Essay Mill

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Essay Mill
Tim Heinkelmann-Wild
Besser ein zufriedenes Schwein als ein unzufriedener Mensch?
Eine Kritik des qualitativen Hedonismus von John Stuart Mill
Essay Philosophie
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Besser ein zufriedenes Schwein als ein unzufriedener Mensch?
– Eine Kritik des qualitativen Hedonismus von John Stuart Mill
„Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein
unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.“ 1 Dieses Zitat bringt auf den Punkt, was
John Stuart Mills Utilitarismus auszeichnet. Denn er führt neben der Quantität ein neues
Kriterium zur evaluativen Unterscheidung von Freuden ein, nämlich das der Qualität. Er
begründet dies damit, dass „ein höher begabtes Wesen […] mehr zu seinem Glück“ 2 verlangt. Im Folgenden soll Mills heute als qualitativer Hedonismus bezeichnete Philosophie
näher erläutert und im Anschluss kritisch hinterfragt werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei
auf der Frage, ob Mill aufgrund seiner qualitativen Konfiguration des Utilitarismus als Hedonist gelten kann. Zunächst erfolgt ein Überblick über den quantitativen Hedonismus von
Jeremy Bentham und über eine historische Kritik am Utilitarismus.
Zu Zeiten Mills wurde Utilitaristen vorgehalten, sie sähen in (tierischen) Sinnesfreuden das
alleinige Endziel menschlichen Handelns. So bezeichnete der einflussreiche schottische
Essayist und Historiker Thomas Carlyle den Utilitarismus als „Schweinephilosophie“ 3:
„Wenn die Schweine denken könnten, würden sie sich die ganze Welt als einen ungeheuren
Schweinetrog vorstellen; das moralisch Schlechte wäre für sie die Unfähigkeit, Schweinespülicht zu bekommen, das moralisch Gute die Fähigkeit, die allergrößte Menge des geliebten Fraßes zu erlangen.“ 4 Mit diesem Bild für die englische Gesellschaft kritisiert er die
Ansicht, dass sich Lust allein aus der Quantität von (tierischen) Sinnenfreuden ergebe, was
keinen Raum für edlere Ziele und höhere Zwecke, die nur dem Menschen vorbehalten wären, zuließe.5
Diese Kritik zielte auf den quantitativen Hedonismus ab, den beispielsweise Jeremy Bentham vertrat. Jedoch differenziert schon dieser in vierzehn verschiedene Arten von Lust bzw.
Wohlgefallen, wobei er die Sinnenfreude in weitere neun Unterformen unterteilt. Der
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John Stuart Mill: Utilitarianism/Der Utilitarismus. Stuttgart 2006, S.33.
Ebd. S.31.
Zitiert nach Otto Krauske: Macaulay und Carlyle. In: Historische Zeitschrift, 102 (1), S.46.
Ebd.
Vgl. Domenique Kuenzle und Michael Schefczyk: John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg 2009,
S.37f.
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Mensch teile nur einige dieser mit dem Schwein und die menschlichen Sinnenfreuden seien
darüber hinaus um einiges differenzierter und kultivierter.6 Hätte er vor der Entscheidung
zwischen einem unzufriedenen Menschenleben und einem zufriedenen Schweineleben gestanden, hätte er sich wohl auch für ersteres entschieden, da der Mensch größere Lustmengen realisieren kann. 7
Mill geht in diesem Punkt einen bedeutenden Schritt über Bentham hinaus. Nach ihm würden „diejenigen, die mit beiden gleichermaßen bekannt und für beide gleichermaßen empfänglich sind, der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch ihre höheren
Fähigkeiten beteiligt sind“8. Der Mensch zöge also die menschliche Existenz der des
Schweines vor, da das Leben eines Schweines nach Mill höhere Arten von Freude ausschließen würde, von denen sich niemand, der mit ihnen Bekanntschaft gemacht, ausgeschlossen sehen möchte. 9
Mill versteht „unter ,Glück‘ […] Lust und das Freisein von Unlust, unter ,Unglück‘ Unlust
das Fehlen von Lust“ 10. Allgemein sei „der letzte Zweck, bezüglich dessen und um dessentwillen alles andere wünschenswert ist […] ein Leben, das so weit wie möglich frei von
Unlust und in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist“ 11.
Menschen haben nach Mill Präferenzen hinsichtlich von Lust- und Unlustarten und bewerten „einige Arten [Hervorhebung im Original, THW] der Freude wünschenswerter und
wertvoller […] als andere“ 12. Diese Bewertung und Unterscheidung von Gefühlen erfolgt
nicht allein aufgrund deren Quantität, die sich aus deren Intensität, Dauer, Wahrscheinlichkeit und zeitlicher Distanz zusammensetzt, sondern auch ob ihrer Qualität. Folgt man Mill,
ist es also nicht immer richtig, bei zwei alternativen Handlungen immer diejenige vorzuziehen, mit der die größere Lustmenge verbunden ist, wie es Bentham raten würde.13
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Vgl. Jeremy Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789, S.33-35.
Vgl. Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.38f.
Mill: Utilitarismus, S.29, Z.21-34.
Vgl. Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.39.
Mill: Utilitarismus, S.23-25.
Ebd. S.37.
Ebd. S.27.
Vgl. ebd. S.27-29; Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.39.
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Woher weiß man nun, welche Freude an Qualität überwiegt? Das Urteil „darüber, welche
von zwei Befriedigungen es sich zu verschaffen am meisten lohnt oder welche von zwei
Lebensweisen ungeachtet ihrer moralischen Eigenschaften und ihrer Folgen dem menschlichen Empfinden am meisten zusagt“ 14, kann nach Mill nur von kompetent urteilenden
Richtern getroffen werden, also Menschen, „die beide erfahren haben, oder, wenn sie auseinander gehen sollten, das der Mehrheit unter ihnen als endgültig gelten“15. Mill gibt folgenden Test für die Vorzugswürdigkeit einer Lustart an:
„Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide
erfahren haben – ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen
zu müssen –, entschieden bevorzugt wird. Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide
kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, dass sie größere Unzufriedenheit
verursacht, und sie gegen noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die
Quantität so weit übertrifft, dass diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt.“ 16
Dies wird in der Literatur mehrheitlich so interpretiert: Wenn eine Lustart A auf Grundlage
des obigen Präferenztests von (fast) allen kompetent Urteilenden als qualitativ besser, d.h.
hochwertiger bzw. vorzugswürdiger, bezeichnet wird, dann wird sie, unabhängig von der
Quantität der zur Wahl stehenden Lustart B, immer bevorzugt; man wäre also nicht bereit,
eine Lustart A für eine beliebige Menge der Lustart B aufzugeben.17
An diesem Verfahren lassen sich einige Punkte kritisieren. So ist die Objektivität des Präferenztests fraglich. Zum einen stellt sich die klare Einordnung von bestimmten Lustarten
nicht immer als problemlos dar: Während das Trinken eines Weines an sich wohl den niederen körperlichen Vergnügen zuzuordnen wäre, so ist die anschließende Reflexion über Geschmacksnote und ähnliches ein höherer Genuss. Wie kann nun aber diese Freude bewertet
werden, da eine Teilung der Freude wenig Sinn machen würde? Dies bleibt bei Mill unklar18. Zudem ist die Voraussetzung dafür, zwei Freuden wirklich miteinander vergleichen
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Mill: Utilitarismus, S.35.
Ebd.
Ebd. S.29.
Vgl. Roger Crisp: Mill on Utilitarianism. London 1997, 29f.; Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.40f.
Vgl. Crisp: Mill on Utilitarianism, S. 30.
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zu können, dass die Richter nicht nur beide erlebt, sondern auch beide genossen haben.
Denn andernfalls wäre die Möglichkeit des Vergleichs der mit den einzelnen Freuden verbundenen Zufriedenheit nicht gegeben.19
Zudem ist anzumerken, dass der Millsche Präferenztest darauf angelegt ist, zwei Freuden
als höher bzw. niedriger einzustufen. Dies erfolgt immer in Bezug auf die jeweils andere
Lustart. Zögen die allermeisten Richter beispielsweise die Lektüre von Mills „Über die
Freiheit“ dem Trinken von Wasser vor, ist das Lesen von „Über die Freiheit“ das höhere
Vergnügen. Zögen die kompetenten Richter in einem zweiten Vergleich die Freuden der
„Utilitarismus“-Lektüre denen der „Über die Freiheit“ vor, so wäre diesmal letztere das
niedrigere Vergnügen. Die Einteilung von Freuden ist also immer relativ zu deren Bezugspunkt, d.h. vom jeweiligen Vergleichspaar.20
Aufgrund seiner qualitativen Unterscheidung in höhere und niedrigere Freuden ergibt sich
ein zentrales Problem. Mill geht davon aus, dass „die aus höheren Fähigkeiten erwachsenen
Freuden der Art nach [Hervorhebung im Original, THW] – ungeachtet ihrer Intensität –
denen vorzuziehen sind, deren die tierische Natur ohne die höheren Fähigkeiten fähig ist“ 21.
Vor diesem Kontext ist fraglich, ob Mill überhaupt als Hedonist gelten kann. Denn geht
man, der hedonistischen Lehre folgend, von Lust als „letzte(m) Zweck“22 aus, dann müsste
jeglicher Unterschied von Freuden in ihrem verschiedenen Maß an Lust liegen. Dies würde
jedoch bedeuten, dass eine niedere Freude durch Erhöhung ihrer Quantität eine höhere in
ihrem Wert ausgleichen könnte, womit wir wieder bei Bentham angelangt wären. Mill bestreitet dies, folgt man der oben erläuterten Interpretation. 23
Nimmt man aber konsequent an, es gebe eine andere Eigenschaft, welche die höheren Eigenschaften von den niederen abhebt, so negiert man gleichzeitig, dass einzig Lust einem
Bewusstseinszustand mehr Wert verleihen kann und damit die Grundannahme des Hedo-
19 Vgl. Crisp: Mill on Utilitarianism, S.37; diese Möglichkeit wird von Alan Ryan ganz in Frage gestellt:
„The philosopher who is a half-hearted sensualist cannot estimate the attractions of a debauched existence, any more than the sensualist flicking through the pages of Hume can estimate the pleasures of philosophy.“ (Alan Ryan: The Philosophy of John Stuart Mill. London 1974, S.11).
20 Vgl. Crisp: Mill on Utilitarianism, S.31.
21 Mill: Utilitarismus, S.37.
22 Ebd.; vgl. Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.46.
23 Mill: Utilitarismus, S.29; vgl. Crisp 1997, 29f.; Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.40f.
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nismus. Gleichzeitig lehnt Mill explizit ab, dass der „Zweck nicht Glück, sondern Tugend“24 sei. Eine Person kann bei einer Handlung zwar nicht auf Lustgewinn, sondern
durchaus auch auf Tugendhaftigkeit aus sein. Letzteres reiche jedoch nicht aus, um die
Handlung zu motivieren; die Handlung erfolgt nur dann, wenn die Vorstellung des tugendhaften Handelns auch als lustvoll begriffen wird. 25 Mill beharrt also auf dem klassischen
hedonistischen Prinzip des Utilitarismus.26 Eine Lösung wäre, Hedonismus so zu definieren, dass „jede Handlung entweder Lust zum Handlungsziel hat oder durch Lust oder Unlust verursacht wird [Hervorhebungen im Original, THW]“ 27. Nach diesem Verständnis wäre Mill Hedonist.
In dieser Hinsicht besteht aber noch ein zweiter Konfliktpunkt. Mill nimmt an, dass Glück
das einzige internistisch wertvolle Gut sei.28 Bei der Begründung, weshalb kompetente
Richter es vorziehen würden, „ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes
Schwein“29, argumentiert Mill jedoch mit dem „Gefühl der Würde […], das allen Menschen in der einen oder anderen Weise und im ungefähren Verhältnis zu ihren höheren Anlagen zu eigen ist“ 30. Durch die Bevorzugung der menschlichen Existenzform unter Berufung auf die Würde des Menschen, erscheint diese als eingeständiges Endziel, unabhängig
von der Lust.31 Dies wäre mit beiden aufgeführten Definitionen von Hedonismus unvereinbar.
Eine mögliche Auflösung dieses Widerspruchs wäre durch die Annahme möglich, dass
durch die Sozialisation des Menschen die Vorstellung von menschlicher Würde zu einem
festen Bestandteil der Vorstellung von Glück würde. 32 Demzufolge erfüllt kompetente
Richter der Gedanke an die Existenz als zufriedenes Schwein mit Unlust, da dieser im Konflikt einer solchen Vorstellung steht. Ihr Handeln wäre folglich durch Unlust motiviert. Dies
würde verallgemeinert bedeuten, dass manche Arten von Lust wertvoller sind als andere,
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Mill: Utilitarismus, S.49.
Vgl. ebd. S.49-51; Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.46f.
Vgl. Crisp, 1997, S.36.
Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.47.
Vgl. bspw. Mill: Utilitarismus, S.37; Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.47.
Mill: Utilitarismus, S.33.
Ebd. S.31.
Vgl. Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.47.
Dies gilt wenigstens für die meisten Menschen und steigt mit Verbreitung von Bildung und Erziehung an.
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weil die Grundlage der Wahl im Gefühl der Lust oder Unlust besteht, das die Vorstellung
auslöst. Diesem Ansatz folgend wäre Mill von der Bedingung der mentalen Zustände, die
dem menschlichen Leben seinen spezifischen Wert verleihen, an bestimmte Fähigkeiten
ausgegangen. Mill kann also insofern als Hedonist gelten, als dass er Lust als Bedienung
für ein gutes Leben ansieht. Lust ist aber nicht hinreichend für ein gutes menschliches Leben, da der Mensch die „höheren Fähigkeiten“33 kennt und als „höher begabtes Wesen […]
mehr zu seinem Glück“34 verlangt; die Vorstellung einer Existenz ohne diese bereitet ihm
daher Unlust. Ein freudloses Leben kann aber nie ein gutes Leben sein. Folglich ist Lust für
ein gutes menschliches Leben notwendig. 35
Wie gezeigt worden ist, geht der qualitative Hedonismus Mills einen entscheidenen Schritt
über vorherige Theoretiker des Utilitarismus hinaus. Mit der zusätzlichen Dimension der
Qualität wird er dem menschlichen Bewusstsein gerecht, das in Teilen nicht in den gleichen
Kategorien bewertet werden kann wie das anderer Lebewesen. An einigen Stellen kann seine Philosophie kritisiert werden und sorgt noch heute für befruchtende Diskussionen. Insgesamt hat Mill einen großen Beitrag zur Theorie des Utilitarismus geleistet.
Literatur
Primärliteratur
Bentham, Jeremy: Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789.
Mill, John Stuart: Utilitarianism/Der Utilitarismus. Stuttgart 2006.
Sekundärliteratur
Krauske, Otto: Macaulay und Carlyle. In: Historische Zeitschrift, 102 (1), S.31-56.
Kuenzle, Domenique und Michael Schefczyk: John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg 2009.
Ryan, Alan: The Philosophy of John Stuart Mill. London 1974.
Crisp, Roger: Mill on Utilitarianism. London 1997.
33 Mill: Utilitarismus, S.29.
34 Ebd. S.31.
35 Vgl. Kienzle/Schefczyk: Zur Einführung, S.47-49.