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VII Kundenorientierung – aus Sicht der Verwaltung
VII Kundenorientierung – aus Sicht der Verwaltung
Nach der Darlegung der Wohnbedürfnisse und Unterstützungsbedarfe der Leistungsberechtigten
sowie der Angebote und Einschätzungen der Leistungserbringer rückt nun die Rolle der Verwaltung
in den Blick. Sie gibt den konzeptionellen und finanziellen Rahmen für die Erbringung der Leistungen vor und stellt damit Weichen, die die Lebenssituation von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung entscheidend prägen. Mit Blick auf die Fragestellung der KUNDENSTUDIE ist vor
allem die Philosophie von Interesse, die die Entscheidungen leitet. Hierzu wurden bei der Einführung des Fallmanagements in der Eingliederungshilfe nach SGB XII im Jahr 2006 klare Aussagen
gemacht, an denen das Verwaltungshandeln gemessen werden kann. Zur Einschätzung der vorliegenden Erfahrungen wurden Einzel- und Gruppeninterviews mit sieben Fallmanagern durchgeführt,
die in den Sozialämtern von drei Berliner Bezirken tätig sind. Ergänzend wurde mit Vertretern der
Sozialverwaltung des Berliner Senats gesprochen, die für Grundsatzfragen des Fallmanagements
in der Eingliederungshilfe und für die Entwicklung der Angebote im Bereich des Wohnens zuständig
sind. Die Aussagen geben exemplarisch Einblick in Zielvorstellungen und Erfahrungen der Akteure
im Bereich der Verwaltung, ohne Anspruch auf Verallgemeinerung. Systematische Untersuchungen
in diesem Feld waren im Rahmen der KUNDENSTUDIE nicht möglich.
1 Wandel der Rolle des Sozialhilfeträgers
Das veränderte Selbstverständnis des Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft und sein fortentwickelter Status und rechtlich verankerter Leistungsanspruch in der Sozialgesetzgebung, seine Rolle
als Subjekt und Akteur, der als Experte seiner selbst die eigenen Belange am besten regeln kann, sein
Abschied aus der Rolle eines „Objektes“ in einem fürsorglichen, angebotsorientierten Versorgungssystem, dies alles fordert den Träger der Sozialhilfe heraus, mit veränderten, personenorientierten und
individualisierbaren Beratungs- und Leistungsangeboten zu reagieren und dem Menschen mit Behinderung als gleichberechtigtem Partner zu begegnen. (HANDBUCH FÜR FALLMANAGER/INNEN DER EINGLIEDERUNGSHILFE NACH SGB XII 2006, 17)
Das im „Handbuch für Fallmanager/innen der Eingliederungshilfe nach SGB XII“ festgeschriebene Leitprinzip der Kundenorientierung erfordert auf der Ebene der Verwaltung eine Veränderung
der Rolle des Sozialhilfeträgers. An die Stelle der herkömmlichen Sachbearbeitung nach Aktenlage tritt das Fallmanagement mit erweiterter Aufgabenstellung als Berater und Sachwalter mit alleiniger Entscheidungskompetenz bei der Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe.
Die Fallmanager/innen sollen ihre Aktivitäten an den Wünschen der behinderten Menschen orientieren und die Kundenzufriedenheit zum Maßstab für die Qualität der eigenen Leistung machen.
Damit ist der im Fachdiskurs der letzten Jahre proklamierte Wandel von der institutionsbezogenen zur personzentrierten Hilfeplanung eingeleitet.
Die Gestaltung und Umsetzung der individuellen Hilfen in der Eingliederungshilfe erfolgt in fünf
Schritten (vgl. HANDBUCH FÜR FALLMANAGER/INNEN 2006, 27):
1. Assessment und Hilfedokumentation
(Eingangsgespräch, Prüfung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit sowie des Leistungsanspruchs, Klärung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen, ggf. Anforderung von Gutachten, Feststellung des ganzheitlichen und individuellen Hilfebedarfs, Ziel- und Leistungsabstimmung mit dem Leistungsberechtigten, ggf.
Durchführung einer Hilfekonferenz, Dokumentation des Assessment-Ergebnisses in einem Gesamtplan)
2. Realisierung der Leistung
(Auswahl des Leistungsanbieters bzw. des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets, Bescheid-Erteilung,
Kostenübernahme)
3. Evaluation
(Abgleich und Überprüfung der Hilfe, Zielüberprüfung mit dem Leistungsberechtigten und mit dem Leistungserbringer, Anpassung und Fortschreibung der Ziele und Leistungen im Gesamtplan)
4. Finanzierung
(Zahlungsmanagement, Zielvereinbarung, Ausgabendurchschnittssätze)
5. Ergänzende Verfahrensschritte
(Widerspruch, Klage, Klagerecht der Verbände, Statistik nach SGB IX)
Projekt KUNDENSTUDIE – Unterstütztes Wohnen in Berlin (2010)
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VII Kundenorientierung – aus Sicht der Verwaltung
Im Interesse einer umfassenden Einschätzung der jeweiligen Situation wird im HANDBUCH FÜR
FALLMANAGER/INNEN ein Bezug zum Klassifikationssystem ICF der Weltgesundheitsorganisation
hergestellt, das person- und umfeldbezogene Kontextfaktoren der individuellen Lebenssituation
und deren Wechselwirkungen in den Blick nimmt – ein Denkansatz, der innerhalb der Behindertenhilfe bislang nur punktuell Berücksichtigung findet.
Eine besondere Herausforderung für die Akteure im Berliner Fallmanagement ist die Verknüpfung
des Auftrags individuell passgenauer Hilfen mit Einsparvorgaben des Senats, die in der angespannten Haushaltslage des Landes Berlin begründet sind. Die jährlich zu erreichenden Einsparquoten beziehen sich auf die durchschnittlichen bezirklichen Ausgaben der Eingliederungshilfe,
nicht auf den Einzelfall.
Die personellen Voraussetzungen des Fallmanagements und die Organisation der Zuständigkeiten sind in den Bezirken nicht einheitlich geregelt. Teilweise liegt die Bearbeitung aller Angelegenheiten in einer Hand, teilweise sind Sachbearbeitung und Fallmanagement für die Eingliederungshilfe getrennt, teilweise gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten (z. B. für Personengruppen). Die Fallzahlen übersteigen meist die ursprünglich vorgesehene Zahl von 75 Leistungsberechtigten pro Fallmanager.
2 Erfahrungen im Fallmanagement
Im Folgenden werden Erfahrungen in der Praxis des Fallmanagements dokumentiert, die Chancen und Probleme bei der Umsetzung der Kundenorientierung konkretisieren. Sie beziehen sich
auf die Berücksichtigung der individuellen Wünsche, auf Angebote im Bereich des Wohnens und
auf die Passgenauigkeit der Hilfen, auch bei spezifischen Unterstützungsbedarfen. Darüber hinaus werden subjektiv befriedigende und belastende Faktoren in der Arbeit des Fallmanagements
und Verbesserungsvorschläge der Beteiligten dargestellt.
2.1 Personzentrierung
Im Gegensatz zur früheren Praxis der Bearbeitung der Fälle nach Aktenlage sind die Fallmanager/innen gehalten, zur Klärung der Wünsche der Leistungsberechtigten persönlichen Kontakt zum
behinderten Menschen aufzunehmen, z. B. über Besuche im häuslichen Umfeld. Das gegenseitige
Kennenlernen bringt eine neue Qualität in die Bearbeitung der Angelegenheiten und wird von den
meisten Fallmanagerinnen und Fallmanagern trotz der damit verbundenen Mehrarbeit geschätzt:
„Wir versuchen sämtliche Gesichter zu den Fällen auch mal zu sehen. Entweder wir gehen selbst in die
Einrichtungen oder wir laden uns die Menschen vor, um einen guten vertrauensvollen Draht zu den Menschen zu gewinnen. Das ist für mich eigentlich so die wesentliche Änderung im Fallmanagement, dass
man doch mehr versucht, den Bedürfnissen auch so ein Stück weit gerecht zu werden, was sicherlich
auch nur gelingen kann, wenn man die Träger und auch den SpD [Sozialpsychiatrischer Dienst] mit im
Boot hat. Ohne das würde es nicht funktionieren.“ (Int-E_F54)
„Es ist sehr hilfreich, dass man die Hilfeempfänger kennt und so ein Bild vor Augen hat. Wenn dann irgendein Bericht kommt, kann man das einordnen und sagt, ja richtig, kann ich mir gut vorstellen bei dem.
Da kommt man viel schneller und leichter zu einer Entscheidung, als wenn das wie vorher immer nur
durch Berichte abgedeckt war und man selber kein Bild hatte.“ (Int-E_F)
Der behinderte Mensch soll Gelegenheit haben, seine Wünsche selbst zu äußern und nicht ausschließlich über einen Träger Zugang zu den Leistungen zu erhalten, wie es in der Vergangenheit
häufig der Fall war. Darum wird versucht, zunächst mit dem Klienten allein ins Gespräch zu
kommen, ohne begleitende Betreuer oder Angehörige:
„Dann gehen die manchmal ganz anders aus sich raus und können mir mal so richtig sagen, was sie wirklich
wollen. Und die sind auch so richtig wie frei, nicht irgendwie eingeengt, und wir unterhalten uns über alles
Mögliche, es muss gar nicht immer erst mit der Maßnahme anfangen. Man versucht da immer einen Weg zu
finden, um ihn kennen zu lernen, oder an ihn heran zu kommen. Und das finde ich ganz wichtig.“ (Int-E_F)
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Int-E_F = Experten-Interview Fallmanagement
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Projekt KUNDENSTUDIE – Unterstütztes Wohnen in Berlin (2010)

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