Schulanfang: 186 Schweizer Schulen melden Platznot
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Schulanfang: 186 Schweizer Schulen melden Platznot
18. AUGUST 2013 Preis Fr. 4.20 Euro 4.20 URS WIDMER DELIA MAYER Die Wahrheit über sein Leben «Tatort»-Kommissarin steht auf Landjäger Seite 33 Seite 17 27. Jahrgang, Nr. 33 / www.sonntagszeitung.ch AZA 8021 Zürich Redaktion: 044 248 40 40 · Abo-Service: 044 404 64 40 SoZ 18.8.13, S. 1-3 Schulanfang: 186 Schweizer Schulen melden Platznot Ägypten: Mit aller Macht gegen die Muslimbrüder KAIRO/BERN 173 Tote in 24 Stunden – das die Bilanz der jüngsten Ausschreitungen. Gestern kam es zur Konfrontation zwischen Armee und Mursi-Anhängern in einer Moschee. Die Regierung will die Muslimbruderschaft auflösen. Ägyptens Botschafter in Bern fordert eine neutrale Haltung des Auslands. NACHRICHTEN SEITEN 8/9 Eine Umfrage der SonntagsZeitung zeigt Fehlplanungen in vielen Gemeinden FOTO: REUTERS VON FLORIAN IMBACH, OLIVER ZIHLMANN UND MARIE MAURISSE Bundesrat stoppt Seilbahn für Nordkorea BERN In vielen Primarschulen fehlt es an Platz, mancherorts herrschen sogar prekäre Verhältnisse: Das zeigt eine Umfrage bei mehr als 1000 Primarschulen vor dem morgigen Schulanfang in diversen Kantonen. 240 Schulleiter haben sich gegenüber der SonntagsZeitung zu Wort gemeldet – 186 davon sprechen von Platznot. «Unsere Ganztagsbetreuung findet auf sehr engem Raum statt, bis 35 Kinder in einer 3-ZimmerWohnung», schreibt eine Schulleiterin aus dem Kanton Zürich. «Dass so viele Schulleiter geantwortet haben, zeigt, wie stark das Thema beschäftigt», sagt Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbandes. «Es besteht Handlungsbedarf, die Gemeinden sind nun sehr gefordert und müssen investieren.» Auch der Lehrerdachverband sieht Probleme. «Der Mindestplatzbedarf an Schulen, in denen neue Unterrichtsformen umgesetzt werden müssen, ist zu klein», sagt Präsident Beat W. Zemp. Es brauche jetzt griffige Vorschriften und eine «solide und langfristige Schulraumplanung.» Damit sind viele Gemeinden laut Experten heute überfordert. Gemäss Prognosen des Bundesamtes für Statistik gehen in acht Jahren 62 000 Kinder mehr in die Volksschule als heute. Wegen des Geburtenbooms der Nullerjahre und der Zuwanderung erreicht die Schweiz 2021 die höchste Schülerzahl seit Messbe- ginn 1980. In der Deutschschweiz sind vor allem die Kantone Zürich, Aargau und Basel-Stadt betroffen. Nur vier Kantone verzeichnen einen Schülerschwund. Vom Schülerboom profitieren die Hersteller von provisorischen Schulräumen. Eine Umfrage unter vier grossen Herstellern belegt, dass derzeit mindestens 750 temporäre Klassenzimmer in Betrieb sind. Vorsichtig geschätzt starten dieses Schuljahr über 10 000 Kinder in provisorischen Klassenzimmern. SEITEN 2 UND 3 BERN Im letzten Moment hat der Bundesrat den Export einer Seilbahn nach Nordkorea verhindert. Dazu wurde die Embargo-Liste angepasst. Die Bahn war für ein NACHRICHTEN SEITE 7 Luxus-Skiressort vorgesehen. Die Flugzeug-Katastrophe von Dürrenäsch LENZBURG AG Vor 50 Jahren stürzte eine SwissairMaschine im Aargauer Dorf Dürrenäsch ab. Alle 80 Insassen wurden getötet – und 40 Kinder zu Waisen. Was damals passierte. Die Rekonstruktion. FOKUS SEITE 13 G LO S S E Is it because I’m black? Nachdem die beliebte US-amerikanische Entertainerin Oprah Winfrey in der Badi Bremgarten mit dem fadenscheinigen Argument abgewiesen worden war, ihre KrokoTasche dürfe sie aber nicht ins Kinderbecken nehmen, weil sie damit angeblich «falsche Signale» (!) aussende, steht unser Land einmal mehr im Fokus weltweiter Kritik. Solche Pannen in der Kommunikation, darin sind sich internationale Kommunikations-Fachexperten und -expertinnen von Doris «ETH» Fiala bis Klaus «Fidel» Stöhlker einig, können passieren, dürfen aber nicht passieren. Die Fachmeinungen der Fachpersonen lauten unisono «Geht gar nicht!» und «Absolutes No-Go!» und reichen von «Unverständnis pur» bis zu «purem Unverständnis». Nun ist Schadensbegrenzung angesagt. Ein erster Versuch dazu war der Tweet der Schweiz-Tourismus-Sprecherin Daniela Bär: «Wir brodeln vor Wut.» Der Fachverband Schweizer Textbausteinhersteller hat sogar mit einem Warnstreik gedroht. Nur Richard Wolff (Alternative Liste) verweigert jeden Kommentar zum peinlichen Vorfall. Wovon will er mit seinem Schweigen wohl ablenken? PETER SCHNEIDER WETTER ALPHA Am Morgen sonnig, ab Mittag Wolken. In den Bergen Gewitter möglich, 29 Grad. 80 Kaderstellen-Angebote Schulhaus geschlossen: Die Polizei muss die Erstklässler in Kleinbasel am ersten Schultag in ein Provisorium begleiten FOTO: STEFAN BOHRER Steuerstreit: Angebot aus USA Heinz Karrer wird Profi-VR Washington soll Bussen nochmals erhöht haben Bei Economiesuisse hat er nur 50-Prozent-Job BERN Im US-Steuerstreit liegt laut mehreren Quellen der SonntagsZeitung ein neues Angebot der USA vor. So sind die Vereinigten Staaten trotz dem ParlamentsNein vom Juni doch wieder bereit, ein Programm zu starten, mit dem die Schweizer Banken ihre Steuervergehen in den USA ohne langwierige Prozesse bereinigen könnten. Doch die USA haben laut Insidern die Bedingungen derart hochgeschraubt, dass sie für Fi- nanzministerin Eveline WidmerSchlumpf inakzeptabel seien. So sollen die USA die Bussen seit Juni erhöht haben. Ein Abbruch der politischen Verhandlungen scheint so immer wahrscheinlicher, denn bei Banken wie CS, Julius Bär oder ZKB, die im Visier der USA sind, stocken die Verhandlungen, solange auf politischer Ebene noch Gespräche laufen. Auch Politiker verlangen jetzt den Abbruch der Übung. SEITE 5 ZÜRICH In Politik und Wirtschaft wundert man sich, dass Heinz Karrer die Leitung des Stromkonzerns Axpo freiwillig abgibt und als Präsident des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse einen Halbtagsjob übernimmt, der risikobehaftet ist, aber bis dato bescheiden entlöhnt wurde. Recherchen zeigen Karrers Plan: Er wird Profi-Verwaltungsrat. Damit verschafft er sich Sicherheit, einen finanziellen Ausgleich und Haus- macht. «Heinz Karrer wird gut zur Hälfte Economiesuisse-Präsident und die andere Zeit Profi-Verwaltungsrat sein», sagt Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt. Rolf Soiron, Mitglied des Vorstandsausschusses: «Der Präsident von Economiesuisse soll kein Funktionär oder Politiker sein, sondern einer von uns.» Für Karrer hat der Verband die Entlöhnung des Präsidiums auf rund 300 000 Franken verdoppelt. SEITE 43 2 IN DEN SCHULEN WIRD ES ENG E D I TO R I A L Liebe Leserinnen und Leser Wenn Sie Schmuck, den andere gestohlen haben, kaufen, machen Sie sich der Hehlerei schuldig. Indem nun der Bundesrat fremden Staaten Amtshilfe leisten will, obwohl klar ist, dass deren Gesuche auf gestohlenen Daten beruhen, fördert er die Hehlerei. Zumindest drückt er ein Auge zu. Was wie ein schlechter Sommerscherz daherkommt, ist leider ein seriös gemeinter Versuch der Landesregierung, in vorauseilendem Gehorsam der Kritik aus dem Ausland den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wieder warnt der Bundesrat – man mag es nicht mehr hören: Wenn die Schweiz nicht auch bei Amtshilfegesuchen kooperiere, die auf gestohlenen Bankkundendaten beruhen, drohe sie auf einer schwarzen Liste der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu landen. Um das zu verhindern, nimmt der Bundesrat in Kauf, dass rechtsstaatliche Grundsätze aufgegeben werden. Auch sollen betroffene Personen nicht mehr vorgängig über Datenlieferungen ans Ausland informiert werden, womit sich diese nicht mehr über den Rechtsweg wehren können. Damit werden Rechte der Bürger eingeschränkt. In dieses bedenkliche Bild passt, dass der Vorschlag des Finanzdepartements im Schnellzugstempo durch die Vernehmlassung und das Parlament geschickt und dieses teilweise sogar ausgehebelt werden soll. Schwarze Liste: Na und? Als Bürger ist es mir lieber, dass wir auf einer schwarzen Liste der OECD auftauchen, als dass unsere Regierung Grundsätze, auf denen unser Rechtsstaat basiert, locker verletzt. Zu den Pluspunkten unserer Demokratie gehört es, dass das Parlament unsinnige Vorschläge des Bundesrates versenken kann, wie es dies in letzter Zeit einige Male getan hat. Auch der neueste Schildbürgerstreich der Landesregierung in Sachen Amtshilfegesetz verdient es, von den eidgenössischen Räten kompromisslos abgelehnt zu werden. Was das Ausland über uns denkt, scheint einigen Mitgliedern der Landesregierung wichtiger zu sein als der Schutz des Rechtsstaates. Sie sollten Rechenschaft darüber ablegen, wem sie eigentlich dienen: den eigenen Bürgern oder dem Ausland. Wer Bürgerrechte zu wenig ernst nimmt, hat in der Landesregierung nichts zu suchen und gehört MARTIN SPIELER, CHEFREDAKTOR abgewählt. MELDUNG 508 Alphornbläser stellen auf dem Gornergrat Weltrekord auf ZERMATT VS Der 2009 auf dem Gornergrat aufgestellte Weltrekord für das grösste Alphorn-Orchester ist am Samstag am gleichen Ort gebrochen worden: 508 Musiker – 142 mehr als beim letzten Mal – brachten ein von Gilbert Kolly extra komponiertes Auftragswerk zur Welturaufführung. Auf 3089 Meter über Meer spielten die Musiker aus kantonalen, nationalen und internationalen Formationen vor einer Kulisse mit Matterhorn und 28 weiteren Viertausendern. HEUTE I N S E R AT E LOTTO S. 30 BILDUNG UND KURSE S. 14 SPORT AM TV S. 30 FERIEN UND REISEN S. 70 TV-PROGRAMM S. 40 IMMOBILIEN KAUF S. 50 RÄTSEL S. 59 IMMOBILIEN MIETE S. 52 HOROSKOP S. 68 KINO S. 38 COMICS/IMPRESSUM S. 74 VERANSTALTUNGEN S. 38 WETTER S. 32 MARKTPLATZ S. 14 Viele Gemeinden stossen an ihre Grenzen. Der Report mit Besuchen in Basel, Wohlen AG und Pfungen ZH Testlauf in Basel: Polizisten und Eltern begleiten die Kinder über die gefährliche Strasse bis zum einen Kilometer entfernten Provisorium VON FLORIAN IMBACH, OLIVER ZIHLMANN, MARIE MAURISSE (TEXT) UND STEFAN BOHRER (FOTOS) Ein Polizist mit Funkgerät führt eine hundert Meter lange Kinderkarawane an. Ein Grossaufgebot der Polizei sichert die Kolonne in Kleinbasel wie einen Demonstrationsumzug. Die Kleinen sind nicht etwa junge Hooligans, sondern Erstklässler des Bläsi-Schulhauses. Mittendrin gehen Fiamma und Flurin Hand in Hand. Die beiden Sechsjährigen sind beste Freunde und kommen im Partnerlook: Es ist schliesslich ihr erster Schultag. Ihr Schulhaus wird umgebaut. Während der Bauarbeiten müssen sie in ein mehr als einen Kilometer entferntes Provisorium. Jetzt findet der Testlauf unter Aufsicht statt. Die Kleinen müssen eine 20 Meter breite Schnellstrasse passieren. In einem Video der «Tageswoche» sieht man, wie drei kleine Mädchen mehrmals ohne Begleitung versuchen, die Strasse zu überqueren und schliesslich mitten auf der Strasse voller Angst umdrehen, weil ein Tram heranrast. Die Stadt gibt sich Mühe, den Umzug gut zu bewältigen. 150 000 Franken kostet es allein, den gefährlichen Übergang zu sichern. Aber Basels Schulsystem ist buchstäblich eine Grossbaustelle: 15 Schulhausgesamtsanierungen, 8 Neubauten, bisher budgetiert sind 790 Millionen Franken für die nächsten zehn Jahre. Basel erlebt in einem perfekten Sturm, was derzeit Schulen im ganzen Land an den Anschlag bringt: Lehrer brauchen für modernen Unterricht mehr Räume und mehr Platz. An vielen Orten entstehen sogenannte Tagesstrukturen, wo Kinder tagsüber in der Schule bleiben, was zusätzlich Platz braucht. Reformen verlängern die obligatorische Schulzeit. Vor allem aber drängen die Babyboomer der Nullerjahre in die Klassenzimmer. Der Kinderzuwachs betrifft am stärksten die Kantone Basel-Stadt, Waadt, Zürich, Aargau und Genf. Die Babyboomer kommen BERN Kanton BS VD ZH AG GE VS TG CH ZG LU FR AR BE OW SO NW SH AI BL TI GL SG SZ GR UR JU NE Schülerzuwachs 2013–21 Veränderung in Prozent +3 352 +11 036 +14 804 +6 859 +5 366 +2 946 +2 264 +62 871 +874 +2 912 +2 548 +379 +5 907 +189 +1 063 +174 +277 +64 +863 +1 083 +101 +1 121 +12 -36 -111 -285 -895 +20,9% +12,9% +10,2% +9,8% +9,7% +8,3% +7,9% +7,2% +7,2% +7,1% +6,9% +6,6% +5,9% +4,7% +4,1% +4,1% +3,5% +3,3% +3,1% +2,9% +2,5% +2,1% +0,1% -0,2% -2,9% -3,4% -4,4% Quelle: Bundesamt für Statistik, Bildungsperspektiven, «Szenarien 2012–2021 für das Bildungssystem» Prognose der Volksschüler auf Basis der Daten von 2010 Pfungen ZH: Morgen startet hier FOTO: FLORIAN IMBACH die Schule Eine Umfrage der SonntagsZeitung bei über 1000 Schulleitern zeigt: Das Platzproblem brennt unter den Nägeln. 240 Schulen antworteten. 186 Schulleiter sprechen von Platzproblemen (siehe Box rechts). Eine Umfrage unter Herstellern von Schulraumprovisorien zeigt, dass derzeit mindestens 750 provisorische Schulzimmer in Betrieb sind, die Hersteller sprechen von einem Boom (siehe Text rechts). In Hunderten Anlagen ist kaum Platz für die Schüler von heute und es zeichnet sich bereits ab, dass sich das Problem weiter zuspitzt. Die Bildungsexperten des Bundesamtes für Statistik rechnen vor, dass in acht Jahren über 62 000 Schüler mehr in die obligatorische Schule gehen als heute (siehe Tabelle links). 930 000 Schülerinnen und Schüler sind es im Jahr 2021, der höchste Wert seit Einführung der Statistik 1980. Lehrer und Schulleiter warnen vor Engpässen. Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbandes, sieht Handlungsbedarf: «Das Platzproblem beschäftigt uns stark. Die Gemeinden müssen in den Schulraum investieren.» Beat W. Zemp, Präsident des Lehrerverbandes, spricht von einem Problem, das man nicht auf die lange Bank schieben dürfe. Vielerorts fehlt eine Schulraumplanung Besonders kleine Gemeinden sind von einem Schüleranstieg oft überfordert. Magden im Kanton Aargau etwa löst den Platzmangel bei den Kleinsten mit einem «Naturund Bewegungskindergarten». Der Gemeinde fehlen überdachte Räume, darum spielen die Kinder nun das ganze Jahr draussen. Pfungen im Kanton Zürich bestellte kurzerhand 40 Container. 10 Klassen Primarschüler begehen morgen den ersten Tag des neuen Schuljahres in Metallboxen. Keine andere Gemeinde des Kantons ist in den letzten Jahren so stark gewachsen. Das 3400-Seelen-Dorf bekam innert drei Jahren 25 Prozent mehr Einwohner. Morgen starten rund 50 Erstklässler: Das gab es hier noch nie. Gemeindepräsident Max Rütimann will die Situation nicht beschönigen. Er sagt: «Die Einwohnerzahl ist regelrecht explodiert.» Nun stehen Container auf dem Schulhausgelände. Die Klassenzimmer sind klein. Wenn es regnet, prasseln die Tropfen lautstark auf das Metalldach, berichten Betroffene. Scheint die Sonne, werde es rasch stickig. Dabei hätte die Gemeinde wissen können, was auf sie zukommt. Ende der 80er-, Anfang der 90erJahre wandelte sie eine der grössten Flächen im Kanton zur Bauzone. Vor zehn Jahren wurden die Parzellen eingeteilt. Spätestens da hätte der Gemeinderat reagieren müssen. Seit 2007 wird der Ortsteil Nord überbaut. «Wir waren überrascht, wie schnell alles ging. Damals wurde sicher zu wenig weit gedacht», sagt Rütimann. In vielen Gemeinden herrscht ein ähnliches Bild: Eine fachmännische Schulraumplanung fehlt. Diese sei aber entscheidend und werde oft vernachlässigt, sagt Urs Maurer, Experte für Schulraumplanung. Der ehemalige Lehrer, Architekt und Stadtplaner von Burgdorf spezialisierte sich vor 13 Jahren auf die Schulraumplanung. Er sagt: «Ohne strategische Planung sehen Gemeinden Engpässe in der Regel erst, wenn es zu spät ist.» Pfungen verkaufte eine an das Schulgelände angrenzende Parzelle bereits vor Jahren, daher hatte die Gemeinde keine andere Wahl, als das alte Schulhaus Breiteacker abzureissen und dort ein neues zu errichten. Während der Sommerferien fuhren die Bagger auf. Wenn die Kinder morgen an ihrem ersten Schultag aus dem Fenster sehen, blicken sie auf eine Baustelle. Rütimann hofft, dass das Schulhaus im nächsten Schuljahr bezugsbereit sein wird. Milizgemeinderäte, Schulpfleger und Schulleiter sind oft überfordert. Bildungspolitiker des Bundes und der Kantone bestimmen zwar die Strategie der Volks- SchulanfangNachrichten 18. AUGUST 2013 V. l.: Sara, Mollana, Fiamma und Henry. Die vier Erstklässler freuen sich über ihren ersten Schultag – im Hintergrund das temporäre Bläsi-Schulhaus auf dem Erlenmatt-Areal in Kleinbasel schule, ausführen müssen sie aber die Menschen in den Gemeinden. «Vom Kanton werden wir allein gelassen», sagt Rütimann stellvertretend für viele, die dies auch der SonntagsZeitung geschrieben haben. «Die Kantone haben sich aus der Planung verabschiedet», lautet das Fazit von Experte Maurer. Der Schulraumplaner rät zur Selbsthilfe und bringt mit dem Netzwerk «Bildung und Architektur» Gemeindevertreter, Schulleiter und Architekten zusammen. Im Primarschulhaus Halde in Wohlen AG ist es schon seit längerem viel zu eng. «Jetzt ist aber wirklich alles komplett voll», sagt Schulvorsteher Paul Huwiler. Im Gang stehen Tische und Stühle für Gruppenarbeiten, der Abwart weiss nicht mehr wohin mit dem Schulmaterial, seine 20 Kanister Reinigungsmittel konnte er gerade noch in einer Kammer stapeln. Ein Provisorium sollte ursprünglich für 5 Jahre zusätzlichen Raum bieten – es steht nun schon seit mehr als 20 Jahren. Die Wände sind dünn. Wenn die Klasse nebenan «ich ghöre es Glöggli» singt, ist an ruhiges Arbeiten nicht zu denken. Schulreformen verschärfen das Problem Wohlen ist im Kanton Aargau eine Art pädagogische Regionalmacht. Während die Gemeinde versucht, die Kinder der Zuzüger unterzubringen, muss Huwiler an einer der grössten Schulen des Kantons die Schulreform Harmos umsetzen, die die Primarschule hier um ein Jahr verlängert. Die Stadt rechnet mit 250 Primarschülern mehr in sechs Jahren und plant 13 neue Klassen. In vielen Gemeinden wird deutlich, was Huwiler folgendermassen zusammenfasst: «Wir brauchen heute in der Schule für wirklich alles mehr Platz.» Die meisten Kantone sehen pro Klasse einen Gruppenraum vor, wo die Schüler selbstständig arbeiten können. Es gebe wenige Schulleiter, die dafür in ihrem Schulhaus genug Räume hätten. Grosses Echo auf Umfrage zur Raumknappheit Die SonntagsZeitung hat an über 1000 Primarschulleiter in acht besonders betroffenen Kantonen einen elektronischen Fragebogen zum Thema Platznot verschickt. 240 haben geantwortet, der grösste Teil stammt aus den Kantonen Zürich und Aargau. 186 Schulen geben an, mit Platzproblemen zu kämpfen. Das Problem wird so schnell nicht verschwinden: 139 dieser Schulleiter rechnen mit Platzengpässen in den nächsten fünf Jahren. Als häufigste Ursache für das Problem nennen sie den Kinderzuwachs (136) und neue Unterrichtsformen wie getrennter Gruppenunterricht (135). Oft berichten die Schulleiter von Provisorien in ihren Gemeinden. An 48 Schulen unterrichten Lehrer in provisorischen Schulräumen und Containern. Die Unterstützung durch die Gemeinde und den Kanton werten 39 Schulleiter als ungenügend, 8 gar als schlecht. Viele Schulleiter nahmen die Gelegenheit wahr, von ihren teils akuten Platzproblemen zu berichten. Hier eine Auswahl der Rückmeldungen: «Unsere Schule verfügt weder über einen Singsaal noch über eine Turnhalle. Die Bibliothek befindet sich im Keller und ist feucht.» «Unsere Ganztagesbetreuung findet auf sehr engem Raum statt, bis 35 Kinder in einer 3-Zimmer-Wohnung.» «Die Bedürfnisse und auch die Ansprüche an die Schulhäuser sind in den vergangenen Jahrzehnten massiv grösser geworden.» «Ohne Bauvorhaben wäre der Engpass enorm.» «Kindergärten genügen den heutigen Platzanforderungen oft nicht mehr: Deutsch- und Förderunterricht finden unter prekären räumlichen Bedingungen statt.» «Die nötigen Gelder für personelle Anpassungen, Infrastruktur und Material werden von den Politikern nicht gesprochen oder weggespart!» «Dank engagierter Schulpflege kommt ein Schulhausneubau diesen Herbst vors Volk. Hoffnung auf Erleichterung ist angesagt!» Die Rückmeldungen und Zahlen sind nicht repräsentativ, zeichnen aber ein gutes Bild der Zustände vor Ort. «Die Umfrage zeigt ein Problem auf, das man nicht auf die lange Bank schieben darf», sagt Beat W. Zemp, Präsident des Lehrerdachverbandes. In Wohlen kam die Schulraumplanung zum Schluss: Ein neues Schulhaus mit 18 Räumen muss her, das alte Halde wird saniert, der Pavillon abgerissen. Ein Neubau, das kann dauern und löst die aktuellen Platzprobleme nicht. Doch immerhin: Die Schulraumplanung soll permanent weitergeführt werden, damit die Gemeinde auf zukünftige Engpässe vorbereitet ist. «Das gehört heutzutage einfach zu den Aufgaben einer Gemeinde, genauso wie die Finanz- oder Verkehrsplanung», sagt Huwiler. Das sei richtig, sagt Experte Urs Maurer. Jede Gemeinde müsse den Bedarf und die zukünftige Schülerentwicklung regelmässig überprüfen, auch ohne gleich ein konkretes Bauprojekt vor Augen zu haben. «Wenn eine Gemeinde erst reagiert, wenn der Platz nicht mehr reicht, muss sie kurzfristig Provisorien auftreiben und unter Druck einen Neubau realisieren.» Das sei teurer als eine strategische Planung. Besonders ärgerlich für Lehrer, Schulleiter und nicht zuletzt die Kinder: Auch wenn das Platzproblem erkannt wird, zeigen zahlreiche Beispiele, dass die Lösung an der Gemeinde scheitern kann. Eine Prorektorin aus Zug sagt: «Die Schülerzahlen nehmen rasant zu, zusätzlicher Schulraum ist dringend nötig.» Ein Neubauprojekt aber wurde vor den Sommerferien vom Parlament zurückgewiesen. In Basel liefen die Eltern Sturm gegen das Bläsi-Provisorium. Sie starteten sogar eine Petition, wie Flurins Vater Salvatore erzählt. Im provisorischen Schulhaus sitzt Flurin nun zum ersten Mal an seinem eigenen Pult. Fiamma auch, sie ist in derselben Klasse. Der sechsjährige Henry sitzt ganz hinten und versucht angestrengt, der Lehrerin zuzuhören. Sein Vater misst derweil am Fenster mit seinem iPhone den Lärm der 30 Meter entfernten A 2: «75 Dezibel». [email protected] Provisorien für 10 000 Kinder Die Produzenten von temporären Schulräumen erleben derzeit einen Boom BERN Vier grosse Hersteller von provisorischen Schulzimmern berechneten auf Anfrage der SonntagsZeitung, wie viele ihrer Räume derzeit in den Kantonen stehen. Demnach sind für den Schulstart 2013 rund 750 provisorische Zimmer in Betrieb. Selbst wenn nicht alle als Klassenräume dienen, kann man davon ausgehen, dass über 10 000 Kinder in Provisorien unterrichtet werden. Allein im Kanton Zürich stehen demnach über 300 Schulzimmer unterschiedlicher Bauart, im Aargau und in Basel über 100, in St. Gallen rund 90 Zimmer. Wegen der Platzprobleme erleben die Schulzimmerbauer einen Boom. «Die Nachfrage ist in den letzten zehn Jahren stark angestiegen», sagt Martin Schenkel, Leiter Raumsysteme bei Condecta. Die Firmen Blumer-Lehmann, Erne und Kifa bestätigen den Trend. Weil sich die Lage in vielen Schulen verschärft, kommen Anfragen immer kurzfristiger. «Oft ist der Raumbedarf für die Schüler kurzfristig nicht vorhanden», sagt Ruedi Heim, Geschäftsführer der Kifa. «Teilweise werden auch Kreditbegehren an der Urne abgelehnt, und es muss schnell eine Lösung her.» Einige Gemeinden bestellen zusätzliche Räume erst kurz vor den SommerGemeinden ferien. bestellen noch «Die Herstellung und Lieferung von modularen Schulbauten ist ein Saisonkurz vor den geschäft, der Schuljahresbeginn dikSommerferien tiert den Fertigstellungstermin», sagt zusätzliche Martin Reinhard, Produkte-Manager Räume der Firma Erne. «Das ist nur mit grossen Produktionskapazitäten und einer enormen Leistungsbereitschaft unserer Mitarbeiter zu meistern.» Beat W. Zemp, Präsident des Lehrerdachverbandes, sagt, Provisorien seien teilweise sinnvoll. Er unterrichtete drei Jahre in einem Provisorium, zieht aber eine kritische Bilanz: «Es war im Winter morgens eiskalt, im Sommer zu heiss, und es hatte keine ausreichende Schalldämpfung, sodass der Unterricht aus dem Nebenzimmer störte.» Die Spannbreite der Provisorien ist allerdings breit. Sie reicht vom alten Metall-Container bis zum Minergie-Pavillon aus Stahl, Holz und Glas, der als «Providurium» dient. Viele Schulen bestellen Pavillons, weil sie rasch demontiert und verschoben sind. «Die Gemeinden setzen zunehmend auf Hochqualität-Bauten mit Minergiestandard, die heutige Baunormen besser erfüllen als viele Schulhäuser aus der Nachkriegszeit», sagt Migga Hug von Blumer-Lehmann. Neben der Qualität der Provisorien ist jedoch auch der Standort entscheidend. Das provisorische Bläsi-Schulhaus in Basel erfüllt zwar hohe Standards, sein Standort verlängert aber den Schulweg, die Turnhalle fehlt, und es steht nur 30 Meter neben der achtspurigen A 2 Basel–Gotthard. Entsprechend O. ZIHLMANN laut ist es bei geöffneten Fenstern.