ben rivers islands - Kunstverein in Hamburg

Transcrição

ben rivers islands - Kunstverein in Hamburg
Ben Rivers,
There Is A Happy Land Further Awaay, 2015 filmstill
23.4.—3.7.2016
BEN RIVERS
ISLANDS
2
Ben Rivers,
Somerset Clade No. 1-5, 2010, photographs
„Ich komme von einer seltsamen Insel mit
einer langen und wechselvollen Geschichte,
mit sonderbaren Gewohnheiten und einer
langen Tradition literarischer Entdecker
düster-optimistischer Utopien. Ich habe
mich von Ideen anregen lassen und Reisen
unternommen, sowohl traumartige wie reale,
um gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten
für Utopias auf Inseln zu entdecken. Was
bedeutet Utopia? Darauf gibt es zweifellos
nicht nur eine Antwort.
The Creation As We Saw It (2012) und
There Is A Happy Land Further Awaay
(2015), beide in der Republik Vanuatu
aufgenommen, entstanden in so etwas wie
einem zeitgenössischen Utopia, in dem
sich die Menschen entschlossen haben,
durch die Ablehnung des kapitalistischen,
individualistischen Denkens einen ganz
spezifischen Weg zum Glück zu verfolgen.
Diese Filme sind eine Fortsetzung von Slow
Action (2010), einem Bericht über vier
Inselgesellschaften der Zukunft. Es sind fiktive
Welten, die existierende Orte beschreiben
und verwandeln. Sich zeitlich von Slow Action
(2010) zurückbewegend, betrachtet The
Creation As We Saw It (2012) die jüngere
Vergangenheit des ethnografischen Films
und die weit zurückliegende, mythische
Vergangenheit des Ursprungs von Dingen,
Menschen, Vulkanen aus einer gegenwärtigen
Perspektive. In diesen Filmen werden
Geschichten, Rituale und Berichte zwischen
Menschen ausgetauscht, denn dafür sind
Geschichten da, nicht, um sie für sich zu
behalten, sondern, um sie zu teilen. Im Kern
all dieser scheinbaren Dokumente liegt die
Unmöglichkeit jemals exakt dokumentieren
zu können. Die Figur des unzuverlässigen
Geschichtenerzählers und Beobachters reist
durch alle drei Werke, zuletzt in There Is A
Happy Land Further Awaay (2015) in dem die
Erzählerin verzweifelt versucht, ihre Insel zu
beschreiben, und dabei durch Schilderungen
eines entfernten, letztlich ungreifbaren Landes
taumelt.“ (Ben Rivers, 2016)
3
‘I come from an island, an odd one with a long
and checkered history, with strange habits
and a history of literary explorers of darkly
optimistic utopias. I have fuelled on ideas and
taken trips, both oneiric and actual, to discover
present and future possibilities for island
utopias. What does utopia mean? There is
certainly not one answer.
The Creation As We Saw It (2012) and There
Is A Happy Land Further Awaay (2015), both
shot in the Republic of Vanuatu, were made in
something like a contemporary utopia, where
people having chosen very specifically to
follow a particular path to happiness, through a
rejection of encroaching capitalist, individualist
thinking. These films follow on from Slow
Action (2010) – an account of four future
islands societies. These are fictional worlds
that observe and transform existing places.
Temporally moving in the opposite direction
from Slow Action (2010), The Creation As
We Saw It (2012) looks back to the past; the
recent past of ethnographic filmmaking, and
the deep mythic past of the origins of things,
humans, volcanoes, but with an eye embedded
in the present. In these films, stories, rituals
and accounts are passed around between
humans - this is what stories are for, not to hold
to oneself but to share. At the heart of all these
seeming documents is the impossibility of ever
being able to accurately document. The figure
of unreliable storytellers and observers travels
across all three works, most recently with
There Is A Happy Land Further Awaay (2015),
where the narrator struggles with her attempt
to describe her island surroundings, faltering
her way through descriptions of a far off land
which is ultimately ungraspable.’
(Ben Rivers, 2016)
4
Ben Rivers, Islands, Ausstellungsplan
EINFÜHRUNG
den Ausstellungsraum übertragen und dem
Publikum gleichsam einen Rückzugsort abseits
In seiner ersten institutionellen
des eigenen Alltags bieten. Alle drei Arbeiten
Einzelausstellung in Deutschland konzentriert nutzen den Blick in die räumliche und zeitliche
sich Ben Rivers auf abgeschiedene Erdteile
Ferne für eine Reflexion über unser Hier und
mit Bevölkerungsgruppen, die er hinsichtlich
Jetzt. There Is A Happy Land Further Awaay
ihrer isolierten und utopischen Sozialisation
(2015) verbindet Landschaftsaufnahmen
untersucht.
aus dem südpazifischen Inselstaat Vanuatu
mit Henri Michaux’ melancholischem
Rivers’ Filme verbinden LandschaftsGedicht I Am Writing To You From A Far
und Porträtaufnahmen mit Methoden
Off Country. Rivers’ Aufnahmen entstanden
der Ethnologie und Elementen der
kurz bevor Vanuatu im März 2015 durch den
Reisedokumentation, ohne sich dabei allzu
Tropensturm Pam verheerend zerstört wurde.
sehr an die jeweiligen Genrevorgaben zu
Der Film unterstreicht die fortwährende
halten. Im Zentrum seiner filmischen Essays
Veränderung unserer Umwelt und ihre
stehen Menschen und Lebensentwürfe in den
globalen Konsequenzen. Auch The Creation
Randgebieten unserer Zivilisation und jenseits As We Saw It (2012) entstand auf Vanuatu
unserer gesellschaftlichen Konventionen.
und illustriert drei mündlich überlieferte
Analog zur Betrachtung des Kinos als in sich
Legenden der Einwohner; eigenwillige
geschlossener Erlebnisraum, an dem soziale
Schöpfungsgeschichten über den Ursprung
Normen und Vorstellungen nur bedingt greifen, der Menschen, den Weg des Feuers und
versteht Rivers seine filmischen Arbeiten als
darüber, warum Schweine auf vier Beinen
meditative Porträts abgeschiedener Orte und
laufen. Slow Action (2010) verbindet semihermetischer Welten. Für seine Aufnahmen
dokumentarisches Filmmaterial aus Lanzarote,
nutzt er 16-mm-Kameras, deren Filme er
Polynesien, Japan und Rivers’ Geburtsort
häufig selbst von Hand entwickelt. Diese
Somerset mit einer trocken vorgetragenen
Nähe zum Material und dessen fast greifbare
Erzählung über eine mysteriöse Zivilisation
physische Präsenz zeigen sich in seinen
der Zukunft. Der vom amerikanischen
Arbeiten, die ihren eigenen handwerklichen
Science-Fiction-Autor Mark von Schlegell
Herstellungsprozess in die Narration mit
geschriebene Text entfaltet in Kombination
einbringen. Darüber hinaus nimmt Rivers
mit Rivers’ Bildsprache eine ambivalente
subtile Eingriffe in der Postproduktion vor
Stimmung zwischen surrealem Witz und
und unterlegt das Filmmaterial mit poetischen nachhaltiger Beunruhigung.
Tonspuren, die einen Bruch mit der visuellen
Kontemplation erzeugen. Auf diese Weise
Ben Rivers (*1972, Somerset, England)
entrückt Rivers seine Filme immer wieder
lebt und arbeitet in London. Er hat an der
ihrer utopischen Fiktion und erdet sie in
Falmouth School of Art zunächst Bildhauerei
der Realität, deren Auswirkungen auch die
studiert, bevor er sich der Fotografie und dem
abgeschiedenen Eilande und ihre Bewohner
Super8-Film zuwandte. Nach dem Studium
betreffen. Längst prägen Belastungen wie
begann er mit 16mm-Filmen zu arbeiten, in
El Nino, die Verschmutzung der Meere und
denen er entlang der feinen Trennlinie von
Auswirkungen der globalen Handelsrouten die Dokumentation und Fiktion arbeitet. Rivers
Umwelt dieser vermeintlichen Paradiese.
ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet
worden: EYE Art & Film Prize, 2016,
Die Ausstellung Islands besteht aus drei
FIPRESCI Internationaler Kritikerpreis des
großformatigen Videoinstallationen, welche
68. Filmfestival in Venedig für seinen ersten
die narrative Dramaturgie der Arbeiten in
Spielfilm Two Years At Sea; der Baloise
5
Kunstpreis auf der 42. Art Basel, 2011 und
den Paul Hamlyn Foundation Award for
Artists, 2010. Er hat zuletzt ausgestellt: The
Two Eyes Are Not Brothers, The Whitworth,
Manchester, 2016, Einzelausstellung, Camden
Arts Centre, London, 2015, The Two Eyes Are
Not Brothers, Artangel Open Commission
2013, Television Centre, White City, London,
2015, Slow Action, Hepworth Wakefield,
2012; Sack Barrow, Hayward Gallery, London,
2011; Slow Action, Matt’s Gallery, London und
Gallery TPW, Toronto, 2011; A World Rattled
of Habit, A Foundation, Liverpool, 2009.
Die Ausstellung ist eine Kooperation mit
der Triennale di Milano und dem Camden
Arts Centre. Zur Ausstellung erscheint eine
Publikation bei Mousse Publishing.
INTRODUCTION
In his first institutional solo exhibition in
Germany, Ben Rivers focuses on secluded
parts of the world and its population groups
which he examines in regard to their isolated
and utopian socialization.
Rivers’ films combine landscape and portrait
shots with ethnological methods and elements
of travel documentations, without strictly
adhering to the respective genre rules. His
filmic essays focus on people and life plans
in marginal regions of our civilization and
beyond our societal conventions. In analogy
to regarding the cinema as a self-contained
experiential space to which social norms and
notions only conditionally apply, Rivers grasps
his filmic works as meditative portrayals of
secluded places and hermetic worlds. For his
recordings, he uses 16mm cameras, often
developing the film by hand. This closeness to
the material and its almost tangible physical
presence are reflected in his works that
integrate their manual production process
in the narration. Moreover, Rivers subtly
intervenes in the postproduction phase and
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sets the film to poetic audio tracks that disrupt
the visual contemplation. In this manner,
Rivers repeatedly distances his films from
their utopian fiction and grounds them in a
reality, whose effects do not even leave the
most remote islands and their inhabitants
untouched. Environmental phenomena such as
El Nino, polluted oceans, and also the impact of
the global trade routes have long left their mark
on the environment of the supposed paradises.
The exhibition Islands consists of three
large-format video installations that convey
the narrative dramaturgy of the works into the
gallery space and offer the audience a haven
separated from their daily lives, so to speak.
All three works employ the view to a spatial
and temporal distance in order to reflect upon
our own here and now. There Is A Happy Land
Further Awaay (2015) combines landscape
shots from the South Pacific island state of
Vanuatu with Henri Michaux’ melancholic poem
I Am Writing To You From A Far Off Country.
Rivers’ recordings were made shortly before
Vanuatu was devastated by the tropical storm
Pam in March 2015. The film underlines the
ongoing changes to our environments and
their global consequences. The Creation As
We Saw It (2012) also originated on Vanuatu
and illustrates three legends of the inhabitants
handed down by oral tradition; idiosyncratic
creation stories about the origin of humankind,
the path of fire, and the reason why pigs walk
on four legs. Slow Action (2010) links semidocumentary film material from Lanzarote,
Polynesia, Japan and Rivers’ birthplace
Somerset with a dryly recited story of a
mysterious future civilization. The text written
by the American science-fiction author Mark
von Schlegell gives rise to an ambivalent
atmosphere between surreal witticism and
profound vexation in combination with Rivers’
picture language.
Ben Rivers (*1972, Somerset, England) lives
and works in London. Rivers studied Fine
Art at Falmouth School of Art, initially in
sculpture before moving into photography and
super8 film. After his degree he taught himself
16mm filmmaking and hand-processing. His
practice as a filmmaker treads a line between
documentary and fiction. Rivers has been
the recipient of numerous prizes including:
EYE Art & Film Prize, 2016, FIPRESCI
International Critics Prize, 68th Venice Film
Festival for his first feature film Two Years
At Sea; the Baloise Art Prize, Art Basel 42,
2011; Paul Hamlyn Foundation Award for
Artists, 2010. Recent exhibitions include: The
Two Eyes Are Not Brothers, The Whitworth,
Manchester, 2016, Solo Exhibition, Camden
Arts Centre, London, 2015, The Two Eyes Are
Not Brothers, Artangel Open Commission
2013, Television Centre, White City, London,
2015, Slow Action, Hepworth Wakefield, 2012;
Sack Barrow, Hayward Gallery, London,
2011; Slow Action, Matt’s Gallery, London and
Gallery TPW, Toronto, 2011; A World Rattled of
Habit, A Foundation, Liverpool, 2009.
The exhibition is a cooperation project with
the Triennale di Milano and the Camden Arts
Centre. A publication by Mousse Publishing
will appear in conjunction with the show.
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THERE IS A HAPPY LAND FURTHER
AWAAY
2015, 20 min
Ben Rivers,
There Is A Happy Land Further Awaay, 2015, filmstill
Super16 übertragen auf / transferred to HD, Farbe, Schwarzweiß / Color,
black & white
8
Kamera und Tonaufnahmen / Camera and
sound recording Ben Rivers, Ben Russell
Erzählung / Narration Yuki Yamamoto
Produziert von / Produced by Ben Rivers,
Ben Russell
There Is A Happy Land Further Awaay setzt
sich aus Filmmaterial zusammen, das während
einer Reise zu der abgelegenen subtropischen
Insel Vanuatu im Südpazifik aufgenommen
worden ist. Im März 2015, kurz nach Rivers
Besuch, wurde Vanuatu vom Zyklon Pam
zerstört, der große Teile der Insel verwüstete.
Rivers 16mm-Filmmaterial wird so zu der
Aufzeichnung eines Ortes, der sich danach
unwiderruflich verändert hat. Auf der Tonspur
des Films hört man die Stimme einer Frau,
die zögerlich Henri Michaux’s Gedicht I
Am Writing To You From A Far Off Country
liest, einschließlich all der Versprecher und
Wiederholungen der Person, die den Versuch
unternimmt, über ein gelebtes Leben in der
Ferne zu berichten.
Gedreht auf 16mm und dann digitalisiert,
verwandeln sich die Darstellungen von
aktiven Vulkanen, Unterwasser-WW2 Schutt,
spielenden Kindern und zerstörten Booten
in immaterielle digitale Rückerinnerungen
der Insel. Bilder des erodierten Landes
verschmelzen mit dem naturgemäß sich
langsam selbst zerstörenden Film und
verfallen bis zur Unkenntlichkeit. Der Film
beleuchtet die sich verändernde Umwelt
und die daraus resultierenden ökologischen
Katastrophen, die mittlerweile viele Teile der
Welt getroffen haben.
Der Film ist entstanden durch die Beteiligung
von Chief Johnson, Chief Isak Wan, dem Team
von FONA, den Bewohnern der Insel Ambrym
und des John Frum Dorfes, Tanna, Republik
Vanuatu.
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There Is A Happy Land Further Awaay is
developed from footage collected during a trip
to the remote and beautiful sub-tropical island
of Vanuatu in the South Pacific. In March 2015,
after Rivers’ visit, Vanuatu was devastated by
Cyclone Pam, laying waste large parts of the
islands. Rivers‘ 16mm film material has become
a record of a place that has irrevocably
changed. The sound track to the film is a
recording of a woman, hesitantly reading Henri
Michaux’s poem, I Am Writing To You From A
Far Off Country, which includes the false starts
and repetitions of the reader’s attempts to
recount a record of a life lived far away.
Filmed on 16mm and then digitized, island
imagery of active volcanoes, underwater WW2
debris, children playing, and wrecked boats
transform into intangible digital recollections
of the island. Images of the eroded land merge
with eroding film and deteriorate until they are
no longer recognizable. The film highlights
for the audience the changing nature of our
environment and the resulting ecological
disasters which have hit many parts of the
world.
Made with the participation of Chief Johnson,
Chief Isak Wan and the people of Fona,
Ambrym and John Frum Village, Tanna, the
Republic of Vanuatu.
Henri Michaux, Gedicht zum Film (engl.)
I Am Writing To You From A Far Off Country
I
We have here, she said, only one sun in the
month, and for only a little while. We rub our
eyes days ahead. But to no purpose. Inexorable
weather. Sunlight arrives only at its proper
hour.
Then we have a world of things to do, so long as
there is light, in fact we hardly have time to look
at one another a bit.
The trouble is that nighttime is when we must
work, and we really must: dwarfs are born
constantly.
II
When you walk in the country, she further
confided to him, you may chance to meet with
substantial masses on your road. These are
mountains and sooner or later you must bend
the knee to them. Resisting will do no good, you
could go no farther, even by hurting yourself.
I do not say this in order to wound. I could say
other things if I really wanted to wound.
the house as well, like angers which might
come to face you, like stern beings who
would like to wrest confessions.
We see nothing, except what is so
unimportant to see.
Nothing, and yet we tremble. Why?
VI
Here we all live with lumps in our throats.
Do you realize that, although I’m very young,
in the past I was even younger, and my
companions likewise. What does that mean?
Surely there’s something horrible in that.
III
And in the past when, as I’ve already told
The dawn is grey here, she went on to tell him.
you, we were even younger, we were afraid.
It was not always like this. We do not know
Someone might have profited from our
whom to accuse.
confusion. Someone might have told us:
At night the cattle make a great bellowing, long “Look, we’re going to bury you. The time
and flutelike at the end. We feel compassionate, has come.” We thought: “It’s true, we could
but what can we do?
very well be buried this evening, if it’s been
The smell of eucalyptus surrounds us: a
established that it’s time.”
blessing—serenity, but it cannot protect us
And we didn’t dare run too much: Out of
from everything, or else do you think that it
breath, at the end of a race, coming right up
really can protect us from everything?
to a ditch, and no time to say a word, not a
breath.
IV
Tell me, what’s the secret in this connection?
I add one further word to you, a question
rather.
VII
Does water flow in your country too? (I don’t
There are constantly, she tells him further,
remember whether you’ve told me so) and it
lions in the village that stroll around without
gives chills too, if it is the real thing.
the least constraint. Providing we pay no
Do I love it? I don’t know. One feels so alone
attention to them, they don’t pay any attention
when it is cold. But quite otherwise when it is
to us.
warm. Well then? How can I decide? How do
But if they see a girl running away from
you others decide, tell me, when you speak of it them, they won’t excuse her anxiety. No! they
without disguise, with open heart?
devour her immediately.
That’s why they stroll around constantly in
V
the village where they have nothing to do,
I am writing to you from the end of the world.
since they could yawn just as well elsewhere,
You must realize this. The trees often tremble. isn’t that obvious?
We collect the leaves. They have a ridiculous
number of veins. But what for? There’s nothing VIII
between them and the tree any more, and we
For a long, long time, she confides to him,
go off troubled.
we’ve had a dispute with the sea.
Could not life continue on earth without wind?
Those rare times she’s blue, mild, we could
Or must everything tremble, always, always?
believe she’s content. But that can’t last.
There are subterranean disturbances, too, in
Her odor says it anyway, an odor of rot (if it
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wasn’t her bitterness).
Here I should explain the affair with the waves.
It’s insanely complicated, and the sea... I
implore you, have faith in me. Would I want to
deceive you? She isn’t just a word. She isn’t
just a fear. She exists, I swear: she’s seen
constantly.
By whom? Why we, we see her. She comes
from very far off to quarrel with us and scare
us.
When you come, you’ll see her yourself, you’ll
be completely astonished. “Hey!” you’ll say,
since she’s stupefying.
We’ll look at her together. I’m sure that I won’t
feel afraid anymore. Tell me, will this never
happen?
IX
I can’t leave you with any doubts, she
continues, or with a lack of faith. I’d like to
speak to you about the sea again. But there’s
still this quandary. Streams go forward; but she
doesn’t. Listen, don’t be annoyed, I swear I’d
never dream of deceiving you. She’s like that.
However strongly she stirs, she stops for a bit
of sand. It’s a huge impediment. She certainly
wants to move forward, but facts are facts.
Later on maybe, someday she’ll move forward.
X
“We’re more than ever surrounded by ants”,
says her letter. Uneasy, bellies against the
ground, they kick up dust. They don’t take any
interest in us.
Not one raises its head.
It’s the most closed society that could exist,
although they spread constantly outside. It
doesn’t matter, their fulfilled schemes, their
preoccupations... they’re among themselves...
everywhere.
And up till now not one has raised its head
toward us. It’d rather be squashed.
XI
She writes to him further:
“You can’t imagine everything that’s in the sky,
you have to see it to believe it. So, here you go,
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the... but I’m not going to tell you their name
just now.”
Despite an air of being very heavy and
despite taking up almost the whole sky, they
don’t weigh, big as they are, as much as a
newborn baby.
We call them clouds.
It’s true they give off water, but not by
squeezing them or by pulverizing them. This
would be useless, since they hold so little.
But provided that they take up lengths upon
lengths, and widths upon widths, and depths,
too, upon depths, and that they swell up, in
the long run they let a few drops of water,
yes, water, fall. And we get good and soaked.
We run away furious at having been trapped;
because no one knows the moment when
they’re going to let their raindrops loose;
sometimes they hold off for days without
letting them loose. And one would stay home
in vain waiting.
XII
Education about chills isn’t handled well in
this country. We’re ignorant of the real rules
and when the event arises, we’re taken by
surprise.
It’s Time, of course. (Is it the same where
you are?) One has to get there sooner than
it does; you see what I mean to say, no more
than just a little bit beforehand. Do you know
the story of the flea in the drawer? Yes, of
course. And it’s so true, isn’t it! I don’t know
what more to say. When are we going to see
each other at last?
Filmtext (dt.)
Basierend auf dem Gedicht von Henri
Michaux I Am Writing To You From A Far Off
Country
00:25 – Ich schreibe dir von einem weit
entfernten Land
00:30 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal
im Monat Sonne und nur für kurze Zeit
00:37 – Wir reiben uns schon Tage vorher
die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches
Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur
richtigen Stunde
02:21 – Das Problem ist, dass wir nachts
arbeiten müssen, und das müssen wir
wirklich… und das müssen wir wirklich
02:30 – Zwerge werden… Zwerge… Zwerge
werden ständig geboren
02:43 – Zwerge… statt eines Geräusches
00:51 – Dann müssen wir Unmengen
an Dingen erledigen, solange es hell ist,
tatsächlich haben wir kaum Zeit, einander kurz
anzusehen
02:48 – Mache, beseitige…
02:52 – Action
01:02 – Das Problem ist, dass wir nachts
arbeiten müssen, und das müssen wir wirklich
02:55 – Ich schreibe dir von einem weit
entfernten Land
01:13 – Okay, du kannst es nochmal lesen
03:00 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal
im Monat Sonne und nur für kurze Zeit
01:16 – Ich mag nicht den Klang meiner… das
Sonnenlicht erreicht uns nur zur richtigen
Stunde… Stunde
01:23 – Zunächst sollte es „Wir haben hier“
heißen – Wir haben hier, ja? Ja
01:30 – Wir haben hier, sagte sie. Versuche
es, die Aufnahme läuft
01:38 – Ich schreibe dir von einem weit
entfernten Land
01:42 – Wir haben hier, sagte sie, nur einmal
im Monat Sonne und nur für kurze Zeit
01:50 – Wir reiben… wir reiben uns schon
Tage vorher die Augen
01:57 – Wir reiben uns schon Tage vorher
die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches
Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur
richtigen Stunde
03:10 – Wir reiben uns schon Tage vorher
die Augen, aber ohne Grund, unerbittliches
Wetter, das Sonnenlicht erreicht uns nur zur
richtigen Stunde
03:22 – Dann müssen wir Unmengen
an Dingen erledigen, solange es hell ist,
tatsächlich haben wir kaum Zeit, einander kurz
anzusehen
03:31 – Das Problem ist, dass wir nachts
arbeiten müssen, und das müssen wir wirklich,
Zwerge werden ständig geboren
04:00 – Wenn du auf dem Land spazieren
gehst, vertraute sie uns ebenfalls an, triffst du
vielleicht große Massen auf deiner Straße
04:07 – Das sind Berge, und früher oder
später musst du vor ihnen in die Knie gehen
04:13 – Widerstand hilft nicht, du könntest
nicht weitergehen, auch wenn du dir wehtun
02:11 – Dann müssen wir Unmengen an Dingen würdest
erledigen, solange es hell ist, tatsächlich
haben wir kaum Zeit, einander kurz anzusehen 04:21 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen,
ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich
wirklich verletzen wollte
12
04:31 – Nur die letzten beiden, die Zeilen mit
verletzen
07:07 – Wir haben Mitleid, aber was können
wir tun?
04:35 – Verletzen… verletzen… verletzen
07:12 – Der Geruch von Eukalyptus ist
überall…
04:41 – Ich sage dieses Wort nicht, um zu
verletzen…
04:48 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen,
ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich
wirklich verletzen wollte.
07:18 – Der Geruch von Eukalyptus ist überall,
ein Segen, Ruhe, aber er kann uns nicht vor
allem beschützen
07:27 – Oder… Oder glaubst
04:57 – Ich kann das Wort nicht aussprechen
… verletzen… verletzen… verletzen
07:35 – Oder glaubst du, er kann uns wirklich
vor allem beschützen?
05:07 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen,
ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich
wirklich verletzen wollte
07:40 – Aah, wie kann man die Frage besser
stellen? Egal
05:17 – Wenn du auf dem Land spazieren
gehst, vertraute sie uns ebenfalls an, triffst du
vielleicht große Massen auf deiner Straße
05:25 – Das sind Berge, und früher oder
später musst du vor ihnen in die Knie gehen
05:32 – Widerstand hilft nicht, du könntest
nicht weitergehen, auch wenn du dir wehtun
würdest
07:48 – Der Sonnenaufgang ist grau hier,
erzählte sie… erzählte sie ihm weiter…
07:55 – Nochmal von vorne. Ja. Der Anfang
war gut
08:00 – Der Sonnenaufgang ist grau hier,
erzählte sie ihm weiter, es war nicht immer so,
wir wissen nicht, wen wir beschuldigen sollen
08:10 – In der Nacht gibt es ein großes Gebrüll
vom Vieh, lange und flötenartig am Ende
05:39 – Ich sage dies nicht, um zu verletzen,
ich könnte andere Dinge sagen, wenn ich
wirklich verletzen wollte
08:17 – Wir haben Mitleid, aber was können
wir tun?
06:38 – Der Sonnenaufgang ist grau hier,
erzählte sie ihm weiter, es war nicht immer so,
wir wissen nicht, wen wir beschuldigen sollen
08:22 – Der Geruch von Eukalyptus ist
überall, ein Segen, Ruhe, aber er kann uns
nicht vor allem beschützen
06:48 – In der Nacht gibt es ein großes
Gebrüll vom Vieh, lange und flötenartig am
Ende… nein, das mag ich nicht
08:30 – Oder glaubst du, er kann uns wirklich
vor allem beschützen?
06:59 – In der Nacht gibt es ein großes
Gebrüll vom Vieh, lange und flötenartig am
Ende
13
09:01 – Ich schreibe dir vom Ende der Welt,
musst du wissen
09:07 – Oft zittern die Bäume. Wir sammeln
die Blätter. Sie haben eine absurde Anzahl an
Adern, aber wofür?
09:17 – Zwischen ihnen und dem Baum gibt es
nichts mehr, wir sind besorgt und gehen weiter
11:38 – Wir Frauen leben hier alle mit
zugeschnürter Kehle
09:23 – Könnte das Leben auf der Erde nicht
ohne Wind weitergehen, oder muss alles
immer zittern… immer?
11:43 – Weißt du, obwohl ich sehr jung bin, war
ich zu anderen Zeiten noch viel jünger. Auch
meine Gefährtinnen
09:35 – Könnte das Leben auf der Erde nicht
ohne Wind weitergehen, oder muss alles
immer zittern… immer?
11:52 – Was hat das zu bedeuten? Was hat
das zu bedeuten? Darin liegt sicherlich etwas
Schreckliches
09:46 – Es gibt unterirdische…
12:05 – Weitermachen?
09:49 – Es gibt unterirdische… unterirdische
Störungen
12:08 – Und zu anderen Zeiten, wie ich schon
sagte… ah, dir
09:57 – Es gibt auch unterirdische Störungen,
ebenso im Haus, wie Wutausbrüche, die dir
vielleicht entgegen kommen
12:23 – Und zu anderen Zeiten, wie ich dir
schon sagte
10:06 – Wie strenge Wesen…
12:31 – als wir noch jünger waren,
befürchteten wir, jemand könnte unsere
Verwirrung ausgenutzt haben
10:10 – Es gibt auch unterirdische Störungen,
auch im Haus, wie Wutausbrüche, die dir
vielleicht entgegen kommen
12:41 – Jemand sagte vielleicht zu uns –
„Schau mal, wir werden dich begraben“
10:18 – Wie strenge Wesen, die Ge…
10:25 – Wie strenge Wesen, die Ge … aah, ich
kann’s nicht
12:48 – „Der Augenblick ist gekommen.“ Wir
dachten, es ist wahr, wir könnten genauso gut
heute Abend begraben werden
10:33 – Es gibt auch unterirdische Störungen,
auch im Haus, wie Wutausbrüche, die dir
vielleicht entgegen kommen
12:57 – wenn definitiv gesagt wird, das ist der
Augenblick. Hm, ich will nochmal anfangen
10:42 – Wie strenge Wesen, die Geständnisse
abtrotzen wollen
10:48 – Wir sehen nichts, außer was unwichtig
ist, zu sehen, nichts, und trotzdem zittern wir,
warum?
10:57 – Wir sehen nichts, außer was unwichtig
ist, zu sehen, nichts, und trotzdem zittern
wir, warum? Nichts, und trotzdem zittern wir,
warum?
14
13:07 – Und zu anderen Zeiten, wie ich dir
schon sagte, als wir noch jünger waren,
befürchteten wir
13:17 – jemand könnte unsere Verwirrung
ausgenutzt haben
13:22 – Jemand sagte vielleicht zu uns –
„Schau mal, wir werden dich begraben, der
Augenblick ist gekommen“
13:28 – Wir dachten, es ist wahr, wir könnten
genauso gut heute Abend begraben werden,
wenn definitiv gesagt wird, das ist der
Augenblick
13:39 – Und wir wagten es nicht, zu sehr zu
rennen, atemlos, am Ende der Jagd
13:45 – Angekommen vor der Grube,
vollkommen bereit, und keine Zeit, auch nur ein
Wort zu sagen. Kein Atem
13:53 – Sag mir, worin liegt hier das
Geheimnis?
15:05 – In diesem Land werden wir nicht gut
über die Kühle aufgeklärt
15:10 – Wir kennen die wahren Regeln nicht,
und wenn das Ereignis eintritt, sind wir
unvorbereitet
15:19 – Es hat natürlich mit der Zeit zu tun,
verhält es sich bei dir genauso?
15:26 – Man muss etwas früher als sie
ankommen. Weißt du, was ich meine? Nur ein
klein wenig früher
15:35 – Kennst du die Geschichte von dem
Floh in der Schublade? Ja, natürlich. Und wie
wahr sie doch ist, denkst du nicht?
15:45 – Ich weiß nicht, was ich noch sagen
soll. Wann werden wir uns endlich treffen?
16:00 – Was denkst du?
16:07 – Es ist einfach so traurig am Ende
16:19 – Willst du auf Stopp drücken?
15
SLOW action
2010, 45 min
Ben Rivers,
Slow Action, 2010, filmstill
4-Kanal-Videoprojektion / 4 channel video projection, jeder Teil jeweils 11 min /
each part 11 min, 16mm, Farbe, Schwarzweiß / Color, black & white
16
Ein Film und eine Installation von /
A film and an installation by Ben Rivers
Text von / Text by Mark von Schlegell
Erzählung / Narration
Ilona Halberstadt, John Wynne
Animierte Objekte / Animated objects
Nicholas Brooks
Kamera und Sound / Camera and sound
Ben Rivers
Produktionsassistenz / Production assistance
Makino Takashi, Yuki Yamamoto
Kostüme / Costumes Alice Dubieniec,
Gemma Gore, Yuki Yamamoto
Slow Action ist ein post-apokalyptischer
Science-Fiction-Film, der vier 16mm
Arbeiten (Elf, Hiva (Die Gesellschaftsinseln),
Kanzennashima, Somerset) zusammenbringt,
die zwischen Dokumentation,
ethnographischer Studie und Fiktion
angesiedelt sind. Das 16mm-Filmmaterial
von vulkanischen Landschaften, zerstörten
Städten, mit Müll gefüllten Lagunen und
in Wäldern lebenden Stämmen erscheint
sowohl fremd als auch vertraut, historisch
und futuristisch zugleich, als ob es aus einem
längst vergessenen Archiv ausgegraben oder
in einer Zeitkapsel entdeckt worden wäre.
Gefilmt wurde Slow Action an verschiedenen
Standorten auf der ganzen Welt: Lanzarote
- eine schöne, eigenwillige Insel, bekannt für
ihre Badeorte, aber einer der trockensten Orte
auf dem Planeten, voller erloschener Vulkane
und bizarrer Architektur; Gunkanjima - eine
Insel vor der Küste von Nagasaki, Japan, eine
verlassene Stadt auf einem Felsen gebaut,
einst aufgrund ihrer reichen Kohlevorkommen
die Heimat von Tausenden von BergbauerFamilien ; Tuvalu - eines der kleinsten
Länder der Welt auf einem winzigen Streifen
Land, das kaum über den Meeresspiegel
hinausragt, inmitten des Pazifiks; und
Somerset – eine noch zu entdeckende Insel
mit ihren unterschiedlichen Ethnien. Diese
Reihe von konstruierten Realitäten erforscht
die Umgebungen von in sich geschlossenen
17
Ländern auf der Suche nach Informationen,
um eine Rekonstruktion der bald verlorenen
Welten zu ermöglichen. Der Filmtext –
eine Erzählung des Schriftstellers Mark
von Schlegell – führt jede der vier InselEvolutionen nach ihren geographischen,
geologischen, klimatischen und botanischen
Bedingungen einzeln auf.
„Ich stolperte zufällig über die ScienceFiction-Geschichte Venusia von Mark
von Schlegell und fragte ihn, ob er daran
interessiert wäre mit mir zu arbeiten. Ich
wollte, dass er vier Berichte über vier
verschiedenen Insel-Utopien schreibt. Ich
sagte ihm nie, wohin ich ging, weil ich bewusst
nicht wollte, dass er zu direkt illustriert. Es
gab einen langen E-Mail-Verkehr, im Zuge
dessen ich ihm von meiner Seite ein paar
Inhalte, Hinweise und Bücher gab, und wir eine
Menge von Leselisten hin- und her schickten.
Ich bekam von ihm Texte, die ich so ändern und
bearbeiten konnte, dass sie zu meinen Bildern
passten.“ (Ben Rivers)
Slow Action, inspiriert von Romanen wie
Samuel Butlers Erewhon, Bacons The New
Atlantis, Herbert Reads The Green Child und
Mary Shelleys The Last Man, verkörpert den
Geist der Recherche, des Experiments und
der aktiven Forschung, die charakteristisch
sind für Rivers Arbeit.
Slow Action wurde von Picture This and
Animate Projects in Auftrag gegeben und
ist in Zusammenarbeit mit Matt’s Gallery
entstanden.
Slow Action is a post-apocalyptic science
fiction film that brings together a series of
four 16mm works (Eleven, Hiva (The Society
Islands), Kanzennashima, Somerset) which
exist somewhere between documentary,
ethnographic study and fiction. The 16mm
footage of volcanic landscapes, ruined cities,
junk-filled lagoons and woodland-dwelling
tribes appears both alien and familiar,
historical and futuristic, as if it could have been
unearthed from a long-forgotten archive or
discovered in a time capsule.
Slow Action is filmed at different sites across
the globe: Lanzarote - a beautiful strange
island known for its beach resorts, yet one
of the driest places on the planet, full of
dead volcanoes and strange architecture;
Gunkanjima - an island off the coast of
Nagasaki, Japan, a deserted city built on
a rock, once home to thousands of families
mining its rich coal reserves; Tuvalu - one of
the smallest countries in the world, with tiny
strips of land barely above sea level in the
middle of the Pacific; and Somerset - an as yet
to be discovered island and its various clades.
This series of constructed realities explores
the environments of self-contained lands
and the search for information to enable the
reconstruction of soon to be lost worlds. The
film’s soundtrack - narratives by writer Mark
von Schlegell - detail each of the four islands’
evolutions according to their geographical,
geological, climatic and botanical conditions.
“I came across a science fiction story by Mark
von Schlegell called Venusia and asked if he’d
be interested in working with me—I wanted
him to write four accounts of four different
island utopias. I never told him where I was
going because I deliberately didn’t want him
to illustrate too directly. It was a process of
emails from me—giving him some ingredients,
clues and books, and we went back and forth
with reading lists quite a lot. He sent me back
texts that I could change and edit so they fit
with my images.” (Ben Rivers)
Slow Action, inspired by novels such as
Samuel Butler’s Erewhon, Bacon’s The New
Atlantis, Herbert Read’s The Green Child and
Mary Shelley’s The Last Man, embodies the
spirit of exploration, experiment and active
research that has come to characterise Rivers’
practice.
18
Slow Action has been co-commissioned
by Picture This and Animate Projects. In
association with Matt‘s Gallery.
Filmtext (dt.)
von Mark von Schlegell
Eleven verläuft von 3 Minuten 15 Sekunden bis
12 Minuten 13 Sekunden Ost nach Quinnians
Kompass in den äquatorialen Regionen des
Mareassic.
Eine vertriebene Klade, von ihren
Nachkommen „die Erste Serie“ genannt,
überquerte die Meere der Ignoranz, ignorierte
zehn Inseln, die alle irgendwie nicht perfekt
waren, und umrundete jenen Punkt des
Globus, an dem die kleinen Berge von Eleven
fröhlich auf dem Kamm eines alten Vulkans in
die Höhe ragten.
Manche sagen, die erste Serie habe
die Mathematik mitgebracht, die einzige
Erinnerung an die Alte Erde, um den
Schmelztiegel für die Gründung eines
Utopias zu bilden. Die zentrale Bedeutung
dieser Disziplin unterscheidet Eleven von
den anderen Einträgen in der Großen
Enzyklopädie.
Die Menschen auf Eleven glauben, dass die
Klarheit ihres nächtlichen Himmels und das
Klima, das es ihnen erlaubt, im Freien bequem,
doch unaufdringlich nackt zu wandeln, alle
Probleme der Alten Erde beseitigt hätten.
Am Tag zwingt die extreme Hitze die meisten
Inselbewohner dazu, sich im Schatten
aufzuhalten und zu schlafen. Daher erwacht
Eleven erst in der Nacht zum Leben.
Der Kurator schreibt folgendes: „Da sie nicht
der Täuschung des terranen Tages erlegen
sind, die jene illusionäre, blau gekuppelte
Traumwelt wie eine Narrenkappe über den
Geist des Tageslichtmenschen setzt, nehmen
die Elevenianer das Universum tatsächlich so
wahr, wie es ist – nachtabhängig, erleuchtet
nur durch die Nacht der Vernunft.“
Für die Elevenianer gehört es zum gesunden
Menschenverstand, dass das Universum
und auch sie selbst Hologramme sind. Sie
benötigen keine proaktive Technologie. Es ist
ihnen bewusst, dass sie Weltraumreisende
auf der Erde sind. Relativ gesprochen reisen
sie schneller durch das Universum als jedes
von Menschenhand erbaute Raumschiff. Jede
Nacht, wenn die äußere Schutzhülle ihres
Schiffs ganz durchsichtig wird, erwachen sie
zu reiner Entdeckung.
Was die Elevenianer mit ihren zum
Sterngucken entwickelten Augen im Laufe des
Lebens beobachten können, ist schier endlos.
Ihre Vision geht über die Fähigkeiten ihrer
Sinnesorgane hinaus. Das Wetter ist von
rasch aufziehenden Stürmen mit heftigen
Blitzen geprägt. Die Inselbewohner, die
normalerweise keine Verwendung für
Elektrizität haben, bauten Leitungen, die
diesen Strom zu einer großen Schüssel auf
den Berg Noesis führen, um die aktuellen
Radiobeobachtungen als Photonen auf die
Oberfläche des Teleskops Pond zu strahlen.
Die Tiefen des Universums prägen sich
durch diesen Blitz auf die Augenorgane der
jubelnden Bevölkerung ein und verweilen dort
hinter geschlossenen Lidern stundenlang.
„Es muss bemerkt werden“, schreibt der
Kurator, „dass Kalklöcher oder andere
gefährliche Schluchten zu den häufigsten
Todesursachen auf Eleven gehören, da die
sternguckenden Einwohner ständig mit ihren
Köpfen in den Wolken umhergehen.“
Wenn ein Elevenianer auf einen möglichen
Geliebten mit einer Gleichung wie 1 + 2x = y
zugeht, soll die Gegenwart der Variablen eine
Reihe potentieller Berechnungen in Gang
19
setzen. Wenn der Gesprächspartner mit einer
Gleichung antwortet, die einen größeren Wert
für x als für y vorschlägt – z.B. x1 = 2y – wird
das als Zurückweisung verstanden. Wird die
Bereitschaft, zu einem Punkt zu werden (x,
y) signalisiert, kommt es zum Heiratsantrag.
Wird eine Gleichung abhängig von den
Neigungen der gewählten Tangenten zur
Asymptote nachgezeichnet, wird dies als eine
direkte sexuelle Annäherung gedeutet.
Das Prinzip des möglichen Verlassens,
notwendig in jedem Utopia, wird auf Eleven
aufrechterhalten. Alle können jederzeit die
Insel auf einem Boot verlassen.
--Hiva ist der Name einer Ansammlung von
Inseln und „Infinitesimalen“, die sogenannten
„Society Islands“, 23 Grad 2 Minuten, 158
Grad 5 Minuten, 32 x 20 nach Quinnians
Kompass in der nördlichen Hemisphäre.
Wie die meisten derartigen Atolle, sind sie
vulkanischen Ursprungs und bestehen aus
Korallen. Der höchste Punkt befindet sich nur
vier Meter über dem Meeresspiegel.
Die Society Islands erstrecken sich 600
Kilometer von Norden nach Süden und
bestehen aus einer Vielzahl bewohnbarer
Inseln auf dicht gedrängten und komplexen
Felsen, die von verschiedenen warmen und
stillen Lagunen umgeben sind. Unter der
Wasseroberfläche vermitteln die Steinbögen
und der klare Äther den Eindruck einer
prachtvollen Kathedrale von erhabener,
wahrhaftig unergründlicher Dimension.
Am Rand befinden sich Obsidian-Aufschlüsse
im Felsen, deren Zusammentreffen mit
Lava und kochendem Wasser sie gefaltet,
gepresst und ihnen das unheimliche Aussehen
versteinerter Haut eines uralten Körpers
verliehen haben.
Das Ökosystem der Oberfläche ist bestimmt
durch vertriebene Spezies anderer Inseln und
verlorener Kontinente. Menschen, Schweine,
Hunde, Wasserratten, wieder entstehende
Wälder und hoch entwickelte, modulare,
sich selbst vermehrende Plastiksorten sind
vorherrschend.
Das Leben auf den Inseln, im Wasser und
in der Luft ist so eigenartig, vielfältig, und
in permanenter Entfaltung begriffen, dass
sich Verallgemeinerungen verbieten. Das
einzigartigste Mitglied der unüberschaubaren
Society-Fauna ist Tridunculus strigirostris,
eine zyklopische Bodentaube mit
schimmerndem, grün-schwarzem und hellrosa
Gefieder.
Menschliche Ansiedlungen befinden sich
vornehmlich auf 13 kleinen Hafeninseln, die
einen leichten Bogen von Nordwesten nach
Südosten bilden: Funafuna, Hello, Aploon,
Freehold, Nut, Tau, Treehut, Flambeau, Off,
Senga, Father Brown und Anus Isle, eine
kleine, stinkende Sumpfinsel 70 Meilen von
der nächsten Insel entfernt, die reich an
Erdgas- und Klabusterbeeren-Vorkommen ist.
Das Leben auf den Inseln unterliegt der
Möglichkeit ständiger Veränderung. Ihre
Kultur hat sich durch das Geschichtenerzählen
entwickelt, am Leben gehalten durch Erzähler,
die das Problem des Willens als zentrales
Element individueller Erfahrung fördern.
Variation, Exzentrik und Differenz sind so
üblich, dass von jedem Individuum entweder
die Fähigkeit oder die Weigerung, sich zu
verändern, verlangt wird.
Die Society Islands zeichnen sich durch
Üppigkeit und Schönheit aus – Baumfarne,
Schlingpflanzen und Parasiten. Es gibt
vielfältige Fortentwicklungen der Kokospalme
und des Brotfruchtbaums. Die wichtigsten
Nahrungsmittel sind Fisch und Kokosnüsse.
Kleine, sehr eigenartige Gebilde, sogenannte
Flotties, stehen auf Stelzen über den
farbenprächtigen Plastikflottillen.
20
Zeichen und sporadische Entdeckungen
weisen auf eine frühere, unvordenkliche
Zivilisation hin.
Es gibt einen imperialen Gouverneur und
ihm untergeordnet einen Häuptling, dem
wiederum von einem hohen Rat assistiert
wird; diese Funktionäre werden jährlich in
Nut Harbor durch öffentliches Heben der
Hand gewählt. Nur eine Minderheit, die
sich für solche Dinge interessiert, nimmt
daran teil. Wenn eine Insel nicht durch Krieg
oder fremde Invasoren bedroht wird – und
das sind seltene Vorkommnisse –, ist die
Funktion der Regierung beschränkt. Sie
spielt vor allem eine symbolische Rolle und
dient einer wichtigen Funktion des lokalen
Lebens. Der vormalige Kurator schreibt: „Das
‚Reich‘ bezieht eine besonders schwierige
Minderheit der Bevölkerung in seine
clubartigen Komplexitäten ein (jene, die zur
Bürokratie und gesellschaftlichem Aufstieg
neigen), wo ihre persönlichen Perversionen
den wenigsten Schaden anrichten. Diese
Ausschweifungen befeuern eine kraftvolle,
subversive Gegenkultur, die bestimmt wird
durch Handelsökonomie, die Liebe zum Gold,
die Jagd, Entdeckungsreisen und Piraterie.“
Die Society Islands bieten schwindelerregende
Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation.
Entlegene kommunistische Siedlungen
konkurrieren mit Feudalherren. Sie alle sind
Piratenbanden, redegewandten Fremden
und einer verweichlichten zentralen Autorität
ausgeliefert.
Die Inselbewohner sind besonders gesund
und anpassungsfähig; Sie haben eine eher
dunkelgrüne Hautfarbe, eine herrliche
Gestalt mit gleichmäßigen Zügen und eine
durchschnittliche Größe von etwa zwei
Metern.
Sie genießen ihr privates Leben in einem
heißen Klima mit lockeren gesellschaftlichen
Regeln und verbringen die Tage oft mit
Erzählungen ihrer eigenen Abenteuer und
denen anderer. Leben auf den Society Islands
ist besonders romanhaft.
Auch wenn man womöglich mit dem
absurdesten Aberglauben erzogen wurde,
sobald man segeln kann, steht es einem frei,
„den Wind zu reiten“, seine Erlebnisse in die
sich ständig verändernde Welt einzuschreiben
und deren Veränderungen wiederum auf den
Tafeln des Geistes aufzuzeichnen.
Die Situation auf Hiva ist besonders
interessant hinsichtlich der Natur der
Inseln und der Frage, ob diese in unserer
Großen Enzyklopädie ein grundlegendes
Paradoxon bilden. Als Insel bietet sie sich
für die Umsetzung eines utopischen Modells
an. Doch es ist auch eine Insel, die von ihren
Proportionen her ungünstig ist, um das Utopia
aufrechtzuerhalten und fortzuführen. Ein
Inselbewohner ist sich auf verlegene Weise
der Möglichkeit anderer Inseln und der
Begrenzungen seiner Welt bewusst. Neue
Utopias sind überall möglich.
Auf Hiva ist Suizid die normale Art zu
sterben. Jeder andere Tod wird als
unglücklich betrachtet. Nur durch die Wahl
des Augenblicks und der Methode des Todes
besiegelt das Individuum das Ende der
epischen Erzählung seines Lebens und bietet
den Schlüssel zur Nacherzählung.
--Kanzennashima ist die einzige Insel dieses
Streifens aus Überbleibseln, 13 Minuten
4 Sekunden, 1 Minute 10 Sekunden nach
Quinnians Kompass, die jemals in die Große
Enzyklopädie Eingang fand. Offensichtlich galt
während den beiden Epochen der Laurii und
danach die gesamte Region als unbewohnbar.
Man weiß bis heute nicht, ob der
Korrespondent, ein gewisser Tadashi
Harai, jemals existiert hat. Harais Eintrag
wurde von einem Bibliothekar des 13.
21
Quaeternurnal in einem Kanister nahe Ickles‘
Prow gefunden, der bereits vierhundert
Jahre lang umhergetrieben war. Agenten
berichten, dass die Insel mit ihren vielen
Oberflächenmerkmalen des selbsternannten
„Verrückten“ bis heute nicht existiert.
Die Insel zeichnet sich immer noch durch
ihren großen Schutzdamm aus, der ihr dabei
half, mit ihren „Ruinen von Ruinen“, die
Harais Projekt zur Verfügung standen, die
Jahrtausende zu überstehen. Architektonische
Aufbauten wie sie Harai beschrieb, „gerastert
vom Verfall ausgehöhlter, geometrischer
Träume“, bestimmen nach wie vor ihr
„schädelartiges Aussehen“.
Trotz der archäologischen Schwierigkeiten
weist die Oberfläche immer noch Zeichen
vergangenen Kohleabbaus auf. Kohle befindet
sich in ihren Adern und verläuft unter dem
Meer hinüber zu anderen Inseln. Wir können
daher annehmen, dass Harais Behauptung
einer „unendlich geheimnisvollen und
unwahrscheinlich komplizierten Tunnelwelt“
unter den toten Plateaus ihrer Entstehung
plausibel ist.
Harais Utopia hängt von vielen zentralen
Kategorien ab. Kanzennashima ist eine
zufällig entdeckte Insel. Harai, ein U-BootFahrer und der einzige Überlebende eines
heute vergessenen Konflikts, landete im Alter
von 43 Jahren als Schiffbrüchiger an ihrer
Küste. Umgeben von quasi-pelagianischem
Seetang, mit fruchtbarer Erde, gedüngt von
toten Generationen und ihren Abwässern, fand
er genügend Eiweiß zum Überleben, ohne als
Bewohner dekadent zu werden.
Utopia ist antimenschlich in dem Sinne,
dass Harai der einzige Bewohner war, aber
humanistisch in dem Sinne, dass es die
menschliche Geschichte seiner Architektur
und seiner physischen Entwicklung ist, in
dem Harai seinen idealen Staat anstrebte.
„Wir beziehen Kanzennashima Island als ein
exemplarisches Utopia ein“, schreibt der
Kurator, „weil, und nicht obwohl, es verstrickt
ist mit dem, was andere Disziplinen als
‚Geisteskrankheit‘ bezeichnet haben.“
In dem großartigen Staat, den dieser
Verrückte gegründet hat, haben wir endlich
seine Hoffnung gefunden. An dieser Stelle
zitiert der Kurator Harais Bericht ausführlich:
„Utopia ist per definitionem kein Ort. Man
kann sich ihm nur annähern, ihn nie erreichen.
Utopia kann nicht in der Zukunft liegen,
auch kann es der Gegenwart nicht bekannt
sein. Utopia ist die Vergangenheit. Nicht
die Vergangenheit als goldenes Zeitalter,
sondern die Vergangenheit als Ruinen ihrer
eigenen Ruinen. Unwiederholbar, deren
Wiederherstellung sich mit der Umkehr des
Flusses der Zeit ereignen kann, durch die
Thermodynamik zu einer Entropie gemildert.
Eine Entropie, die sich rückwärts gegen sich
selbst bewegt. Wir sehen ihr Versprechen. Wir
nutzen die Zeit, um unser Utopia zu errichten.
„Ruinen von Ruinen, die bald zu Staub werden.
An warmen Tagen bemühen wir uns, sie
wieder zusammenzustückeln, und an kalten
und windigen Tagen werden neue Löcher in
das Gesicht der Vergangenheit gebohrt. Wir
kehren zurück und errichten eine andere
mögliche Artikulation, große Tore zu Reichtum
und Freiheit aus den Mauern von dem, was
einst eher ein Käfig gewesen ist. Wir haben
Diamanten, ganze Tunnel davon glitzern
unter dem Meer. Wir haben Diamanten, um
Diamanten zu schneiden, und wir können den
uralten Beton zu etwas zusammenfügen, das
mehr ist, als es vielleicht war. Der Diamant,
wenn unsere Reflektoren die Sonne tief in
die Innereien meiner Insel gebracht haben,
zersplittert uns unzählige Male. Wir sind
unsere eigenen Besucher und Geister
und beleuchten den Ort, den wir sehen.
An den meisten Tagen sehen wir fremde
Fußstapfen, alleine auf unserer geliebten
Insel. Wir durchkämmen die Überbleibsel und
kristallisieren merkwürdige Erinnerungen
22
aus den Haufen, Erinnerungen an das, was
noch nicht gewesen ist, was aber immer noch
gewesen sein mag. Veränderung ist permanent
hier, und bald schwimmen wir alleine und in
Gesellschaft gegen sie an, so, wie es sich der
auf wunderliche Weise ständig bröckelnde
Beton erdreistet. Auf unserer starren Insel
sind wir nicht von der Natur getrennt.
„Während wir daran arbeiten, unser
Verderben rückgängig zu machen, und daraus
machen, was es träumte beinahe zu sein,
nähern wir uns dem glitzernden Reich des
kohlegebackenen Diamanten und der Kuchen
aus Insektenfleisch, der Einsamkeit und der
Geselligkeit, des gelebten Paradoxons, das
nicht auf Abstand gehalten wird. Wir überleben
zwischen den Elementen unseres eigenen
Untergangs. Das Wort des Königs ist unser
Befehl. Unsere Freiheit besteht darin, dieses
Wort zu kontrollieren. Wir lieben und hassen
in der Reinheit der wahren Selbsterkenntnis.
Wir glauben und tauschen aus, unser Steinund Sandgesicht mit den eingeschriebenen
Zeichen, die von der Zeit stammen, schwappen
an unsere gemauerten Küsten und brechen
unweigerlich. Unser Diamant ortet die
Spuren der Klänge, die einst durch unsere
sonnenvergewaltigten Innenräume prallten,
und wir sprechen mit jenen, die nicht wissen,
was wir sind. Wir wissen nichts von dir und
deinen Träumen, aber wir wissen, dass sie
nicht dir gehören. Wir sind jenseits des Todes,
denn wir sind bereits Geister, und selbst
jetzt leben wir gegen das Skelett unseres
Entstehens mit diesen unbestreitbaren und
unerbittlichen Worten in deine Vergangenheit
hinein…“
--Es ist vielleicht ungewöhnlich, eine Zivilisation,
deren Steinalleen mit Abflüssen für die
einfache Beseitigung von Blut gesäumt
sind, als ein Utopia zu betrachten, doch der
Schöpfer erbittet diesen Status für die Insel.
Somerset ist der gebräuchliche Name für
diese größte Insel des westlichen Teils der
„Proliferation of Islands“, die nach der Fourth
Great Flood Epoch entstanden ist. Sie reichen
von 51 Minuten 26 Sekunden bis 55 Minuten
21 Sekunden West nach Quinnians Kompass.
Sie heißt mangels Alternative Somerset, doch
meist werden andere Namen benutzt, so eifrig
sind ihre Politiker.
Historisch gesehen zeichnet sich Somerset
durch ihre leidenschaftliche politische
Kultur aus. Man kann sagen, ihre Zivilisation
existiert permanent in einem Zustand der
bevorstehenden, stattfindenden oder gerade
unterdrückten Revolution.
Das Territorium von Somerset besteht
aus seiner Provinz, dem Somerset Basin,
und 32 Landzungen: Ballyhister, Van Hoe,
Cavan, Milborne Port, Hippolyte, Fermanagh,
Stillburn, Kan, Hoplite, Fairport, Zeed,
Frilm, Leeth, Loth, Velmen‘s Land, Crenoah,
Milton, Detroit, Waxford, Fanner‘s Freehold,
Gullsneck, Pillow, Rodon, Slanland, Munster,
Clearport, Kent, Gelo, Ironville, Ylicis, John’s
Landing und Indian Queens.
Der Legende nach wurden vier Baumstämme,
die Überbleibsel vier unterschiedlicher
Katastrophen während eines heftigen Sturms,
am gleichen Tag an vier dieser Landzungen
angeschwemmt. In jedem Stamm befand sich
ein menschlicher Säugling und ein Buch.
Es waren Trotzkis Permanente Revolution,
Rousseaus Bekenntnisse, Zitskos No Frontier
und Wollstonecrafts Vindication of the Rights
of Woman. Die Bewohner jeder Landzunge
glaubten zu der einen oder anderen Zeit von
einem dieser vier Säuglinge abzustammen.
Es gibt keine Religion auf Somerset, es
sei denn sie landet dort infolge eines
Schiffbruchs, dann wird sie schnellstens
beseitigt. Diktatoren, Könige, Barden werden
verehrt, aber nur zum Schein.
23
Politischer Unfrieden hält die Bevölkerung
im Griff. Es wird erwartet, dass alle Männer
und Frauen im Alter von 42 mit der Axt in der
Hand in den Kampf ziehen und ihr Leben für
einen Traum opfern. Sie können aber noch
viele Jahre Leben, denn im Kampf sind es
nur die Älteren, die ihr Leben riskieren. Die
jungen Menschen erfüllen die Pflichten der
täglichen Verwaltung, der Politik und der
Macht. Noch nicht durch Erfahrung erschöpft,
sind sie immer tollkühn, geleitet von Spürsinn,
Sexualität, Ehrgeiz und Mut.
Der Krieg nimmt unterschiedliche Gestalten
an. In manchen Zeiten ist er voller Pomp
und Glorie, in anderen geprägt vom Kampf
ums schiere Überleben und von erbittertem
Terrorismus. Da es keinen Schwefel gibt, gibt
es keine Schusswaffen. Festungen begrenzen
die Schlachterei. Die Auseinandersetzungen
werden oft auf Sportereignisse reduziert, bei
denen es nur ein oder zwei Todesfälle gibt,
von denen berichtet wird oder die hinterher
vorgetäuscht werden. Auf alle Fälle werden
nach jedem größeren Kampf die Getöteten auf
großen Büffets bei Feierlichkeiten verspeist.
Hochkultur und populäre Kultur sind auf allen
Ebenen der Gesellschaft eng verwoben –
inmitten des revolutionären Chaos. Obwohl
es mehr als genug Glimmer in den felsigen
Teilen der Insel gibt, sieht man im ganzen Land
nirgendwo Fensterscheiben, zu leicht könnten
sie bei den ständigen Unruhen zu Bruch
gehen.
Die Unvorhersehbarkeit des Wetters und die
Unlust zu Bauen führen zu einer schroffen
Härte, der bestimmende Charakterzug aller
menschlichen Bewohner.
Eines der Paradoxa, das in die Idee von Utopia
verpackt ist, besteht darin, dass sie zugleich
das Ideal für den Staat und für das Individuum
erfüllen muss. Meist führt die Notwendigkeit
des Ersteren zum Untergang.
Kein Utopia ist ein Gefängnis. Daher heißt es,
dass hin und wieder ältere Individuen primitive
Boote aus Papyrusrinde und Häuten bauen
und auf Nimmerwiedersehen wegsegeln.
Keiner hindert sie daran.
„Des einen Hackblock ist des anderen
Guillotine“, schreibt der berühmte Satiriker
Grugg aus Somerset. „Meine Vision einer
ordentlich funktionierenden Gesellschaft und
meine Rolle darin stimmt vielleicht nicht mit
deiner überein, besonders wenn deine Klade
von einem anderen Bund als meine abstammt.
Doch wie wunderbar ist es, wenn sie doch
übereinstimmen! Über Kladen hinweg! Der
Geschmack von Veränderung liegt in der
Luft! Wenn Brüder, Schwestern und Bürger
im Chaos der Geschichte zueinander finden
und gemeinsam Widerstand leisten, wird der
von ihnen gemachte Staat sich spontan um
sie herum entwickeln, und in diesem Moment
gehört ihnen die ganze Welt. Dann, mit
erhobener Axt und dem noch frischen Blut
eines Bürokraten auf meiner Wange, bin ich
unendlich stark, unendlich jung, unendlich frei
und ein veritabler Gott!“
24
THE CREATION As we saw it
2012, 14 min
Ben Rivers,
The Creation As We Saw It, 2015, filmstill
16mm, Farbe, Schwarzweiß / Color, black & white
25
Drehbuch, Kamera und Schnitt / Script,
camera, cut Ben Rivers
Soundaufnahmen / Sound recording
Ben Rivers, Ben Russell
Ein domestiziertes Wildschwein ruht auf dem
Boden. In der Nähe trocknet Wäsche auf einer
gewebten Matte. Kinder schauen neugierig
und misstrauisch in die Kamera. Das Schwein
lässt sich tätscheln und grunzt zufrieden.
Drei mythische Geschichten, wie sie von den
Bewohnern des melanesischen Inselstaats
Vanuatu im Pazifik erzählt werden, werden
vor einer Kulisse aus schwarz-weißen
Filmmaterial von dem Ort des Ursprungs der
Geschichten nacherzählt.
Der Film erforscht die Mythen und Legenden
des Archipels und befasst sich insbesondere
mit dem Ursprung des Menschen, warum
Schweine so aussehen, wie sie aussehen
und wie es dazu kam, dass ein Vulkan sich
dort befindet, wo er sich befindet. Er enthüllt
die Geheimnisse hinter der Erschaffung von
Mann und Frau, die Gründe, warum Schweine
auf allen Vieren gehen, und wie Vulkane
entstanden sind. Der Film schildert freimütig
eine Schöpfungsgeschichte aus einem
Stammes-Dorf im Südpazifik. Gedreht auf
16mm und in schwarz und weiß vermittelt er
den Eindruck eines Lehrfilms aus dem frühen
20. Jahrhundert, ein Eindruck, der immer
dann gebrochen wird, wenn Dorfbewohner mit
Mobiltelefonen zu sehen sind.
Schöpfungsmythen“, kommentiert Rivers,
der die lokale Bevölkerung sowohl mit
domestizierten Tieren als auch mit moderner
Technik dokumentiert. Zugleich ist er
bereit, eine möglichst breitere Dimension
einer ansonsten sehr lokalen Sicht auf das
Universum stillschweigend anzudeuten.
Der Film ist teilfinanziert worden durch Film
London Artist‘s Moving Image Network und
Rouge International, Paris, entstanden durch
die Beteiligung von Chief Johnson, Chief Isak
Wan, dem Team von FONA, den Bewohnern
der Insel Ambrym und des John Frum Dorfes,
Tanna, Republik Vanuatu.
A domesticated wild pig rests on the ground.
Nearby, laundry is drying on a woven mat.
Children look curiously and distrustfully into
the camera. The pig lets itself be nuzzled and
grunts contentedly.
Three mythical stories as told by the
inhabitants of the Melanesian island state of
Vanuatu in the Pacific Ocean, set against a
backdrop of black-and-white footage of the
place of the stories‘ origin. The film explores
the myths and legends of the archipelago,
dealing in particular with the origin of man,
why pigs look like they do and how a volcano
came to be where it is. It reveals the mysteries
behind the creation of man and woman, the
reasons why pigs walk on all fours, and how
volcanoes were made. The film candidly depicts
a creation story from a tribal village in the
Es ist nicht notwendig weitere Fragen zu
South Pacific. Shot on 16mm film, in black and
stellen um den Sachverhalt zu ermitteln. Es
white, it gives the impression of an educational
reicht aus zu beobachten (vielleicht einfach nur film from the early 20th century, an impression
das Trocknen von Wäsche und die ungläubigen which is broken when you see the villagers
Blicke von Kindern) und zu zuhören (vielleicht
using mobile phones.
die Schöpfungsgeschichten). Diejenigen
(Geschichten), die von den Bewohnern des
It isn’t necessary to keep on asking questions
Inselstaats Vanuatu überliefert sind, sind
in order to ascertain the facts. It’s enough
andere als bei uns.
to observe (perhaps drying laundry and the
„Was ich mag ist, dass sie nicht mehr
disbelieving looks of children) and to listen
oder weniger absurd sind als andere
(perhaps to creation stories). Those handed
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down by the inhabitants of the island country of
Vanuatu are entirely different from ours. „What
I like is that they are no more or less absurd
than other creation myths,” comments Rivers,
who documents the local inhabitants with both
domesticated animals and modern technology.
At the same time he is prepared to imply a
possible wider view of an otherwise very local
perspective on the universe.
Partly funded by Film London Artist‘s Moving
Image Network and Rouge International, Paris.
Made with the participation of Chief Johnson
and Chief Isak Wan and the people of Fona,
Ambrym and John Frum Village, Tanna, the
Republic of Vanuatu.
Filmtext (dt.)
von Ben Rivers
(00:05) Die Schöpfung, wie wir sie sahen
(00:11) Teil 1
(01:16, Titelkarte I)
Einst fiel eine Frucht von einem Baum auf
die Kante seiner Wurzel, die Frucht wurde in
zwei Teile gespalten, wobei die Hälften jeweils
auf eine Seite der Wurzel fielen. Daraus
erwuchsen ein Mann und eine Frau.
(02:14, Titelkarte II)
In der Nähe des Baums wuchs ein Bambus.
Im Wind rieb er gegen einen trockenen Ast.
So entstand das Feuer. Der Mann nahm das
Feuer, verbrannte sich zuerst und entzündete
dann trockene Zweige.
(03:35, Titelkarte III)
Die Frau roch das Feuer, sie blickte über die
Wurzel, sah den Mann und fragte ihn, was das
sei. Er sagte, es sei Feuer, und gab ihr etwas
davon. Seitdem hatten der Mann und die Frau
immer getrennte Feuer. Später heirateten sie.
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(04:32) Teil 2
(04:49, Titelkarte IV)
Es heißt, irgendwann einmal liefen Menschen
wie Schweine und Schweine liefen aufrecht.
Die Vögel und einige Reptilien versammelten
sich und sprachen darüber.
(05:23, Titelkarte V)
Die Echse sagte, sie finde, das Schwein
sollte auf allen Vieren gehen und der Mensch
aufrecht. Der Uferwaldsänger war nicht dieser
Meinung, also beschloss die Echse eine List.
(06:09, Titelkarte VI)
Schließlich kletterte die Echse auf einen
Kokosbaum, ließ sich auf den Rücken eines
Schweins fallen und zwang es, sich zu bücken
und zu kriechen.
(06:53, Titelkarte VII)
Seitdem kriechen die Schweine und die
Menschen gehen aufrecht. Die erste der
menschlichen Rasse war eine Frau, dann kam
ihr Sohn. Aus ihnen erwuchs die menschliche
Rasse.
(07:53) Teil 3
(09:41, Titelkarte VIII)
Vor langer Zeit, als der Vulkan in
einem anderen Land lebte, regnete es
ununterbrochen und das Meer stieg so stark
an, bis es drohte, alles zu überschwemmen.
Alle ertranken, bis auf die wenigen, die auf die
Spitze des Vulkans kletterten.
(11:05, Titelkarte IX)
Der Vulkan fürchtete sein großes Feuer würde
erlöschen, er trennte sich vom Land und
suchte ein neues Zuhause auf höherem Grund.
Er segelte auf der Flut nach Tanna, und sein
Feuer war beinahe erloschen.
(11:45, Titelkarte X)
Der Vulkan lief über ganz Tanna auf der Suche
nach einem Ort, an dem er leben konnte.
Er begegnete zwei alten Damen, Sabai und
Maoga, die Laplap in einem sehr heißen Feuer
kochten.
(12:22, Titelkarte XI)
Er war so kalt, dass sie ihn baten, näher an
die heiße Erde zu rücken, die das Laplap
bedeckte. Sie gaben ihm Wasser zu trinken.
Das führte zu einer plötzlichen Explosion,
wodurch die beiden alten Damen bedeckt und
zum Yasur-Vulkan wurden.
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Krazy Kat, New Year
Rahmenprogramm
SIDE PROGRAM
Eröffnung der Ausstellung /
Opening of the exhibition
Freitag / Friday 22.4.2016, 19 Uhr / 7pm
Redner/ Speaker Christina SchmitzMorkramer, Bettina Steinbrügge
Kurzfilme / Short films
Künstlergespräch / Artist Talk
Samstag / Saturday 23.4.2016, 15 Uhr / 3 pm
Ben Rivers im Gespräch
mit / in conversation with Bettina Steinbrügge
und / and Mark Peranson (Festival del Film
Locarno)
Depression in the Bay of Bengal
Mark LaPore, 1996, 29 min
Kuratorenführung /
Curator‘s guided tour
Donnerstag / Thursday 5.5.2016,
17 Uhr / 5 pm
Donnerstag / Thursday 22.05.2016,
15 Uhr / 3 pm
von / by Bettina Steinbrügge
Filmprogramm kuratiert von /
Filmprogram curated by
Ben Rivers für / for METROPOLIS
(Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg)
Montag / Monday 13.6.2016, 19 Uhr / 7 pm
Study of an Island
Rudolf Thome and Cynthia Beatt
1979, 190 min
Kuratorenführung /
Curator‘s guided tour
Sonntag / Sunday 19.06.2016, 15 Uhr / 3 pm
von / by Bettina Steinbrügge
Filmprogramm kuratiert von /
Filmprogram curated by
Ben Rivers für / for METROPOLIS
(Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg)
Montag / Monday 20.6.2016, 19 Uhr / 7 pm
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Let us Persevere in What We Have
Resolved Before We Forget
Ben Russell, 2013, 20 min
Fake Fruit Factory
Chick Strand, 1986, 21.41 min
Children‘s Magical Death
Timothy Asch & Napolean Chagnon
1974, 8 min
Filmprogramm / Filmprogram
METROPOLIS
(Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg)
Montag / Monday 27.6.2016, 19 Uhr, 7 pm
Two Years at Sea
Ben Rivers, 2011, 88 min
Wöchentliche Führungen /
Weekly guided tours
Donnerstags / Thursdays, 17 Uhr / 5 pm
IMPRESSUM
COLOPHON
Bettina Steinbrügge
Kuratorin / Curator
Booklet
Bettina Steinbrügge, Anna Nowak
Readaktion / Copy Editing
Karl Hoffmann
Übersetzung / Translation
Robert Görß
Technischer Leiter /
Technical Manager
[email protected]
Heinz Völlen, Tobias Sandberger, Joshua
Sassmannshausen, Björn Westphal,
Priscilla Vergissmeinnicht, Jeppe Rohde
Aufbauteam / Installation Team
Brigitte Skerra
Mitgliederbetreuung / Members
[email protected]
Lilli Ruopp
Praktikantin / Intern
Team Kunstverein in Hamburg
Bettina Steinbrügge
Direktorin / Director
Tobias Peper
Kuratorische Assistenz /
Curatorial Assistance
[email protected]
Corinna Koch
Ausstellungsmanagement /
Exhibition Management
[email protected]
Anna Nowak
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
Assistenzkuratorin /
Public Relations,
Assistant Curator
[email protected]
[email protected]
Emek Ulusay
Kaufmännische Leiterin / Head of Finance
[email protected]
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Maike Nuppnau, Florentine Pahl
Kasse / Visitors Service
Antje Klein
Ehrenamt / Volunteering
Frauke Willems
Förderkreis / Supporters
[email protected]
Florian Berger, Stefanie Busold
Harald Falckenberg, Ernst Josef Pauw
Christina Schmitz-Morkramer
Klaus Schockmann, Christoph Seibt
Andreas Siebold, Timm Weber
Vorstand / Board
© the artist
Courtesy the artist & Kate MacGarry Gallery
Mit freundlicher Unterstützung der
Kulturbehörde der Freien und
Hansestadt Hamburg und des British Council /
With the kind support of the Culture Department
of the Free and Hanseatic City of Hamburg
and the British Council
kunstverein.de
Kunstverein in Hamburg
Klosterwall 23
20095 Hamburg
T +49 40322157
F +49 40322159
[email protected]
www.kunstverein.de

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