Wimmer

Transcrição

Wimmer
Bärennaturen
In einem Dorf am Rand der kanadischen Arktis kommen
sich Eisbären und Menschen ungewöhnlich nah.
Nicht alle profitieren davon
Text: Martina Wimmer
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Fotos: Joachim Ladefoged
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Titel Eisbär
°Die Eisbären verstehen nicht, warum das Menschendorf an der
Flussmündung kein guter Ort ist, um auf frisches Eis in der Hudson
Bay zu warten. Wenn sie in diesem Konflikt eine Stimme hätten,
würden sie vielleicht auch einfach sagen: Wir waren als Erste da
J
ede Nacht wird das Dorf von Schüssen geweckt, morgens fahren Uniformierte Patrouille, das nervöse Geknatter der Hubschrauber begleitet die Tage. Die
Männer hier haben früh den Umgang mit Waffen gelernt.
Sie trauen sich selbst mehr als den offiziellen Aufpassern,
manch einer hat das Gewehr in seinem Pick-up stets griffbereit. Ihre Kinder werden zur Sicherheit mit dem Bus in
die Schule gebracht. Hinter dem Neubau, in dem sie sich befindet, beginnt der Strand, unübersichtliches Gelände, die
offene Flanke zum Meer. Im Sommer musste dort wieder
einer dran glauben. Fremde, die in der einzigen Autovermietung am Ort ein Fahrzeug buchen, bekommen drohende
Worte mit auf den Weg. „Bewegen Sie sich nicht zu weit
vom Wagen weg !“ Churchill, die nördlichste Gemeinde der
kanadischen Provinz Manitoba, subarktische Siedlung am
westlichen Ufer der Hudson Bay, ist ein Krisengebiet. Es
gibt keine Straße, die von dort weg führt, nur ein Bahngleis,
die Zugfahrt nach Winnipeg dauert zweieinhalb Tage. Fliegen ist teuer, kaum einer aus dem Dorf kann es sich leisten.
Es heißt, im Krieg sterbe als Erstes die Wahrheit. Selten
sind die Fronten klar auszumachen, noch schwieriger wird
es, wenn sich mehrere Konfliktparteien gegenüberstehen.
Der Aufruhr in Churchill hat eine weitere Eigenheit: Er wiederholt sich jedes Jahr und dauert gute sechs Wochen. Sie
nennen ihn „bear season“, Bärensaison. Die größten Streitkräfte: 962 Dorfbewohner, etwa 1000 Eisbären, geschätzte
18 000 Touristen. Flankiert von Splittergruppen, die den
Ausnahmezustand verschärfen: Journalisten, Umweltorganisationen, Wissenschaftler, Saisonarbeiter, wenn es ganz
schlimm kommt, Politiker oder Prominente.
Kausal betrachtet sind die Eisbären an allem schuld. Die
Eisbärenpopulation der Hudson Bay verbringt aus Mangel
an Eis den Sommer an Land. Mit sinkenden Temperaturen
machen sich die Bären, entsprechend konditioniert, auf den
Weg an die Küste. Sie wissen, dass sie bald wieder hinaus
können auf das gefrorene Meer, um Robben zu jagen. Sie
wissen auch, dass dort, wo der Fluss in die Hudson Bay
fließt und die Küstenlinie einen Knick macht, die ersten
Schollen festfrieren, weil das Wasser weniger Salzgehalt hat
und Wind und Strömung das Eis in jene Ecke schieben. Sie
versammeln sich ab Mitte Oktober, sie haben lange gefas­
tet, sind hungrig und vielleicht auch ein wenig ungeduldig
und gelangweilt. Das Meer friert in der Regel erst vier bis
sechs Wochen später zu. Die Bären verstehen nicht, warum
das Menschendorf, das an der Flussmündung liegt, kein
guter Ort ist, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Wenn sie
in diesem Konflikt eine Stimme hätten, würden sie vielleicht auch einfach sagen: Wir waren als Erste da.
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Bei den Menschen ist die Lage komplizierter. Manche
sind seit Generationen da, indigene Bewohner des kalten
Landes, Inuit, Cree, Dene, Metis, aber auch Nachfahren der
Schotten und Franzosen, die im 18. Jahrhun­
d ert für die
Hudson’s Bay Company mit Pelzen handelten. Nach dem
Zweiten Weltkrieg war Churchill ein Stützpunkt der kanadischen und US-Streitkräfte, 6000 Einwohner zählte man
zeitweise, bis die Basis Mitte der 1970er geschlossen wurde. Ein paar Armeesprösslinge sind geblieben und ein mächtiger Standortvorteil in der Abgeschiedenheit: ein Flughafen
mit einer Landebahn, die einmal die längste Kanadas war.
Der Ort ist bequem zu erreichen für die vielen tausend
Touristen, die anreisen, um die Eisbären aus nächster Nähe
zu sehen. Ohne die Bären und ihre Besucher könne das
Dorf, so sagt es hier jeder, wirtschaftlich nicht überleben.
Die Ausgangslage ist also einigermaßen absurd: Man
schützt sich und die Gäste vor den Bären, die man schützen
muss, um die eigene Existenz zu sichern. Und dann kommen auch noch jedes Jahr Wissenschaftler und malen das
Schreckgespenst des Klimawandels an die Wand: In 40 Jahren gebe es das alles sowieso nicht mehr – Eis in der Bay,
Bären an Land, ausgebuchte Hotels für sechs Wochen im
Jahr. Die Menschen hier sind sich nur in Wenigem einig: Sie
wissen, dass man gegen Eisbären unbewaffnet im Ernstfall
keine Chance hat. Und alle wollen nur das Beste für sie.
Was wollte man auch anderes sagen, wenn man den
weißen Räuber sieht, wie er gemächlich durch die Tundra
trottet und das perfekte Bild abgibt ? Vor 25 Jahren hat ein
Mann aus dem Dorf namens Lance Smith eine Art Supergeländebus aus alten Löschfahrzeugen der Air Force gebastelt,
mit dem man in Matsch und Schnee abseits der Straße den
Eisbären nahekommen kann. Smith hat seine Fahrzeuge
und die Idee gewinnbringend verkauft, er lebt heute in Florida und baut Boote. Seine „Tundra-Buggies“ aber sind das
entscheidende Vehikel bei der touristischen Verwertbarkeit
der Eisbären. Gut 30 Personen haben in ihnen Platz, sie
sind geheizt, es gibt Toiletten und mittags warme Suppe.
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Vorherige Doppelseite Unverhoffte Begegnung auf der
einzigen Straße im Umland von Churchill: Touristen fahren
nach einem aufregenden Tag in der Tundra zurück in ihre
warmen Hotels, der Eisbär wartet auf die große Kälte
Einzelkämpfer
Die Männer wissen mit Waffen umzugehen. Wer in
der Wildnis geboren ist, verteidigt sich lieber selbst
Rechte Seite Brian Ladoon, Hundezüchter im Clinch mit der
Eisbärenpolizei: „Die Leute, die hierher kommen, um uns
zu beschützen, haben keine Ahnung, wo sie wirklich sind“
mare No. 91, April/Mai 2012
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Heimatland
Leben in der Tundra. Drei Züge die Woche,
eine Straße ins Nichts und viele dunkle Tage
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Titel Eisbär
°Eisbären, die die Dorfgrenze überschreiten, verscheucht die
Wildhüterbrigade mit Schreckschüssen, Gummigeschossen oder tief
fliegenden Hubschraubern. Jedes Kind kennt in Churchill die rund
um die Uhr besetzte Notrufnummer der Bärenpolizei: 675-BEAR
Tageweise werden die Gäste durch die Wildnis kutschiert,
die 30 Kilometer östlich von Churchill beginnt, wo die einzige Straße endet. Die Klien­tel: Gutsituierte fortgeschrittenen Alters aus aller Welt. Eine fünftägige Eisbärenreise nach
Churchill ist unter umgerechnet 3000 Euro pro Kopf nicht
zu haben, nur der Flug von Winnipeg ist inklusive. Es ist ein
Einmal-im-Leben-Trip für Leute, die schon vieles gesehen
haben. In den Souvenirläden von Churchill begrüßen sich
Touristen überrascht mit den Worten: „Sind wir uns nicht
letztes Jahr auf Safari in Botswana begegnet ?“
K
Raubtiere
Der Eisbär hat keine natürlichen Feinde. Die größte
Bedrohung ist die Zerstörung seines Lebensraums
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evin Burke, ein kräftiger Mann mit wachen Augen
und schnellem Humor, fährt seit 26 Jahren TundraBuggy. Er sagt, er sei stolz, an so einem besonderen
Ort zu arbeiten. „Ich gebe gerne mit meinem Hinterhof an.“
Er meint das endlose Nichts mit Nadelbäumen, in dem er
seit Kindestagen jagt. Chauffiert er Touristen, freut er sich
an ihrer Begeisterung über die Bären, die dem Bus zum
Berühren nahekommen.
Burke kann einiges aushalten, man merkt es an der
geduldigen Art, mit der er seine Passagiere vorbereitet:
„Immer gut festhalten. Der Türknauf der Toilette dreht sich
nach rechts. Der Lichtschalter ist links. Die Fenster lassen
sich nach oben schieben. Bei der Fahrt bitte sitzen bleiben.
Die Bären nicht füttern. Die Hände im Bus behalten.“ Die
Gäste, die er heute kutschiert, sind für eine Tagestour eingeflogen, sie kommen direkt vom Flughafen, abends geht es
wieder zurück nach Winnipeg. Der Dame, die keine Socken
in ihren Turnschuhen trägt, schiebt er vorsorglich eine Styropor-Platte unter die Füße. „Tut mir leid, dass wir keine
bessere Fußbodenheizung haben.“ Als er Stunden später
glückliche Menschen im schwindenden Licht zurück zum
Ausgangspunkt fährt, quert wie ein letztes Geschenk eine
Bärin mit zwei Jungen die rosa getönte Schneelandschaft als
schwarze Silhouette. Ein Passagier fragt: „Sind sie immer
noch weiß ?“ Ein anderer antwortet: „Klar, es sind doch Eisbären.“ Nichts davon ist offenbar als Scherz gemeint.
Fahren die Menschen im Buggy zu den Bären, ist das
ein kontrollierbares Vergnügen. Um andere Begegnungen
zu vermeiden, hat die Provinzverwaltung das „Polar Bear
Alert Program“ ausgearbeitet, Schutzverordnungen, von
denen böse Zungen behaupten, sie seien vor allem erfunden
worden, damit keinem dummen Touristen etwas passiert.
Bob Windsor sieht an diesem Novembermorgen aus wie
ein Mann, der mit sich zufrieden ist. Die Temperaturen sind
gesunken, zum ersten Mal im Monat hat es über Nacht größere Mengen geschneit. Jetzt treibt der kalte Wind das feine
Pulver waagrecht durch die Straßen von Churchill, vielleicht
mare No. 91, April/Mai 2012
gibt es bald Eis auf der Bay, und die angespannte Lage ist
nur noch eine Frage der Zeit. Die Uhr zeigt keine zehn, und
Windsor hat heute schon mehrfach seine Pflicht erfüllt, dort
draußen, wo er für die Sicherheit aller zuständig ist, der
Menschen und der Bären. Drei Eisbären hat er mit seinen
Beamten an jenen Ort gebracht, der den Richtlinien zufolge
„Polar Bear Holding Facility“ heißt. Doch selbst Windsor
sagt, wenn er in seiner Amtsstube Auskunft gibt, „bear jail“,
Bärenknast, dazu. Er hat seine Fellmütze an den Haken
gehängt und den Daunenparka abgestreift, sein Büro und
seine Erscheinung verschwimmen zu einer bizarren farblichen Einheit. Alles ist natogrün, Wände wie Kleidung, nur
das runde Gesicht und die Halbglatze leuchten von der
plötzlichen Wärme befeuert in Rot. Auf dem Ärmel seines
Hemdes prangt ein Aufnäher mit der Aufschrift „Natural
Resource Officer“. Bob Windsor ist mit fünf Kollegen, die
seinem Kommando unterstehen, die Exekutive des einzig­
artigen Bären- und Menschenschutzprogramms.
Eisbären, die die Dorfgrenze überschreiten, verscheucht
die Wildhüterbrigade mit Schreckschüssen, Gummigeschossen oder tief fliegenden Hubschraubern. Jedes Kind kennt in
Churchill die rund um die Uhr besetzte Notrufnummer der
„Bärenpolizei“: 675-BEAR. Zeigt sich ein Bär unbeeindruckt
oder aggressiv, wird er mit einem lähmenden Drogenpfeil
erledigt und in einem Netz mit dem Hubschrauber in das
Bärengefängnis gebracht. Dort bekommt er nur Wasser,
damit er sich bloß nicht an Fütterung gewöhnt, und darf erst
nach 30 Tagen wieder raus. Hat die Hudson Bay dann noch
kein Eis oder droht dem Gefängnis mit seinen 28 Käfigen
Überfüllung, fliegt man die Tiere 60 Kilometer gen Norden
und hofft, dass sie nicht zurückkehren.
Ehe das „Polar Bear Alert Program“ in den frühen
1980ern startete, wurden renitente Bären sofort erschossen. 1983 hat zum letzten Mal ein Eisbär in Churchill einen
Menschen getötet, in einem abgebrannten Hotel wollten
beide die Kühlschränke plündern. „Falsche Zeit, falscher
Ort“ sagen jene im Dorf, die die wilden Tage erlebt haben.
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Vorherige Doppelseite Churchill, Manitoba: 962 Einwohner,
geschätzte 1000 Eisbären. Wenn es dunkel wird, müssen
die Menschen besonders vorsichtig sein, nachts kommen
die weißen Räuber am liebsten ins Dorf
Linke Seite Am Ende einer mehrstündigen Tour im TundraBuggy freut sich jeder Tourist, dass die größte Sorge
un­b egründet war: den ganzen Tag keinen Eisbären zu sehen
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Beutezug
Ob es ein guter Tag war, sieht der Tourist
am Abend auf dem Display seiner Kamera
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Titel Eisbär
°Bob Windsor musste 2011 drei Eisbären töten. Einer hat das Auto
der Wildhüter attackiert, ein zweiter wurde angefahren, der dritte
hatte eine kriminelle Vorgeschichte. Er war schon oft in Häuser
eingebrochen. Sie haben ihn auf frischer Tat ertappt
Windsor musste 2011 drei Bären töten. Einer habe am
Strand einem unvorsichtigen Fotografen den Weg zur Straße
abgeschnitten und das Auto der Wildhüter attackiert. Die
Dellen in der Motorhaube des Jeeps könne man noch sehen.
Einen zweiten hätten sie bei einem Einsatz versehentlich
angefahren, er war nicht zu retten. Der dritte hatte eine kriminelle Vorgeschichte. Er war schon mehrfach in Häuser am
Dorfrand eingebrochen; sie hätten ihn auf frischer Tat
ertappt und leider kein Lähmungsmittel dabeigehabt.
Der Officer seufzt, er sagt, es war eine schwere Entscheidung. Windsor arbeitet seit 21 Jahren für die Behörde
in Manitoba, der die wilde Natur des nördlichen Kanadas
untersteht. Die Zeugnisse seines Berufslebens hängen als
Fotocollage an der Wand. Alle Bilder zeigen ihn in stolzer
Pose mit toten oder betäubten Tieren. Vor zwei Jahren wurde er nach Churchill versetzt, vorher waren ihm Eisbären
nur im Zoo begegnet. Auf Fragen nach seinem Verhältnis zu
den Einheimischen, Menschen wie Bären, antwortet er
knapp: „Ich folge den Anweisungen. Ich tue meine Pflicht.“
B
rian Ladoon ist kein Diplomat, aber das ist ihm egal, es
geht schließlich um Tod oder Leben. „Zwei Arten, kurz
vor dem Aussterben, und was machen diese verblödeten Volltrottel ? Sie fangen meine Bären.“ Jeder im Dorf
kennt Brian, den wettergegerbten Kerl mit dem Lederband
um die weißen, schulterlangen Haare. Ladoon, der vor fast
60 Jahren in Churchill geboren ist und sich als Teenager auf
ein Schiff geschlichen hat, der über die Weltmeere gefahren
ist, nach Südamerika, Afrika, Asien, der Wale gejagt hat und
Frauen verführt, der zarte Ölbilder malen kann und seinem
Ort, der fast nur aus flachen Holzhäuschen besteht, ein steinernes Burghotel mit Meerblick bauen wollte. Das Fundament und ein paar Mauern stehen schon, mächtig auf einer
Anhöhe, seit zehn Jahren. Eine Finanzierung ist geplatzt, es
gab keine Verträge, einer wie Ladoon macht keine Verträge,
er besitzt ja noch nicht einmal ein Telefon. Und das Geld,
das er hat, braucht er für die Hunde. Er züchtet seit 30 Jahren Kanadische Eskimohunde, die älteste Hunderasse Nordamerikas. Sie waren die Schlittenhunde der Inuit, bis Motorschlitten ihre Arbeit übernahmen. In den 1970ern gab es
keine 100 Tiere mehr. Ladoon hält den größten Genpool der
seltenen Art, 150 Hunde auf einem Stück Land an der Küste,
gute 20 Kilometer außerhalb des Dorfes.
Es ist auf den ersten Blick ein grimmiges Reich. Die
Hunde an langen Ketten auf verschneitem Schotter, im Meer
verrottet ein gestrandeter Eisenkahn. In Sichtweite zwei
große Eisbären, die sich langsam nähern. Ladoon füttert die
Hunde zweimal am Tag, mit dem Pick-up dreht er langsam
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seine Runden. Jeremy, sein Helfer, sitzt bewaffnet auf der
Ladefläche und wirft den Hunden gefrorene Fleischklötze
zu. Es ist eine angespannte, konzentrierte Aktion, Ladoon
beobachtet das Verhalten der Hunde mit scharfem Blick und
muss gleichzeitig die Eisbären im Auge behalten. Seine Eisbären. Er kenne sie wie seine Hunde, sagt er, dieselben acht
bis zehn großen männlichen Eisbären kehrten jedes Jahr auf
sein Gelände zurück. Die Bären wiederum sind mit den
Hunden vertraut, es gibt Fotos und Filme, die sie gemeinsam zeigen, im fröhlichen Spiel. Ausgehungerte Eisbären,
die sich mit Hunden balgen, in denen sie keine Beute sehen.
Ladoon sagt, sie lebten hier gut zusammen, seine Bären
beschützten die Hunde vor aggressiven Jungtieren.
Einen Eisbären, der zwischenzeitlich seinem Auto zu
nahe kommt, verscheucht er mit einem laut gebrüllten
„No !“. Der Bär zieht sich zurück, legt sich zu Boden, Ladoon
ruft anerkennend: „Good boy !“ Es scheint, als gehorche der
Bär ihm. Ladoon sagt: „Keiner verbringt so viel Zeit mit den
Tieren wie ich, ich bin jeden Tag viele Stunden hier draußen, das ganze Jahr, nicht nur sechs Wochen im Herbst.“ Die
Hunderasse vor dem Aussterben gerettet zu haben sei sein
Lebenswerk. Er finanziert das Ganze, indem er Besucher
auf sein Gelände lässt, Familien aus dem Dorf genauso wie
Reisegruppen. Am meisten Profit macht er, wenn er Fotografen und Kamerateams betreut. Sie bekommen bei ihm
die besten Bilder. Jeder will die Eisbären, die mit Hunden
spielen, dahinter das dunkelblaue Meer.
Das Gleichgewicht in seinem Reich ist allerdings gestört.
Vor einigen Tagen hat die Bärenpolizei eine Razzia auf
Ladoons Gelände veranstaltet, sie haben drei Eisbären ins
Gefängnis abtransportiert. Der offizielle Grund: Ladoon zähme die Bären und füttere sie, er gefährde damit die öffentliche Sicherheit. Ladoon sagt, es sei eine groß angelegte
PR-Aktion gewesen, veranstaltet für ein französisches Fernsehteam, das eine Dokumentation über die Arbeit der
Bärenpolizei drehe. Sein Gelände und das, was er dort tut,
steht seither unter Beobachtung. Und der tägliche Besuch
Vorherige Doppelseite Nicht füttern, nicht anfassen.
Eisbären sind unberechenbar und außerdem sehr geschickt.
In Churchill hat vor Jahren ein Tier eine Bustür geöffnet,
ein anderes einer Frau ihren Ehering vom Finger gezogen
Gefangene
Ein Eisbär wird bis zu 600 Kilogramm schwer. Beim Flug
muss sein Kopf über dem Körper sein, sonst erstickt er
Rechte Seite Ein Foto und eine Erfahrung fürs Leben: Die
Bären, die aus dem Gefängnis entlassen werden, sollen es
nicht in guter Erinnerung behalten. Sie sind während des
Fluges bewegungslos, aber bei Bewusstsein
mare No. 91, April/Mai 2012
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Titel Eisbär
°Viele Einheimische begegnen dem Auftreten der Behörde mit Misstrauen und kräftigen Sprüchen. Die Bärenpolizisten sind in ihren
Augen kümmerliche Gestalten, die keine Ahnung haben. Es ist das
alte Gefecht des kleinen Mannes gegen die Allianz der Macht
der Behörde gleicht einem Einsatz, wie man ihn aus amerikanischen Krimiserien kennt. Drei Autos kreisen seinen
Pick-up ein, Beamte mit verspiegelten Brillen klären ihn
über seine Rechte und Pflichten auf, durchsuchen das Auto
seines Freundes Wayne nach Waffen. Zum Abschied sagen
sie: „Wir wollen nur deine Hunde beschützen.“
W
Aufpasser
Wer neu ins Dorf kommt, muss vor allem eines lernen:
im Ernstfall die richtige Entscheidung zu treffen
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er den Gesprächen bei „Gypsy’s“ lauscht, lernt
schnell: Es geht um sehr viel mehr. „Gypsy’s Restaurant & Bakery“ ist die Nachrichtenbörse von
Churchill, während der Bärensaison ist ein Tisch für Einheimische reserviert. Sie nennen ihn „BS-table­“, BS wie „bullshit“. Wer immer dort sitzt, Rhoda, die Busfahrerin mit der
polternden Lache, Ladoon beim täglichen Frühstück, Lea,
die zarte 17-Jährige, die die Sommer allein in der Jagdhütte
ihres Vaters verbringt, oder Wayne, der wütende Fotograf,
der ständig mit seinem Laptop die Rechtslage checkt, alle
begegnen sie den Auswüchsen der Bärensaison und dem
Auftreten der Bärenpolizei mit Misstrauen und kräftigen
Sprüchen. Das große Geschäft mit den Buggies macht ein
Reiseveranstalter aus dem Süden, kein Ortsansässiger. Ihm
könnte es missfallen, dass Einheimische günstigere Möglichkeiten anbieten, Bären zu sehen. Warum, so fragen sie
sich außerdem, werde die Interaktion der Eisbären mit den
Touristen auf den Buggies von den Behörden weniger kritisch gesehen als die auf Ladoons Gelände ? Die Bärenpolizisten in ihren Augen: kümmerliche Gestalten, die keine
Ahnung hätten, aber den großen Max markierten. Und auf
jeden Eisbären panisch mit fünfzig Krachern ballerten, wo
ein bis zwei schon reichen würden. Kein Wunder, dass die
Tiere dann durchdrehten und ins Gefängnis müssten. Es ist
das alte Gefecht des kleinen Mannes gegen die Allianz der
Macht. Es ist ebenso ein Kampf der Naturburschen gegen
die Fremdbestimmung durch unwissende Schreibtischtäter.
Der „BS-table“ ist eine seltene Enklave in den Wochen
der Bärensaison. Wer im Herbst nach Churchill reist, sieht
Souvenirläden an Hotels gereiht, jedes Restaurant ist ausgebucht. Wenn die Touristen nicht gerade in Bussen zu den
Bären fahren, wandern sie in hochfunktioneller Outdoor­
kleidung wenige Meter zum Postamt, um dort den begehrten
Eisbärenstempel in ihren Pass zu bekommen. Es gibt bis
spät in die Nacht Livemusik in urigen Pubs, und die Einheimischen feiern dort ekstatischer als die Touristen, sie wissen, dass die Party ab Ende November für lange Zeit vorüber
ist. Dann schließen alle Lokalitäten bis auf das Hotel des
Bürgermeisters. Selbst „Gypsy’s“ macht erst einmal für drei
Monate zu. In den ausgelassenen Nächten, in denen sich
die jungen, schönen Saisonkräfte der Hotels gegenseitig das
mare No. 91, April/Mai 2012
Mikrofon aus der Hand reißen, um Neil-Young-Hits zu seufzen oder schmutzige Witze zu erzählen und überdrehte Touristen sich die immer gleichen schönsten Fotos des Tages
zeigen, könnte man denken, Churchill sei einfach ein
Urlaubsort in der Hochsaison. Man könnte vergessen, um
was es wirklich geht. Um ein wildes Tier und die Menschen – und um beider Lebensraum.
Droht das Gefängnis zu voll zu werden, fliegt man die
Bären aus. Ein bevorstehender „bear lift“ ist eine willkommene Bereicherung im Programm der Besucher, Reiseveranstalter und Medienvertreter werden darüber informiert. Eisbärenbilder verkaufen sich immer. Vielleicht sogar immer
besser, weil man damit noch ganz andere Geschichten
erzählen kann als die eines Dorfes am Rand der Welt. Hinter
dem Absperrband um das Bärengefängnis warten Kameras
der BBC und des südkoreanischen Fernsehens, zusammen
mit ein paar Dutzend Zuschauern. Als sich das Tor der Containerhalle öffnet, geht ein Seufzen durch die Menge, einer
sagt verächtlich: „Wie bei einer Hinrichtung im Mittelalter.“
Der Eisbär liegt reglos bäuchlings auf einem Wagen, die
mächtigen Pranken baumeln schlapp herunter. Von mehreren Männern wird er in ein Netz auf dem Boden gehievt,
zwei Hubschrauber stehen bereit. Aus einem steigen
Damen mit blütenweißen Daunenmänteln, die den gelähmten Eisbären aus nächster Nähe von allen Seiten betrachten.
Am Ende geht alles sehr schnell, ein Hubschrauber hebt ab,
das Netz zieht sich zu, der Bär baumelt hoch über den Köpfen der Menge und ist bald nicht mehr zu sehen. Der andere
Hubschrauber folgt ihm.
In einem Haus an der Hauptstraße sitzt ein bärtiger,
etwas mitgenommen aussehender Mann auf dem Boden
eines spärlich möblierten Zimmers und sagt: „Es geht um
das große Ganze. Wir töten Eisbären, während wir zu Hause im Lehnstuhl sitzen.“ Er heißt Robert Buchanan und ist
Vorsitzender von Polar Bears International (PBI), einer Organisation, die für das Wohl der Eisbären kämpft. Seit vielen
Jahren ist PBI in Churchill vor Ort, ihre Operationsbasis ist
ein fest stationierter Tundra-Buggy draußen im Eisbärenland. Sie veranstalten dort Fortbildungen mit Zoodirektoren,
Lehrern, Studenten, mit Menschen, die ihre Botschaft weitertragen können: Das Eis schmilzt, die Bären verhungern,
wir müssen den Klimawandel stoppen. Das, so denkt PBI,
lässt sich besser vermitteln, wenn man das Tier erlebt
Linke Seite Bei der morgendlichen Patrouille kontrollieren
die Wildhüter ihre Eisbärenfallen. Als Köder lockt getrocknetes Robbenfleisch die ausgehungerten Tiere
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Titel Eisbär
Die Gefahr ist in Churchill nicht immer zu sehen. „Seien
Sie sich bewusst, dass Sie jederzeit und überall einem
Eisbären begegnen können“, warnen Faltblätter Touristen
hat. Oder, wie Buchanan es sagt: „Wenn dir ein Eisbär in die
Augen schaut, kann er dich tief in Herz und Seele berühren
und dein Leben für immer verändern wie kein anderes Tier
auf dieser Welt.“ PBI organisiert für zahlungskräftige Anhänger Helikopterflüge, die „bear lifts“ begleiten dürfen, sie
arbeiten eng mit den Wildhütern zusammen.
Es ist zu warm in Churchill für Mitte November, auf der
Bay ist kein bisschen Eis zu sehen. Die Eisdecke bricht früher auf und friert später zu, die
Bären verbringen mehr Zeit an
0 300 600 km
Land, müssen länger hungern, ihre
Baffin
Bay
Zahl hat abgenommen, sie sind
dünner. Das haben Wissenschaftler über die Jahre festgestellt. An
keinem Ort der Welt lässt sich der
Hudson
Bay
Klimawandel besser und publiChurchill
kumsträchtiger darstellen als in
Churchill. Coca-Cola hat 2011 zwei
KANADA
Millionen US-Dollar an den WWF
gespendet zur Rettung des EisQuébec
Neufundland
bären, das Tier ziert die Sonder­
Ottawa
edition der Coladose zum WeihAtlantischer
New York
USA
Ozean
nachtsgeschäft. Die Oberen des
Washington D.C.
Konzerns und der Organisation
sind mit zwei Privatjets eingeflogen, um die Eisbären zu besuchen. Mit an Bord: ein Moderator der US-Fernsehshow „American Idol“ zur Aufwertung
der PR-Bilder, die von Churchill aus über den Kontinent
gehen werden.
Paul Ratson sagt: „Du darfst einem Eisbären nie in die
Augen schauen. Das könnte er als Provokation begreifen.“
Ratson führt Wanderungen durch die Tundra, er ist schon
vielen Eisbären begegnet, von Angesicht zu Angesicht.
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Früher hat er Forscher begleitet und Fernsehteams, er hat
dar­ü ber den Glauben an die Bilder und die selbst ernannten
Gerechten verloren. „Sie wollen Bären filmen, du führst sie
zu einem prächtigen Exemplar, sie sagen: Der ist zu dick,
wir brauchen einen, der verhungert aussieht.“ Polar Bear
International hat Werbung für die eigene­ Sache gemacht,
mit der Filmaufnahme eines sterbenden kleinen Eisbären,
eine Art Snuff-Video zur Spendenbeschaffung.
Ratson will das nicht verstehen. „Wenn die Tiere wirklich verhungern, sollten sie vielleicht erst einmal die Tiere
retten und nicht gleich die ganze Welt.“ Ratson nennt die
Leute von PBI „Schlümpfe“, wegen der gesponserten blauen
Daunenjacken, die diese tragen. „Keiner hier hat auch nur
einen Hauch von Respekt für die.“ Auf seinen Touren erzählt
er den Besuchern seine Sicht der Dinge. „Wir sollten die
Bären Bären sein lassen. Wir fangen sie, weil sie uns im
Weg sind, wir setzen sie unter Drogen, tätowieren sie, ziehen ihnen Zähne, verfolgen sie mit Hubschraubern, um zu
beweisen, wie schlecht es ihnen geht. Ich glaube nicht, dass
ihnen das gefällt.“ Es gibt Reiseveranstalter, mit denen er
nicht mehr arbeitet, weil sie ihn darum gebeten haben zu
verschweigen, dass er gern Fleisch isst und wie fast jeder
Einheimische leidenschaftlicher Jäger und Trapper ist. Ratson sagt: „Wir sind hier nicht in Scheiß-Disney-World.“ Er
wohnt weit draußen, die Eisbären laufen täglich über seinen
Hof. Er fühle sich sicher, er beobachte sie und lasse sie
gewähren, solange sie nicht „herumlungern“. Sein Haus ist
von Elektrodrähten umwickelt, die Eingangstür von einem
massiven Drahtvorbau geschützt. „Eisbären werden nicht
aussterben“, sagt er, „sie passen sich an. Wie wir.“
N
euerdings sammeln sich die Eisbären verstärkt in
seiner Nähe, am früheren Müllplatz, wo man seit
Jahren Rückstände der Getreideverschiffung an
Churchills Hafen vergräbt. Die Eisbären buddeln tief im Erdreich und fressen das Getreide, sie machen das dieses Jahr
zum ersten Mal. Das Zeug, so Ratson, sei vergoren, die Bären würden quasi betrunken davon. Mindestens zehn Bären
wühlen dort im Dreck, man kann mit dem Auto bis auf
wenige Meter an sie heranfahren. Der Platz ist ein neuer
Be­o bach­tungsposten geworden für Dörfler und Touristen,
seit Brian Ladoons Bären im Gefängnis sitzen. Ein Eisbär
liegt in der Kuhle, die er gegraben hat, den Kopf matt auf die
Erde gebettet, er ist vollkommen verdreckt, seine Augen
halb geschlossen. Er bewegt sich im Scheinwerferlicht der
Autos, die ihn umringen, keinen Millimeter. Der König der
Arktis, ein trauriger Anblick. Es sieht so aus, als habe er
keine Ahnung, was um ihn herum passiert. b
Martina Wimmer, Jahrgang 1965, mare-Redakteurin, hofft auf eine Rückkehr nach Churchill, nicht nur wegen der großartigen Menschen, sondern
auch wegen der Apfel-Zimt-Schnecken im „Gypsy’s“. Übrigens erzählt sie
die Geschichte der Bären von Churchill ein zweites Mal – für junge Leser
in No. 6 von aHoi!, dem Kindermagazin von mare.
Joachim Ladefoged, geboren 1970, Fotograf aus Kopenhagen, hat in vielen
Krisengebieten gearbeitet, im Kosovo, im Kongo, in Japan nach dem Tsunami. Das Härteste in Churchill war für ihn die Temperatur: minus 17 Grad.
mare No. 91, April/Mai 2012