ben rivers islands - Kunstverein in Hamburg
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ben rivers islands - Kunstverein in Hamburg
Ben Rivers, There Is A Happy Land Further Awaay, 2015 filmstill 23.4.—3.7.2016 BEN RIVERS ISLANDS 2 Ben Rivers, Somerset Clade No. 1-5, 2010, photographs „Ich komme von einer seltsamen Insel mit einer langen und wechselvollen Geschichte, mit sonderbaren Gewohnheiten und einer langen Tradition literarischer Entdecker düster-optimistischer Utopien. Ich habe mich von Ideen anregen lassen und Reisen unternommen, sowohl traumartige wie reale, um gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten für Utopias auf Inseln zu entdecken. Was bedeutet Utopia? Darauf gibt es zweifellos nicht nur eine Antwort. The Creation As We Saw It (2012) und There Is A Happy Land Further Awaay (2015), beide in der Republik Vanuatu aufgenommen, entstanden in so etwas wie einem zeitgenössischen Utopia, in dem sich die Menschen entschlossen haben, durch die Ablehnung des kapitalistischen, individualistischen Denkens einen ganz spezifischen Weg zum Glück zu verfolgen. Diese Filme sind eine Fortsetzung von Slow Action (2010), einem Bericht über vier Inselgesellschaften der Zukunft. Es sind fiktive Welten, die existierende Orte beschreiben und verwandeln. Sich zeitlich von Slow Action (2010) zurückbewegend, betrachtet The Creation As We Saw It (2012) die jüngere Vergangenheit des ethnografischen Films und die weit zurückliegende, mythische Vergangenheit des Ursprungs von Dingen, Menschen, Vulkanen aus einer gegenwärtigen Perspektive. In diesen Filmen werden Geschichten, Rituale und Berichte zwischen Menschen ausgetauscht, denn dafür sind Geschichten da, nicht, um sie für sich zu behalten, sondern, um sie zu teilen. Im Kern all dieser scheinbaren Dokumente liegt die Unmöglichkeit jemals exakt dokumentieren zu können. Die Figur des unzuverlässigen Geschichtenerzählers und Beobachters reist durch alle drei Werke, zuletzt in There Is A Happy Land Further Awaay (2015) in dem die Erzählerin verzweifelt versucht, ihre Insel zu beschreiben, und dabei durch Schilderungen eines entfernten, letztlich ungreifbaren Landes taumelt.“ (Ben Rivers, 2016) 3 ‘I come from an island, an odd one with a long and checkered history, with strange habits and a history of literary explorers of darkly optimistic utopias. I have fuelled on ideas and taken trips, both oneiric and actual, to discover present and future possibilities for island utopias. What does utopia mean? There is certainly not one answer. The Creation As We Saw It (2012) and There Is A Happy Land Further Awaay (2015), both shot in the Republic of Vanuatu, were made in something like a contemporary utopia, where people having chosen very specifically to follow a particular path to happiness, through a rejection of encroaching capitalist, individualist thinking. These films follow on from Slow Action (2010) – an account of four future islands societies. These are fictional worlds that observe and transform existing places. Temporally moving in the opposite direction from Slow Action (2010), The Creation As We Saw It (2012) looks back to the past; the recent past of ethnographic filmmaking, and the deep mythic past of the origins of things, humans, volcanoes, but with an eye embedded in the present. In these films, stories, rituals and accounts are passed around between humans - this is what stories are for, not to hold to oneself but to share. At the heart of all these seeming documents is the impossibility of ever being able to accurately document. The figure of unreliable storytellers and observers travels across all three works, most recently with There Is A Happy Land Further Awaay (2015), where the narrator struggles with her attempt to describe her island surroundings, faltering her way through descriptions of a far off land which is ultimately ungraspable.’ (Ben Rivers, 2016) 4 Ben Rivers, Islands, Ausstellungsplan EINFÜHRUNG den Ausstellungsraum übertragen und dem Publikum gleichsam einen Rückzugsort abseits In seiner ersten institutionellen des eigenen Alltags bieten. Alle drei Arbeiten Einzelausstellung in Deutschland konzentriert nutzen den Blick in die räumliche und zeitliche sich Ben Rivers auf abgeschiedene Erdteile Ferne für eine Reflexion über unser Hier und mit Bevölkerungsgruppen, die er hinsichtlich Jetzt. There Is A Happy Land Further Awaay ihrer isolierten und utopischen Sozialisation (2015) verbindet Landschaftsaufnahmen untersucht. aus dem südpazifischen Inselstaat Vanuatu mit Henri Michaux’ melancholischem Rivers’ Filme verbinden LandschaftsGedicht I Am Writing To You From A Far und Porträtaufnahmen mit Methoden Off Country. Rivers’ Aufnahmen entstanden der Ethnologie und Elementen der kurz bevor Vanuatu im März 2015 durch den Reisedokumentation, ohne sich dabei allzu Tropensturm Pam verheerend zerstört wurde. sehr an die jeweiligen Genrevorgaben zu Der Film unterstreicht die fortwährende halten. Im Zentrum seiner filmischen Essays Veränderung unserer Umwelt und ihre stehen Menschen und Lebensentwürfe in den globalen Konsequenzen. Auch The Creation Randgebieten unserer Zivilisation und jenseits As We Saw It (2012) entstand auf Vanuatu unserer gesellschaftlichen Konventionen. und illustriert drei mündlich überlieferte Analog zur Betrachtung des Kinos als in sich Legenden der Einwohner; eigenwillige geschlossener Erlebnisraum, an dem soziale Schöpfungsgeschichten über den Ursprung Normen und Vorstellungen nur bedingt greifen, der Menschen, den Weg des Feuers und versteht Rivers seine filmischen Arbeiten als darüber, warum Schweine auf vier Beinen meditative Porträts abgeschiedener Orte und laufen. Slow Action (2010) verbindet semihermetischer Welten. Für seine Aufnahmen dokumentarisches Filmmaterial aus Lanzarote, nutzt er 16-mm-Kameras, deren Filme er Polynesien, Japan und Rivers’ Geburtsort häufig selbst von Hand entwickelt. Diese Somerset mit einer trocken vorgetragenen Nähe zum Material und dessen fast greifbare Erzählung über eine mysteriöse Zivilisation physische Präsenz zeigen sich in seinen der Zukunft. Der vom amerikanischen Arbeiten, die ihren eigenen handwerklichen Science-Fiction-Autor Mark von Schlegell Herstellungsprozess in die Narration mit geschriebene Text entfaltet in Kombination einbringen. Darüber hinaus nimmt Rivers mit Rivers’ Bildsprache eine ambivalente subtile Eingriffe in der Postproduktion vor Stimmung zwischen surrealem Witz und und unterlegt das Filmmaterial mit poetischen nachhaltiger Beunruhigung. Tonspuren, die einen Bruch mit der visuellen Kontemplation erzeugen. Auf diese Weise Ben Rivers (*1972, Somerset, England) entrückt Rivers seine Filme immer wieder lebt und arbeitet in London. Er hat an der ihrer utopischen Fiktion und erdet sie in Falmouth School of Art zunächst Bildhauerei der Realität, deren Auswirkungen auch die studiert, bevor er sich der Fotografie und dem abgeschiedenen Eilande und ihre Bewohner Super8-Film zuwandte. Nach dem Studium betreffen. Längst prägen Belastungen wie begann er mit 16mm-Filmen zu arbeiten, in El Nino, die Verschmutzung der Meere und denen er entlang der feinen Trennlinie von Auswirkungen der globalen Handelsrouten die Dokumentation und Fiktion arbeitet. Rivers Umwelt dieser vermeintlichen Paradiese. ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden: EYE Art & Film Prize, 2016, Die Ausstellung Islands besteht aus drei FIPRESCI Internationaler Kritikerpreis des großformatigen Videoinstallationen, welche 68. Filmfestival in Venedig für seinen ersten die narrative Dramaturgie der Arbeiten in Spielfilm Two Years At Sea; der Baloise 5 Kunstpreis auf der 42. Art Basel, 2011 und den Paul Hamlyn Foundation Award for Artists, 2010. Er hat zuletzt ausgestellt: The Two Eyes Are Not Brothers, The Whitworth, Manchester, 2016, Einzelausstellung, Camden Arts Centre, London, 2015, The Two Eyes Are Not Brothers, Artangel Open Commission 2013, Television Centre, White City, London, 2015, Slow Action, Hepworth Wakefield, 2012; Sack Barrow, Hayward Gallery, London, 2011; Slow Action, Matt’s Gallery, London und Gallery TPW, Toronto, 2011; A World Rattled of Habit, A Foundation, Liverpool, 2009. Die Ausstellung ist eine Kooperation mit der Triennale di Milano und dem Camden Arts Centre. Zur Ausstellung erscheint eine Publikation bei Mousse Publishing. INTRODUCTION In his first institutional solo exhibition in Germany, Ben Rivers focuses on secluded parts of the world and its population groups which he examines in regard to their isolated and utopian socialization. Rivers’ films combine landscape and portrait shots with ethnological methods and elements of travel documentations, without strictly adhering to the respective genre rules. His filmic essays focus on people and life plans in marginal regions of our civilization and beyond our societal conventions. In analogy to regarding the cinema as a self-contained experiential space to which social norms and notions only conditionally apply, Rivers grasps his filmic works as meditative portrayals of secluded places and hermetic worlds. For his recordings, he uses 16mm cameras, often developing the film by hand. This closeness to the material and its almost tangible physical presence are reflected in his works that integrate their manual production process in the narration. Moreover, Rivers subtly intervenes in the postproduction phase and 6 sets the film to poetic audio tracks that disrupt the visual contemplation. In this manner, Rivers repeatedly distances his films from their utopian fiction and grounds them in a reality, whose effects do not even leave the most remote islands and their inhabitants untouched. Environmental phenomena such as El Nino, polluted oceans, and also the impact of the global trade routes have long left their mark on the environment of the supposed paradises. The exhibition Islands consists of three large-format video installations that convey the narrative dramaturgy of the works into the gallery space and offer the audience a haven separated from their daily lives, so to speak. All three works employ the view to a spatial and temporal distance in order to reflect upon our own here and now. There Is A Happy Land Further Awaay (2015) combines landscape shots from the South Pacific island state of Vanuatu with Henri Michaux’ melancholic poem I Am Writing To You From A Far Off Country. Rivers’ recordings were made shortly before Vanuatu was devastated by the tropical storm Pam in March 2015. The film underlines the ongoing changes to our environments and their global consequences. The Creation As We Saw It (2012) also originated on Vanuatu and illustrates three legends of the inhabitants handed down by oral tradition; idiosyncratic creation stories about the origin of humankind, the path of fire, and the reason why pigs walk on four legs. Slow Action (2010) links semidocumentary film material from Lanzarote, Polynesia, Japan and Rivers’ birthplace Somerset with a dryly recited story of a mysterious future civilization. The text written by the American science-fiction author Mark von Schlegell gives rise to an ambivalent atmosphere between surreal witticism and profound vexation in combination with Rivers’ picture language. Ben Rivers (*1972, Somerset, England) lives and works in London. Rivers studied Fine Art at Falmouth School of Art, initially in sculpture before moving into photography and super8 film. After his degree he taught himself 16mm filmmaking and hand-processing. His practice as a filmmaker treads a line between documentary and fiction. Rivers has been the recipient of numerous prizes including: EYE Art & Film Prize, 2016, FIPRESCI International Critics Prize, 68th Venice Film Festival for his first feature film Two Years At Sea; the Baloise Art Prize, Art Basel 42, 2011; Paul Hamlyn Foundation Award for Artists, 2010. Recent exhibitions include: The Two Eyes Are Not Brothers, The Whitworth, Manchester, 2016, Solo Exhibition, Camden Arts Centre, London, 2015, The Two Eyes Are Not Brothers, Artangel Open Commission 2013, Television Centre, White City, London, 2015, Slow Action, Hepworth Wakefield, 2012; Sack Barrow, Hayward Gallery, London, 2011; Slow Action, Matt’s Gallery, London and Gallery TPW, Toronto, 2011; A World Rattled of Habit, A Foundation, Liverpool, 2009. The exhibition is a cooperation project with the Triennale di Milano and the Camden Arts Centre. A publication by Mousse Publishing will appear in conjunction with the show. 7 THERE IS A HAPPY LAND FURTHER AWAAY 2015, 20 min Ben Rivers, There Is A Happy Land Further Awaay, 2015, filmstill Super16 übertragen auf / transferred to HD, Farbe, Schwarzweiß / Color, black & white 8 Kamera und Tonaufnahmen / Camera and sound recording Ben Rivers, Ben Russell Erzählung / Narration Yuki Yamamoto Produziert von / Produced by Ben Rivers, Ben Russell There Is A Happy Land Further Awaay setzt sich aus Filmmaterial zusammen, das während einer Reise zu der abgelegenen subtropischen Insel Vanuatu im Südpazifik aufgenommen worden ist. Im März 2015, kurz nach Rivers Besuch, wurde Vanuatu vom Zyklon Pam zerstört, der große Teile der Insel verwüstete. Rivers 16mm-Filmmaterial wird so zu der Aufzeichnung eines Ortes, der sich danach unwiderruflich verändert hat. Auf der Tonspur des Films hört man die Stimme einer Frau, die zögerlich Henri Michaux’s Gedicht I Am Writing To You From A Far Off Country liest, einschließlich all der Versprecher und Wiederholungen der Person, die den Versuch unternimmt, über ein gelebtes Leben in der Ferne zu berichten. Gedreht auf 16mm und dann digitalisiert, verwandeln sich die Darstellungen von aktiven Vulkanen, Unterwasser-WW2 Schutt, spielenden Kindern und zerstörten Booten in immaterielle digitale Rückerinnerungen der Insel. Bilder des erodierten Landes verschmelzen mit dem naturgemäß sich langsam selbst zerstörenden Film und verfallen bis zur Unkenntlichkeit. Der Film beleuchtet die sich verändernde Umwelt und die daraus resultierenden ökologischen Katastrophen, die mittlerweile viele Teile der Welt getroffen haben. Der Film ist entstanden durch die Beteiligung von Chief Johnson, Chief Isak Wan, dem Team von FONA, den Bewohnern der Insel Ambrym und des John Frum Dorfes, Tanna, Republik Vanuatu. 9 There Is A Happy Land Further Awaay is developed from footage collected during a trip to the remote and beautiful sub-tropical island of Vanuatu in the South Pacific. In March 2015, after Rivers’ visit, Vanuatu was devastated by Cyclone Pam, laying waste large parts of the islands. Rivers‘ 16mm film material has become a record of a place that has irrevocably changed. The sound track to the film is a recording of a woman, hesitantly reading Henri Michaux’s poem, I Am Writing To You From A Far Off Country, which includes the false starts and repetitions of the reader’s attempts to recount a record of a life lived far away. Filmed on 16mm and then digitized, island imagery of active volcanoes, underwater WW2 debris, children playing, and wrecked boats transform into intangible digital recollections of the island. Images of the eroded land merge with eroding film and deteriorate until they are no longer recognizable. The film highlights for the audience the changing nature of our environment and the resulting ecological disasters which have hit many parts of the world. Made with the participation of Chief Johnson, Chief Isak Wan and the people of Fona, Ambrym and John Frum Village, Tanna, the Republic of Vanuatu. Henri Michaux, Gedicht zum Film (engl.) I Am Writing To You From A Far Off Country I We have here, she said, only one sun in the month, and for only a little while. We rub our eyes days ahead. But to no purpose. Inexorable weather. Sunlight arrives only at its proper hour. Then we have a world of things to do, so long as there is light, in fact we hardly have time to look at one another a bit. The trouble is that nighttime is when we must work, and we really must: dwarfs are born constantly. II When you walk in the country, she further confided to him, you may chance to meet with substantial masses on your road. These are mountains and sooner or later you must bend the knee to them. Resisting will do no good, you could go no farther, even by hurting yourself. I do not say this in order to wound. I could say other things if I really wanted to wound. the house as well, like angers which might come to face you, like stern beings who would like to wrest confessions. We see nothing, except what is so unimportant to see. Nothing, and yet we tremble. Why? VI Here we all live with lumps in our throats. Do you realize that, although I’m very young, in the past I was even younger, and my companions likewise. What does that mean? Surely there’s something horrible in that. III And in the past when, as I’ve already told The dawn is grey here, she went on to tell him. you, we were even younger, we were afraid. It was not always like this. We do not know Someone might have profited from our whom to accuse. confusion. Someone might have told us: At night the cattle make a great bellowing, long “Look, we’re going to bury you. The time and flutelike at the end. We feel compassionate, has come.” We thought: “It’s true, we could but what can we do? very well be buried this evening, if it’s been The smell of eucalyptus surrounds us: a established that it’s time.” blessing—serenity, but it cannot protect us And we didn’t dare run too much: Out of from everything, or else do you think that it breath, at the end of a race, coming right up really can protect us from everything? to a ditch, and no time to say a word, not a breath. IV Tell me, what’s the secret in this connection? I add one further word to you, a question rather. VII Does water flow in your country too? (I don’t There are constantly, she tells him further, remember whether you’ve told me so) and it lions in the village that stroll around without gives chills too, if it is the real thing. the least constraint. Providing we pay no Do I love it? I don’t know. One feels so alone attention to them, they don’t pay any attention when it is cold. But quite otherwise when it is to us. warm. Well then? How can I decide? How do But if they see a girl running away from you others decide, tell me, when you speak of it them, they won’t excuse her anxiety. No! they without disguise, with open heart? devour her immediately. That’s why they stroll around constantly in V the village where they have nothing to do, I am writing to you from the end of the world. since they could yawn just as well elsewhere, You must realize this. The trees often tremble. isn’t that obvious? We collect the leaves. They have a ridiculous number of veins. But what for? There’s nothing VIII between them and the tree any more, and we For a long, long time, she confides to him, go off troubled. we’ve had a dispute with the sea. Could not life continue on earth without wind? Those rare times she’s blue, mild, we could Or must everything tremble, always, always? believe she’s content. But that can’t last. There are subterranean disturbances, too, in Her odor says it anyway, an odor of rot (if it 10 wasn’t her bitterness). Here I should explain the affair with the waves. It’s insanely complicated, and the sea... I implore you, have faith in me. Would I want to deceive you? She isn’t just a word. She isn’t just a fear. She exists, I swear: she’s seen constantly. By whom? Why we, we see her. She comes from very far off to quarrel with us and scare us. When you come, you’ll see her yourself, you’ll be completely astonished. “Hey!” you’ll say, since she’s stupefying. We’ll look at her together. I’m sure that I won’t feel afraid anymore. Tell me, will this never happen? IX I can’t leave you with any doubts, she continues, or with a lack of faith. I’d like to speak to you about the sea again. But there’s still this quandary. Streams go forward; but she doesn’t. Listen, don’t be annoyed, I swear I’d never dream of deceiving you. She’s like that. However strongly she stirs, she stops for a bit of sand. It’s a huge impediment. She certainly wants to move forward, but facts are facts. Later on maybe, someday she’ll move forward. X “We’re more than ever surrounded by ants”, says her letter. Uneasy, bellies against the ground, they kick up dust. They don’t take any interest in us. Not one raises its head. It’s the most closed society that could exist, although they spread constantly outside. It doesn’t matter, their fulfilled schemes, their preoccupations... they’re among themselves... everywhere. And up till now not one has raised its head toward us. It’d rather be squashed. XI She writes to him further: “You can’t imagine everything that’s in the sky, you have to see it to believe it. So, here you go, 11 the... but I’m not going to tell you their name just now.” Despite an air of being very heavy and despite taking up almost the whole sky, they don’t weigh, big as they are, as much as a newborn baby. We call them clouds. It’s true they give off water, but not by squeezing them or by pulverizing them. This would be useless, since they hold so little. But provided that they take up lengths upon lengths, and widths upon widths, and depths, too, upon depths, and that they swell up, in the long run they let a few drops of water, yes, water, fall. And we get good and soaked. We run away furious at having been trapped; because no one knows the moment when they’re going to let their raindrops loose; sometimes they hold off for days without letting them loose. And one would stay home in vain waiting. XII Education about chills isn’t handled well in this country. We’re ignorant of the real rules and when the event arises, we’re taken by surprise. It’s Time, of course. (Is it the same where you are?) One has to get there sooner than it does; you see what I mean to say, no more than just a little bit beforehand. Do you know the story of the flea in the drawer? Yes, of course. And it’s so true, isn’t it! I don’t know what more to say. When are we going to see each other at last? Filmtext (dt.) Basierend auf dem Gedicht von Henri Michaux I Am Writing To You From A Far Off Country 00:25 – Ich schreibe dir von einem weit entfernten Land 00:30 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal im Monat Sonne und nur für kurze Zeit 00:37 – Wir reiben uns schon Tage vorher die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur richtigen Stunde 02:21 – Das Problem ist, dass wir nachts arbeiten müssen, und das müssen wir wirklich… und das müssen wir wirklich 02:30 – Zwerge werden… Zwerge… Zwerge werden ständig geboren 02:43 – Zwerge… statt eines Geräusches 00:51 – Dann müssen wir Unmengen an Dingen erledigen, solange es hell ist, tatsächlich haben wir kaum Zeit, einander kurz anzusehen 02:48 – Mache, beseitige… 02:52 – Action 01:02 – Das Problem ist, dass wir nachts arbeiten müssen, und das müssen wir wirklich 02:55 – Ich schreibe dir von einem weit entfernten Land 01:13 – Okay, du kannst es nochmal lesen 03:00 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal im Monat Sonne und nur für kurze Zeit 01:16 – Ich mag nicht den Klang meiner… das Sonnenlicht erreicht uns nur zur richtigen Stunde… Stunde 01:23 – Zunächst sollte es „Wir haben hier“ heißen – Wir haben hier, ja? Ja 01:30 – Wir haben hier, sagte sie. Versuche es, die Aufnahme läuft 01:38 – Ich schreibe dir von einem weit entfernten Land 01:42 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal im Monat Sonne und nur für kurze Zeit 01:50 – Wir reiben… wir reiben uns schon Tage vorher die Augen 01:57 – Wir reiben uns schon Tage vorher die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur richtigen Stunde 03:10 – Wir reiben uns schon Tage vorher die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur richtigen Stunde 03:22 – Dann müssen wir Unmengen an Dingen erledigen, solange es hell ist, tatsächlich haben wir kaum Zeit, einander kurz anzusehen 03:31 – Das Problem ist, dass wir nachts arbeiten müssen, und das müssen wir wirklich, Zwerge werden ständig geboren 04:00 – Wenn du auf dem Land spazieren gehst, vertraute sie uns ebenfalls an, triffst du vielleicht große Massen auf deiner Straße 04:07 – Das sind Berge, und früher oder später musst du vor ihnen in die Knie gehen 04:13 – Widerstand hilft nicht, du könntest nicht weitergehen, auch wenn du dir wehtun 02:11 – Dann müssen wir Unmengen an Dingen würdest erledigen, solange es hell ist, tatsächlich haben wir kaum Zeit, einander kurz anzusehen 04:21 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen, ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich wirklich verletzen wollte 12 04:31 – Nur die letzten beiden, die Zeilen mit verletzen 07:07 – Wir haben Mitleid, aber was können wir tun? 04:35 – Verletzen… verletzen… verletzen 07:12 – Der Geruch von Eukalyptus ist überall… 04:41 – Ich sage dieses Wort nicht, um zu verletzen… 04:48 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen, ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich wirklich verletzen wollte. 07:18 – Der Geruch von Eukalyptus ist überall, ein Segen, Ruhe, aber er kann uns nicht vor allem beschützen 07:27 – Oder… Oder glaubst 04:57 – Ich kann das Wort nicht aussprechen … verletzen… verletzen… verletzen 07:35 – Oder glaubst du, er kann uns wirklich vor allem beschützen? 05:07 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen, ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich wirklich verletzen wollte 07:40 – Aah, wie kann man die Frage besser stellen? Egal 05:17 – Wenn du auf dem Land spazieren gehst, vertraute sie uns ebenfalls an, triffst du vielleicht große Massen auf deiner Straße 05:25 – Das sind Berge, und früher oder später musst du vor ihnen in die Knie gehen 05:32 – Widerstand hilft nicht, du könntest nicht weitergehen, auch wenn du dir wehtun würdest 07:48 – Der Sonnenaufgang ist grau hier, erzählte sie… erzählte sie ihm weiter… 07:55 – Nochmal von vorne. Ja. Der Anfang war gut 08:00 – Der Sonnenaufgang ist grau hier, erzählte sie ihm weiter, es war nicht immer so, wir wissen nicht, wen wir beschuldigen sollen 08:10 – In der Nacht gibt es ein großes Gebrüll vom Vieh, lange und flötenartig am Ende 05:39 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen, ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich wirklich verletzen wollte 08:17 – Wir haben Mitleid, aber was können wir tun? 06:38 – Der Sonnenaufgang ist grau hier, erzählte sie ihm weiter, es war nicht immer so, wir wissen nicht, wen wir beschuldigen sollen 08:22 – Der Geruch von Eukalyptus ist überall, ein Segen, Ruhe, aber er kann uns nicht vor allem beschützen 06:48 – In der Nacht gibt es ein großes Gebrüll vom Vieh, lange und flötenartig am Ende… nein, das mag ich nicht 08:30 – Oder glaubst du, er kann uns wirklich vor allem beschützen? 06:59 – In der Nacht gibt es ein großes Gebrüll vom Vieh, lange und flötenartig am Ende 13 09:01 – Ich schreibe dir vom Ende der Welt, musst du wissen 09:07 – Oft zittern die Bäume. Wir sammeln die Blätter. Sie haben eine absurde Anzahl an Adern, aber wofür? 09:17 – Zwischen ihnen und dem Baum gibt es nichts mehr, wir sind besorgt und gehen weiter 11:38 – Wir Frauen leben hier alle mit zugeschnürter Kehle 09:23 – Könnte das Leben auf der Erde nicht ohne Wind weitergehen, oder muss alles immer zittern… immer? 11:43 – Weißt du, obwohl ich sehr jung bin, war ich zu anderen Zeiten noch viel jünger. Auch meine Gefährtinnen 09:35 – Könnte das Leben auf der Erde nicht ohne Wind weitergehen, oder muss alles immer zittern… immer? 11:52 – Was hat das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten? Darin liegt sicherlich etwas Schreckliches 09:46 – Es gibt unterirdische… 12:05 – Weitermachen? 09:49 – Es gibt unterirdische… unterirdische Störungen 12:08 – Und zu anderen Zeiten, wie ich schon sagte… ah, dir 09:57 – Es gibt auch unterirdische Störungen, ebenso im Haus, wie Wutausbrüche, die dir vielleicht entgegen kommen 12:23 – Und zu anderen Zeiten, wie ich dir schon sagte 10:06 – Wie strenge Wesen… 12:31 – als wir noch jünger waren, befürchteten wir, jemand könnte unsere Verwirrung ausgenutzt haben 10:10 – Es gibt auch unterirdische Störungen, auch im Haus, wie Wutausbrüche, die dir vielleicht entgegen kommen 12:41 – Jemand sagte vielleicht zu uns – „Schau mal, wir werden dich begraben“ 10:18 – Wie strenge Wesen, die Ge… 10:25 – Wie strenge Wesen, die Ge … aah, ich kann’s nicht 12:48 – „Der Augenblick ist gekommen.“ Wir dachten, es ist wahr, wir könnten genauso gut heute Abend begraben werden 10:33 – Es gibt auch unterirdische Störungen, auch im Haus, wie Wutausbrüche, die dir vielleicht entgegen kommen 12:57 – wenn definitiv gesagt wird, das ist der Augenblick. Hm, ich will nochmal anfangen 10:42 – Wie strenge Wesen, die Geständnisse abtrotzen wollen 10:48 – Wir sehen nichts, außer was unwichtig ist, zu sehen, nichts, und trotzdem zittern wir, warum? 10:57 – Wir sehen nichts, außer was unwichtig ist, zu sehen, nichts, und trotzdem zittern wir, warum? Nichts, und trotzdem zittern wir, warum? 14 13:07 – Und zu anderen Zeiten, wie ich dir schon sagte, als wir noch jünger waren, befürchteten wir 13:17 – jemand könnte unsere Verwirrung ausgenutzt haben 13:22 – Jemand sagte vielleicht zu uns – „Schau mal, wir werden dich begraben, der Augenblick ist gekommen“ 13:28 – Wir dachten, es ist wahr, wir könnten genauso gut heute Abend begraben werden, wenn definitiv gesagt wird, das ist der Augenblick 13:39 – Und wir wagten es nicht, zu sehr zu rennen, atemlos, am Ende der Jagd 13:45 – Angekommen vor der Grube, vollkommen bereit, und keine Zeit, auch nur ein Wort zu sagen. Kein Atem 13:53 – Sag mir, worin liegt hier das Geheimnis? 15:05 – In diesem Land werden wir nicht gut über die Kühle aufgeklärt 15:10 – Wir kennen die wahren Regeln nicht, und wenn das Ereignis eintritt, sind wir unvorbereitet 15:19 – Es hat natürlich mit der Zeit zu tun, verhält es sich bei dir genauso? 15:26 – Man muss etwas früher als sie ankommen. Weißt du, was ich meine? Nur ein klein wenig früher 15:35 – Kennst du die Geschichte von dem Floh in der Schublade? Ja, natürlich. Und wie wahr sie doch ist, denkst du nicht? 15:45 – Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Wann werden wir uns endlich treffen? 16:00 – Was denkst du? 16:07 – Es ist einfach so traurig am Ende 16:19 – Willst du auf Stopp drücken? 15 SLOW action 2010, 45 min Ben Rivers, Slow Action, 2010, filmstill 4-Kanal-Videoprojektion / 4 channel video projection, jeder Teil jeweils 11 min / each part 11 min, 16mm, Farbe, Schwarzweiß / Color, black & white 16 Ein Film und eine Installation von / A film and an installation by Ben Rivers Text von / Text by Mark von Schlegell Erzählung / Narration Ilona Halberstadt, John Wynne Animierte Objekte / Animated objects Nicholas Brooks Kamera und Sound / Camera and sound Ben Rivers Produktionsassistenz / Production assistance Makino Takashi, Yuki Yamamoto Kostüme / Costumes Alice Dubieniec, Gemma Gore, Yuki Yamamoto Slow Action ist ein post-apokalyptischer Science-Fiction-Film, der vier 16mm Arbeiten (Elf, Hiva (Die Gesellschaftsinseln), Kanzennashima, Somerset) zusammenbringt, die zwischen Dokumentation, ethnographischer Studie und Fiktion angesiedelt sind. Das 16mm-Filmmaterial von vulkanischen Landschaften, zerstörten Städten, mit Müll gefüllten Lagunen und in Wäldern lebenden Stämmen erscheint sowohl fremd als auch vertraut, historisch und futuristisch zugleich, als ob es aus einem längst vergessenen Archiv ausgegraben oder in einer Zeitkapsel entdeckt worden wäre. Gefilmt wurde Slow Action an verschiedenen Standorten auf der ganzen Welt: Lanzarote - eine schöne, eigenwillige Insel, bekannt für ihre Badeorte, aber einer der trockensten Orte auf dem Planeten, voller erloschener Vulkane und bizarrer Architektur; Gunkanjima - eine Insel vor der Küste von Nagasaki, Japan, eine verlassene Stadt auf einem Felsen gebaut, einst aufgrund ihrer reichen Kohlevorkommen die Heimat von Tausenden von BergbauerFamilien ; Tuvalu - eines der kleinsten Länder der Welt auf einem winzigen Streifen Land, das kaum über den Meeresspiegel hinausragt, inmitten des Pazifiks; und Somerset – eine noch zu entdeckende Insel mit ihren unterschiedlichen Ethnien. Diese Reihe von konstruierten Realitäten erforscht die Umgebungen von in sich geschlossenen 17 Ländern auf der Suche nach Informationen, um eine Rekonstruktion der bald verlorenen Welten zu ermöglichen. Der Filmtext – eine Erzählung des Schriftstellers Mark von Schlegell – führt jede der vier InselEvolutionen nach ihren geographischen, geologischen, klimatischen und botanischen Bedingungen einzeln auf. „Ich stolperte zufällig über die ScienceFiction-Geschichte Venusia von Mark von Schlegell und fragte ihn, ob er daran interessiert wäre mit mir zu arbeiten. Ich wollte, dass er vier Berichte über vier verschiedenen Insel-Utopien schreibt. Ich sagte ihm nie, wohin ich ging, weil ich bewusst nicht wollte, dass er zu direkt illustriert. Es gab einen langen E-Mail-Verkehr, im Zuge dessen ich ihm von meiner Seite ein paar Inhalte, Hinweise und Bücher gab, und wir eine Menge von Leselisten hin- und her schickten. Ich bekam von ihm Texte, die ich so ändern und bearbeiten konnte, dass sie zu meinen Bildern passten.“ (Ben Rivers) Slow Action, inspiriert von Romanen wie Samuel Butlers Erewhon, Bacons The New Atlantis, Herbert Reads The Green Child und Mary Shelleys The Last Man, verkörpert den Geist der Recherche, des Experiments und der aktiven Forschung, die charakteristisch sind für Rivers Arbeit. Slow Action wurde von Picture This and Animate Projects in Auftrag gegeben und ist in Zusammenarbeit mit Matt’s Gallery entstanden. Slow Action is a post-apocalyptic science fiction film that brings together a series of four 16mm works (Eleven, Hiva (The Society Islands), Kanzennashima, Somerset) which exist somewhere between documentary, ethnographic study and fiction. The 16mm footage of volcanic landscapes, ruined cities, junk-filled lagoons and woodland-dwelling tribes appears both alien and familiar, historical and futuristic, as if it could have been unearthed from a long-forgotten archive or discovered in a time capsule. Slow Action is filmed at different sites across the globe: Lanzarote - a beautiful strange island known for its beach resorts, yet one of the driest places on the planet, full of dead volcanoes and strange architecture; Gunkanjima - an island off the coast of Nagasaki, Japan, a deserted city built on a rock, once home to thousands of families mining its rich coal reserves; Tuvalu - one of the smallest countries in the world, with tiny strips of land barely above sea level in the middle of the Pacific; and Somerset - an as yet to be discovered island and its various clades. This series of constructed realities explores the environments of self-contained lands and the search for information to enable the reconstruction of soon to be lost worlds. The film’s soundtrack - narratives by writer Mark von Schlegell - detail each of the four islands’ evolutions according to their geographical, geological, climatic and botanical conditions. “I came across a science fiction story by Mark von Schlegell called Venusia and asked if he’d be interested in working with me—I wanted him to write four accounts of four different island utopias. I never told him where I was going because I deliberately didn’t want him to illustrate too directly. It was a process of emails from me—giving him some ingredients, clues and books, and we went back and forth with reading lists quite a lot. He sent me back texts that I could change and edit so they fit with my images.” (Ben Rivers) Slow Action, inspired by novels such as Samuel Butler’s Erewhon, Bacon’s The New Atlantis, Herbert Read’s The Green Child and Mary Shelley’s The Last Man, embodies the spirit of exploration, experiment and active research that has come to characterise Rivers’ practice. 18 Slow Action has been co-commissioned by Picture This and Animate Projects. In association with Matt‘s Gallery. Filmtext (dt.) von Mark von Schlegell Eleven verläuft von 3 Minuten 15 Sekunden bis 12 Minuten 13 Sekunden Ost nach Quinnians Kompass in den äquatorialen Regionen des Mareassic. Eine vertriebene Klade, von ihren Nachkommen „die Erste Serie“ genannt, überquerte die Meere der Ignoranz, ignorierte zehn Inseln, die alle irgendwie nicht perfekt waren, und umrundete jenen Punkt des Globus, an dem die kleinen Berge von Eleven fröhlich auf dem Kamm eines alten Vulkans in die Höhe ragten. Manche sagen, die erste Serie habe die Mathematik mitgebracht, die einzige Erinnerung an die Alte Erde, um den Schmelztiegel für die Gründung eines Utopias zu bilden. Die zentrale Bedeutung dieser Disziplin unterscheidet Eleven von den anderen Einträgen in der Großen Enzyklopädie. Die Menschen auf Eleven glauben, dass die Klarheit ihres nächtlichen Himmels und das Klima, das es ihnen erlaubt, im Freien bequem, doch unaufdringlich nackt zu wandeln, alle Probleme der Alten Erde beseitigt hätten. Am Tag zwingt die extreme Hitze die meisten Inselbewohner dazu, sich im Schatten aufzuhalten und zu schlafen. Daher erwacht Eleven erst in der Nacht zum Leben. Der Kurator schreibt folgendes: „Da sie nicht der Täuschung des terranen Tages erlegen sind, die jene illusionäre, blau gekuppelte Traumwelt wie eine Narrenkappe über den Geist des Tageslichtmenschen setzt, nehmen die Elevenianer das Universum tatsächlich so wahr, wie es ist – nachtabhängig, erleuchtet nur durch die Nacht der Vernunft.“ Für die Elevenianer gehört es zum gesunden Menschenverstand, dass das Universum und auch sie selbst Hologramme sind. Sie benötigen keine proaktive Technologie. Es ist ihnen bewusst, dass sie Weltraumreisende auf der Erde sind. Relativ gesprochen reisen sie schneller durch das Universum als jedes von Menschenhand erbaute Raumschiff. Jede Nacht, wenn die äußere Schutzhülle ihres Schiffs ganz durchsichtig wird, erwachen sie zu reiner Entdeckung. Was die Elevenianer mit ihren zum Sterngucken entwickelten Augen im Laufe des Lebens beobachten können, ist schier endlos. Ihre Vision geht über die Fähigkeiten ihrer Sinnesorgane hinaus. Das Wetter ist von rasch aufziehenden Stürmen mit heftigen Blitzen geprägt. Die Inselbewohner, die normalerweise keine Verwendung für Elektrizität haben, bauten Leitungen, die diesen Strom zu einer großen Schüssel auf den Berg Noesis führen, um die aktuellen Radiobeobachtungen als Photonen auf die Oberfläche des Teleskops Pond zu strahlen. Die Tiefen des Universums prägen sich durch diesen Blitz auf die Augenorgane der jubelnden Bevölkerung ein und verweilen dort hinter geschlossenen Lidern stundenlang. „Es muss bemerkt werden“, schreibt der Kurator, „dass Kalklöcher oder andere gefährliche Schluchten zu den häufigsten Todesursachen auf Eleven gehören, da die sternguckenden Einwohner ständig mit ihren Köpfen in den Wolken umhergehen.“ Wenn ein Elevenianer auf einen möglichen Geliebten mit einer Gleichung wie 1 + 2x = y zugeht, soll die Gegenwart der Variablen eine Reihe potentieller Berechnungen in Gang 19 setzen. Wenn der Gesprächspartner mit einer Gleichung antwortet, die einen größeren Wert für x als für y vorschlägt – z.B. x1 = 2y – wird das als Zurückweisung verstanden. Wird die Bereitschaft, zu einem Punkt zu werden (x, y) signalisiert, kommt es zum Heiratsantrag. Wird eine Gleichung abhängig von den Neigungen der gewählten Tangenten zur Asymptote nachgezeichnet, wird dies als eine direkte sexuelle Annäherung gedeutet. Das Prinzip des möglichen Verlassens, notwendig in jedem Utopia, wird auf Eleven aufrechterhalten. Alle können jederzeit die Insel auf einem Boot verlassen. --Hiva ist der Name einer Ansammlung von Inseln und „Infinitesimalen“, die sogenannten „Society Islands“, 23 Grad 2 Minuten, 158 Grad 5 Minuten, 32 x 20 nach Quinnians Kompass in der nördlichen Hemisphäre. Wie die meisten derartigen Atolle, sind sie vulkanischen Ursprungs und bestehen aus Korallen. Der höchste Punkt befindet sich nur vier Meter über dem Meeresspiegel. Die Society Islands erstrecken sich 600 Kilometer von Norden nach Süden und bestehen aus einer Vielzahl bewohnbarer Inseln auf dicht gedrängten und komplexen Felsen, die von verschiedenen warmen und stillen Lagunen umgeben sind. Unter der Wasseroberfläche vermitteln die Steinbögen und der klare Äther den Eindruck einer prachtvollen Kathedrale von erhabener, wahrhaftig unergründlicher Dimension. Am Rand befinden sich Obsidian-Aufschlüsse im Felsen, deren Zusammentreffen mit Lava und kochendem Wasser sie gefaltet, gepresst und ihnen das unheimliche Aussehen versteinerter Haut eines uralten Körpers verliehen haben. Das Ökosystem der Oberfläche ist bestimmt durch vertriebene Spezies anderer Inseln und verlorener Kontinente. Menschen, Schweine, Hunde, Wasserratten, wieder entstehende Wälder und hoch entwickelte, modulare, sich selbst vermehrende Plastiksorten sind vorherrschend. Das Leben auf den Inseln, im Wasser und in der Luft ist so eigenartig, vielfältig, und in permanenter Entfaltung begriffen, dass sich Verallgemeinerungen verbieten. Das einzigartigste Mitglied der unüberschaubaren Society-Fauna ist Tridunculus strigirostris, eine zyklopische Bodentaube mit schimmerndem, grün-schwarzem und hellrosa Gefieder. Menschliche Ansiedlungen befinden sich vornehmlich auf 13 kleinen Hafeninseln, die einen leichten Bogen von Nordwesten nach Südosten bilden: Funafuna, Hello, Aploon, Freehold, Nut, Tau, Treehut, Flambeau, Off, Senga, Father Brown und Anus Isle, eine kleine, stinkende Sumpfinsel 70 Meilen von der nächsten Insel entfernt, die reich an Erdgas- und Klabusterbeeren-Vorkommen ist. Das Leben auf den Inseln unterliegt der Möglichkeit ständiger Veränderung. Ihre Kultur hat sich durch das Geschichtenerzählen entwickelt, am Leben gehalten durch Erzähler, die das Problem des Willens als zentrales Element individueller Erfahrung fördern. Variation, Exzentrik und Differenz sind so üblich, dass von jedem Individuum entweder die Fähigkeit oder die Weigerung, sich zu verändern, verlangt wird. Die Society Islands zeichnen sich durch Üppigkeit und Schönheit aus – Baumfarne, Schlingpflanzen und Parasiten. Es gibt vielfältige Fortentwicklungen der Kokospalme und des Brotfruchtbaums. Die wichtigsten Nahrungsmittel sind Fisch und Kokosnüsse. Kleine, sehr eigenartige Gebilde, sogenannte Flotties, stehen auf Stelzen über den farbenprächtigen Plastikflottillen. 20 Zeichen und sporadische Entdeckungen weisen auf eine frühere, unvordenkliche Zivilisation hin. Es gibt einen imperialen Gouverneur und ihm untergeordnet einen Häuptling, dem wiederum von einem hohen Rat assistiert wird; diese Funktionäre werden jährlich in Nut Harbor durch öffentliches Heben der Hand gewählt. Nur eine Minderheit, die sich für solche Dinge interessiert, nimmt daran teil. Wenn eine Insel nicht durch Krieg oder fremde Invasoren bedroht wird – und das sind seltene Vorkommnisse –, ist die Funktion der Regierung beschränkt. Sie spielt vor allem eine symbolische Rolle und dient einer wichtigen Funktion des lokalen Lebens. Der vormalige Kurator schreibt: „Das ‚Reich‘ bezieht eine besonders schwierige Minderheit der Bevölkerung in seine clubartigen Komplexitäten ein (jene, die zur Bürokratie und gesellschaftlichem Aufstieg neigen), wo ihre persönlichen Perversionen den wenigsten Schaden anrichten. Diese Ausschweifungen befeuern eine kraftvolle, subversive Gegenkultur, die bestimmt wird durch Handelsökonomie, die Liebe zum Gold, die Jagd, Entdeckungsreisen und Piraterie.“ Die Society Islands bieten schwindelerregende Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation. Entlegene kommunistische Siedlungen konkurrieren mit Feudalherren. Sie alle sind Piratenbanden, redegewandten Fremden und einer verweichlichten zentralen Autorität ausgeliefert. Die Inselbewohner sind besonders gesund und anpassungsfähig; Sie haben eine eher dunkelgrüne Hautfarbe, eine herrliche Gestalt mit gleichmäßigen Zügen und eine durchschnittliche Größe von etwa zwei Metern. Sie genießen ihr privates Leben in einem heißen Klima mit lockeren gesellschaftlichen Regeln und verbringen die Tage oft mit Erzählungen ihrer eigenen Abenteuer und denen anderer. Leben auf den Society Islands ist besonders romanhaft. Auch wenn man womöglich mit dem absurdesten Aberglauben erzogen wurde, sobald man segeln kann, steht es einem frei, „den Wind zu reiten“, seine Erlebnisse in die sich ständig verändernde Welt einzuschreiben und deren Veränderungen wiederum auf den Tafeln des Geistes aufzuzeichnen. Die Situation auf Hiva ist besonders interessant hinsichtlich der Natur der Inseln und der Frage, ob diese in unserer Großen Enzyklopädie ein grundlegendes Paradoxon bilden. Als Insel bietet sie sich für die Umsetzung eines utopischen Modells an. Doch es ist auch eine Insel, die von ihren Proportionen her ungünstig ist, um das Utopia aufrechtzuerhalten und fortzuführen. Ein Inselbewohner ist sich auf verlegene Weise der Möglichkeit anderer Inseln und der Begrenzungen seiner Welt bewusst. Neue Utopias sind überall möglich. Auf Hiva ist Suizid die normale Art zu sterben. Jeder andere Tod wird als unglücklich betrachtet. Nur durch die Wahl des Augenblicks und der Methode des Todes besiegelt das Individuum das Ende der epischen Erzählung seines Lebens und bietet den Schlüssel zur Nacherzählung. --Kanzennashima ist die einzige Insel dieses Streifens aus Überbleibseln, 13 Minuten 4 Sekunden, 1 Minute 10 Sekunden nach Quinnians Kompass, die jemals in die Große Enzyklopädie Eingang fand. Offensichtlich galt während den beiden Epochen der Laurii und danach die gesamte Region als unbewohnbar. Man weiß bis heute nicht, ob der Korrespondent, ein gewisser Tadashi Harai, jemals existiert hat. Harais Eintrag wurde von einem Bibliothekar des 13. 21 Quaeternurnal in einem Kanister nahe Ickles‘ Prow gefunden, der bereits vierhundert Jahre lang umhergetrieben war. Agenten berichten, dass die Insel mit ihren vielen Oberflächenmerkmalen des selbsternannten „Verrückten“ bis heute nicht existiert. Die Insel zeichnet sich immer noch durch ihren großen Schutzdamm aus, der ihr dabei half, mit ihren „Ruinen von Ruinen“, die Harais Projekt zur Verfügung standen, die Jahrtausende zu überstehen. Architektonische Aufbauten wie sie Harai beschrieb, „gerastert vom Verfall ausgehöhlter, geometrischer Träume“, bestimmen nach wie vor ihr „schädelartiges Aussehen“. Trotz der archäologischen Schwierigkeiten weist die Oberfläche immer noch Zeichen vergangenen Kohleabbaus auf. Kohle befindet sich in ihren Adern und verläuft unter dem Meer hinüber zu anderen Inseln. Wir können daher annehmen, dass Harais Behauptung einer „unendlich geheimnisvollen und unwahrscheinlich komplizierten Tunnelwelt“ unter den toten Plateaus ihrer Entstehung plausibel ist. Harais Utopia hängt von vielen zentralen Kategorien ab. Kanzennashima ist eine zufällig entdeckte Insel. Harai, ein U-BootFahrer und der einzige Überlebende eines heute vergessenen Konflikts, landete im Alter von 43 Jahren als Schiffbrüchiger an ihrer Küste. Umgeben von quasi-pelagianischem Seetang, mit fruchtbarer Erde, gedüngt von toten Generationen und ihren Abwässern, fand er genügend Eiweiß zum Überleben, ohne als Bewohner dekadent zu werden. Utopia ist antimenschlich in dem Sinne, dass Harai der einzige Bewohner war, aber humanistisch in dem Sinne, dass es die menschliche Geschichte seiner Architektur und seiner physischen Entwicklung ist, in dem Harai seinen idealen Staat anstrebte. „Wir beziehen Kanzennashima Island als ein exemplarisches Utopia ein“, schreibt der Kurator, „weil, und nicht obwohl, es verstrickt ist mit dem, was andere Disziplinen als ‚Geisteskrankheit‘ bezeichnet haben.“ In dem großartigen Staat, den dieser Verrückte gegründet hat, haben wir endlich seine Hoffnung gefunden. An dieser Stelle zitiert der Kurator Harais Bericht ausführlich: „Utopia ist per definitionem kein Ort. Man kann sich ihm nur annähern, ihn nie erreichen. Utopia kann nicht in der Zukunft liegen, auch kann es der Gegenwart nicht bekannt sein. Utopia ist die Vergangenheit. Nicht die Vergangenheit als goldenes Zeitalter, sondern die Vergangenheit als Ruinen ihrer eigenen Ruinen. Unwiederholbar, deren Wiederherstellung sich mit der Umkehr des Flusses der Zeit ereignen kann, durch die Thermodynamik zu einer Entropie gemildert. Eine Entropie, die sich rückwärts gegen sich selbst bewegt. Wir sehen ihr Versprechen. Wir nutzen die Zeit, um unser Utopia zu errichten. „Ruinen von Ruinen, die bald zu Staub werden. An warmen Tagen bemühen wir uns, sie wieder zusammenzustückeln, und an kalten und windigen Tagen werden neue Löcher in das Gesicht der Vergangenheit gebohrt. Wir kehren zurück und errichten eine andere mögliche Artikulation, große Tore zu Reichtum und Freiheit aus den Mauern von dem, was einst eher ein Käfig gewesen ist. Wir haben Diamanten, ganze Tunnel davon glitzern unter dem Meer. Wir haben Diamanten, um Diamanten zu schneiden, und wir können den uralten Beton zu etwas zusammenfügen, das mehr ist, als es vielleicht war. Der Diamant, wenn unsere Reflektoren die Sonne tief in die Innereien meiner Insel gebracht haben, zersplittert uns unzählige Male. Wir sind unsere eigenen Besucher und Geister und beleuchten den Ort, den wir sehen. An den meisten Tagen sehen wir fremde Fußstapfen, alleine auf unserer geliebten Insel. Wir durchkämmen die Überbleibsel und kristallisieren merkwürdige Erinnerungen 22 aus den Haufen, Erinnerungen an das, was noch nicht gewesen ist, was aber immer noch gewesen sein mag. Veränderung ist permanent hier, und bald schwimmen wir alleine und in Gesellschaft gegen sie an, so, wie es sich der auf wunderliche Weise ständig bröckelnde Beton erdreistet. Auf unserer starren Insel sind wir nicht von der Natur getrennt. „Während wir daran arbeiten, unser Verderben rückgängig zu machen, und daraus machen, was es träumte beinahe zu sein, nähern wir uns dem glitzernden Reich des kohlegebackenen Diamanten und der Kuchen aus Insektenfleisch, der Einsamkeit und der Geselligkeit, des gelebten Paradoxons, das nicht auf Abstand gehalten wird. Wir überleben zwischen den Elementen unseres eigenen Untergangs. Das Wort des Königs ist unser Befehl. Unsere Freiheit besteht darin, dieses Wort zu kontrollieren. Wir lieben und hassen in der Reinheit der wahren Selbsterkenntnis. Wir glauben und tauschen aus, unser Steinund Sandgesicht mit den eingeschriebenen Zeichen, die von der Zeit stammen, schwappen an unsere gemauerten Küsten und brechen unweigerlich. Unser Diamant ortet die Spuren der Klänge, die einst durch unsere sonnenvergewaltigten Innenräume prallten, und wir sprechen mit jenen, die nicht wissen, was wir sind. Wir wissen nichts von dir und deinen Träumen, aber wir wissen, dass sie nicht dir gehören. Wir sind jenseits des Todes, denn wir sind bereits Geister, und selbst jetzt leben wir gegen das Skelett unseres Entstehens mit diesen unbestreitbaren und unerbittlichen Worten in deine Vergangenheit hinein…“ --Es ist vielleicht ungewöhnlich, eine Zivilisation, deren Steinalleen mit Abflüssen für die einfache Beseitigung von Blut gesäumt sind, als ein Utopia zu betrachten, doch der Schöpfer erbittet diesen Status für die Insel. Somerset ist der gebräuchliche Name für diese größte Insel des westlichen Teils der „Proliferation of Islands“, die nach der Fourth Great Flood Epoch entstanden ist. Sie reichen von 51 Minuten 26 Sekunden bis 55 Minuten 21 Sekunden West nach Quinnians Kompass. Sie heißt mangels Alternative Somerset, doch meist werden andere Namen benutzt, so eifrig sind ihre Politiker. Historisch gesehen zeichnet sich Somerset durch ihre leidenschaftliche politische Kultur aus. Man kann sagen, ihre Zivilisation existiert permanent in einem Zustand der bevorstehenden, stattfindenden oder gerade unterdrückten Revolution. Das Territorium von Somerset besteht aus seiner Provinz, dem Somerset Basin, und 32 Landzungen: Ballyhister, Van Hoe, Cavan, Milborne Port, Hippolyte, Fermanagh, Stillburn, Kan, Hoplite, Fairport, Zeed, Frilm, Leeth, Loth, Velmen‘s Land, Crenoah, Milton, Detroit, Waxford, Fanner‘s Freehold, Gullsneck, Pillow, Rodon, Slanland, Munster, Clearport, Kent, Gelo, Ironville, Ylicis, John’s Landing und Indian Queens. Der Legende nach wurden vier Baumstämme, die Überbleibsel vier unterschiedlicher Katastrophen während eines heftigen Sturms, am gleichen Tag an vier dieser Landzungen angeschwemmt. In jedem Stamm befand sich ein menschlicher Säugling und ein Buch. Es waren Trotzkis Permanente Revolution, Rousseaus Bekenntnisse, Zitskos No Frontier und Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Woman. Die Bewohner jeder Landzunge glaubten zu der einen oder anderen Zeit von einem dieser vier Säuglinge abzustammen. Es gibt keine Religion auf Somerset, es sei denn sie landet dort infolge eines Schiffbruchs, dann wird sie schnellstens beseitigt. Diktatoren, Könige, Barden werden verehrt, aber nur zum Schein. 23 Politischer Unfrieden hält die Bevölkerung im Griff. Es wird erwartet, dass alle Männer und Frauen im Alter von 42 mit der Axt in der Hand in den Kampf ziehen und ihr Leben für einen Traum opfern. Sie können aber noch viele Jahre Leben, denn im Kampf sind es nur die Älteren, die ihr Leben riskieren. Die jungen Menschen erfüllen die Pflichten der täglichen Verwaltung, der Politik und der Macht. Noch nicht durch Erfahrung erschöpft, sind sie immer tollkühn, geleitet von Spürsinn, Sexualität, Ehrgeiz und Mut. Der Krieg nimmt unterschiedliche Gestalten an. In manchen Zeiten ist er voller Pomp und Glorie, in anderen geprägt vom Kampf ums schiere Überleben und von erbittertem Terrorismus. Da es keinen Schwefel gibt, gibt es keine Schusswaffen. Festungen begrenzen die Schlachterei. Die Auseinandersetzungen werden oft auf Sportereignisse reduziert, bei denen es nur ein oder zwei Todesfälle gibt, von denen berichtet wird oder die hinterher vorgetäuscht werden. Auf alle Fälle werden nach jedem größeren Kampf die Getöteten auf großen Büffets bei Feierlichkeiten verspeist. Hochkultur und populäre Kultur sind auf allen Ebenen der Gesellschaft eng verwoben – inmitten des revolutionären Chaos. Obwohl es mehr als genug Glimmer in den felsigen Teilen der Insel gibt, sieht man im ganzen Land nirgendwo Fensterscheiben, zu leicht könnten sie bei den ständigen Unruhen zu Bruch gehen. Die Unvorhersehbarkeit des Wetters und die Unlust zu Bauen führen zu einer schroffen Härte, der bestimmende Charakterzug aller menschlichen Bewohner. Eines der Paradoxa, das in die Idee von Utopia verpackt ist, besteht darin, dass sie zugleich das Ideal für den Staat und für das Individuum erfüllen muss. Meist führt die Notwendigkeit des Ersteren zum Untergang. Kein Utopia ist ein Gefängnis. Daher heißt es, dass hin und wieder ältere Individuen primitive Boote aus Papyrusrinde und Häuten bauen und auf Nimmerwiedersehen wegsegeln. Keiner hindert sie daran. „Des einen Hackblock ist des anderen Guillotine“, schreibt der berühmte Satiriker Grugg aus Somerset. „Meine Vision einer ordentlich funktionierenden Gesellschaft und meine Rolle darin stimmt vielleicht nicht mit deiner überein, besonders wenn deine Klade von einem anderen Bund als meine abstammt. Doch wie wunderbar ist es, wenn sie doch übereinstimmen! Über Kladen hinweg! Der Geschmack von Veränderung liegt in der Luft! Wenn Brüder, Schwestern und Bürger im Chaos der Geschichte zueinander finden und gemeinsam Widerstand leisten, wird der von ihnen gemachte Staat sich spontan um sie herum entwickeln, und in diesem Moment gehört ihnen die ganze Welt. Dann, mit erhobener Axt und dem noch frischen Blut eines Bürokraten auf meiner Wange, bin ich unendlich stark, unendlich jung, unendlich frei und ein veritabler Gott!“ 24 THE CREATION As we saw it 2012, 14 min Ben Rivers, The Creation As We Saw It, 2015, filmstill 16mm, Farbe, Schwarzweiß / Color, black & white 25 Drehbuch, Kamera und Schnitt / Script, camera, cut Ben Rivers Soundaufnahmen / Sound recording Ben Rivers, Ben Russell Ein domestiziertes Wildschwein ruht auf dem Boden. In der Nähe trocknet Wäsche auf einer gewebten Matte. Kinder schauen neugierig und misstrauisch in die Kamera. Das Schwein lässt sich tätscheln und grunzt zufrieden. Drei mythische Geschichten, wie sie von den Bewohnern des melanesischen Inselstaats Vanuatu im Pazifik erzählt werden, werden vor einer Kulisse aus schwarz-weißen Filmmaterial von dem Ort des Ursprungs der Geschichten nacherzählt. Der Film erforscht die Mythen und Legenden des Archipels und befasst sich insbesondere mit dem Ursprung des Menschen, warum Schweine so aussehen, wie sie aussehen und wie es dazu kam, dass ein Vulkan sich dort befindet, wo er sich befindet. Er enthüllt die Geheimnisse hinter der Erschaffung von Mann und Frau, die Gründe, warum Schweine auf allen Vieren gehen, und wie Vulkane entstanden sind. Der Film schildert freimütig eine Schöpfungsgeschichte aus einem Stammes-Dorf im Südpazifik. Gedreht auf 16mm und in schwarz und weiß vermittelt er den Eindruck eines Lehrfilms aus dem frühen 20. Jahrhundert, ein Eindruck, der immer dann gebrochen wird, wenn Dorfbewohner mit Mobiltelefonen zu sehen sind. Schöpfungsmythen“, kommentiert Rivers, der die lokale Bevölkerung sowohl mit domestizierten Tieren als auch mit moderner Technik dokumentiert. Zugleich ist er bereit, eine möglichst breitere Dimension einer ansonsten sehr lokalen Sicht auf das Universum stillschweigend anzudeuten. Der Film ist teilfinanziert worden durch Film London Artist‘s Moving Image Network und Rouge International, Paris, entstanden durch die Beteiligung von Chief Johnson, Chief Isak Wan, dem Team von FONA, den Bewohnern der Insel Ambrym und des John Frum Dorfes, Tanna, Republik Vanuatu. A domesticated wild pig rests on the ground. Nearby, laundry is drying on a woven mat. Children look curiously and distrustfully into the camera. The pig lets itself be nuzzled and grunts contentedly. Three mythical stories as told by the inhabitants of the Melanesian island state of Vanuatu in the Pacific Ocean, set against a backdrop of black-and-white footage of the place of the stories‘ origin. The film explores the myths and legends of the archipelago, dealing in particular with the origin of man, why pigs look like they do and how a volcano came to be where it is. It reveals the mysteries behind the creation of man and woman, the reasons why pigs walk on all fours, and how volcanoes were made. The film candidly depicts a creation story from a tribal village in the Es ist nicht notwendig weitere Fragen zu South Pacific. Shot on 16mm film, in black and stellen um den Sachverhalt zu ermitteln. Es white, it gives the impression of an educational reicht aus zu beobachten (vielleicht einfach nur film from the early 20th century, an impression das Trocknen von Wäsche und die ungläubigen which is broken when you see the villagers Blicke von Kindern) und zu zuhören (vielleicht using mobile phones. die Schöpfungsgeschichten). Diejenigen (Geschichten), die von den Bewohnern des It isn’t necessary to keep on asking questions Inselstaats Vanuatu überliefert sind, sind in order to ascertain the facts. It’s enough andere als bei uns. to observe (perhaps drying laundry and the „Was ich mag ist, dass sie nicht mehr disbelieving looks of children) and to listen oder weniger absurd sind als andere (perhaps to creation stories). Those handed 26 down by the inhabitants of the island country of Vanuatu are entirely different from ours. „What I like is that they are no more or less absurd than other creation myths,” comments Rivers, who documents the local inhabitants with both domesticated animals and modern technology. At the same time he is prepared to imply a possible wider view of an otherwise very local perspective on the universe. Partly funded by Film London Artist‘s Moving Image Network and Rouge International, Paris. Made with the participation of Chief Johnson and Chief Isak Wan and the people of Fona, Ambrym and John Frum Village, Tanna, the Republic of Vanuatu. Filmtext (dt.) von Ben Rivers (00:05) Die Schöpfung, wie wir sie sahen (00:11) Teil 1 (01:16, Titelkarte I) Einst fiel eine Frucht von einem Baum auf die Kante seiner Wurzel, die Frucht wurde in zwei Teile gespalten, wobei die Hälften jeweils auf eine Seite der Wurzel fielen. Daraus erwuchsen ein Mann und eine Frau. (02:14, Titelkarte II) In der Nähe des Baums wuchs ein Bambus. Im Wind rieb er gegen einen trockenen Ast. So entstand das Feuer. Der Mann nahm das Feuer, verbrannte sich zuerst und entzündete dann trockene Zweige. (03:35, Titelkarte III) Die Frau roch das Feuer, sie blickte über die Wurzel, sah den Mann und fragte ihn, was das sei. Er sagte, es sei Feuer, und gab ihr etwas davon. Seitdem hatten der Mann und die Frau immer getrennte Feuer. Später heirateten sie. 27 (04:32) Teil 2 (04:49, Titelkarte IV) Es heißt, irgendwann einmal liefen Menschen wie Schweine und Schweine liefen aufrecht. Die Vögel und einige Reptilien versammelten sich und sprachen darüber. (05:23, Titelkarte V) Die Echse sagte, sie finde, das Schwein sollte auf allen Vieren gehen und der Mensch aufrecht. Der Uferwaldsänger war nicht dieser Meinung, also beschloss die Echse eine List. (06:09, Titelkarte VI) Schließlich kletterte die Echse auf einen Kokosbaum, ließ sich auf den Rücken eines Schweins fallen und zwang es, sich zu bücken und zu kriechen. (06:53, Titelkarte VII) Seitdem kriechen die Schweine und die Menschen gehen aufrecht. Die erste der menschlichen Rasse war eine Frau, dann kam ihr Sohn. Aus ihnen erwuchs die menschliche Rasse. (07:53) Teil 3 (09:41, Titelkarte VIII) Vor langer Zeit, als der Vulkan in einem anderen Land lebte, regnete es ununterbrochen und das Meer stieg so stark an, bis es drohte, alles zu überschwemmen. Alle ertranken, bis auf die wenigen, die auf die Spitze des Vulkans kletterten. (11:05, Titelkarte IX) Der Vulkan fürchtete sein großes Feuer würde erlöschen, er trennte sich vom Land und suchte ein neues Zuhause auf höherem Grund. Er segelte auf der Flut nach Tanna, und sein Feuer war beinahe erloschen. (11:45, Titelkarte X) Der Vulkan lief über ganz Tanna auf der Suche nach einem Ort, an dem er leben konnte. Er begegnete zwei alten Damen, Sabai und Maoga, die Laplap in einem sehr heißen Feuer kochten. (12:22, Titelkarte XI) Er war so kalt, dass sie ihn baten, näher an die heiße Erde zu rücken, die das Laplap bedeckte. Sie gaben ihm Wasser zu trinken. Das führte zu einer plötzlichen Explosion, wodurch die beiden alten Damen bedeckt und zum Yasur-Vulkan wurden. 28 29 Krazy Kat, New Year Rahmenprogramm SIDE PROGRAM Eröffnung der Ausstellung / Opening of the exhibition Freitag / Friday 22.4.2016, 19 Uhr / 7pm Redner/ Speaker Christina SchmitzMorkramer, Bettina Steinbrügge Kurzfilme / Short films Künstlergespräch / Artist Talk Samstag / Saturday 23.4.2016, 15 Uhr / 3 pm Ben Rivers im Gespräch mit / in conversation with Bettina Steinbrügge und / and Mark Peranson (Festival del Film Locarno) Depression in the Bay of Bengal Mark LaPore, 1996, 29 min Kuratorenführung / Curator‘s guided tour Donnerstag / Thursday 5.5.2016, 17 Uhr / 5 pm Donnerstag / Thursday 22.05.2016, 15 Uhr / 3 pm von / by Bettina Steinbrügge Filmprogramm kuratiert von / Filmprogram curated by Ben Rivers für / for METROPOLIS (Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg) Montag / Monday 13.6.2016, 19 Uhr / 7 pm Study of an Island Rudolf Thome and Cynthia Beatt 1979, 190 min Kuratorenführung / Curator‘s guided tour Sonntag / Sunday 19.06.2016, 15 Uhr / 3 pm von / by Bettina Steinbrügge Filmprogramm kuratiert von / Filmprogram curated by Ben Rivers für / for METROPOLIS (Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg) Montag / Monday 20.6.2016, 19 Uhr / 7 pm 30 Let us Persevere in What We Have Resolved Before We Forget Ben Russell, 2013, 20 min Fake Fruit Factory Chick Strand, 1986, 21.41 min Children‘s Magical Death Timothy Asch & Napolean Chagnon 1974, 8 min Filmprogramm / Filmprogram METROPOLIS (Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg) Montag / Monday 27.6.2016, 19 Uhr, 7 pm Two Years at Sea Ben Rivers, 2011, 88 min Wöchentliche Führungen / Weekly guided tours Donnerstags / Thursdays, 17 Uhr / 5 pm IMPRESSUM COLOPHON Bettina Steinbrügge Kuratorin / Curator Booklet Bettina Steinbrügge, Anna Nowak Readaktion / Copy Editing Karl Hoffmann Übersetzung / Translation Robert Görß Technischer Leiter / Technical Manager [email protected] Heinz Völlen, Tobias Sandberger, Joshua Sassmannshausen, Björn Westphal, Priscilla Vergissmeinnicht, Jeppe Rohde Aufbauteam / Installation Team Brigitte Skerra Mitgliederbetreuung / Members [email protected] Lilli Ruopp Praktikantin / Intern Team Kunstverein in Hamburg Bettina Steinbrügge Direktorin / Director Tobias Peper Kuratorische Assistenz / Curatorial Assistance [email protected] Corinna Koch Ausstellungsmanagement / Exhibition Management [email protected] Anna Nowak Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Assistenzkuratorin / Public Relations, Assistant Curator [email protected] [email protected] Emek Ulusay Kaufmännische Leiterin / Head of Finance [email protected] 31 Maike Nuppnau, Florentine Pahl Kasse / Visitors Service Antje Klein Ehrenamt / Volunteering Frauke Willems Förderkreis / Supporters [email protected] Florian Berger, Stefanie Busold Harald Falckenberg, Ernst Josef Pauw Christina Schmitz-Morkramer Klaus Schockmann, Christoph Seibt Andreas Siebold, Timm Weber Vorstand / Board © the artist Courtesy the artist & Kate MacGarry Gallery Mit freundlicher Unterstützung der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und des British Council / With the kind support of the Culture Department of the Free and Hanseatic City of Hamburg and the British Council kunstverein.de Kunstverein in Hamburg Klosterwall 23 20095 Hamburg T +49 40322157 F +49 40322159 [email protected] www.kunstverein.de