt werden. Das heißt aber nichts anderes als dass – je nach Übergangszeit – eine oder auch mehr als eine Generation zusätzlich belastet wird: sie zahlt für das Ansparen der eigenen
Rente und für die Renten derjenigen, die ein Leben lang in
das Umlage-System eingezahlt haben. Immerhin tragen Zins und
Zinseszins auf das angesparte Kapital auch dazu bei, diese
Finanzlast etwas zu mildern.
Es ist zwar ausgerechnet worden, dass dieser Übergang möglich ist, wenn er zeitlich entsprechend gestreckt wird. Aber
dazu wären Jahrzehnte erforderlich, und die Politik denkt in
Legislaturperioden von vier Jahren. Aus diesem Dilemma herauszukommen ist außerordentlich schwierig.
Andererseits ist mit der "Riester-Rente" zwar ein höchst bescheidener, aber doch immerhin ein Einstieg in die kapitalgedeckte Rente erfolgt. Je näher der Kollaps des Umlageverfahrens rückt, desto stärker wird der Druck in Richtung auf
mehr Kapitaldeckung werden. Ob der Ausgleich der Generationenbilanz mit etwas Geringerem als dem äußerst schwierigen
Totalübergang zur Kapitaldeckung zu schaffen sein wird, ist
die entscheidende, aber wohl noch ziemlich lange rein theo-
54
retische Frage. Soviel lässt sich aber - im Sinne einer
langfristigen Zielbestimmung – mit Sicherheit sagen: Je mehr
Kapitaldeckung, desto besser –- und desto mehr Generationengerechtigkeit.
55
12. Anreize zur Vermeidung, nicht zur Herbeiführung des Leistungsfalls: Der Grundsatz der Verantwortlichkeit
Liberale Sozialpolitik setzt Anreize so, dass es für den
Betroffenen attraktiv ist, den Versicherungs- bzw. Notfall
nicht eintreten zu lassen und vor allem für kleinere Schadensfälle selbst aufzukommen. Gerade wo Versicherungszwang
herrscht, sind dazu auch Wahlmöglichkeiten wichtig: oberhalb des obligatorischen Minimums soll jeder selbst bestimmen, wie weit er zu den dafür geltenden Marktpreisen
seinen Versicherungsschutz ausdehnen will. Dies wirkt
nicht nur einer für jede Sozialpolitik tödlichen Anspruchsmentalität entgegen, es entspricht auch dem Subsidiaritäts- und Effizienzgesichtspunkt, Hilfe nur und erst
dann in Anspruch zu nehmen, wenn man sie wirklich braucht.
Man kann dies als den Grundsatz der Verantwortlichkeit bezeichnen.
Hier geht es zunächst um die Erfahrungstatsache, dass Menschen sich gegenüber Risiken anders verhalten, sobald sie
gegen deren Folgen versichert sind. Die Ökonomen sprechen
von "moral hazard" und meinen damit die unausrottbare Neigung zur Sorglosigkeit – wenn nicht gar zum Leichtsinn -,
sobald man weiß: "Die Versicherung zahlt's ja".
So menschlich diese Neigung ist – sie kann teuer werden. Je
mehr Menschen es aus der Sorglosigkeit des Versichert-Seins
heraus unterlassen, angemessene Risikovorsorge, z.B. durch
krankheitsvorbeugendes Verhalten, zu treffen; und je mehr
auch wegen des harmlosesten Wehwehchens, weil es ja "nichts
kostet", möglichst gleich einen teuren Spezialisten aufsuchen und auf teurer Therapie und Medikation bestehen, desto
schneller gerät ein Krankenversicherungssystem finanziell
aus den Fugen – jedenfalls eines, das darauf angelegt ist,
für alle diese Kosten einzustehen.
Dass eine an liberalen Kriterien orientierte Versicherung
dies keineswegs muss, wurde bereits bei den Thesen 5 und 6
erläutert und begründet. Nun kommt zu den dort vorgetragenen
Argumenten noch die Überlegung hinzu, dass ein allumfassender Zwangs-Versiche-rungsschutz die falschen Verhaltensan-
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reize setzt. Er fordert das Moral-Hazard-Verhalten geradezu
heraus, denn wer zu einem hohen Versicherungsschutz gezwungen wurde, wird stets versucht sein, von seinem Geld so viel
wie möglich "wiedersehen" zu wollen.
Es kann auch an dieser Stelle nicht nachdrücklich genug betont werden, dass dies kein Plädoyer gegen irgendeinen freiwillig erworbenen Versicherungsschutz ist. Selbstverständlich soll sich jeder gegen alle Risiken versichern, gegen
die er will. Aber eben diese Wahl steht ihm desto weniger
frei, je umfassender die Pflichtversicherung (oder Versicherungspflicht) ist. Und mit der Wahlfreiheit ist dem Zwangsversicherten auch die Verantwortung (ab-)ge-nommen. Dass die
so Entmündigten sich über kurz oder lang auch nicht mehr besonders verantwortlich verhalten und den "Die-Versicherungbezahlt's-ja"- bzw. den "Ich-will-möglichst-viel-von-meinemGeld-wiedersehen"-Standpunkt einnehmen, darf eigentlich
nicht verwundern.
Begrenzt man hingegen die Versicherungspflicht – wie in These 5 beschrieben – auf die wirklich bedrohlichen Risiken, so
eröffnet man Spielräume für Eigenverantwortung und setzt zugleich die richtigen Verhaltens-Anreize. Wer selbst entscheidet, welche Risikofälle er ggfs. selber trägt und gegen
welche er sich lieber versichert, übernimmt nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern wird mit den Risiken
auch verantwortlicher umgehen: es geht dabei schließlich um
sein Geld und nicht um Geld, auf dem unabhängig von seinem
Verhalten der Staat sowieso "die Hand drauf hat".
Neben der Differenzierung in Pflicht- und (vielfältige!)
Wahltarife lassen sich mehr Eigenverantwortung und der Anreiz zu risikominderndem Verhalten noch durch ein weiteres
Mittel erreichen: durch Selbstbeteiligung bzw. Selbstbehalte. Wenn innerhalb zumutbarer Grenzen auch im Rahmen einer
obligatorischen Versicherung der Versicherte an seinen Schadensfällen beteiligt wird, löst dies die gleichen Wirkungen
aus wie die Überführung wichtiger Versicherungsteile in die
Freiwilligkeit. Da alle diese Maßnahmen – Wettbewerb auf dem
Versicherungsmarkt vorausgesetzt – beitragssenkend wirken,
ist auch nicht jede Hoffnung auf Akzeptanz solcher Reformen
von vornherein vergebens.
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In sehr bescheidenem Umfang sind Ansätze dieser Art ja bereits in die deutsche Gesetzliche Krankenversicherung eingeführt worden. Freilich braucht es entschieden mehr davon, um
den notwendigen Schub an verantwortlichem und kostensenkendem Verhalten auszulösen. Auch nichtliberale Politiker werden sich dazu vermutlich früher oder später aus Kostengründen genötigt sehen. Für die Liberalen geht es mindestens
ebenso sehr um die uralte Wahrheit, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören. Auch in der Sozialpolitik.
Dr. Gerhart Raichle ist Leiter des Liberalen Instituts der
Friedrich-Naumann-Stiftung in Potsdam