„Nun muss er doch wohl mürbe sein“. Martin Kippenberger
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„Nun muss er doch wohl mürbe sein“. Martin Kippenberger
Heidi Stecker „Nun muss er doch wohl mürbe sein“. Martin Kippenberger und die „Menschen aus Schreberschem Geist“ Im Besitz der Sammlung der Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig befinden sich zehn Zeichnungen von Martin Kippenberger (1953-1997) aus dem Jahre 1994. Unter dem Titel „über das über (Schreber junior/Schreber senior)“ wurden sie erstmals 1995 präsentiert (Puvogel in Adriani 2003, S. 62). Auf den Zeichnungen und einem dazugehörigen zweiteiligen Buchstützenobjekt aus semitransparentem, gelblichem Kunststoff sind Sätze und Satzbruchstücke zu lesen. Sie lauten auf den Zeichnungen (Die Nummerierung ist hier willkürlich.): 1 „HOTEL WEIHNACHTSMANN, SCHREBER Hirn“ 2 Conrad Brussels „WIR WOLLEN IHNEN DEN VERSTAND ZERSTÖREN“ 3 Hotel Gravensteen, Gent „Ihr habt nun einmal das Wetter vom Denken eines Menschen abhängig gemacht.“ 4 Dolder Grand Hotel Zürich „Regen Sie sich nur geschlechtlich auf“ 5 Dolder Grand „Aber freilich; (gesprochen;) A-A-A-A-B-E-E-E-R 6 Paramount „Schämen Sie sich denn nicht vor iHrer Frau GemaHlin?“ 7 Nizza Hotel „PUNKTFUNAMENT [sic] STREIFENFUNDAMENT RINGFUNDAMENT FUNDAMENPLATTE [sic] 8 Conrad Brussels „Nun sollte derjenige (erg: denken, sagen:) will ich mich darin ergeben, dass ich dumm bin.” 9 Domaine „Schreber senior“ 10 Hotel Amigo, Brüssel „wenn nur das verfluchte Nägelputzen aufhörte“ Die nummerierten Buchstützen I und II werden in umgekehrter Reihenfolge aufgebaut, so dass sich die Texte wie folgt lesen lassen: II „meines übrigens eisenfesten Körpers“ „Unter 50 Jahren nicht“ „jeden schiefen Gedanken sogleich“ „ließ ein Kinnband von weichem Leder“ „SCHREBER SENIOR oder die gymnastische“ I „Fähigkeit, im 1. Gesicht zu antworten“ „Regen Sie sich nur geschlechtlich auf“ „Weil ich so dumm bin“ „Strahlen nachlässig abgegeben“ „SCHREBER JUNIOR Nun muß er doch wohl mürbe sein“ Martin Kippenberger bezieht sich in diesen Arbeiten auf die in der Geistes- und Kulturgeschichte prominenten Männer Daniel Gottlob Moritz Schreber und Daniel Paul Schreber und damit auf eine viel diskutierte Vater-Sohn-Konstellation: Arzt, Pädagoge und leidenschaftlicher Turner der Senior Moritz Schreber, dem zu Ehren die Schrebergärten benannt wurden, der Junior Daniel Paul Schreber erfolgreicher Jurist, erfolgloser Politiker, dreimal in der „Anstalt“ und Autor der „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“3. Diese sächsische Fallgeschichte berührt mit der Familie Schreber auch die Stadt Leipzig. Kippenberger wird gern als ein witziger, von Ironie strotzender Künstler 3 Das Buch heißt vollständig: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: „Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?“ von Dr. jur. Daniel Paul Schreber, Senatspräsident beim Kgl. Oberlandesgericht Dresden a.D., Verlag Oswald Mutze, Leipzig 1903. gesehen, der dem Klischee vom wilden Bohemian und Künstlergenie mit Wein, Weib und frühem Tod entsprach, der leidenschaftlich, impulsiv und leidend Kunst schuf – und wenig Bücher las. Doch was für Zitate sind das und welches Interesse konnte Kippenberger an Moritz Schreber und Daniel Paul Schreber haben? Wie ordnen sich diese Zeichnungen und Objekte in sein übriges Werk ein? Bisher sind in der Literatur weder Hinweise noch Untersuchungen bezüglich dieser Zitate zu finden, woher Kippenberger sie nahm und wie er an sie kam. Jedoch liegt ein Zusammenhang auf der Hand, nämlich der einer sehr speziellen Vater-SohnBeziehung: Die Generation der Künstler-„Söhne“ wie Martin Kippenberger setzte sich mit den Künstler-„Vätern“ der westdeutschen Nachkriegsmoderne und den durch sie geprägten Kunstvorstellungen auseinander. „Auf der Vernissage der Potsdamer Ausstellung ´Das 2. Sein`, die im Sommer 1994 eine Art Überblick über sein Gesamtwerk herstellt, fragte sich Kippenberger, was man noch machen kann gegen die Fesselung der Kunst im Kunstwerk und der eigenen Geschichte. Michael Krebber gab lakonisch zurück: Kunst ist Schrebergarten, Strebertum.“ (Ohrt in Taschen/Riemschneider 2003, S. 16) Die Textfragmente der Zeichnungen und des Buchstützenobjektes müssen den „Denkwürdigkeiten“ Daniel Paul Schrebers und in wenigen Fällen Schriften von Moritz Schreber, zum Beispiel aus dem „Buch der Gesundheit“ bzw. Sekundärquellen, entstammen. Kippenberger lässt meist die zu Paul Schreber sprechenden „Stimmen“ zu Wort kommen, die den Kranken mit ihren sich ständig wiederholenden und mitten im Satz abbrechenden Redewendungen quälen. Dafür hat er wahrscheinlich Auszüge aus der Ausgabe der „Denkwürdigkeiten“ von Peter Heiligenthal und Reinhard Volk genutzt (1973). Nur diese Ausgabe enthielt bislang alle von ihm verwendeten Wortgruppen des Sohnes und das erste gerichtsärztliche Gutachten von Dr. Guido Weber, des Direktors der Sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein, Anstaltsbezirks- und Gerichtsarzt, vom 9.12.1899. Und er muss die Biographie von Han Israels gelesen haben, denn nur sie bietet die fraglichen Textpassagen von Moritz Schreber und das Bildmaterial, das er für die Zeichnungen verwendete, nämlich beider Porträts. Denn häufig stützte er sich in seinen Arbeiten auf die Bilderflut aus etlichen Bereichen des Lebens, von Bildern der Hochkultur wie Reproduktionen von Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ und von eigenen Gemälden aus Katalogen bis hin zu pornographischen Photographien. Die Zeichnungen zu den Schrebers soll Kippenberger 1994 in Japan geschaffen haben, tagsüber in einem Café sitzend. Ihnen geht die Werkgruppe „Don´t wake Daddy“ voraus, zu der ihn ein Aufenthalt in den USA 1993 inspiriert hatte. In St. Louis stieß er auf ein Würfelspiel, „bei dem es darum geht, mit den Spielfiguren nicht auf eine Fläche zu geraten, die eine Geräuschmetapher beinhaltet“ (Puvogel in Adriani 2003, S. 65). Die Kinder müssen alles vermeiden, was den – fiktiv - schlafenden Vater wecken könnte. Seine Arbeit geht also hier schon in die Richtung Kindheit, Erziehung und Drill. Bei einer Installation in Madrid wurden Holzreliefs, die Spielmotive aufgreifen, durch typische Gartenzäune, Scherengitter und Pforten umstellt und der Museumsboden in kleine Parzellen unterteilt. Was bei „Don´t wake Daddy“ noch lustige Karikatur ist, die das übertrieben niedliche Kindchenschema der „lieben Kleinen“ samt deren Chaospotenzial vorführt, das gefährlich zu kippen droht, wird bei den Zeichnungen zu den Schrebers vorsichtiger und zurückhaltender, wendet sich aber auch strenger und ernster ins Unheimliche. „In den Zeichnungen finden sich Vater und Sohn Schreber vereint, der Erfinder des Schrebergartens in den Zäunen und Gartengeräten, sein nervenkranker schriftstellernder Sohn in den Porträts und verästelten Hirnaufrissen. Die geordnete, gesetzmäßige und abgegrenzte Welt trifft auf das Zügel- und Regellose, die fehlende Ordnung, die erst eigentlich Wachstum zu verheißen scheint. Was dem an das Geordnete Gewöhnten als unnormale, zweite (und damit zweitrangige) Seinsweise des Paul Schreber erschien, nämlich seine exaltierte Welt der Gesichte und unerhörten Erlebnisse, galt ihm selbst als eigentliches, zweites Sein, und Kippenberger hat seine Auffassungen ganz augenscheinlich geteilt.“ (Melcher in Adriani 2003, S. 16). Dass die einzigen AutorInnen, die Kippenbergers Schreberarbeiten erwähnen - Roberto Ohrt, Ralph Melcher und Renate Puvogel - Moritz Schreber fälschlicherweise als Erfinder des Schrebergartens bezeichnen, zeigt allerdings, dass sie sich nicht mit den Hintergründen dieser Zeichnungen beschäftigt haben. Kippenberger hat von Kind an bis zu seinem Tod exzessiv gezeichnet. „In diesen frühen Zeichnungen wird bereits die sichere Hand und der Hang zur grotesken oder skurrilen Verzerrung, der leicht surrealistische Einschlag und die wuchernde, beschränkungslose Bildaufteilung sichtbar.“ (Melcher in Adriani 2003, S. 14) Seit Mitte der 1980er Jahre zeichnete er auf Hotelbriefpapier. Die Briefbögen sammelte er nicht nur selbst bei seinen vielen Reisen und Aufenthalten in und außerhalb von Deutschland, sondern er ließ sie sich auch von Freunden aus aller Welt mitbringen. „Hotel“ war eines seiner Themen: 1992 erschien ein Band „Hotel Hotel“ und 1995 ein weiterer „Hotel Hotel Hotel“. Die Schreberserie - Gestalten, Objekte und Texte - zeichnete Kippenberger zart auf Hotelkopfbögen. Das standardisierte, banale Format ermöglicht, Extreme zu betonen bzw. auszuhalten. Diese Differenz zwischen strenger Formatvorgabe und scheinbar sinnfreier, zusammenhang- und rücksichtsloser Bearbeitung ist ein zusätzliches Spannungselement und wiedererkennbare, charakteristische Eigenheit. Sie bringt zudem Raum- und Zeitelemente ein: Raum und Zeit des Hotels, Kippenbergers Zeit und in diesem Fall die Zeit der Schrebers. Diese Blätter als Untergrund für seine Zeichnungen sind gerade hier ein Element der – sozusagen – Geschichte. Sie verweisen auf ein unstetes Individuum, so heimatlos und unruhig wie zwischenzeitlich das Seelenleben von Daniel Paul Schreber. Der Titel „über das über“ ist ein typisch Kippenbergersches Sprachspiel: „Zunächst einmal lässt sich das zweite ´Über` nach Belieben ergänzen, etwa als das Überarbeiten und Überdenken, als das Überflüssige wie Überdrüssige, das Überdrehen wie Übergehen, das Überwinden und Überleben. Dann zeichnet Kippenberger tatsächlich über eine bereits zweckdienlich vorgeprägte Unterlage. Außerdem kommentieren viele Zeichnungen literarische oder kunsthistorische Vorgaben. Hinzu kommt wie gesagt, dass er Themen, die ihn zeitlebens beschäftigten, hier zeichnerisch über- und verarbeitend nochmals aufgreift. Und letztlich nennt der Titel überhaupt Kippenbergers Denk- und Arbeitsmethode grundsätzlich beim Namen: denn es geht ihm immer um bzw. über das ´Über` als ebenso distanzierende wie zupackende Potenzierung.“ (Puvogel in Adriani 2003, S. 63) In seine Bilder, ob Zeichnungen oder Gemälde, integrierte Kippenberger – wie auch hier - oft Schrift. Auch das übliche Repertoire tritt auf: Einen Kopfbogen zeichnete er selbst als „Hotel Weihnachtsmann, Schreber Hirn“. Der Weihnachtsmann ist wie das Ei, Nudeln oder Frösche ein immer wiederkehrendes Bildmotiv, mit dem Kippenberger die Frage eben nach einem solchen stellt. Lapidar bemerkte er: „In der Malerei musst du gucken, was ist noch übrig an Fallobst, das du malen kannst. Da ist das Ei zu kurz gekommen, das Spiegelei ist zu kurz gekommen, die Banane hatte ja schon den Warhol gehabt. Da nimmst du dir eine Form, es geht ja immer um kantig, um quadratisch, um die und die Formate, um den Goldenen Schnitt. Das Ei ist weiss und schal, wie kann daraus ein farbiges Bild entstehen?“ (Taschen/Riemschneider 2003, S. 204) Leider greift Puvogel den neckischen Stil auf, in dem oft über Daniel Paul Schreber geschrieben wurde: Er „scheint aber, nicht zuletzt durch die väterliche Strenge, dermaßen verstört gewesen zu sein, dass er schließlich schizophren wurde. Sich mit der Natur und Gott innig verbunden fühlend, schrieb er in seinen lichten Phasen 1900-1902 seine Visionen in Gestalt einer selbstkritischen Abhandlung ... nieder. ... Kippenberger ist verständlicherweise von dem Phänomen dieser Grenzerfahrungen, des Umkippens bürgerlicher Existenz ins Außenseitertum fasziniert. Über den Vater finden sich Darstellungen von akkuraten Gärten, provisorische Hütten und ein brav kopiertes Porträt des Gesundheitsapostels inmitten eines Geheges, welches an das Spielfeld der umfangreichen Installation nach Kafka erinnert. Der Sohn hingegen entsteht als anrührende jugendliche Kopfgeburt aus einem ´Komplott` mehrerer Eier, ergänzt durch den von ihm überlieferten Satz: ´Die Fähigkeit, im ersten Gesicht zu antworten`. Und dann entwirft Kippenberger für den intelligenten Gestrandeten erstmals ein eigenes Papier als ´Hotel Weihnachtsmann` und gibt dem ´Schreber Hirn` eine komplexe Struktur, in der sich Vegetabiles und Zerebrales, Reales und Fiktives zu einem mehrschichtigen, letztlich unauflösbaren Gebilde vermengen.“ (Puvogel in Adriani 2003, S. 65f.) Je nach Interesse ist der Pädagoge, Heilgymnast und Mediziner Daniel Gottlob Moritz Schreber als der Vater des interessanten psychiatrischen Falles, nämlich des Verfassers der „Denkwürdigkeiten“, als Vertreter der „schwarzen Pädagogik“, Tyrann und Sadist, oder als Namenspatron von Kleingartenanlagen bekannt. Schreber sen. vertrat populäre Positionen, die den gesunden Geist im gesunden Körper und die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft, mithin den Staatsbürger und den Staat in den Blick nehmen. Kippenberger nutzte sehr wohl, entgegen seinem Image vom Künstlerschlingel, seine Kunst, um bitterböse die repressiven und totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts zu sezieren. Wenn Moritz Schrebers ambivalente Erziehungsprinzipien ihn zu einem Vorläufer des Nationalsozialismus machen, wie Morton Schatzman meinte (1974, S. 141ff.), rückt das, auch wenn Schatzmans These überzogen ist, diese Geschichte in die Nähe der Themen, die Kippenberger anzogen. Die Rezeption des Lebens und Wirkens von Moritz Schreber und einem seiner Söhne, Daniel Paul Schreber, greift Themen wie Generationenkonflikt, Sexualität, Erziehung und soziale Reglementierung auf. Die von Schreber sen. empfohlenen Therapiemethoden und Erziehungsratschläge kann man durchaus als Sinnbilder für soziale und politische Bedingungen verstehen. Sie provozieren Debatten über pädagogische Ab- und Zurichtung; zum Beispiel scheinen die orthopädischen Anwendungen sehr drastisch zu sein, körperliche und seelische Bedürfnisse zu verleugnen und die sattsam bekannten Erziehungsziele Disziplin, Unterwerfung, Gehorsam gegenüber den patriarchalen Autoritäten zu propagieren, die den Wert des Individuums für gesellschaftliche Systeme bemessen und notfalls seine Zerstörung in Kauf nehmen. Gerade Haltung wird zum Symbol für Anpassung. Daniel Paul Schrebers Text und die Illustrationen zu Moritz Schrebers Ratgeberbüchern sind von großer Bildhaftigkeit. So sind die kleinen, doppelköpfigen Knaben der Turnanweisungen, gleichsam futuristisch im Bewegungsmoment festgehalten, von starkem visuellen Reiz. Aber sie wecken auch Furcht und Schrecken, zumal wenn sie aus dem historischen Zusammenhang gerissen werden. Faszinierend müssen für Kippenberger einige zunächst erschreckende Illustrationen, medizinische Hilfsinstrumente wie das „Kinnband“ oder die kurios, surreal, dadaistisch wirkenden Anleitungen für die Turnübungen, gewesen sein, die so und ähnlich zum Abbildungsrepertoire des 19. und 20. Jahrhunderts gehören, und Daniel Paul Schrebers Phantasien von kleinen Männern, der Doppel- und Mehrköpfigkeit der „flüchtig hingemachten Männer“ und der Mitpatientinnen und –patienten. In welchen Beziehungen die von beiden entworfenen Bilder zueinander stehen, muss unklar bleiben. Die Beschreibungen der „Engbrüstigkeitswunder“ von Schreber jun. oder der Gurte zur Haltungsverbesserung und zur Prophylaxe von Haltungsschwächen durch Schreber sen. werden aber Kippenberger angeregt haben. Außerhalb des Moritz Schreber verehrenden Schrebergartenumfeldes steht Daniel Paul Schreber im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit bzw. die vermuteten Folgen der väterlichen Erziehung für ihn. Das Interesse am Vater und an diesem seiner zwei Söhne wird immer wieder für psychiatrische und pädagogische Debatten aktualisiert, beispielsweise für die Auseinandersetzung mit den Eltern- bzw. Vätergenerationen. Wenn Vater Schreber sein Interesse von medizinischer Tätigkeit zu pädagogischer richtet und damit zunehmend charakterliche Schwächen ins Auge fasst, macht gerade diese Tendenz ihn für Kippenberger interessant. Das Feindbild „Vater Schreber“ ist im Umfeld einer Auseinandersetzung mit autoritären Erziehungsmethoden verortet. Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, dieses Konglomerat von traumähnlichen Szenen und Wahnvorstellungen, diese naturwissenschaftliche und esoterische Mixtur, dieser theologische Komplex mit pathologischen Symptomen, entsprach sicher auch dem, was Kippenberger an Bild- und Textmaterial konsumierte. Weitere Elemente der Zeichnungen sind Strukturen, die an Holzlatten und –leisten erinnern, die Beete abmessen und einhegen. Solche Holzleisten verdichteten sich 1994 in „The Happy End of Kafka´s Amerika“ zu Hochsitzen und –ständen, die eine bessere Sicht auf das Spiel- und Sportfeld gewährleisten. Auf dem Feld befanden sich Tische für „Einstellungsgespräche“. Beispielsweise wurde Robert Musils Schreibtisch nachgebaut, an dem er den „Mann ohne Eigenschaften“ schrieb. Von den Hochsitzen aus können die AkteurInnen kontrolliert werden. Sie werden aber auch für Jäger zum Abschuss frei gegeben: Abrichtung, Prüfung auf soziale bzw. ökonomische Kompatibilität, stete Gefährdung auch hier. Die Zeichnungen Hier sind alle nachweisbaren Zitate von Daniel Paul Schreber. 2 „WIR WOLLEN IHNEN DEN VERSTAND ZERSTÖREN“ „Bei jeder Einstellung meiner Denktätigkeit erachtet Gott augenblicklich meine geistigen Fähigkeiten für erloschen, die von ihm erhoffte Zerstörung des Verstandes86 (den ´Blödsinn`) für eingetreten und damit die Möglichkeit eines Rückzuges für gegeben. 86 Daß dies das erstrebte Ziel sei, wurde früher ganz offen in der vom oberen Gotte ausgehenden, unzählige Male von mir gehörten Phrase ´Wir wollen Ihnen den Verstand zerstören` eingestanden. Neuerdings wird diese Phrase seltener gebraucht, weil dieselbe bei beständiger Wiederholung ebenfalls auf eine Form des Nichtdenkungsgedankens hinauskommt.“ Denkwürdigkeiten, S. 206 3 „Ihr habt nun einmal das Wetter vom Denken eines Menschen abhängig gemacht.“ „Andere Redewendungen des niederen Gottes waren theils an meine Adresse, theils gewissermaßen durch meinen Kopf hindurch gesprochen – an meine Adresse des Collegen, des oberen Gottes, gerichtet; ersteres namentlich in der schon mitgetheilten Redewendung: ´Vergessen Sie nicht, daß Sie an die Seelenauffassung gebunden sind`, letzteres z.B. in den Phrasen: ´Vergessen Sie nicht, daß alle Darstellung ein Unsinn ist` oder ´Vergessen Sie nicht, daß das Weltende ein Widerspruch in sich selber ist`, oder ´Ihr habt nun einmal das Wetter vom Denken eines Menschen abhängig gemacht`, oder ´Ihr habt nun einmal jede heilige Beschäftigung` (d.h. durch die mannigfachen erschwerenden Wunder, das Klavierspielen, das Schachspielen usw. nahezu) ´unmöglich gemacht`.“ Denkwürdigkeiten, S. 182f. 4 „Regen Sie sich nur geschlechtlich auf“ „Namentlich die Redensarten ´Die Wollust ist gottesfürchtig geworden` und ´Regen Sie sich nur geschlechtlich auf` wurden früher sehr häufig aus dem Munde der von dem niederen Gotte ausgehenden Stimmen gehört.“ Denkwürdigkeiten, S. 285 „Namentlich kommt hierbei eine Anzahl der nicht ächten, sondern nur zum ´Auswendiglernen` oder ´Einbläuen` verwendeten Redensarten des niederen Gottes (Ariman) in Betracht, die zum Theil schon früher erwähnt sind (Kap. XIII und Kap. XXI der Denkwürdigkeiten) und auf die ich in dem gegenwärtigen Zusammenhange noch einmal zurückkomme (´Hoffen doch, daß die Wollust einen Grad erreicht`; ´die dauernden Erfolge sind auf Seiten des Menschen`; ´aller Unsinn hebt sich auf`; ´regen Sie sich nur geschlechtlich auf`; ´die Wollust ist gottesfürchtig geworden` usw. usw.“ Denkwürdigkeiten, S. 329 5 „Aber freilich; (gesprochen;) A-A-A-A-B-E-E-E-R „Ein ´aber freilich` gesprochen ´a-a-a-a-b-e-e-e-r fr-ei-ei-ei-li-i-i-i-ch`, oder ein ´Warum sch. . . . . Sie denn nicht?` gesprochen ´W-a-a-a-r-r-u-m sch- ei-ei-ei-ß-e-e-n Sie d-e-e-e-e-n-n- n-i-i-i-i-icht?` beansprucht jedesmal vielleicht 30 bis 60 Sekunden, ehe es vollständig herauskommt.“ Denkwürdigkeiten, S. 223 6 „Schämen Sie sich denn nicht vor iHrer Frau GemaHlin?“ „Diejenigen Strahlen freilich, die von dem Bestreben, mich ´liegen zu lassen` und mir zu diesem Behufe den Verstand zu zerstören, ausgingen, verfehlten nicht, sich alsbald eines – heuchlerischen – Appells an mein männliches Ehrgefühl zu bedienen; eine der seitdem bei jedem Hervortreten der ´Seelenwollust` unzählige Male wiederholten Redensarten lautete dahin: ´Schämen Sie sich denn nicht vor Ihrer Frau Gemahlin?` oder auch noch gemeiner: ´Das will ein Senatspräsident gewesen sein der sich f . . . läßt?`“ Denkwürdigkeiten, S. 177 „Der Grund davon ist bereits früher angegeben worden; je mehr die Seelenwollust meines Körpers sich gesteigert hat – und diese ist in Folge des ununterbrochen fortdauernden Zuströmens von Gottesnerven in rapidem, stetigem Wachsthum begriffen, um so mehr ist man genöthigt, die Stimmen immer langsamer sprechen zu lassen, um mit den dürftigen, immer wiederkehrenden Phrasen, 114 über die man verfügt, die ungeheueren Entfernungen, welche die Ausgangsstellen von meinem Körper trennen, zu überbrücken. 114 ´Hätten Sie nicht Seelenmord getrieben`; ´nun muß er doch wohl mürbe sein`; ´das will ein Senatspräsident gewesen sein`; ´schämen Sie sich denn nicht` scil. vor Ihrer Frau Gemahlin?; ´warum sagen Sie´s nicht` scil. laut? ´sprechen Sie noch´ scil. fremde Sprachen? ´das war nu nämlich` scil. nach der Seelenauffassung zuviel u.s.w. u.s.w.“ Denkwürdigkeiten, S. 310f. S. 228, Nachträge, erste Folge, IV. Halluzinationen betreffend (Februar 1901): „Sind auf die angegebene Weise die ´inneren Stimmen` zum Schweigen gebracht, so ertönen dann in Folge der wieder nothwendig gewordenen Annäherung der Strahlen irgendwelche beliebige Worte aus den Kehlen der mit mir sprechenden Vögel v o n a u ß e n h e r an mein Ohr. Was diese inhaltlich ausdrücken, ist mir natürlich gleichgiltig; daß ich mich – nach jahrelanger Gewöhnung – nicht mehr beleidigt fühlen kann, wenn mir von einem Vogel, den ich gelegentlich fütterte, etwa zugerufen (oder richtiger zugelispelt) wird ´Schämen Sie sich nicht` (vor Ihrer Frau Gemahlin)? und dergleichen, wird man verständlich finden.“ Denkwürdigkeiten, S. 312 7 „PUNKTFUNAMENT [sic] STREIFENFUNDAMENT RINGFUNDAMENT FUNDAMENPLATTE [sic] Diese Worte konnten nicht gefunden werden. 8 „Nun sollte derjenige (erg: denken, sagen:) will ich mich darin ergeben, dass ich dumm bin.” „Denn genau in derselben Weise wiederholen sich nun schon seit Jahren einen Tag wie den andern die nämlichen Erscheinungen, insbesondere bei jeder Pause meiner Denkthätigkeit (dem Eintritt des sogenannten Nichtsdenkungsgedankens) sofort im ersten Gesichte (Augenblick) der Versuch, sich zurückzuziehen und die Annahme, daß ich nunmehr dem Blödsinn verfallen sei, die gewöhnlich in der albernen Phrase zum Ausdruck kommt ´Nun sollte derjenige (scil. denken oder sagen) will ich mich darein ergeben, daß ich dumm bin`, worauf dann in geistlosem Einerlei nach Art eines Leierkastens die übrigen abgeschmackten Redensarten ´Warum sagen Sie´s nicht (laut)?` oder ´Aber freilich wie lange noch` (scil. wird Ihre Vertheidigung gegen die Strahlenmacht noch von Erfolg sein) u.s.w. u.s.w. wieder einsetzen, bis ich von neuem zu einer von dem ungeschwächten Vorhandensein meiner Geisteskräfte zeugenden Beschäftigung verschreite.“ Denkwürdigkeiten, S. 186 „Es hätten eigentlich zu lauten die Redensarten No. 1. Nun will ich mich darein ergeben, daß ich dumm bin; [...]“ Denkwürdigkeiten, S. 217f. 10 „wenn nur das verfluchte Nägelputzen aufhörte“ „Thatsächlich weiß man aber nun schon seit Jahren in Ermangelung eigener Gedanken im Wesentlichen Nichts weiter zu sprechen, als von den eigenen Wundern, bezüglich deren dann meine Nerven die entsprechenden Befürchtungsgedanken fälschungsweise unterlegt werden (z.B. ´wenn nur meine Finger nicht gelähmt würden`, oder ´wenn nur keine Kniescheibe nicht verwundert würde`) und ferner jeweilig diejenige Beschäftigung, die ich gerade vornehmen will, zu verfluchen, (z.B. ´wenn nur das verfluchte Klavierspielen aufhörte`, sobald ich mich ans Klavier setze oder selbst ´wenn nur das verfluchte Nägelputzen aufhörte`, sobald ich mich anschicke, meine Nägel zu putzen.“ Denkwürdigkeiten, S. 130 Die Buchstützen Zu I: nachweisbare Zitate von Daniel Paul Schreber Zu II: nachweisbare Zitate von Daniel Gottlob Moritz Schreber II „meines übrigens eisenfesten Körpers“ „jeden schiefen Gedanken sogleich“ „Wahnsinn durchtobte mein Gehirn bei Tag und Nacht. Der dadurch herbeigeführte ganz eigenthümliche und äußerst lästige Kopfschmerz vermehrte meine Leiden durch oft sich wiederholende Anfälle. [...] Der Trieb zum Bösen ward immer fürchterlicher und durch jede Gelegenheit, welche die Möglichkeit, eine Missethat zu verüben, vor Augen führte, von Neuem angefacht. [...] Meine Umgebungen gewahrten zwar an mir einiges Verfallensein meines übrigens eisenfesten Körpers und zuweilen etwas mehr Gedankenlosigkeit und düsteres Wesen als gewöhnlich, schrieben dies aber körperlichem Unwohlsein zu. [...] Dieser gräßliche Zusand dauerte über 2 Jahre. [...] Da raffte ich endlich den letzten Rest meiner Geisteskraft zusammen und beschloß, jeden schiefen Gedanken sogleich im Entstehen gewaltsam zu unterdrücken.“ Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Das Buch der Gesundheit. Eine Orthobiotik nach den Gesetzen der Natur und dem Baue des menschlichen Organismus. Leipzig 1839, in: Israels 1989, S. 39 ???? „Unter 50 Jahren nicht“ „Bequemlichkeit haßte er und nannte sie Verweichlichung des Körpers. So antwortete er z.B. eines Tages der Mutter hinsichtlich eines Winterpelzes: ´Unter 50 Jahren nicht`. Als nun aber die Mutter ihm im 50. Lebensjahre, Weihnachten 1858, einen solchen schenkte, konnte er, obwohl er sich Mühe gab, der Mutter nicht wehe zu tun, doch nicht verbergen, daß er den Pelz am liebsten wieder zurückgeben möchte. Und das geschah auch.“ Siegel, (G.) Richard: Erinnerungen an Dr. Moritz Schreber: Nach Berichten von seinen Töchtern. Der Freund der Schrebervereine 5, 205-209, S. 207, in: Israels 1989, S. 67 „ließ ein Kinnband von weichem Leder“ „In nicht seltenen Fällen bildet sich zwischen beiden Kinnladen ein Mißverhältnis durch vorherrschendes Wachsthum der Unterkinnlade aus. [...] Ein Fall aus meiner eigenen Beobachtung, der ein 8jähriges Mädchen betraf, wird sich am besten zur Mittheilung eignen, da der fragliche Fehler hier in der markirtesten Weise hervortrat [...] Ich ließ ein Kinnband von weichem Leder fertigen, wie es die beistehende Abbildung [10] darstellt [...]. Der Apparat blieb nur des Nachts zwanzig Monate hindurch in Anwendung, wurde nur in den lästig warmen Sommernächten ausgelassen und verursachte übrigens nicht die geringsten Beschwerden.“ Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmässige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel: Für Ältern, Erzieher und Lehrer. Leipzig, Friedrich Fleischer 1858, S. 219f., in: Israels 1989, S. 83ff. I „Fähigkeit, im 1. Gesicht zu antworten“ „In den ersten Jahren empfanden es meine Nerven in der That als eine unwiderstehliche Nöthigung für jeden der eingeleiteten Relativsätze, für jede der angebrochenen Phrasen eine den menschlichen Geist befriedigende Fortsetzung zu finden, 95 so etwa, wie im gewöhnlichen, menschlichen Verkehr auf die Anfrage der Anderen regelmäßig eine Antwort gegeben zu werden pflegt. 95 Das Vermögen, dies, wie es die Erregung der Nerven erforderte, sofort im ersten Gesicht (Augenblicke) zu thun, bezeichnete man als ´die Fähigkeit, im ersten Gesichte zu antworten.`“ Denkwürdigkeiten, S. 219 „Regen Sie sich nur geschlechtlich auf“ S. 285, 329: siehe oben „Weil ich so dumm bin“ „So höre ich, um nur eines von unzähligen Beispielen anzuführen, seit Jahren alltäglich Hunderte von Malen die Frage. ´Warum sagen Sie´s?` wobei die zur Ergänzung des Sinns eigentlich erforderlichen Worte ´nicht laut?` weggelassen werden und die Strahlen sich dann selbst gleichsam als von mir ausgesprochen die Antwort geben: ´Weil ich dumm bin so etwa.`“ Denkwürdigkeiten, S. 48 „Dazu hatte man noch die maßlose Unverschämtheit – ich kann keinen andern Ausdruck dafür gebrauchen – mir zuzumuten, daß ich diesem gefälschten Blödsinn gewissermaßen als meinen eigenen Gedanken lauten Ausdruck geben soll, also in der Weise, daß sich an der Phrase ´wenn nur das verfluchte Klavierspielen aufhörte` die Frage anschließt: ´Warum sagen Sie´s nicht (laut)? Und darauf wieder die gefälschte Antwort erfolgt: ´Weil ich dumm bin, so etwa` oder auch ´weil ich Furcht habe vor Herrn M.`“ S. 130f. „Strahlen nachlässig abgegeben“ „Er klagte öfters darüber, daß ein ´Strahlenverlust` stattfinde, daß der Arzt ´Strahlen nachlässig abgegeben` habe, ohne näher zu erklären, was er darunter verstehe.“ (aus: I. Gerichtsärztliches Gutachten. Dr. Guido Weber, Anstaltsbezirks- und Gerichtsarzt, Sonnenstein, 9.12.1899, Denkwürdigkeiten, S. 381) „Nun muß er doch wohl mürbe sein“ „Es hätten eigentlich zu lauten die Redensarten [...] No. 4. Nun muß er doch wohl mürbe sein, der Schweinebraten; [...] Die wenig geschmackvolle Redensart vom Schweinebraten (ad 4) beruht insbesondere darauf, daß ich selbst einmal vor Jahren in der Nervensprache mich der bildlichen Redewendung von einem ´mürben Schweinebraten` bedient hatte. Denkwürdigkeiten, S. 218 Literatur Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Nebst Nachträgen. Mit einem Nachwort von Martin Burckhardt. Berlin, Kadmos Verlag 1995 Heiligenthal, Peter/Volk, Reinhard (Hg.): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Von Daniel Paul Schreber. Nachdruck: Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden, Focus-Verlag 1972. übernommen von Frankfurt a.M., Syndikat 1973 Israels, Han: Schreber: Vater und Sohn. Eine Biographie. München/Wien, Verlag Internationale Psychoanalyse 1989 Schatzman, Morton: Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkung einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall Schreber. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1974 Adriani, Götz (Hg.): Martin Kippenberger. Schattenspiel im Zweigwerk. Die Zeichnungen. ZKM Karlsruhe. Köln, DuMont 2003 Taschen, Angelika/Riemschneider, Burkhard (Hg.): Kippenberger. Köln/London/Los Angeles/Madrid/Paris/Tokyo, Taschen 2003