Aus dem Nachwort von Benedikt Erenz (Feuilleton) zu Annette von
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Aus dem Nachwort von Benedikt Erenz (Feuilleton) zu Annette von
Aus dem Nachwort von Benedikt Erenz (Feuilleton) zu Annette von Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«: Annettevondrostehülshoffdiejudenbuche, aus dem Mund des Lehrers klang das wie ein einziges Wort. Die Dreizehn-, Vierzehnjährigen vor ihm nahmen es mit stumpfer Miene auf. Wie hat man sich gequält, da reinzukommen. Irgendwas irgendwann tief im 18. Jahrhundert in irgendeinem Winkel von Westfalen, im „gebirgigten Westfalen“ – wo lag denn das? Das Münsterland kannte man ja, aber gebirgig? Schon dieses mühselige Gedicht vorneweg: „Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, / Zu wägen jedes Wort, das unvergessen / In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, / Des Vorurteils geheimen Seelendieb?“ Dann diese unendlich verkramten ersten Absätze, fast wie eine erdkundliche Abhandlung. So missmutig ging man daran, stieg man da ein, wie in eine seltsame Höhle, in diesen Text. Doch seltsam, je länger man las, desto mehr faszinierte einen dieses Büchlein, dieses sonderbare, allerdüsterste Prosawerk der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Was war es? War es die Spannung der Kriminalgeschichte? Oder war es der brutale Realismus? Ein Mann, der sich mit einer abgebrochenen Flasche das Gesicht zerschneidet. Eine Frau, die ruft: „Da bringen sie mir das Schwein wieder“, als man den Gatten ins Haus schleppt, betrunken, wie sie zunächst vermutet. Oder der Schluss, da in äußerster olfaktorischer Präzision der Geruch einer verwesenden Leiche beschrieben wird. Desgleichen findet man nicht im Wilhelm Meister, nicht bei Schiller, Kleist, nicht in den Spukgeschichten des E.T.A. Hoffmann und auch nicht bei den Avantgardisten jener Jahre, bei Heine, Büchner, Grabbe oder Gutzkow. Erstaunlich, unglaublich eigentlich für so ein adeliges Fräulein des Biedermeier wie die Droste! […] Dieses persönliche Nachwort ist Bestandteil der Edition DIE ZEIT »Literaturklassiker«.