Wimmer
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Bärennaturen In einem Dorf am Rand der kanadischen Arktis kommen sich Eisbären und Menschen ungewöhnlich nah. Nicht alle profitieren davon Text: Martina Wimmer 44 Fotos: Joachim Ladefoged 45 Titel Eisbär °Die Eisbären verstehen nicht, warum das Menschendorf an der Flussmündung kein guter Ort ist, um auf frisches Eis in der Hudson Bay zu warten. Wenn sie in diesem Konflikt eine Stimme hätten, würden sie vielleicht auch einfach sagen: Wir waren als Erste da J ede Nacht wird das Dorf von Schüssen geweckt, morgens fahren Uniformierte Patrouille, das nervöse Geknatter der Hubschrauber begleitet die Tage. Die Männer hier haben früh den Umgang mit Waffen gelernt. Sie trauen sich selbst mehr als den offiziellen Aufpassern, manch einer hat das Gewehr in seinem Pick-up stets griffbereit. Ihre Kinder werden zur Sicherheit mit dem Bus in die Schule gebracht. Hinter dem Neubau, in dem sie sich befindet, beginnt der Strand, unübersichtliches Gelände, die offene Flanke zum Meer. Im Sommer musste dort wieder einer dran glauben. Fremde, die in der einzigen Autovermietung am Ort ein Fahrzeug buchen, bekommen drohende Worte mit auf den Weg. „Bewegen Sie sich nicht zu weit vom Wagen weg !“ Churchill, die nördlichste Gemeinde der kanadischen Provinz Manitoba, subarktische Siedlung am westlichen Ufer der Hudson Bay, ist ein Krisengebiet. Es gibt keine Straße, die von dort weg führt, nur ein Bahngleis, die Zugfahrt nach Winnipeg dauert zweieinhalb Tage. Fliegen ist teuer, kaum einer aus dem Dorf kann es sich leisten. Es heißt, im Krieg sterbe als Erstes die Wahrheit. Selten sind die Fronten klar auszumachen, noch schwieriger wird es, wenn sich mehrere Konfliktparteien gegenüberstehen. Der Aufruhr in Churchill hat eine weitere Eigenheit: Er wiederholt sich jedes Jahr und dauert gute sechs Wochen. Sie nennen ihn „bear season“, Bärensaison. Die größten Streitkräfte: 962 Dorfbewohner, etwa 1000 Eisbären, geschätzte 18 000 Touristen. Flankiert von Splittergruppen, die den Ausnahmezustand verschärfen: Journalisten, Umweltorganisationen, Wissenschaftler, Saisonarbeiter, wenn es ganz schlimm kommt, Politiker oder Prominente. Kausal betrachtet sind die Eisbären an allem schuld. Die Eisbärenpopulation der Hudson Bay verbringt aus Mangel an Eis den Sommer an Land. Mit sinkenden Temperaturen machen sich die Bären, entsprechend konditioniert, auf den Weg an die Küste. Sie wissen, dass sie bald wieder hinaus können auf das gefrorene Meer, um Robben zu jagen. Sie wissen auch, dass dort, wo der Fluss in die Hudson Bay fließt und die Küstenlinie einen Knick macht, die ersten Schollen festfrieren, weil das Wasser weniger Salzgehalt hat und Wind und Strömung das Eis in jene Ecke schieben. Sie versammeln sich ab Mitte Oktober, sie haben lange gefas tet, sind hungrig und vielleicht auch ein wenig ungeduldig und gelangweilt. Das Meer friert in der Regel erst vier bis sechs Wochen später zu. Die Bären verstehen nicht, warum das Menschendorf, das an der Flussmündung liegt, kein guter Ort ist, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Wenn sie in diesem Konflikt eine Stimme hätten, würden sie vielleicht auch einfach sagen: Wir waren als Erste da. 46 Bei den Menschen ist die Lage komplizierter. Manche sind seit Generationen da, indigene Bewohner des kalten Landes, Inuit, Cree, Dene, Metis, aber auch Nachfahren der Schotten und Franzosen, die im 18. Jahrhun d ert für die Hudson’s Bay Company mit Pelzen handelten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Churchill ein Stützpunkt der kanadischen und US-Streitkräfte, 6000 Einwohner zählte man zeitweise, bis die Basis Mitte der 1970er geschlossen wurde. Ein paar Armeesprösslinge sind geblieben und ein mächtiger Standortvorteil in der Abgeschiedenheit: ein Flughafen mit einer Landebahn, die einmal die längste Kanadas war. Der Ort ist bequem zu erreichen für die vielen tausend Touristen, die anreisen, um die Eisbären aus nächster Nähe zu sehen. Ohne die Bären und ihre Besucher könne das Dorf, so sagt es hier jeder, wirtschaftlich nicht überleben. Die Ausgangslage ist also einigermaßen absurd: Man schützt sich und die Gäste vor den Bären, die man schützen muss, um die eigene Existenz zu sichern. Und dann kommen auch noch jedes Jahr Wissenschaftler und malen das Schreckgespenst des Klimawandels an die Wand: In 40 Jahren gebe es das alles sowieso nicht mehr – Eis in der Bay, Bären an Land, ausgebuchte Hotels für sechs Wochen im Jahr. Die Menschen hier sind sich nur in Wenigem einig: Sie wissen, dass man gegen Eisbären unbewaffnet im Ernstfall keine Chance hat. Und alle wollen nur das Beste für sie. Was wollte man auch anderes sagen, wenn man den weißen Räuber sieht, wie er gemächlich durch die Tundra trottet und das perfekte Bild abgibt ? Vor 25 Jahren hat ein Mann aus dem Dorf namens Lance Smith eine Art Supergeländebus aus alten Löschfahrzeugen der Air Force gebastelt, mit dem man in Matsch und Schnee abseits der Straße den Eisbären nahekommen kann. Smith hat seine Fahrzeuge und die Idee gewinnbringend verkauft, er lebt heute in Florida und baut Boote. Seine „Tundra-Buggies“ aber sind das entscheidende Vehikel bei der touristischen Verwertbarkeit der Eisbären. Gut 30 Personen haben in ihnen Platz, sie sind geheizt, es gibt Toiletten und mittags warme Suppe. Lesen Sie bitte weiter auf Seite 51 Vorherige Doppelseite Unverhoffte Begegnung auf der einzigen Straße im Umland von Churchill: Touristen fahren nach einem aufregenden Tag in der Tundra zurück in ihre warmen Hotels, der Eisbär wartet auf die große Kälte Einzelkämpfer Die Männer wissen mit Waffen umzugehen. Wer in der Wildnis geboren ist, verteidigt sich lieber selbst Rechte Seite Brian Ladoon, Hundezüchter im Clinch mit der Eisbärenpolizei: „Die Leute, die hierher kommen, um uns zu beschützen, haben keine Ahnung, wo sie wirklich sind“ mare No. 91, April/Mai 2012 47 Heimatland Leben in der Tundra. Drei Züge die Woche, eine Straße ins Nichts und viele dunkle Tage 48 49 Titel Eisbär °Eisbären, die die Dorfgrenze überschreiten, verscheucht die Wildhüterbrigade mit Schreckschüssen, Gummigeschossen oder tief fliegenden Hubschraubern. Jedes Kind kennt in Churchill die rund um die Uhr besetzte Notrufnummer der Bärenpolizei: 675-BEAR Tageweise werden die Gäste durch die Wildnis kutschiert, die 30 Kilometer östlich von Churchill beginnt, wo die einzige Straße endet. Die Klientel: Gutsituierte fortgeschrittenen Alters aus aller Welt. Eine fünftägige Eisbärenreise nach Churchill ist unter umgerechnet 3000 Euro pro Kopf nicht zu haben, nur der Flug von Winnipeg ist inklusive. Es ist ein Einmal-im-Leben-Trip für Leute, die schon vieles gesehen haben. In den Souvenirläden von Churchill begrüßen sich Touristen überrascht mit den Worten: „Sind wir uns nicht letztes Jahr auf Safari in Botswana begegnet ?“ K Raubtiere Der Eisbär hat keine natürlichen Feinde. Die größte Bedrohung ist die Zerstörung seines Lebensraums 50 evin Burke, ein kräftiger Mann mit wachen Augen und schnellem Humor, fährt seit 26 Jahren TundraBuggy. Er sagt, er sei stolz, an so einem besonderen Ort zu arbeiten. „Ich gebe gerne mit meinem Hinterhof an.“ Er meint das endlose Nichts mit Nadelbäumen, in dem er seit Kindestagen jagt. Chauffiert er Touristen, freut er sich an ihrer Begeisterung über die Bären, die dem Bus zum Berühren nahekommen. Burke kann einiges aushalten, man merkt es an der geduldigen Art, mit der er seine Passagiere vorbereitet: „Immer gut festhalten. Der Türknauf der Toilette dreht sich nach rechts. Der Lichtschalter ist links. Die Fenster lassen sich nach oben schieben. Bei der Fahrt bitte sitzen bleiben. Die Bären nicht füttern. Die Hände im Bus behalten.“ Die Gäste, die er heute kutschiert, sind für eine Tagestour eingeflogen, sie kommen direkt vom Flughafen, abends geht es wieder zurück nach Winnipeg. Der Dame, die keine Socken in ihren Turnschuhen trägt, schiebt er vorsorglich eine Styropor-Platte unter die Füße. „Tut mir leid, dass wir keine bessere Fußbodenheizung haben.“ Als er Stunden später glückliche Menschen im schwindenden Licht zurück zum Ausgangspunkt fährt, quert wie ein letztes Geschenk eine Bärin mit zwei Jungen die rosa getönte Schneelandschaft als schwarze Silhouette. Ein Passagier fragt: „Sind sie immer noch weiß ?“ Ein anderer antwortet: „Klar, es sind doch Eisbären.“ Nichts davon ist offenbar als Scherz gemeint. Fahren die Menschen im Buggy zu den Bären, ist das ein kontrollierbares Vergnügen. Um andere Begegnungen zu vermeiden, hat die Provinzverwaltung das „Polar Bear Alert Program“ ausgearbeitet, Schutzverordnungen, von denen böse Zungen behaupten, sie seien vor allem erfunden worden, damit keinem dummen Touristen etwas passiert. Bob Windsor sieht an diesem Novembermorgen aus wie ein Mann, der mit sich zufrieden ist. Die Temperaturen sind gesunken, zum ersten Mal im Monat hat es über Nacht größere Mengen geschneit. Jetzt treibt der kalte Wind das feine Pulver waagrecht durch die Straßen von Churchill, vielleicht mare No. 91, April/Mai 2012 gibt es bald Eis auf der Bay, und die angespannte Lage ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Uhr zeigt keine zehn, und Windsor hat heute schon mehrfach seine Pflicht erfüllt, dort draußen, wo er für die Sicherheit aller zuständig ist, der Menschen und der Bären. Drei Eisbären hat er mit seinen Beamten an jenen Ort gebracht, der den Richtlinien zufolge „Polar Bear Holding Facility“ heißt. Doch selbst Windsor sagt, wenn er in seiner Amtsstube Auskunft gibt, „bear jail“, Bärenknast, dazu. Er hat seine Fellmütze an den Haken gehängt und den Daunenparka abgestreift, sein Büro und seine Erscheinung verschwimmen zu einer bizarren farblichen Einheit. Alles ist natogrün, Wände wie Kleidung, nur das runde Gesicht und die Halbglatze leuchten von der plötzlichen Wärme befeuert in Rot. Auf dem Ärmel seines Hemdes prangt ein Aufnäher mit der Aufschrift „Natural Resource Officer“. Bob Windsor ist mit fünf Kollegen, die seinem Kommando unterstehen, die Exekutive des einzig artigen Bären- und Menschenschutzprogramms. Eisbären, die die Dorfgrenze überschreiten, verscheucht die Wildhüterbrigade mit Schreckschüssen, Gummigeschossen oder tief fliegenden Hubschraubern. Jedes Kind kennt in Churchill die rund um die Uhr besetzte Notrufnummer der „Bärenpolizei“: 675-BEAR. Zeigt sich ein Bär unbeeindruckt oder aggressiv, wird er mit einem lähmenden Drogenpfeil erledigt und in einem Netz mit dem Hubschrauber in das Bärengefängnis gebracht. Dort bekommt er nur Wasser, damit er sich bloß nicht an Fütterung gewöhnt, und darf erst nach 30 Tagen wieder raus. Hat die Hudson Bay dann noch kein Eis oder droht dem Gefängnis mit seinen 28 Käfigen Überfüllung, fliegt man die Tiere 60 Kilometer gen Norden und hofft, dass sie nicht zurückkehren. Ehe das „Polar Bear Alert Program“ in den frühen 1980ern startete, wurden renitente Bären sofort erschossen. 1983 hat zum letzten Mal ein Eisbär in Churchill einen Menschen getötet, in einem abgebrannten Hotel wollten beide die Kühlschränke plündern. „Falsche Zeit, falscher Ort“ sagen jene im Dorf, die die wilden Tage erlebt haben. Lesen Sie bitte weiter auf Seite 54 Vorherige Doppelseite Churchill, Manitoba: 962 Einwohner, geschätzte 1000 Eisbären. Wenn es dunkel wird, müssen die Menschen besonders vorsichtig sein, nachts kommen die weißen Räuber am liebsten ins Dorf Linke Seite Am Ende einer mehrstündigen Tour im TundraBuggy freut sich jeder Tourist, dass die größte Sorge unb egründet war: den ganzen Tag keinen Eisbären zu sehen 51 Beutezug Ob es ein guter Tag war, sieht der Tourist am Abend auf dem Display seiner Kamera 52 53 Titel Eisbär °Bob Windsor musste 2011 drei Eisbären töten. Einer hat das Auto der Wildhüter attackiert, ein zweiter wurde angefahren, der dritte hatte eine kriminelle Vorgeschichte. Er war schon oft in Häuser eingebrochen. Sie haben ihn auf frischer Tat ertappt Windsor musste 2011 drei Bären töten. Einer habe am Strand einem unvorsichtigen Fotografen den Weg zur Straße abgeschnitten und das Auto der Wildhüter attackiert. Die Dellen in der Motorhaube des Jeeps könne man noch sehen. Einen zweiten hätten sie bei einem Einsatz versehentlich angefahren, er war nicht zu retten. Der dritte hatte eine kriminelle Vorgeschichte. Er war schon mehrfach in Häuser am Dorfrand eingebrochen; sie hätten ihn auf frischer Tat ertappt und leider kein Lähmungsmittel dabeigehabt. Der Officer seufzt, er sagt, es war eine schwere Entscheidung. Windsor arbeitet seit 21 Jahren für die Behörde in Manitoba, der die wilde Natur des nördlichen Kanadas untersteht. Die Zeugnisse seines Berufslebens hängen als Fotocollage an der Wand. Alle Bilder zeigen ihn in stolzer Pose mit toten oder betäubten Tieren. Vor zwei Jahren wurde er nach Churchill versetzt, vorher waren ihm Eisbären nur im Zoo begegnet. Auf Fragen nach seinem Verhältnis zu den Einheimischen, Menschen wie Bären, antwortet er knapp: „Ich folge den Anweisungen. Ich tue meine Pflicht.“ B rian Ladoon ist kein Diplomat, aber das ist ihm egal, es geht schließlich um Tod oder Leben. „Zwei Arten, kurz vor dem Aussterben, und was machen diese verblödeten Volltrottel ? Sie fangen meine Bären.“ Jeder im Dorf kennt Brian, den wettergegerbten Kerl mit dem Lederband um die weißen, schulterlangen Haare. Ladoon, der vor fast 60 Jahren in Churchill geboren ist und sich als Teenager auf ein Schiff geschlichen hat, der über die Weltmeere gefahren ist, nach Südamerika, Afrika, Asien, der Wale gejagt hat und Frauen verführt, der zarte Ölbilder malen kann und seinem Ort, der fast nur aus flachen Holzhäuschen besteht, ein steinernes Burghotel mit Meerblick bauen wollte. Das Fundament und ein paar Mauern stehen schon, mächtig auf einer Anhöhe, seit zehn Jahren. Eine Finanzierung ist geplatzt, es gab keine Verträge, einer wie Ladoon macht keine Verträge, er besitzt ja noch nicht einmal ein Telefon. Und das Geld, das er hat, braucht er für die Hunde. Er züchtet seit 30 Jahren Kanadische Eskimohunde, die älteste Hunderasse Nordamerikas. Sie waren die Schlittenhunde der Inuit, bis Motorschlitten ihre Arbeit übernahmen. In den 1970ern gab es keine 100 Tiere mehr. Ladoon hält den größten Genpool der seltenen Art, 150 Hunde auf einem Stück Land an der Küste, gute 20 Kilometer außerhalb des Dorfes. Es ist auf den ersten Blick ein grimmiges Reich. Die Hunde an langen Ketten auf verschneitem Schotter, im Meer verrottet ein gestrandeter Eisenkahn. In Sichtweite zwei große Eisbären, die sich langsam nähern. Ladoon füttert die Hunde zweimal am Tag, mit dem Pick-up dreht er langsam 54 seine Runden. Jeremy, sein Helfer, sitzt bewaffnet auf der Ladefläche und wirft den Hunden gefrorene Fleischklötze zu. Es ist eine angespannte, konzentrierte Aktion, Ladoon beobachtet das Verhalten der Hunde mit scharfem Blick und muss gleichzeitig die Eisbären im Auge behalten. Seine Eisbären. Er kenne sie wie seine Hunde, sagt er, dieselben acht bis zehn großen männlichen Eisbären kehrten jedes Jahr auf sein Gelände zurück. Die Bären wiederum sind mit den Hunden vertraut, es gibt Fotos und Filme, die sie gemeinsam zeigen, im fröhlichen Spiel. Ausgehungerte Eisbären, die sich mit Hunden balgen, in denen sie keine Beute sehen. Ladoon sagt, sie lebten hier gut zusammen, seine Bären beschützten die Hunde vor aggressiven Jungtieren. Einen Eisbären, der zwischenzeitlich seinem Auto zu nahe kommt, verscheucht er mit einem laut gebrüllten „No !“. Der Bär zieht sich zurück, legt sich zu Boden, Ladoon ruft anerkennend: „Good boy !“ Es scheint, als gehorche der Bär ihm. Ladoon sagt: „Keiner verbringt so viel Zeit mit den Tieren wie ich, ich bin jeden Tag viele Stunden hier draußen, das ganze Jahr, nicht nur sechs Wochen im Herbst.“ Die Hunderasse vor dem Aussterben gerettet zu haben sei sein Lebenswerk. Er finanziert das Ganze, indem er Besucher auf sein Gelände lässt, Familien aus dem Dorf genauso wie Reisegruppen. Am meisten Profit macht er, wenn er Fotografen und Kamerateams betreut. Sie bekommen bei ihm die besten Bilder. Jeder will die Eisbären, die mit Hunden spielen, dahinter das dunkelblaue Meer. Das Gleichgewicht in seinem Reich ist allerdings gestört. Vor einigen Tagen hat die Bärenpolizei eine Razzia auf Ladoons Gelände veranstaltet, sie haben drei Eisbären ins Gefängnis abtransportiert. Der offizielle Grund: Ladoon zähme die Bären und füttere sie, er gefährde damit die öffentliche Sicherheit. Ladoon sagt, es sei eine groß angelegte PR-Aktion gewesen, veranstaltet für ein französisches Fernsehteam, das eine Dokumentation über die Arbeit der Bärenpolizei drehe. Sein Gelände und das, was er dort tut, steht seither unter Beobachtung. Und der tägliche Besuch Vorherige Doppelseite Nicht füttern, nicht anfassen. Eisbären sind unberechenbar und außerdem sehr geschickt. In Churchill hat vor Jahren ein Tier eine Bustür geöffnet, ein anderes einer Frau ihren Ehering vom Finger gezogen Gefangene Ein Eisbär wird bis zu 600 Kilogramm schwer. Beim Flug muss sein Kopf über dem Körper sein, sonst erstickt er Rechte Seite Ein Foto und eine Erfahrung fürs Leben: Die Bären, die aus dem Gefängnis entlassen werden, sollen es nicht in guter Erinnerung behalten. Sie sind während des Fluges bewegungslos, aber bei Bewusstsein mare No. 91, April/Mai 2012 55 Titel Eisbär °Viele Einheimische begegnen dem Auftreten der Behörde mit Misstrauen und kräftigen Sprüchen. Die Bärenpolizisten sind in ihren Augen kümmerliche Gestalten, die keine Ahnung haben. Es ist das alte Gefecht des kleinen Mannes gegen die Allianz der Macht der Behörde gleicht einem Einsatz, wie man ihn aus amerikanischen Krimiserien kennt. Drei Autos kreisen seinen Pick-up ein, Beamte mit verspiegelten Brillen klären ihn über seine Rechte und Pflichten auf, durchsuchen das Auto seines Freundes Wayne nach Waffen. Zum Abschied sagen sie: „Wir wollen nur deine Hunde beschützen.“ W Aufpasser Wer neu ins Dorf kommt, muss vor allem eines lernen: im Ernstfall die richtige Entscheidung zu treffen 56 er den Gesprächen bei „Gypsy’s“ lauscht, lernt schnell: Es geht um sehr viel mehr. „Gypsy’s Restaurant & Bakery“ ist die Nachrichtenbörse von Churchill, während der Bärensaison ist ein Tisch für Einheimische reserviert. Sie nennen ihn „BS-table“, BS wie „bullshit“. Wer immer dort sitzt, Rhoda, die Busfahrerin mit der polternden Lache, Ladoon beim täglichen Frühstück, Lea, die zarte 17-Jährige, die die Sommer allein in der Jagdhütte ihres Vaters verbringt, oder Wayne, der wütende Fotograf, der ständig mit seinem Laptop die Rechtslage checkt, alle begegnen sie den Auswüchsen der Bärensaison und dem Auftreten der Bärenpolizei mit Misstrauen und kräftigen Sprüchen. Das große Geschäft mit den Buggies macht ein Reiseveranstalter aus dem Süden, kein Ortsansässiger. Ihm könnte es missfallen, dass Einheimische günstigere Möglichkeiten anbieten, Bären zu sehen. Warum, so fragen sie sich außerdem, werde die Interaktion der Eisbären mit den Touristen auf den Buggies von den Behörden weniger kritisch gesehen als die auf Ladoons Gelände ? Die Bärenpolizisten in ihren Augen: kümmerliche Gestalten, die keine Ahnung hätten, aber den großen Max markierten. Und auf jeden Eisbären panisch mit fünfzig Krachern ballerten, wo ein bis zwei schon reichen würden. Kein Wunder, dass die Tiere dann durchdrehten und ins Gefängnis müssten. Es ist das alte Gefecht des kleinen Mannes gegen die Allianz der Macht. Es ist ebenso ein Kampf der Naturburschen gegen die Fremdbestimmung durch unwissende Schreibtischtäter. Der „BS-table“ ist eine seltene Enklave in den Wochen der Bärensaison. Wer im Herbst nach Churchill reist, sieht Souvenirläden an Hotels gereiht, jedes Restaurant ist ausgebucht. Wenn die Touristen nicht gerade in Bussen zu den Bären fahren, wandern sie in hochfunktioneller Outdoor kleidung wenige Meter zum Postamt, um dort den begehrten Eisbärenstempel in ihren Pass zu bekommen. Es gibt bis spät in die Nacht Livemusik in urigen Pubs, und die Einheimischen feiern dort ekstatischer als die Touristen, sie wissen, dass die Party ab Ende November für lange Zeit vorüber ist. Dann schließen alle Lokalitäten bis auf das Hotel des Bürgermeisters. Selbst „Gypsy’s“ macht erst einmal für drei Monate zu. In den ausgelassenen Nächten, in denen sich die jungen, schönen Saisonkräfte der Hotels gegenseitig das mare No. 91, April/Mai 2012 Mikrofon aus der Hand reißen, um Neil-Young-Hits zu seufzen oder schmutzige Witze zu erzählen und überdrehte Touristen sich die immer gleichen schönsten Fotos des Tages zeigen, könnte man denken, Churchill sei einfach ein Urlaubsort in der Hochsaison. Man könnte vergessen, um was es wirklich geht. Um ein wildes Tier und die Menschen – und um beider Lebensraum. Droht das Gefängnis zu voll zu werden, fliegt man die Bären aus. Ein bevorstehender „bear lift“ ist eine willkommene Bereicherung im Programm der Besucher, Reiseveranstalter und Medienvertreter werden darüber informiert. Eisbärenbilder verkaufen sich immer. Vielleicht sogar immer besser, weil man damit noch ganz andere Geschichten erzählen kann als die eines Dorfes am Rand der Welt. Hinter dem Absperrband um das Bärengefängnis warten Kameras der BBC und des südkoreanischen Fernsehens, zusammen mit ein paar Dutzend Zuschauern. Als sich das Tor der Containerhalle öffnet, geht ein Seufzen durch die Menge, einer sagt verächtlich: „Wie bei einer Hinrichtung im Mittelalter.“ Der Eisbär liegt reglos bäuchlings auf einem Wagen, die mächtigen Pranken baumeln schlapp herunter. Von mehreren Männern wird er in ein Netz auf dem Boden gehievt, zwei Hubschrauber stehen bereit. Aus einem steigen Damen mit blütenweißen Daunenmänteln, die den gelähmten Eisbären aus nächster Nähe von allen Seiten betrachten. Am Ende geht alles sehr schnell, ein Hubschrauber hebt ab, das Netz zieht sich zu, der Bär baumelt hoch über den Köpfen der Menge und ist bald nicht mehr zu sehen. Der andere Hubschrauber folgt ihm. In einem Haus an der Hauptstraße sitzt ein bärtiger, etwas mitgenommen aussehender Mann auf dem Boden eines spärlich möblierten Zimmers und sagt: „Es geht um das große Ganze. Wir töten Eisbären, während wir zu Hause im Lehnstuhl sitzen.“ Er heißt Robert Buchanan und ist Vorsitzender von Polar Bears International (PBI), einer Organisation, die für das Wohl der Eisbären kämpft. Seit vielen Jahren ist PBI in Churchill vor Ort, ihre Operationsbasis ist ein fest stationierter Tundra-Buggy draußen im Eisbärenland. Sie veranstalten dort Fortbildungen mit Zoodirektoren, Lehrern, Studenten, mit Menschen, die ihre Botschaft weitertragen können: Das Eis schmilzt, die Bären verhungern, wir müssen den Klimawandel stoppen. Das, so denkt PBI, lässt sich besser vermitteln, wenn man das Tier erlebt Linke Seite Bei der morgendlichen Patrouille kontrollieren die Wildhüter ihre Eisbärenfallen. Als Köder lockt getrocknetes Robbenfleisch die ausgehungerten Tiere 57 Titel Eisbär Die Gefahr ist in Churchill nicht immer zu sehen. „Seien Sie sich bewusst, dass Sie jederzeit und überall einem Eisbären begegnen können“, warnen Faltblätter Touristen hat. Oder, wie Buchanan es sagt: „Wenn dir ein Eisbär in die Augen schaut, kann er dich tief in Herz und Seele berühren und dein Leben für immer verändern wie kein anderes Tier auf dieser Welt.“ PBI organisiert für zahlungskräftige Anhänger Helikopterflüge, die „bear lifts“ begleiten dürfen, sie arbeiten eng mit den Wildhütern zusammen. Es ist zu warm in Churchill für Mitte November, auf der Bay ist kein bisschen Eis zu sehen. Die Eisdecke bricht früher auf und friert später zu, die Bären verbringen mehr Zeit an 0 300 600 km Land, müssen länger hungern, ihre Baffin Bay Zahl hat abgenommen, sie sind dünner. Das haben Wissenschaftler über die Jahre festgestellt. An keinem Ort der Welt lässt sich der Hudson Bay Klimawandel besser und publiChurchill kumsträchtiger darstellen als in Churchill. Coca-Cola hat 2011 zwei KANADA Millionen US-Dollar an den WWF gespendet zur Rettung des EisQuébec Neufundland bären, das Tier ziert die Sonder Ottawa edition der Coladose zum WeihAtlantischer New York USA Ozean nachtsgeschäft. Die Oberen des Washington D.C. Konzerns und der Organisation sind mit zwei Privatjets eingeflogen, um die Eisbären zu besuchen. Mit an Bord: ein Moderator der US-Fernsehshow „American Idol“ zur Aufwertung der PR-Bilder, die von Churchill aus über den Kontinent gehen werden. Paul Ratson sagt: „Du darfst einem Eisbären nie in die Augen schauen. Das könnte er als Provokation begreifen.“ Ratson führt Wanderungen durch die Tundra, er ist schon vielen Eisbären begegnet, von Angesicht zu Angesicht. 58 Früher hat er Forscher begleitet und Fernsehteams, er hat darü ber den Glauben an die Bilder und die selbst ernannten Gerechten verloren. „Sie wollen Bären filmen, du führst sie zu einem prächtigen Exemplar, sie sagen: Der ist zu dick, wir brauchen einen, der verhungert aussieht.“ Polar Bear International hat Werbung für die eigene Sache gemacht, mit der Filmaufnahme eines sterbenden kleinen Eisbären, eine Art Snuff-Video zur Spendenbeschaffung. Ratson will das nicht verstehen. „Wenn die Tiere wirklich verhungern, sollten sie vielleicht erst einmal die Tiere retten und nicht gleich die ganze Welt.“ Ratson nennt die Leute von PBI „Schlümpfe“, wegen der gesponserten blauen Daunenjacken, die diese tragen. „Keiner hier hat auch nur einen Hauch von Respekt für die.“ Auf seinen Touren erzählt er den Besuchern seine Sicht der Dinge. „Wir sollten die Bären Bären sein lassen. Wir fangen sie, weil sie uns im Weg sind, wir setzen sie unter Drogen, tätowieren sie, ziehen ihnen Zähne, verfolgen sie mit Hubschraubern, um zu beweisen, wie schlecht es ihnen geht. Ich glaube nicht, dass ihnen das gefällt.“ Es gibt Reiseveranstalter, mit denen er nicht mehr arbeitet, weil sie ihn darum gebeten haben zu verschweigen, dass er gern Fleisch isst und wie fast jeder Einheimische leidenschaftlicher Jäger und Trapper ist. Ratson sagt: „Wir sind hier nicht in Scheiß-Disney-World.“ Er wohnt weit draußen, die Eisbären laufen täglich über seinen Hof. Er fühle sich sicher, er beobachte sie und lasse sie gewähren, solange sie nicht „herumlungern“. Sein Haus ist von Elektrodrähten umwickelt, die Eingangstür von einem massiven Drahtvorbau geschützt. „Eisbären werden nicht aussterben“, sagt er, „sie passen sich an. Wie wir.“ N euerdings sammeln sich die Eisbären verstärkt in seiner Nähe, am früheren Müllplatz, wo man seit Jahren Rückstände der Getreideverschiffung an Churchills Hafen vergräbt. Die Eisbären buddeln tief im Erdreich und fressen das Getreide, sie machen das dieses Jahr zum ersten Mal. Das Zeug, so Ratson, sei vergoren, die Bären würden quasi betrunken davon. Mindestens zehn Bären wühlen dort im Dreck, man kann mit dem Auto bis auf wenige Meter an sie heranfahren. Der Platz ist ein neuer Beo bachtungsposten geworden für Dörfler und Touristen, seit Brian Ladoons Bären im Gefängnis sitzen. Ein Eisbär liegt in der Kuhle, die er gegraben hat, den Kopf matt auf die Erde gebettet, er ist vollkommen verdreckt, seine Augen halb geschlossen. Er bewegt sich im Scheinwerferlicht der Autos, die ihn umringen, keinen Millimeter. Der König der Arktis, ein trauriger Anblick. Es sieht so aus, als habe er keine Ahnung, was um ihn herum passiert. b Martina Wimmer, Jahrgang 1965, mare-Redakteurin, hofft auf eine Rückkehr nach Churchill, nicht nur wegen der großartigen Menschen, sondern auch wegen der Apfel-Zimt-Schnecken im „Gypsy’s“. Übrigens erzählt sie die Geschichte der Bären von Churchill ein zweites Mal – für junge Leser in No. 6 von aHoi!, dem Kindermagazin von mare. Joachim Ladefoged, geboren 1970, Fotograf aus Kopenhagen, hat in vielen Krisengebieten gearbeitet, im Kosovo, im Kongo, in Japan nach dem Tsunami. Das Härteste in Churchill war für ihn die Temperatur: minus 17 Grad. mare No. 91, April/Mai 2012