Johannes Streicher, Anatom - Karl Landsteiner Privatuniversität
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Johannes Streicher, Anatom - Karl Landsteiner Privatuniversität
„Wir lernen für die Lebenden von den Toten “ Johannes Streicher Anatom Ao.Univ.-Prof. Dr.med.univ. Johannes Streicher, Modulverantwortlicher an der KL und Leiter der Abteilung für Systematische Anatomie an der Medizinischen Universität Wien, erklärt im Gespräch mit Eva-Maria Gruber, was die Anatomie mit der Embryologie verbindet, warum die Arbeit im Seziersaal trotz moderner Computertechnologien immer noch essentiell ist und wie die erste Begegnung mit Leichen seine weitere berufliche Laufbahn beeinflusst hat. (Foto: Michael Moser/KL) Systematische Anatomie. Was darf man sich darunter vorstellen? Im Gegensatz zur Angewandten Anatomie, die vor allem klinische Diagnosen im Bereich der Morphologie stellt, beschäftigt sich die Systematische Anatomie vorrangig mit den Grundlagen der Gestalt und Struktur des menschlichen Organismus, lehrt und erforscht diesen. Diese beiden Bereiche der Anatomie überschneiden sich aber natürlich auch: Die klinische Anatomie spielt bei uns sehr wohl eine Rolle. Wir haben zahlreiche enge Forschungskooperationen mit Universitätskliniken und Lehrkrankenhäusern. Bei uns an der Abteilung für Systematische Anatomie der Medizinischen Universität Wien gibt es eine eigene Arbeitsgruppe für klinische Anatomie, die beispielsweise eng mit der Plastischen Chirurgie, der Neurochirurgie und der Orthopädie zusammenarbeitet. Neue Methoden wie z.B. jene der Knopfloch-Chirurgie entwickelt man im besten Fall ja nicht am lebenden Menschen, sondern bei uns in der Anatomie. Was haben die Histologie und Embryologie mit Ihrem Bereich zu tun? Die beiden sind die morphologischen Geschwister der Anatomie. Alle drei beschäftigen sich mit dem Aufbau des gesunden menschlichen Organismus. Die Anatomie betrachtet und analysiert ihn mit dem freien Auge (makroskopisch), die Histologie untersucht ihn mit dem Mikroskop und die Embryologie hinterfragt wie und warum sich der Organismus so und nicht anders entwickelt. Die drei Bereiche sind so nah verwandt, dass sie sich vielfach überlappen und miteinander verflochten sind. Die zentrale Frage, die sich dabei stellt, lautet: Warum ist der menschliche Organismus so aufgebaut und organisiert? Anatomie hat also – ganz im Gegenteil zur gängigen Klischeemeinung – nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit dem Leben zu tun… Definitiv! Der klassische Leitspruch der Anatomen lautet: Hic locus est ubi mors gaudet succurrere vitae. Das ist der Ort, an dem es dem Tod gefällt, dem Leben zu helfen. Wir lernen an den gespendeten Körpern der Toten für die Lebenden. Darum geht es. Und das in zweierlei Hinsicht: Einerseits werden die Medizin-Studierenden an den Körperspenden ausgebildet, andererseits wollen wir den Patienten dienen, indem operative Eingriffe trainiert und wissenschaftlich fundiert weiterentwickelt werden. Wir haben hier die Möglichkeit, dass uns die Toten helfen, für die Lebenden neue OP-Strategien, Untersuchungsmethoden oder Behandlungsmöglichkeiten zu erarbeiten und zu erproben. Die Studierenden der KL lernen schon früh viel Anatomie im virtuellen Bereich, an 3DSimulationen, präsentiert am Whiteboard. Warum ist die Arbeit am menschlichen Körper, an der konservierten Leiche trotzdem immer noch so wichtig? Weil nur so eine selbstentwickelte, dreidimensionale Repräsentation des Organismus entstehen kann. Ich kann an der virtuellen Körperspende sehr gut Elemente herausarbeiten oder in Strukturen hineinzoomen, von der Oberfläche in die Tiefe gehen, und schichtweise – von der Haut über die Muskeln - Strukturen virtuell „abpräparieren“. Aber ein Gewebe anzugreifen und zu spüren, wie sich die Konsistenz von menschlichem Haut-, Fett-, Muskelgewebe anfühlt beziehungsweise feine Nervenund Blutbahnen verfolgen zu können, das geht nur an der Leiche. Außerdem: Auch anatomisch gesehen ist kein Mensch wie der andere. Am Computer arbeite ich an einer standardisierten Person, dem „visible human“, der in 1.830 milimeterdicke Scheiben zerlegt worden ist. Im Seziersaal sehen die Medizinstudierenden hingegen verschiedene Individuen, die mit dem 3D-Parademensch in vielen Aspekten nicht übereinstimmen, wo beispielsweise Nerven- oder Blutbahnen ganz anders verlaufen. Darauf muss man als angehender Arzt eingestellt sein! Elektronische Medien sind eine äußerst wertvolle Ergänzung, aber kein Ersatz für das eigenhändige Studium der Anatomie an einer Körperspende. Warum sind Sie selbst in der Anatomie gelandet? Nach den rein naturwissenschaftlichen ersten Prüfungen des damaligen Medizinstudiums (Physik, Chemie, Biologie) stand ich im Anatomie-Seziersaal das erste Mal bei einem „Patienten“. Und ich erkannte, wie faszinierend und medizinrelevant es ist, den inneren Aufbau des menschlichen Organismus durch das Sezieren gedanklich zu verinnerlichen. Da dachte mir: Na hoppla! Das ganze Gedankenkonstrukt aus der Theorie kann man hier ja praktisch durchdringen und sich von innen heraus in den Patienten hineinversetzen! Ich hatte zudem keinerlei Berührungsängste, sondern war im Gegenteil begeistert, endlich die Strukturen sehen und verstehen zu können. Parallel dazu besuchte ich eine Vorlesung über die evolutionsbiologischen Hintergründe der Humananatomie und kam gleichzeitig mit der Entwicklungsmorphologie in Berührung. Damit war mein Interesse an der Rolle der ontogenetisch-phylogenetischen Wechselwirkungen für die Morphogenese – meinem heutigen Forschungsgebiet - geweckt. Was machen Sie in Ihrer Freizeit – ein Kontrastprogramm zur Anatomie? Einen wichtigen Ausgleich finde ich in einem harmonischen Familienleben (inklusive Rauhhaardackel). Ganz wesentlich begleitet mich Musik durchs Leben, ich betreibe regelmäßig Sport und bin dadurch viel in der Natur unterwegs. Dabei kann ich entspannt wissenschaftliche und didaktische Konzepte reflektieren, und komme auf neue Ideen. Das beflügelt immer wieder meine Arbeit. Biografie: Univ.-Prof. Dr. Johannes Streicher Geb.1962 in Wien, aufgewachsen in Wien und Niederösterreich. Studium der Humanmedizin an der Universität Wien. Habilitation für Anatomie und Embryologie. Verantwortlicher für das Modul 2, „Somatology“, des Lehrgangs Health Sciences an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften Errichtungsgesellschaft m.b.H. (seit 2013). Leiter der Abteilung für Systematische Anatomie am Zentrum für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien (seit 2011). Koordinator der Line-Elemente „Organmorphologie I, II und III“ an der Medizinischen Universität Wien. Stellvertretender Curriculumdirektor an der Medizinischen Universität Wien von 2003-2007. Langjähriger ERASMUS- und ECTS-Koordinator für den internationalen Studierendenaustausch. Entwicklung und Etablierung von blended-learning und e-testing Konzepten für die anatomische Lehre. Etablierung der Vorlesung aus medizinischer Terminologie. Mitherausgeber des Lehrbuches „Waldeyer Anatomie des Menschen“. Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften (u.a.): Österreichische Morphologische Gesellschaft, Deutsche Anatomische Gesellschaft, American Association of Anatomists, Konrad Lorenz Institut für Evolutionsund Kognitionsforschung.