Schwerter zu Pflugscharen

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Schwerter zu Pflugscharen
Schwerter zu Pflugscharen
E i n P ro j e k t l eb t vo r, w i e Z u k u n f t ge s t a l t e t we r d e n k a n n
Friedensdienst auf einem ehemaligen Militärgelände bei Irkutsk (Russland)
Schwerter zu Pflugscharen
Ein Projekt lebt vor, wie Zukunft gestaltet werden kann
Friedensdienst auf einem ehemaligen Militärgelände bei Irkutsk (Russland)
Beitrag der Deutsch-Russischen Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis zum
„7. Wettbewerb für EUROPA“,
© 2006 by Deutsch-Russische Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis,
Tim Mergelsberg
Im Rahmen der Wettbewerbsbedingungen hat die Volksbank Pforzheim ein Copyright
Texte: Annika Frohböse, Jakob Steigerwald, Katharina Leicht, Tim Mergelsberg
Redaktion: Katharina Leicht
Bilder: Jakob Steigerwald, Tim Mergelsberg
Layout: Tim Mergelsberg
Umschlaggestaltung: Tim Mergelsberg
Kartenmaterial:
Detailkarte Baikal: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bf/Karte_baikal2.png
Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0
Deutschland Autor: André,
Russlandkarte: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Rs-map.png
(Ohne Copyright)
Rotes Emblem auf der Titelseite: Tafel, (35 x 30 cm) gefunden auf dem Gelände von Istok
Übersetzung:
„Verteidigungsministerium UdSSR
10 . Un t e r a b t e i l u n g
Armeestützupunkt 25512“
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Schwerter zu Pflugscharen
Ein Projekt lebt vor, wie Zukunft gestaltet werden kann
Friedensdienst auf einem ehemaligen Militärgelände bei Irkutsk (Russland)
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Diese Arbeit ist ein Beitrag zum „7. Wettbewerb für EUROPA“,
eingereicht von der Deutsch-Russischen Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis
Für Annika
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6
Zeitstrahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8
Übersichtskarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11
Zivildienst in Irkutsk
1.
Ein Jahr „Zivi“ am Baikalsee
Bericht einer Reise in die Unendlichkeit - Vom 1.Juli 2003 bis 1.Juli 2004
Zusammenfassender Bericht von Tim Mergelsberg vom 26.10.2004 (Rückschau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12
2.
Briefe, Blitzlichter und Glossen - August 2003 bis Juni 2004
2.1.
-
Spätsommer und Herbst 2003
Ankunft, Neugier, erste Erfahrungen und Ernüchterung - Der erste Brief aus Irkutsk vom 25.08.03 . . . . . . . .18
Wieso es Maria Wasilewna egal ist, ob mein Großvater bei der SS war. Blitzlicht vom 02.09.03 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20
„Gud bai, Lenin“ - Glosse vom 06.09.03 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22
2.2.
-
Winter 2003/2004
Eine ganz normale Woche - Versuch einer Chronik. - Brief vom 04.12.03 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23
Russland, einig Vaterland - Wahlkampf-Glosse vom 04.12.03 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26
Sternschnattern - Glosse vom 11.01.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
Ein ganz normales Wochenende in Sibirien - Tagebuchausschnitt von Freitag, dem 01.02.04 . . . . . . . . . . . .29
2.3.
Frühjahr und Sommer 2004:
Ein etwas anderes sibirisches Dorf
Jakob Steigerwald beschreibt seine Eindrücke vom Dorfprojekt „Istok“ 27.4.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32
Tauwetter - Brief vom 10.04.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34
100 Jahre sind keine Zeit - Brief vom 10.06.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36
-
Projekt:
Aufbau einer Werkstatt im heilpädagogischen Dorf „Istok“
Winter 2004 / Frühling 2005
Zurück in der russischen Heimat - Brief vom 03.11.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39
Posharnik - Brief vom Dienstag, 16.11.2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41
Draußen von der Taiga komme ich her ... - Brief vom 30.12.04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
Eröffnung der Birkendosenwerkstatt - Brief vom 01.03.05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45
Erreichtes Ziel - Die Werkstatt ist eröffnet! Film von März 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48
Anhang
-
5
Unverständlich - Einige russische Phänome werden erklärt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51
8000 Kilometer gen Osten - Jakob Steigerwald beschreibt seine Fahrt nach Russland. . . . . . . . . . . . . . . . .52
Aggregatzustände - Annika Frohböse beschreibt ihre Erlebnisse von März bis Mai 2004 . . . . . . . . . . . . . .54
Irkutsk - eine Stadt zwischen Asien und Europa (J. Steigerwald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57
Arbeitszeugnis von Tatjana Kokina und anderen zum Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .60
Vision sagaan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62
Vorwort
Einrichtung einer „Zivildienststelle“ am Europäischen Haus
A
ls wir 1998 das Europäische Haus in Irkutsk eröffneten, war es noch ein Traum von uns, dass dort einmal junge Männer ihren „Alternativen Dienst“ - wie man in Russland den Zivildienst nennt - leisten
könnten .
Dank der Unterstützung von Herrn Jürgen Stude, Mitarbeiter der Evangelischen Landeskirche in Baden, konnten wir eine Stelle am Europäischen Haus für den „Anderen Dienst im Ausland“ einrichten, die vom Bundesamt
für Zivildienst in Köln anerkannt wurde.
Die Konzeption dieser Friedensdienst-Stelle sah so aus, dass der „Zivi“ bei mehreren, am Europäischen Haus
als Mitglied eingetragenen Organisationen arbeitet. Aber als Haupttätigkeitsbereich erwies sich für unseren
„Friedensdienstler“ Tim Mergelsberg die Arbeit im heilpädagogischen Dorf „Istok - Quelle“, 30 Kilometer
außerhalb von Irkutsk, weil Arbeitskräfte dort am dringendsten gebraucht werden.
D
as Dorf „Istok“ wurde im Herbst 1999 von Eltern und Lehrern gegründet, damit ihre Jugendlichen,
die aus der Irkutsker heilpädagogischen Schule „Talisman“ herauswachsen, im Dorf weiterhin eine
Bleibe haben können, die ihnen ein Leben in Würde ermöglicht.
Mit einer sozialtherapeutischen Arbeits- und Lebensgemeinschaft soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden,
einer individuell sinnvollen Arbeit nachzugehen und in betreuten Wohngemeinschaften zusammen zu leben.
Von der Raketenbasis zur heiltherapeutischen Dorfgemeinschaft
Der Staat stellte der Elterninitiative ein Gelände einer ehemaligen Atom-Raketenbasis zur Verfügung. Parallel
zum Ausbau des ersten Wohnhauses musste der Ort von „Überbleibseln“ der sowjetischen Armee geräumt
werden. Tonnenweise Schrott fiel an, der fortgebracht werden musste. Gleichzeitig wurden Kartoffeln und
Gemüse gepflanzt und eine Kaninchen- und Hühnerzucht begonnen.
Das Dorf, inmitten schöner Birkenwälder gelegen, wurde von den Initiatoren „Istok“ - „Quelle“ genannt,
womit sich die Hoffnung ausdrückt, dass es zu einer Quelle des Lebens für seine Bewohner wird.
Das Europäische Haus
in Irkutsk ermöglichte
den Zivildienst und alle
Kontakte, sowie die
Bildung der Netzwerke.
6
Im Herbst trat der erste
Pforzheimer Freiwillige seinen „Anderen Dienst im
Ausland“ dort an. Noch gab
es keinen Strom und auch
kein fließendes Wasser,
geschweige denn ein Telefon
oder Fernseher. Um auf die
Verbindungsstraße
nach
Irkutsk zu kommen, muss
man sieben Kilometer, meistens zu Fuß zurücklegen - im
Winter
durch
tiefsten
Schnee, im Frühjahr durch
Schlamm.
Drei Jahre später, im
Das soziale Dorfprojekt „Istok“ wurde auf einem verlassenem Militärgelände
August 2003 kam Tim
der Sowjetarmee gerichtet. Mühsam und liebevoll werden die alten
Offizierswohnungen restauriert.
Mergelsberg;
inzwischen
waren
Stromund
Wasserleitungen vorhanden, aber außergewöhnlich und - nicht nur für Jugendliche aus Deutschland - entbehrungsreich ist das Leben dort auch heute noch.
In den hier zusammengestellten Briefen und Berichten erhalten wir einen Eindruck vom Leben in Russland
und speziell vom Alltag in dem Dorf Istok aus der Perspektive eines von außen Hinzugekommenen, eines
„Westlers“, der voller Neugier und Abenteuerlust sich auf die fremde Welt einlässt.
Unser „Zivi“ Tim Mergelsberg erhält Besuch von seiner Freundin Annika und von einem weiteren
Friedensdienstleistenden, die ihn für längere Zeit bei seiner Arbeit unterstützen. Auch von diesen jungen
Menschen haben wir einige Beiträge hinzugefügt.
Sie beschreiben ihre Eindrücke mit jugendlich-frischer Distanz einerseits und doch viel
Einfühlungsvermögen für die Menschen, mit denen sie zusammen waren.
Aus dem Friedensdienst entsteht ein Projekt für die Zukunft des Dorfes
In Tim Mergelsberg erwacht der Wunsch, dass sein Friedensdienst für das Dorf Istok eine Weiterentwicklung
ermöglicht; er möchte dort eine Behindertenwerkstatt einrichten, in der die betreuten Jugendlichen ein traditionelles sibirisches Handwerk ausüben können und das mit zur Existenzsicherung beiträgt. So fährt er wenige Monate nach Beendigung seines Pflichtjahres wieder dorthin, um seine Idee zu verwirklichen.
Katharina Leicht
für die Deutsch-Russische Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis
7
1 Der „Andere Dienst im Ausland“ ist kein Zivildienst, da dieser aus „aus völkerrechtlichen Gründen nur auf dem Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland geleistet werden kann. ... Gemäß § 12 b ZDG werden anerkannte Kriegsdienstverweigerer nicht
zum Zivildienst herangezogen, wenn sie sich ... zur Leistung eines „Anderen Dienstes im Ausland“ verpflichtet haben.“ Dieser Dienst
„... dauert zwei Monate länger als der Zivildienst, zurzeit also mindestens 11 Monate.“ Zitiert aus dem Informationsblatt des
Bundesamtes für Zivildienst vom Mai 2005. Für Tim Mergelsberg dauerte dieser Dienst noch 12 Monate.
1. Juli 2004
D
1. Februar 2004
J
akob Steigerwald folgt ihm nach Irkutsk
und ist fasziniert von dem etwas anderen Dorfprojekt
er Zivildienst ist beendet. Jakob
Steigerwald
und
Tim
Mergelsberg
kehren
nach
Deutschland zurück. Aber schon ist
eine neue Idee geboren...
Bericht Seite 36
Bericht Seite 32
1. März 2004
A
1. Juli 2003
T
im Mergelsberg bricht nach
Russland auf. Es kann losgehen!
nnika Frohböse fährt für drei Monate
an den Baikalsee. Bereits in dieser kurzen Zeit widerfahren ihr einschneidende
Erlebnisse.
Bericht Seite 54
Bericht Seite 12
8
1. Juli 2005
S
10. Januar 2005
N
och zwei Monate bis zur
Eröffnung der Birkenwerkstatt.
Jakob Steigerwald trifft ein. Von nun
an wird für das Projekt rund um die
Uhr gearbeitet!
agaan, eine Idee ist geboren. Eine kleine
Firma verkauft hochwertige Produkte,
die in sozialen Einrichtungen in sibirien produziert werden.
Ein Netzwerk entsteht.
Vision Seite 62
Bericht Seite 45
13. Oktober 2004
W
ieder in Russland: Tim Mergelsberg
macht sich an die große Aufgabe,
eine Werkstatt aufzubauen. Und fühlt sich
bei „Istok“ wieder wie zuhause.
Bericht Seite 39
26. Februar 2005
D
ie Werkstatt ist fertig! In einem
feierlichen Akt wird die neue
Produktionslinie für Birkengefäße in
Betrieb genommen. Von nun an können bis
zu sieben Betreute hier arbeiten
Film Seite 47
9
Zivildienst in Irkutsk
10
Übersichtskarte
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Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0 Deutschland Autor: André,
http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Rs-map.png
11
Ein Jahr Zivi am Baikalsee
Bericht einer Reise in die Unendlichkeit - Vom 1.Juli 2003 bis 1. Juli 2004
E
s ist gewissermaßen paradox, seinen Friedensdienst an einem Ort abzuleisten, wo noch wenige Jahre
vorher sowjetische Soldaten lernten, atomar bestückbare Raketen zu bedienen und damit meine
Hälfte der Welt auszulöschen.
Es ist gewissermaßen paradox, dass an einem ehemaligen Raketenstützpunkt der Roten Armee*, ein für
Russland einmaliges Projekt entstand: „Talisman-Istok“, ein Dorfprojekt, in dem Behinderte mit Würde behandelt und ihre Fähigkeiten gefördert werden.
Sibirien ist gewissermaßen paradox.
Das durfte ich während meiner einjährigen Zeit am Baikalsee erfahren.
Die Vorbereitung
B
evor ich gen Osten ziehen konnte, wartete eine intensive Vorbereitungszeit von über einem Jahr auf
mich. Die Besonderheit lag darin, dass mein Irkutskter Arbeitsplatz bereits früher als Zivistelle anerkannt
war, aber neu beantragt werden musste. So wurde ich schon ganz zu Beginn der Vorbereitung mit der russischen Seele vertraut gemacht. Die Motti „Schauen wir mal“ und „Das wird schon irgendwie klappen“ bzw.
„Warten wir mal ab“ beunruhigen zu Beginn eine deutsche Seele. Doch nicht nur auf russischer, auch auf deutscher Seite erforderte es viel Geduld und Engagement, bis die vielen kleinen Hoffnungsschimmer nicht verglühten, sondern sich zu einen leuchtenden, den Weg weisenden Stern ergaben. Hierbei sei ganz besonders
Frau Katharina Leicht der Deutsch-Russischen-Gesellschaft Pforzheim und Herrn Jürgen Stude von der evangelischen Landeskirche Baden zu danken, ohne die meine Zeit in Sibirien nicht hätte zustande kommen können.
Neben
der
formellen
Vorbereitung galt es auch, sich
inhaltlich vorzubereiten. Da ich
keine Russischkenntnisse mitbrachte, beschloss ich beim
Landesspraenchinstitut Bochum
(Russicum) einen kurzen Kurs zu
besuchen. Außerdem lebte ich je ca.
6 Wochen in Minsk und St.
Petersburg, ehe ich meinen Dienst
in Irkutsk antrat.
* Der Ausdruck „Sowjetarmee“ wäre richtig.
(Rote Armee: bis 1946 offizieller Name
der 1918 von L. D. Trotzki gegründeten
Streitkräfte der Sowjetunion; danach
Sowjetarmee genannt. (Anm. d. Red.))
Tim Mergelsberg bei seiner Arbeit in Sibirien: Tagsüber wurde mit den
Betreuten gearbeitet. Vorbereitet wurde die Arbeit meist in der
Mittagspause oder nachts
12
Die Dienststellen
Die offizielle Einsatzstelle war das „Europäische Haus“ in Irkutsk. Die Betreuung seitens des europäischen
Hauses durch Sergej Arfanidi verlief einwandfrei und das gesamte Jahr über ohne Probleme oder Konflikte.
Dieses vermittelte mich an folgende Einrichtungen:
1. Talisman-Istok
Rund 3/4 des Jahres und über 100% der zu leistenden Arbeitszeit verbrachte ich in diesem Dorfprojekt. Bei
meiner Ankunft stand das Dorf durch Mitarbeitermangel in großen Schwierigkeiten. Dadurch wurde ich sehr
bald stark herausgefordert und beansprucht. Positiv hierbei war, dass ich durch Hans Gammeter in den ersten
zwei Wochen eine Bezugsperson aus dem Westen hatte, die mir therapeutisch, organisatorisch, handwerklich
und lebenspraktisch eine gute Einführung geben konnte. Außerdem arbeitete im Oktober/November ein
Schreiner aus der Schweiz im Dorf mit, der mir den Einstieg in die Holzwerkstatt erleichterte. Diese leitete ich
ab Ende November dann alleine. Die Holzwerkstatt bildet in der regelmäßigen täglichen Arbeit das Herzstück,
so dass ich zeitweise mit bis zu sieben teils nicht einfachen Betreuten alleine war. Die Arbeit hier bot zweifelsohne große Chancen in meiner persönlichen Entfaltung und der kreativen Arbeit. Dennoch gestaltete sie sich
gewissermaßen zu einer Doppelbelastung. Von den großen Herausforderungen, mit denen man als Leiter
einer Holzwerkstatt konfrontiert wird, überfordert, dadurch gestalterisch-kreativ eingeschränkt, unfrei und
somit teilweise auch geistig überfordert. Dies verstand ich allerdings mehr als interessante Grenzerfahrung,
denn als ein unlösbares Problem.
Gleichzeitig hatte ich mit der Tierhaltung einen weiteren nicht unwesentlichen Bereich zu betreuen.
Eine solche Forderung bedeutet nicht nur Arbeiten ohne geregelte Arbeitszeiten, ohne Feierabend und
Wochenende. Sie bedeutet auch eine Verantwortung, aus der man sich schwer lösen kann. So waren für mich
dringend notwendige Aus-Zeiten am Baikal schwer zu erkämpfen (was allerdings auch an der
Mitarbeiterführung liegt) und im Dezember war ich mit einem therapeutisch unwilligen Mitarbeiter und den
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Die Therapeutische Arbeit in den Werkstätten ist die eigentliche Aufgabe von „Istok“.
Hier Jakob Steigerwald mit einem Betreuten
Betreuten alleine im Dorf. Dies führte dazu, dass ich mir ab Januar einen zweiten „freien“ Tag erkämpfte, um
nun zwei Tage die Woche für die Wozroshdenje zu arbeiten, was zumindest etwas Abstand zum Dorf und ein
Eintauchen in die Stadtwelt ermöglichte.
Ab Februar bekam ich von einem weiteren jungen Mann aus Deutschland in allen meinen Aufgaben große
Unterstützung (vgl. S. 32). Schnell spielte sich ein gutes Team ein, so dass Aufgaben und Lasten auf zwei weiteren Schultern verteilt waren. Durch weitere westliche Co-Worker entwickelte sich eine gute Stimmung innerhalb der westlichen Mitarbeiterschaft und eine gemeinsame Freizeitgestaltung. Dadurch fand sich besonders
ab Februar für die Arbeit eine fast grundweg positive Grundstimmung.
Gegen Ende des Zivildienstes ergab sich die Möglichkeit, für das Dorfprojekt eine neue Werkstatt, in der
die Betreuten traditionelle Birkenrindendöschen herstellen sollen, aufzubauen, die eine Firma abnehmen will.
Dadurch könnte für Istok ein neuer Markt erschlossen werden. Dies wäre finanziell für das Dorf und für die
Entwicklung der Betreuten ein großer Schritt. Eine erste Probeproduktion lief daher schon in der abschließenden Zivi-Zeit an. Im Herbst/Winter 2004/2005 werde ich für den Aufbau dieser Werkstatt und zur
Einarbeitung der Mitarbeiter in diese, sowie in die Holzwerkstatt erneut für einige Monate die Einrichtung
aufsuchen.
2. Wozroshdenje Semli Sibirskoje (WSS)
In dieser Organisation, die sich für ökologische und gesellschaftliche Belange in der Region einsetzt, arbeitete
ich von Januar bis Juni zwei Tage pro Woche. Durch meine Anwesenheit erlangte ich guten Einblick in die
NGO-Strukturen des Irkutsker Oblast (Regierungsbezirk). Obwohl ich die Arbeitsweise selbst so wählte, bereitete es Schwierigkeiten, regelmäßig aber in zu großen Abständen zu arbeiten.
Da die Struktur dieser NGO für westliche Verhältnisse sehr undurchschaubar sind, benötigte ich viel Zeit,
die Arbeitsabläufe zu verstehen und in das Netzwerk eingebunden zu werden. Auch sind viele Abläufe bzw.
Umsetzungsmöglichkeiten durch die Begebenheiten anders oder Aufgaben für unsere Begriffe falsch angesiedelt, da sie beispielsweise vom Staat wahrgenommen werden sollten.
So verbrachte ich einige Zeit
erst einmal damit, in verschiedenen Bereichen zuzuarbeiten,
unterstützte die Vorbereitung
und bei der Durchführung von
Veranstaltungen, ehe ich mit
zwei Hauptaufgaben vertraut
wurde. Zum Einen wurde ich für
den Kontakt mit IKEA zuständig.
IKEA siedelte sich zu der Zeit in
Irkutsk an, um die großen
Ressourcen der Taiga zu nutzen.
Die WSS sah ihre Aufgabe in
einer Kooperation mit IKEA, um
nachhaltig und legal Holz zu
gewinnen und somit eine
Vorbildfunktion in der Region
zu schaffen.
Des weiteren wurde ich damit
Tim Mergelsberg bei der Arbeit für den Umweltverein „Wozroshdenje Semli
betraut, eine Broschüre zu erstelSibirskoje: Gespräche zwischen IKEA und Forstverwaltung.
len, in der die wichtigsten Fakten
14
zum Thema „Nachhaltiges Büro“ zusammengefasst sind und daraus einen Leitfaden zu erstellen. Diese Arbeit
wurde zum Großteil ins Russische übersetzt.
3. Natascha und Nikita Bencharov
Bei dem einjährigen
Aufenthalt in Ostsibirien war es mir
auch wichtig, den
Baikalsee im Laufe
der Jahreszeiten zu
erleben. Durch
meine dritte
Arbeitsstelle konnte
ich das erreichen.
Bei Natascha und
Nikita Bencharov
auf der größten Insel
„Olchon“ lebte ich
das Jahr über jeweils
e i n i g e Wo c h e n
blockweise.
Bencharovs sind
Pioniere im sanften
Bei der Arbeit auf der Insel „Olchon“: Kinder des Dorfes Chuschir sind begeistert bei der
To u r i s m u s
am
Bastelarbeit für ihren Umweltclub „Bergut“
Baikalsee und führen neben der
Tourbasa, eine Art
Herberge, die sie betreiben, viele soziale Projekte durch. So war ich neben Arbeiten im Bau und der Wirtschaft
vor allem mit den Dorfkindern von Chuschir beschäftigt, nahm an Bildungsprogrammen (Deutschunterricht)
teil und begleitete die Kinder-Umwelt-Gruppe „Bergut“, begleitete die Vorbereitungen und Durchführung
eines Theaterstückes, das sie einprobten. Außerdem begleitete ich sie auf Exkursionen.
15
Resümee
Ein Zivildienst im Ausland ist nicht für jeden etwas und ist mit viel Aufwand und Arbeit verbunden - in der
Vorbereitung und im Dienst selbst. Gerade durch meine recht seltene Anwesenheit in der Stadt konnten zwar
Kontakte zu Gleichaltrigen und der Bevölkerung geknüpft, diese aber selten vertieft werden, da ich gewöhnlich 5-6 Tage in der Woche außerhalb der Stadt, ohne bzw. mit katastrophaler Telefonanbindung lebte und
auch in der „freien“ Zeit Aufgaben erledigte.
Dem gegenüber stehen Erfahrungen und Erlebnisse, die auch eine Arbeitsstelle in der Stadt nicht hätte bieten können, Grenzerlebnisse, Freuden- und Frustmomente. Oftmals war ich nahe daran, meine Arbeitszeit bei
Talisman-Istok herunterzufahren, um mich mehr den Arbeitsstellen in der Stadt und auf Olchon zuwenden
zu können. Zwar sah ich Istok als meine eigentliche Arbeitsstelle an, doch wurde ich hier oft sehr hart gefordert. Freizeit zu erkämpfen war stets eine emotionale Gratwanderung und die Woche für Woche neu auftretenden Probleme und Katastrophen machten oftmals einen Rhythmus und ein geregeltes Arbeitsleben zunichte. Dennoch hielt es mich an dieser Stelle. Dies lag zum Einen an den Aufgabengebieten, die ich hier hatte.
Durch die sehr selbständige Gestaltung der Holzwerkstatt hatte ich „meinen“ Bereich. Zum Anderen konnte
ich auch Kontakte zu anderen jungen Menschen aus dem Westen aufbauen, was teilweise ein Heimatgefühl
vermittelte. Zu Beginn meiner Zeit konnte ich mir noch viel Wissen und Erfahrung durch den Schweizer Hans
Gammeter aneignen. Dieser arbeitet seit über 30 Jahren in Camphill-Einrichtungen, ist Schreinermeister und
war zuletzt Geschäftsführer einer solchen Einrichtung. Seit zwei Jahren begleitete er den Aufbau des Dorfes.
Das meiste Wissen, das ich direkt vermittelt bekam, kam von ihm. Außerdem führte mich ein weiterer
Schweizer Schreinermeister ausführlich in die Holzwerkstatt ein. Ohne diese beiden Menschen wäre es noch
schwieriger gewesen, die ohnehin schon große Zumutung zu meistern, alleine eine Holzwerkstatt mit
Betreuten zu leiten. Bis Februar war ich quasi alleine, was zeitweise eine Zerreißprobe darstellte, andererseits
auch wichtige Erfahrungen ermöglichte. Ich will diese zwar schwere, aber intensive Zeit nicht missen. In diesem ersten Halbjahr lernte und sah ich ganz besonders viel und auch die Russischkenntnisse profitierten
davon, dass ich wenig Kontakt zu anderen Menschen aus dem Westen hatte.
Dennoch war es gut und wichtig, dass ab Februar wir zu zweit bis viert aus dem Westen hier arbeiteten und
so festgefahrene Strukturen gelockert wurden und mehr Privatleben möglich wurde.
Ohne die Möglichkeiten, auch in den anderen Bereichen der WSS und auf Olchon zu arbeiten, wäre es
schwerlich für ein Jahr aushaltbar bei Istok geworden. Hier ist man ja im Großen und Ganzen auf einen
Personenkreis von rund 20 Personen beschränkt. Sehr wichtig ist also im Falle einer Arbeit in solch einer
Einrichtung auch die Möglichkeit, in andere Gebiete Einblick und dort Arbeitsmöglichkeit zu erhalten. Dies
müsste - falls gewünscht - allerdings von vornherein so kommuniziert und mit der Einrichtung vereinbart,
sowie vor Ort dann auch von der Trägerstelle eingefordert werden.
Ein Trostpflaster in den schwierigen und einsamen Zeiten war gewiss die zauberhafte Natur Sibiriens.
Besonders der Winter in seiner klirrenden Klarheit und Mächtigkeit boten Möglichkeiten zum Staunen und
Fotografieren. Die Dias zeigte ich danach an einigen Orten in Deutschland.
Da in der Zusammenfassung vielleicht ein negatives Resultat erscheinen mag, muss darauf hingewiesen werden, dass die Zeit nicht negativ angesehen, sondern als eine erfüllte, reiche wenn auch oft sehr schwierige
erlebt wurde.
Solche Erlebnisse stellen auch stets Weichen in der persönlichen Entwicklung und so konnte ich auch während des Zivildienstes konkrete
Zukunftspläne schmieden und
mich zu einem Studienplatz entschließen. Zuallererst allerdings und dies unterstreicht die summa
summarum
doch
positiven
Erlebnisse - entschloss ich mich,
erneut für vier bis fünf Monate
nach Irkutsk aufzubrechen. Neben
dem Aufbau der Birkenrindenwerkstatt werde ich diesmal auch
die Möglichkeit haben, viel freier
und flexibler zu leben, zu reisen
und meine Freizeit selbst zu gestalten. Der Zivildienst in Irkutsk lässt
Bezaubernde Weite Sibiriens: Ein Naturparadies
also in die Zukunft blicken.
26.Oktober 2004
Tim Mergelsberg
16
Briefe, Blitzlichter und Glossen
August 2003 bis Juni 2004
17
Ankunft, Neugier, erste Erfahrungen und Ernüchterung
Der erste Brief aus Irkutsk
H
allo Frau Leicht!
25.8.2003
Mittlerweile bin ich hier in der dritten realen Dienstwoche bei Talisman. Nach einem Jahr intensivem
Vorbereiten und vor allem Freuen auf die Stelle hier, kam natürlich in den ersten Tagen erst einmal die
Ernüchterung. Diese ging mit den viel zu hohen Erwartungen, die ich inhaltlich an die Einrichtungen hier hatte,
Hand in Hand. Das heißt, dass ich in manchen Gebieten erwartet hätte, von den Mitarbeitern hier mehr inhaltlich zu lernen. Doch besonders auf dem Gebiet der Heilpädagogik ist es hier natürlich sehr schwierig voranzukommen. Es ist doch andererseits sehr zu bewundern, welche Schritte die Mitarbeiter, vor allem Mütter
betroffener Kinder, hier schon gegangen sind, sowohl im Umgang mit Behinderten, als auch welche Steine sie
ständig aus dem Weg räumen, was sie alles schon geleistet haben und welche großen Fortschritte es gibt, der
Bau ist sehr schwierig, auch die vielen anderen organisatorischen Dinge, hier arbeiten sie ohne Rast und Ruh
und stecken ihre gesamte Energie hinein, das ist faszinierend.
S
o ist die Infrastruktur mit den Verhältnissen, als Sebastian hier war, nicht zu vergleichen. Wir haben
nicht nur eine gute Stromversorgung, sogar fließend Wasser und gute sanitäre Anlagen, ein
Telefonanschluss wird irgendwann folgen, was das hier heißt, weiß ich noch nicht. Auch die Häuser sind wenngleich nicht gut isoliert - so doch bequem beheizbar, mit einer kombinierten Strom- Holzheizung, was
Stromausfälle überleben lässt und das Leben in Stresszeiten bequemer macht, fast schon etwas langweilig.
Auf der anderen Seite hätte ich mir gewünscht, im Umgang mit Behinderten viele Kleinigkeiten zu lernen, die
ich sicherlich nicht mitnehmen kann. Dafür konnte ich in den letzten Wochen von Hans Gammeter, der
gestern in die Schweiz zurück flog, viel lernen. Er hat ja bereits 30 Jahre Erfahrung in der Heilpädagogik und
konnte mich auf die vielen kleinen Fehler und Probleme der Mitarbeiter aufmerksam machen, die ich jetzt
auch so gerne vermeiden würde, um einen richtigen Umgang mit den Bewohnern zu erlernen. Leider sind die
Menschen hier noch nicht so weit, aber - wie gesagt - haben die meisten schon den großen Schritt dorthin
gemacht, das ist schon viel.
Auch auf anderen Gebieten bin ich anders
als Hans natürlich noch sehr unerfahren
und muss mir alles selber beibringen, das
scheint hier ja normal zu sein, dabei lerne
ich - wie Sergej gestern meinte - wenigstens
gut zu improvisieren und spontan alle Pläne
umzuwerfen - nur Westler planen hier - dennoch fehlt mir dann das Wissen über den
richtigen Umgang mit den Geräten und
Situationen. Das ist schade, weil so einerseits für mich ein großes Lernpotential verloren geht, andererseits viele Ineffizienzen
entstehen, die auch große Gefahren bergen,
so weiß ich zwar mit Hobel und Säge, unseren gefährlichsten und größten Maschinen
umzugehen, doch die kleinen Geräusche
Wer hier überleben will muss Fähigkeoiten mitbringen.
Oder Lernfähig sein.
die auf eine lockere Schraube hinweisen,
Annika Frohböse beim Melken.
18
kenne ich dann dennoch nicht
gut genug, was teuer bis gefährlich werden kann.
Auch ich habe manchmal das
Gefühl, durch diesen großen
Berg an Aufgaben und
Problemen, die ja alle unlösbar
scheinen, wie gelähmt zu sein.
Ein eigenständiges Projekt in
einer
funktionierenden
Westeinrichtung aufzuziehen, ist
bei weitem nicht damit zu vergleichen. Hier selbstständig aktiv
zu werden - das kann man generell nicht miteinander vergleiDer „Tag des Baikals“: Umweltvereine demonstrieren gegen den Bau der Ölchen, die Menschen, die das hier
Pipeline durch das Weltkulturerbe
initiieren, sind furchtbar zäh.
Gedacht ist dieses Dorf ja
auch als Ort des Austausches, die Behinderten sollen nicht weggeschlossen werden, sondern gut sozialtherapeutisch leben können und gleichzeitig Kontakt zur Außenwelt haben. Das geschieht auch schon recht gut, bei
uns ist immer etwas los, auch sollte letztes Wochenende ein internationales Jugendcamp hier stattfinden, das
musste aber wegen Visaproblemen abgesagt werden, nun hofft man auf nächstes Jahr.
Aber auch sonst sind viele Co-Worker aus anderen Ländern hier, Hans eben die letzten 2 Jahre oftmals,
dann kommt Ende September Peter Marti, ebenfalls aus der Schweiz. Joerg Goettlicher aus Karlsruhe vom
Talisman-Unterstützerkreis verbrauchte auch hier spontan seinen Sommerurlaub in angenehmen
Temperaturen. Gerade erfuhr ich, dass ein gewisser Aglio aus der Schweiz gestern eingetroffen sei und auch
ca. 2 Monate bleiben soll, er ist gelernter Dachdecker und wird sich wohl um den Bau kümmern.
Außerdem soll im Oktober ein weiterer Zivi kommen, zwar nur für ein halbes Jahr, ein Jakob, der gerade
in Israel ist; wie der das organisiert bekam, weiß ich nicht, ich nehme mit ihm mal Kontakt auf, sobald ich
seine Daten habe...
Gestern war hier „Tag des Baikal“ und ich konnte einige Menschen und auch die „Wosroshdenje Semli
Sibirskoje“ kennenlernen, bei denen ich auch einige Zeit arbeiten werde; sowohl Sergej als auch Heike Mall
meinten, das mache wohl mehr Sinn, als bei der „Baikalwelle“, wo ich auch hin kann, ich muss mich aber
etwas zurücknehmen und auf Schwerpunkte konzentrieren. Die hiesige Tatjana machte gestern einen guten
Eindruck auf mich und hatte schon tausend Ideen, wo ich überall mitarbeiten kann und was und so freue ich
mich bereits auch auf die Arbeit im Umweltschutz und in sozialen Bereichen.
Außerdem werde ich irgendwann zwischen September und Oktober dann auch für einige Zeit auf die Insel
Olchon gehen und bei Nikita arbeiten; Sergej war auch von dieser Idee sehr angetan und Nikita wollte mich
Anfang August gleich dabehalten. Das ist natürlich besonders schön, am Baikal selber arbeiten zu können und
wie ich das Gefühl habe, hat Nikita die Arbeit gut in der Hand und macht wirklich sinnvolle Projekte.
Nun, jetzt schaue ich schon voraus und hoffe, dass das alles so seinen gewohnten Weg gehen wird.
Schöne Grüße ans weite Deutschland, ich melde mich wieder, wenn Veränderungen anstehen,
Tim in Sibirien.
19
Wieso es Maria Wasilewna egal ist,
ob mein Großvater bei der SS war.
Blitzlicht vom 2.9.2003
I
n Russland kostet eine Schachtel Zigaretten rund 11 Rubel, das sind 30 Cent oder 1/5 eines durchschnittlichen Stundenlohns. Und so verrucht diese Tatsache sein mag, so hat sie doch einen Vorteil: Rauchen ist
kommunikativ. Wahrscheinlich hätte ich sonst kaum auf der Reise von Moskau nach Irkutsk - 5192 km weit, 86
Stunden und 25 Minuten lang - die Frau kennengelernt, deren markantes Gesicht mit der russischen Zigarette
zwischen den Lippen mir gut in Erinnerung geblieben ist.
Man legt ja auf so engem Raum eine solch weite Strecke gemeinsam mit vielen Passagieren zurück, und dennoch kennt man sie nicht alle, - die alle das gleiche und doch jeder ein anderes Ziel haben. - Zu viele fahren
mit der längsten Eisenbahn der Welt und dennoch: Kontakte entstehen. So auch in der Raucherinsel zwischen
Waggon 12 und 13 des Zuges 140 von Moskau nach Chabarowsk.
S
chon einmal war Maria Wasilewna Tausende von Kilometern unterwegs, ob sie ebenfalls mit der
Bahn reiste, mit Millionen anderen eingepfercht in Viehwaggongs, weiß sie jetzt nicht mehr. Damals
war sie noch ein kleines Mädchen, keine drei Jahre alt. Sie hielt sich angstvoll am Rockzipfel von Mama fest,
als die großen fremden Männer kamen, unverständliche Wörter brüllten, die sich hart anhörten und die noch
Jahre später in jedem UdSSR-Kriegsfilm zu hören sind: Schnell, schnell, Hände hoch oder Wir schießen.
Maria Wasilewna kommt aus einem kleinem Dorf nahe des belorussischem Witebsk, an der Grenze zu
Russland. Wahrscheinlich war es die Wehrmacht, die hier 1943 aufräumte, wahrscheinlich blieb kein
Dorfbewohner verschont: Entweder Vernichtungslager oder Arbeitslager hieß es damals, die Hälfte wurde aussortiert, irgendwo auf dem Weg in Richtung Westen. Vielleicht kamen sie nach Auschwitz, vielleicht woanders hin.
Maria weiß es nicht. Ihre Familie wurde arbeiten geschickt. Buchenwald war das Ziel, gearbeitet wurde in Gera.
„Meine Eltern stellten Kleidungsstücke für Kriegszwecke her, Decken, Mäntel, Mützen“ erklärt Maria. Die
ganze Familie war dabei: Eltern und Großmutter, sogar Onkel und Tante wurden mit ihnen ins
Tausendjährige Reich verschleppt. Die Großmutter war alt und krank, dass sie nicht schon früher aussortiert
und ermordet wurde, war ein Wunder. Eins unter vielen. Im Lager wurde ihr Gesundheitszustand immer
schlechter. Es fehlte an Nahrung und Medikamenten, erholen konnte sie sich nicht, wurde zur Arbeit geschickt. Im Werk wurde sie in eine Ecke gestellt, wo die SS nicht sehen konnte, dass sie nicht arbeiten kann. Beim
Appell stand sie eingeklemmt zwischen Vater und Mutter, damit sie nicht wegkippte. Ihre Enkeltochter hielt
sich derweil in den Baracken auf, tagein, tagaus. „Wir machten dort gar nichts, es gab nichts zu tun. Wir hatten einfach nur Hunger“ erklärt Maria heute. Sie hat Mut gefunden, darüber zu sprechen. Das verdankt sie
ihrer Großmutter. Diese starb in der Nacht der Freiheit: Die SS hat sich am Vortag aus dem Staub gemacht,
das Lager Hals über Kopf verlassen. Schon kurz nach dem Tod kamen die Amerikaner vom Süden. „Wir waren
wenige, die sie erwarteten. Die meisten waren bereits geflohen. Viele wurden Opfer amerikanischer Raketen“,
erinnert sich die Chemikerin. Die GIs starteten eine Ablenkoffensive auf den Wald. Hier hielten sich die
Lagerinsassen versteckt. Viele kamen ums Leben. Die Stadt selbst wurde kaum zerstört.
Die Amerikaner verteilten Bonbons und Süßigkeiten. „Wir Kinder kannten das nicht, warfen es auf den
Boden. Uns wurde so viel angetan, wieso soll uns nun plötzlich jemand helfen? Wir hatten Hunger. Bonbons
helfen da nicht.“ Bruchstückhaft erinnert sich Maria an die Geschehen, viel hat sie auch später von ihren
Eltern erzählt bekommen.
Irgendwie ging es zurück nach Belarus. Zu Fuß, mit dem Zug. Dort brach die nächste Diktatur über sie her-
20
ein. Maria vernichtete alle Dokumente, die ihre Vergangenheit belegten. „Wer im KZ war, war Verräter und
wurde nach Sibirien ins GuLag geschickt“, später sollte sie freiwillig den Weg nach Sibirien finden. Bis dahin
aber lag das junge Mädchen oft mit Schmerzen im Krankenhaus, war viel krank. „Mein größter Wunsch war,
Ärztin zu werden, ich wollte leidenden Menschen helfen“ berichtet sie heute. Sie wurde Dozentin für Chemie.
Hilfe leisten, das tut sie auch heute. „Wir haben uns damals nicht getraut, eine Entschuldigung zu verlangen“,
schaut sie traurig zurück, „bei uns war eine Diktatur, wir wussten nicht, wie es drüben ist.“ Ihre Eltern hätten
damals noch die Namen gewusst jener deutschen Fabrikarbeiterinnen, die ihnen Brot und Informationen
zusteckten; die halfen, die Krankheit der Großmutter zu vertuschen. „Ohne sie hätten wir nicht überlebt. In
den 60er-Jahren hätten wir die Adressen sicherlich noch herausgefunden.“
Maria traute sich zu Beginn der 90er-Jahre zum ersten Mal, etwas zu unternehmen. Die Heinrich-BöllStiftung bot an, Personenforschung zu betreiben. Sie blieb erfolglos. Aber bei Maria war ein Stein ins Rollen
gebracht worden. Sie erkämpfte sich eine Sterbeurkunde ihrer Großmutter, deren Grab von der
Stadtverwaltung Gera gefunden wurde. Mit dieser Grundlage zog sie vor Gericht, erkämpfte gemeinsam mit
Mutter und Schwester eine Anerkennung. Ohne die Sterbeurkunde wäre der Streit aussichtslos gewesen. Der
Prozess fand im über 6.000 Kilometer entfernten Belarus statt, damals hatte das Land gerade für wenige Jahre
eine demokratieähnliche Struktur. Der Kampf dauerte lange und war mühsam. Aber bei Maria ist ein Funken
gezündet worden. Sie begann in Ulan-Ude eine Organisation aufzubauen für ehemalige Zwangsarbeiter, versuchte Hilfe zu leisten und stellte Anträge nach Deutschland. „Wir würden ja gerne,“ hieß es dort, „aber - es
tut uns leid - Sibirien ist einfach zu weit weg“. Keine Hilfe kam, niemand konnte nach Deutschland reisen,
Medikamente bekommen, mit Deutschen über das Schicksal sprechen. Sibirien war wieder in Vergessenheit
geraten. Bis ein Brief kam: Wenn ihr kein weiteres Geld fordert, bekommt jeder von euch 500 Euro. Das war
die offizielle Entschädigung der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft. Abermals gibt es Hoffnung
für die rastlose Frau, die nun Ulan-Ude ihre Heimat nennt. Ohne genaue Informationen zu haben, stellt sie
Programme auf die Beine, die Opfern des Holocaust helfen, will Jugendliche aus Deutschland einladen. „Sie
sollen lernen. Kennenlernen, erfahren“, wünscht sie sich. Das ist alles.
Daher ist Maria auch so offen gegenüber Besuch. Sie will nicht, dass die Gäste aus dem Westen so empfangen werden, wie sie einst von deren Vorfahren. Maria blickt in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. So
fährt sie auch den jungen Offizier scharf an, der, gerade 23 Jahre alt, an der chinesischen Grenze dienen soll
und unter Lachanfällen uns fragt: „War dein Großvater bei der SS?“ - „Das ist nicht wichtig“ meint sie mit harter Stimme. Und lädt uns daraufhin zu sich nach Hause ein. Dort werden wir mit der regionalen Spezialität
empfangen: Dem Omul-Fisch aus dem Baikal,
in allen Kreationen. Maria freut sich: „Ich will
Menschen aus dem Westen zeigen, wie
Sibirien wirklich ist. Ich weiß, es gibt viele
Vorurteile, nur wenn man diese abbaut, gibt
es keinen Hass mehr zwischen den Völkern“,
sagt sie, während sie uns stolz die golden
leuchtenden Weiten der herbstlichen Taiga
zeigt. Nebenbei erfährt man auch viel über
die gemeinsame Geschichte zwischen dem
weiten Sibirien und dem kleinen
Deutschland. Gemeinsame Wurzeln gibt es ja
viele. Marias Zeit in Buchenwald gehört dazu.
21
Maria Wasilewna bei der Arbeit. Sie setzt sich für in Sibirien lebende
Opfer des Nazionalsozialismus ein.
Gud baj, Lenin
Glosse vom 6. September 2003
G
olden leuchtet die Sonne auf den Allerwertesten des großen Papa Lenin, der hier in Irkutsk hoheitlich auf einer Säule gen Westen zeigt, die rechte Handfläche nach oben, den Ellenbogen leicht
gebeugt.
Ich lasse Lenin hinter mir liegen, gehe die Hauptstrasse der schmucken Stadt entlang. Diese ist benannt nach
einem mindestens genauso wichtigen Denker, dem Vater des Kommunismus: die „Uliza Karla Marksa“ schlendere ich entlang. Kaum verschwindet hinter mir der eiserne Großkommunist, erscheint wie zufällig vor mir ein
neuer, viel westlicherer. Dezent in rot gehalten, von Wolfgang Becker. „Gud baj Lenin!“ prangt hier groß und
unter dem Ausrufezeichen ist der Fünfstern zu finden, deutsche Geschichte im tiefen Osten.
E
s ist kein Wunder, dass die Studentenstadt Irkutsk mit diesem Film aufwarten kann. Hier wird man
sogar am Zentralmarkt auf Deutsch bedient, die linguistische Universität scheint hier gute Arbeit zu
leisten.
Und so ist der Kinosaal schließlich gefüllt mit Cola trinkenden und Poppkorn kauenden Russen, die von
Spreewaldgurken und Röstfein-Kaffee-Gold noch nie etwas gehört haben. Hier fällt dann auch nicht der weichukrainische Akzent von Lara ins Gewicht, die wie fast immer in russischen Filmen einigermaßen emotionslos
auf deutsch synchronisiert wird, aber ein Schmunzeln huscht über die Gesichter der Besucher, als das russische Lied von der Freundschaft während der Fahrt im „neuen“ Trabi auf die Datscha angestimmt wird - der
deutsche Akzent ist hier nicht zu überhören.
Auch viele Details, die wohl kaum ein Russe verstehen wird, etwa die Melodie zu „Deutschland, einig
Vaterland“ zum 3. Oktober 1990 oder
auch die Rede Kohls am 9. November des
Vorjahres. Diese vielen kleinen Nuancen
werden durch ebensoviele andere verständliche wieder gut gemacht, erweckt
der Film doch bei jedem Zuschauer auch
in Russland nostalgische Erinnerungen;
Erlebnisse von früher rücken wieder in
den Vordergrund, 5.000 Kilometer vom
Spielort entfernt und dennoch so nah.
Obwohl der Film als Komödie ausgewiesen ist, sagt mir die sichtlich berührte
Olga nach der Vorstellung: „Ein trauriger
Film“ und es ist zu sehen, dass mindestens ebensoviele Nuancen und
Einzelheiten die russische Seele wie die
deutsche berühren. Und es ist auch zu
sehen, dass Lenin hier noch steht und es
noch lange dauern wird, bis man hier
Die größte Leninstatue der Welt steht in Ulan-Ude.
sagt: „Do swidanja, Lenin!“
Der Vater der Sowjetunion sagte einmal: „Unter allen Künsten ist
die Filmkunst die wichtigste“
Mittlerweile ist er selber zum Kino-Objekt geworden.
22
Eine ganz normale Woche in Sibirien.
Versuch einer Chronik
Brief vom 4. Dezember 2003
L
iebe Freunde!
Bei Istok ist das ja so: So viele Mitarbeiter es auch gibt, es sind zu wenige. Die letzte Zeit sind wir zu
zweit, das ist schon ein ziemlicher Stress, aber was will man da machen.
Als mal an einem Wochenende mehr Mitarbeiter da waren, ergreife ich die Gelegenheit, um einen halb-tägigen Ausflug in die Stadt zu machen. Am Samstag Nachmittag packe ich meine Sachen und wandere die sieben Kilometer bis zur Straße los. Da ich weiß, dass der wirkliche Winter hier erst im Januar beginnt, bin ich
in normalen Klamotten unterwegs.
Am Sonntag morgen geht es wieder zurück ins Dorf.
9:30 Irgendwie friert es mich den schon gesamten Morgen. Ich wandere immer weiter Stadt auswärts, aber
niemand will mich mitnehmen.
10:30 Endlich hält eine Marschrutka. Im Innern ist es auch nicht viel wärmer. Auch das zweite und dritte
paar Socken, das jetzt übergestülpt wird, nützt nichts mehr. Aber Hauptsache ich komme voran.
11:45 Ankunft im Dorf. Mir wird ein warmer Tee angeboten. Mein erster Weg führt zur Werkstatt.
Erstaunlicherweise brennt hier der Ofen nicht. Also wird eingeheizt. Gott sei dank ist das Wasser im
Kessel im Dachgeschoss noch lauwarm, also nicht gefroren.
12:15 Es gibt wieder Tee. Hier wird mir erklärt, wieso ich wie ein Schlosshund gefroren habe: Heute hatten
wir plötzlich die erste Nacht mit -30°.
12:30 Der Ofen zeigt schon eine Wassertemperatur von über 100° an, das kann und darf nicht sein! Der
Kessel unterm Dach aber ist weiterhin lauwarm. Also schütte ich Eimer um Eimer mit heißem Wasser
in den Kessel, nachdem ich das lauwarme rausgenommen hatte. Das Eklige dabei ist, dass ständig die
Eimer an der Hand anfrieren.
Wenn es kalt wird: Ein
Ausfall der Heizung bedeudet das Ende des Alltags.
Wärme ist ein wichtiges
Gut im sibirischen Winter
23
13:30 Jetzt geht es erst einmal zu einem erholsamen Mittagessen. Ich erkläre die verzwickte Lage.
14:00 Alle anderen Mitarbeiter bis auf einen fahren ab. Mir wird noch einmal ans Herz gelegt, doch bitte die gefrorene Kanalisation im Haupthaus aufzutauen. Jetzt sind wir zu zweit mit einem Haufen zu Betreuenden.
14:15 Zum Glück wurde mir für die Kanalisation noch das Drahtseil gegeben. Das kommt nun in der
Werkstatt zum Einsatz. Das Eis zwischen Ofen und Kessel ist schnell zerbrochen. Nun geht es noch an
die Schicht im Rohr zwischen Kessel und Innenräumen.
14:30 Plötzlich beginnt der Kessel zu beben. Das kochende Wasser hat ihn erreicht. Ich kann nicht weiterstochern mit meinem Drahtseil, sonst verbrühe ich meine Hand. Wassertausch rückwärts.
15:00 Sanft weiterheizen, damit das bereits getaute Wasser hier nicht zu kalt wird. Alle mobilen
Elektroöfchen werden angeschleppt und in der Werkstatt verteilt.
15:30 Ich muss dringend mit Kyrill, einem unserer schwierigsten Betreuten spazieren gehen. Er schleudert
sauer seine Kleider durchs Zimmer und ist nicht zum Rausgehen zu bewegen. Mich zieht es zur
Heizung zurück.
15:45 Es werden bereits 100° angezeigt, das Feuer muss gelöscht werden.
16:15 Wieder kaltes Wasser in den Kessel gegossen. Es wird dunkel. Ich stochere weiter. Immer wieder habe
ich den Durchbruch erreicht; und dann kommt doch wieder eine Eisschicht. Im Innern müssen jetzt
so -5° sein.
17:30 Endlich finde ich Anatolij, den zweiten Betreuer. Weitere Elektroöfchen.
18:30 Wir wickeln jetzt Tücher um die Heizung, die mit kochendem Wasser überschüttet werden. Trotzdem
kein Erfolg.
19:00 Es klingelt zum Essen, keine Zeit.
19:30 Die ersten geplatzten Heizkörper werden entdeckt, wir geben auf.
19:45 Alle Lichter sind eingeschaltet, alle Öfen laufen. Mit 60-W-Birnen den sibirischen Winter aufheizen;
wenn das mal klappen soll. Nach dem Essen gehe ich mit Kyrill in dermit Holz geheizten Banja, eine
Art Sauna, waschen, wir sterben schier vor Hitze.
22:30 Ein letzter Kontrollgang: Sind alle Wasserhähne aufgedreht?
Auch am Montag nimmt der Horror kein Ende. Der erste Gang gilt der Werkstatt, es ist deutlich unter null.
Wir schleppen einen
Starkstromofen an. Beim
Durchsuchen
der
Garagen nach weiteren
Öfen friert ständig der
Schlüssel an den Fingern
an. Es hat -35 mit Wind.
Der Schweißapparat ist
kaputt, sonst hätten wir
die Heizkörper unter
Strom setzten können.
Anatolij schließt anstelle
der Hobelmaschine den
Heizkörper
an
die
Dreifaserleitung.
Sicherungen
werden
dabei natürlich nicht
Wichtigste Anzeige: Wie warm ist das Wasser in der Heizung?
abgestellt.
24
11:00 Krisensitzung. Heute soll Sascha, unser Elektriker kommen. Aber in Sibirien weiß man nie. Da es
noch kein Telefon gibt, muss ich in die Stadt.
12:15 Diesmal in Winterklamotten jogge ich los.
13:30 Meine Ankunft in der Stadt löst sofort panikartige Telefonaktionen aus.
15:30 Alle notwendigen Personen sind da, es kann losgehen. Ein Mitarbeiter ließ heute Nacht das Auto von
Talisman im Freien stehen. Wir entfachen ein Feuer unter dem Motor. Um das Auto in die warme
Garage zu schieben ist es zu kalt, denn das Öl ist nicht mehr flüssig.
16:30 Die zwei anderen gehen los auf Suche nach Überbrückungskabel etc.
17:00 Ich bekomme den Motor gestartet.
17:30 Wir fahren los. Natürlich bekommen wir kein Schweißgerät und keine Reparatur-Kits mehr.
18:30 Im Dorf ist Genadij in der Werkstatt gerade dabei, das Starkstromkabel irgendwie improvisiert zu verlängern.
In den nächsten Tagen platzten weitere Leitungen, Hähne flogen (durch den Eisdruck gelöst) durch die Luft
und es wurde viel repariert. Außerdem begann das mit einem Gartenschlauch isolierte Starkstromkabel zu
brennen, ich konnte es gerade noch löschen.
Die gesamte Woche arbeiteten wir zu dritt oder viert an der Heizung. Als ich dann mal in Seelenruhe das
Mittagessen bereitete, kam ein Betreuter angerannt: ‚Überschwemmung’! Tatsächlich war auch im Haupthaus
ein Heizkörper geplatzt, weil die Hunde in der Nacht die Tür geöffnet haben.
Bis heute funktioniert die Heizung noch nicht. Aber das ist ja auch nicht wichtig. Ich wollte euch nur einen
kurzen Einblick geben, wie mein Leben hier aussieht, denn das ist die häufigste Frage, die ich gestellt bekomme.
Ich kann dazu derzeit nur sagen: Hier ist an jedem Tag was anderes los und nie das, was geplant wird.
Nun wünsche ich euch
eine
ganz
normale
Adventswoche.
Oder lieber nicht?
Euer Tim
Feuer unterm Auto: Wenn der Diesel verschlackt, muss man ihn eben auftauen.
Peter und Sascha zeigen sich stolz beim Beheizen der Treibstoffleitungen.
25
Russland, einig Vaterland!
Wahlkampf-Glosse vom Dezember 2003
D
ass der Wahlkampf für die Moskauer Duma ausgebrochen ist, bemerkte ich im September in UlanUde.
In der Hauptstadt der burjatischen Teilrepublik Russlands, unweit des Baikalsees, ging ich über den örtlichen
Chinesen-Markt, „Shanghai“. Wenn man in Russland zwischendurch etwas zwischen die Zähne haben will,
kauft man gewöhnlich Eis oder etwas zum Knabbern. Eine bunte Auswahl an Zedernkernen, Nüssen und
Sonnenblumenkernen kann man an jeder Straßenecke günstig erwerben. Ich ging zu einem Großmütterchen,
die dort an einem Tischchen stand und erwarb einen Becher voller gerösteter Sonnenblumenkerne eingewikkelt in Zeitungspapier. Dabei fielen mir auch die Streichhölzer auf, die sie zusätzlich verkaufte.
Sowjetsoldaten waren dort auf irgendeinem Heldenbild zu sehen. Nichts Besonderes, denn in Russland steht
in jedem Dörfchen ein Heldendenkmal für die Gefallenen des „Großen vaterländischen Krieges“, wie die Zeit
von 1941 bis 1945 hier allgemein genannt wird.
Doch auf dem Bild war die Jahreszahl 1954 zu lesen und daneben die Lettern „Russische Volkspartei“. Bis
heute habe ich kein Wahlprogramm derselbigen Partei gesehen.
W
eiterhin verlief der Wahlkampf ruhig. Erst gegen Oktober waren plötzlich alle Plakatwände zugeflastert mit dem der weiß-blau-roten Fahne und dem Spruch: „Gemeinsam müssen wir für ein
neues Russland arbeitern - stark, groß, einig! W. Putin“ Darunter war in großen Lettern der Name seiner Partei
zu lesen: „Geeintes Russland“ („Jedinaja Rossija“). Wenig später hörte ich immer wieder im Radio das gleiche
Lied. Putin erhofft sich wohl einen ähnlichen Wahlerfolg, wie die SPD 1998 mit ihrem damaligem
Wahlkampfsong. Doch der Text hier erinnert mich an die DDR-Nationalhymne. Auch hier geht es stets um
das geeinte Vaterland, das große Russland. Nur dass das mit dem „Auferstanden aus Ruinen“ noch nicht eingebaut ist, so weit ist Russland zumindest hier in den Tiefen der sibirischen Taiga noch nicht.
Auch wenn kräftig modernisiert wird, ist die Industrie, die während des zweiten Weltkrieges ins hiesige
Hinterland verlegt wurde, noch lange nicht wiederauferstanden. Zu sehr sitzt der Schock der Perestroika noch
in den Knochen des Landes. Perestroika, das heißt so viel wie „Umbau“. Gorbatschow wagte den ersten
Schritt, den Abbau. Ruinen sind übrig geblieben, nun ist es die Aufgabe der Politik, das Aufstehen aus den
Ruinen zu organisieren. Erstaunlich viele Menschen hier stehen hinter der Politik ihres Präsidenten. „Wir merken, dass etwas für das Land getan wird. Sibirien ist immer das weiteste Hinterland. Mittlerweile kommt auch
hier Geld an. Das heißt, dass es woanders schon da ist; das ist die richtige Richtung“ erklärt eine Bewohnerin
einer Insel auf dem Baikalsee. Tatsächlich spendete die Partei Putins
auch der Organisation, bei der ich arbeite, zu Wahlkampfzeiten
einen Telefonanschluss. Zum „geeinten“ Telefonieren wohl.
Dennoch favorisiere ich persönlich die Partei „Apfel“
(„Jabloko“). Nicht wegen des Programms, eher wegen des Namens.
Ich meine, Schill-Partei ist auch nicht kreativer; aber „Apfel“, leuchtend grün geschrieben, das kommt doch gut. Zumal Apfel auf
Russisch „Jabloko“ heißt und der Buchstabe „Ja“ auch das Wort Ich
bedeutet. Insgeheim sind das wahrscheinlich verkappte
Kommunisten, so wie die Wahlversprechen aussehen. Aber in erster
Russisches Wahlplakat: „Alle zur Wahl!“
Oft wird wie zu Sowjetzeiten nur zur Wahl aufge- Linie zählt in der Politik ja der Schein. Und dann kommt das Sein,
rufen, ohne dass auf dem Plakat eine Partei um
das Werden: Auferstehen aus Ruinen, Russland einig Vaterland!
Stimmen buhlt.
26
Sternschnattern
Glosse vom 11. Januar 2004
S
chön hier. Aber waren Sie schon mal in Sibirien?
Die ganzen 6 Millionen Euro für Reklame in diesem Jahr, um das Image Baden-Württembergs aufzupolieren, sind nichts nutze. Nicht nur mir, auch dem deutschen Fernsehen wurde es im letzten Jahr langweilig
im Schwarzwald.
Wir zogen nach Sibirien.
D
as ZDF fand eine schöne Insel am Baikalsee, malerisch sei sie, und verloren in der Weite der Taiga,
weiß der Fernsehkanal im Internet zu berichten. Natürlich ist die Insel abgeschnitten von der Welt.
Und das brachte den Sender auf eine Idee: Da gibt es doch Konkurrenz wegen besserer Einschaltquoten,
die Filmemacher schielten auf die Privaten, die schon längst Inseln für sich entdeckt haben. Und nachdem
Olchon keine Gefängnisinsel mehr ist, Stalins Grauen ein Ende nahm, muss man anderweitig Menschen hierher locken. Was Jekaterina II vor knappen 250 Jahren schaffte, bekommt das ZDF doch allemal hin: Deutsche
werden zum Arbeiten in den Osten geworben.
Dabei geht es in der abgeschnittenen Welt heutzutage weitaus multimedialer vor als zu Zeiten der Zaren.
Ein halbes Studio ließ das Zweite an den Baikalsee einfliegen, Technik im Millionenwert. Und natürlich muss
ein Hubschrauber stets bereitstehen, um doch Zivilisation zu garantieren. Und ein Satellitentelefon braucht
man hier, man will ja nicht abgeschnitten von der Welt leben.
27
„Sternflüstern - Das Sibirien-Abenteuer?“
Wenn der eigene Atem klirrend zu einer Wolke feinster Eiskristalle erfriert, nennt man das in Sibirien
„Sternflüstern“ erklärt die ZDF-Pressestelle. Das finden die Sibirjaken interessant, weil es echt eine gute
Wortschöpfung ist. Schade, dass sie nicht selber auf diese Idee
gekommen sind.
„Sternflüstern“ nennt der Sender das Projekt am
Baikalsee. „Erlebnis-Dokumentation“ wird das neue
Filmgenre genannt, mit dem das ZDF Bednarz mit seiner
„Ballade vom Baikalsee“ herausfordern will.
In vier Teilen soll das Leben im Osten Sibiriens vorgestellt
werden.. Es werden einfach zwei Familien an den Baikalsee
geschickt, sie sollen möglichst so leben, wie die Einwohner.
Das wird dann über ein halbes Jahr lang gedreht. Das hat den
Vorteil, dass die Zuschauer einen persönlichen Bezug bekommen. Sie bekommen Europäer zu Gesicht, die dort leben.
Man hat die gleiche Kultur, die gleiche Mentalität. Dies lässt
zu, dass die Lebensunterschiede deutlicher hervorgehoben
werden, die Probleme besser verstanden. Knappe fünf Monate
lebten die beiden Familien nun auf der Insel, wurden auf
Schritt und Tritt beobachtet. Um doch einen Unterschied zu
„Big Brother“ herzustellen, wurde den Familien eine
Privatsphäre gegönnt.
Fernsehstar Baikalsee: ZDF-Mitarbeiter beim Dreh
für „Sternflüstern“
Im Großen und Ganzen ist das Projekt etwas lächerlich. Es soll eben das Leben hier gezeigt werden. Das
klappt bei deutschen Familien nicht ganz so gut. Zum Beispiel gibt es da die Sprache. Diese lässt es nicht zu,
dass es zu realem Leben wird und so stehen die deutschen und russischen Kinder auch bis Ende des
Aufenthalts miteinander auf Kriegsfuß, weil hier rein konzeptionell nichts unternommen wird, Brücken zu
überwinden. Dafür zeigt der Sender in der
dritten Folge, wie die Eltern sich heldenhaft
um bessere Beziehungen kümmern.
Die Sendung
Insgesamt war es für mich sehr interessant, zu
beobachten, wie die zwei Familien doch sehr
unterschiedlich leben und mit welch einer
Psychologie der Sender das dann hervorhebt:
Die eine Familie, die als Abenteuer-erfahren
dargestellt wird, hat hochdramatische
Probleme
und
legt
eisernes
Durchhaltevermögen an den Tag. Die zweite
Familie, die offen und unverbraucht mit Witz
und Selbstironie die neue Situation meistert.
Fernsehen in der „Mir“: Das ganze Dorf schaut, was das deutsche
Doch nicht alles war so professionell. In ziemFernsehen aus ihrer Heimat gemacht hat.
lich kurzer Zeit musste das Projekt auf die
Beine gestellt werden und ließ gerade in der
Technik einige Pannen vorkommen, vor allem aber ist es meines Erachtens eine Fehlplanung in der
Konzeption, es ist nicht unbedingt Kultur verbindend. Obwohl Wladimir Kaminer, eingekauft vom ZDF,
mächtig die Werbetrommel rührt und ausnahmsweise sich nicht lustig macht, sondern einfach lustig darüber
schreibt.
Sowohl im Internet, als auch in der Sendung schafft der Sender es derweil erstaunlich gut, alle Klischees
einzubauen. Was man alles so an subtilen Nachrichten in 45 Minuten packen kann. „Ewige Weite, endlose
Kälte. Sibirien - ein Mythos“ sagt pathetisch eine Stimme zu Sendestart, während „typische“ Bilder zu sehen
sind, etwa ein Tierschädel an einsamem Straßenrand (ich habe so etwas hier noch nie gesehen).
Und dennoch sind viele positive Aspekte im Film. Indem die Familien ihr Leben zeigen, wird aber viel
Unerwartetes gezeigt, und vielleicht bekommt der Zuschauer tatsächlich einen einigermaßen guten Einblick
von Leben, Land und Leute.
Bereits in der ersten Serie ist „mein Chef“ auf Olchon zu sehen. Nikita, ein ehemaliger Tischtennisprofi,
baut traditionelle Holzhütten, die er an Touristen vermietet. Bei ihm arbeite ich im Hausbau und bei der
Betreuung einer Öko-Kindergruppe mit, wenn ich nicht gerade bei Talisman bin. Ich habe hier auch sehr viel
mit einem der Familienväter zusammengearbeitet; besonders beim Ausbau der neuen Kirche und bei der
Erstellung neuer Winterfenster; das ist hier immer ein wichtiges Thema.
Das russische Fernsehen - derweil auch nicht faul - plante gleich die Antwort: 10 Menschen wurden mit verbundenen Augen in ein Flugzeug gesetzt und landeten - in Berlin. Sie hatten jeglichen Lebenskomfort, nur das
Geld fürs Essen fehlte ihnen. So werden sie bei versteckter Kamera betteln geschickt, müssen kreativ werden,
um ein Stück Brot zu bekommen. „Golod“ (zu deutsch „Hunger“) muss wohl eine sehr geschmackslose
Sendung sein. Angenehmer heiliger Abend!
Ich wünsche euch schöne Eindrücke vom Baikal, euer Tim
28
Ein ganz normales Wochenende in Sibirien
Tagebuchausschnitt von Freitag, dem 1. Februar 2004
I
n Russland ist immer alles „normalno“, normalno hier, normalno dort und wie geht es dir eigentlich?
„Normalno“, war ja klar! Dieses Wochenende gehört auch in diese Rubrik.
Freitag
E
s war ein warmer Freitag Morgen. Ich frühstücke und rufe noch schnell im Dorf an, wann denn heute
unser Kleinbus von Irkutsk aus dorthin fahren wird. Eigentlich interessierte mich aber viel mehr, wel-
che Neuigkeiten es dort gebe. Nein, nicht immer, aber oft wird man doch selbst durch den Telefonhörer hineingerissen in den Istoker Alltag, jetzt da der unaufhaltsame technische Fortschritt auch in unserem Dorf
Einzug erhalten hat - in Form eines Radio-Telefons, jedes Wölkchen zwischen Irkutsk und Istok hört man da
rauschen. Nun Tatjana war schnell am Apparat. Wann der Bus fahren würde, stehe noch nicht fest (das war ja
29
klar), ich solle um 12 noch einmal anrufen. Und übrigens, wir haben gerade kein Wasser.
Naja, dachte ich, das wird sich schon lösen, bis ich da bin, arbeitet die Pumpe wieder.
x ging ich erst einmal zu meiner Stadt-Arbeitsstelle. Doch schon bald musste ich in die Stadt zu einem
Termin in das schönste Gebäude der Stadt: Meiner offiziellen Dienststelle. Das Europäische Haus, das ist eine
schmucke Holzhütte nach traditioneller Bauart, mit Verzierungen und sehr schön hergerichtet. Hier befindet
sich auch IKEA, dorthin wollte ich heute.
Nein, keine Einrichtung
kaufen. Aber mich mal
wieder unterhalten, unter
Europäern. Ich trat ein
und dachte: Aber hier lässt
es sich leben. „Wohnst du
noch oder lebst du schon“?
fragte ich Miia, die mich in
einem herrlich sonnengoldenen Treppenhaus empfing. „Wie zu Hause“ fing
die Finnin zu schwärmen
an. Eine komplette IKEAEinbauküche,
IKEABüromöbel… Aber schön.
„Ich kann das gar nicht verstehen, hier gibt es so viel
Das Europäische Haus gilt als eines der schönsten Holzhäuser Irkutsk. Traditionell
Wald wie nirgends auf der
wurden alle Häuser aus Holz gebaut und mit wunderschönen Schnitzereien versehen.
Welt und alle hauen sich
diesen hässlichen PVC-Boden rein“ natürlich mit Parkett-Imitation. Linoleum nennen sie das. „Wie bei uns
in den 70ern“, meint die Managerin.
In Russland ist nicht nur jeder in allem sofort Spezialist, sondern auch jeder, der schon einmal am
Schreibtisch saß, Manager.
Ich beginne - meinem Auftrag gemäß - meine Fühler auszustrecken, was IKEA hier erreichen will. Mit wel-
chen Zielen aber bin ich hierher gekommen? Trotz meiner recht guten Vorbereitung hatte ich eigentlich keine
Ahnung, was ich erreichen will - es war mein vierter Arbeitstag bei der „Wozroshdenje Semli Sibirskoje“. Und
mitten im Gespräch wurde mir auch klar, dass es für die gegenüberliegende Seite nicht nur ein großes
Rollenspiel ist, sondern knallharte wirtschaftliche Interessen dahinterstecken. Das war, als Miias schwedischer
Kollege mit 40 Minuten Verspätung dazukam und das Wort übernahm. Er entschuldigte sich dabei nicht für
die Verspätung, ganz im Gegenteil, er war ganz stolz, „Ich bin pünktlich“ strahlte er; obwohl er doch einen
Termin auf einer Behörde hatte. Dafür braucht man gewöhnlich einen ganzen Tag. Doch dann ging es zur
Sache.
Aber nach zwei Stunden waren wir doch beide recht zufrieden mit den Ergebnissen.
Verkehr im Winter: Meist sind die Schlaglöcher auf den Straßen durch
Schnee und Eis gestopft. Die Stoßdämpfer werden wenigstens in den
Wintermonaten geschont.
Und dann versuchte ich eben noch
einmal im Dorf anzurufen, nachdem
um 12 Uhr mir von einer nicht ganz
so freundlichen Computer-Stimme
gesagt wurde, dass die Nummer gerade nicht erreichbar sei.
Auch um vier erreichte ich niemanden, dafür kam in unserer Schule
in der Stadt eine Ansage, als hätten
auch hier die „Manager“ vergessen,
die Rechnung zu zahlen. Kurz, ich
erreiche niemanden, der mir hätte
sagen können, wie ich wann ins Dorf
komme; und so beschließe ich, mal
wieder meine Wocheneinkäufe zu machen.
Ich beginne mich ja langsam hier auszukennen. Besonders auf dem Markt. In „Südostasien“ gefällt es mir
am besten. Hier gibt es Nüsse und Früchte, Gewürze und allerlei und man kann handeln. Das klappt sprachlich noch nicht immer, aber dafür habe ich eine neue Entdeckung: Getrocknete Apfelsinenringe, die im Tee
ein Aroma abgeben und danach wunderbar erfrischend zu schlemmern sind.
Mit vollen Taschen tuckere ich mit der Marschrutka (Sammeltaxi) zur Schule „Talisman“ und denke, vielleicht fährt unser Bus ja um 5. Um Punkt fünf treffe ich ein, um Punkt fünf fährt der Bus ab. Das war zwar
Zufall, aber hätte ich nur eine Marschrutka später genommen, wäre ich nicht mehr ins Dorf gekommen.
Erst auf der Fahrt wird mir durch die Berichte das
Ausmaß der Wasserkatastrophe bewusst. Alle Betreuten
sind heimgeschickt worden, täglich wird in unseren
spärlichen Gefäßen das notwendige Wasser von weit her
herangefahren, es riecht nach Abenteuer. Etwas ermattet sahen die anderen aus. „Freut ihr euch denn nicht?“
meinte ich. Nee, sie sind solcher Geschehen müde. Und
auch ich muss zugeben: Miterlebt haben, sowas, das ist
gut. Aber das alles durchmachen, das ist wirklich nervig.
„Wie konnte das denn kommen, wir hatten ja nicht einmal Frost?“ fragen sie sich dann, es waren ja schließlich
nur -20 Grad. Aber das ändert nichts daran, dass die
Pumpe eingefroren ist.
Nebel am Angara-Ufer: Durch den schnellen
Wasserfluss friert die Angara als einziger Fluss weit
und breit nicht zu. Beinahe jeden Tag bildet sich im
Winter stimmungsvoller Nebel.
30
Samstag
Erholsam dabei ist, dass fast
alle Betreuten heimgeschickt wurden. Was soll
man auch machen, wenn
es nur Schnee zum Trinken
gibt. Nun, wir holen auch
etwas Trinkwasser aus dem
Nachbardorf, denn hier auf
der Anhöhe unseres Dorfes
kommt man partout nicht
an sowas ran: 120m geht
die Pumpe in die Tiefe...
Und noch nie habe ich die
Bedeutung der Banja so gut
Stimmungsvoll wirkt der Winter auf Romantiker. Doch träumen ist gefährlich:
verstanden wie jetzt: Rund
Für das Überleben kann die kalte Jahreszeit große Herausforderungen bedeuten.
um die Uhr wird hier
Schnee erhitzt, am Samstag
Abend waren wir gar so weit, dass man sich damit saunen und waschen konnte, klasse!
Am Samstag früh stehe ich auf, will schon mein Geschicht mit Schnee waschen, da entdecke ich im
Badezimmer die aufgehängte Flasche. Ich hätte ja mit Schneewäsche kein Problem gehabt. Aber die Menschen
hier haben das satt, sie wollen ihr Leben leben und nicht immer darauf warten, dass es besser wird. Daher wird
sofort ein Notwasserhahn installiert - man weiß ja nicht, wie lange man sich mit dieser Situation abfinden
muss...
Die Betreuten sind weg und wir freuen uns auf ein ruhiges Wochenende, hoffen, dass die Pumpe bald wieder zum Laufen gebracht wird. So gehen wir einfach unserem alltäglichem Leben nach, Aufstehen,
Frühstücken, Tiere.
Ich öffne die Stalltüre und - ein lauter Schrei! Nastia hinter mir sieht so verschreckt aus, wie ich sie noch
nie sah. Langsam gewöhnen sich meine schneeblinden Augen an die Dunkelheit im Stall. Da ist ein Tier zu
viel! Klein zwar, aber es ist -- ein Kalb! Das musste ja jetzt, in der wasserlosen Zeit, kommen! Von einem ruhigen Wochenende ist nun keine Rede mehr, zumal die andere Kuh auch jederzeit kalben kann und es natürlich Probleme gibt, denn kein Mensch kennt sich damit aus.
Und hier beende ich vorzeitig den Bericht, es ist doch schon klar, wie es weitergehen wird. Es kommen
Tausende von „Spezialisten“, die alle was anderes erzählen, vor allem aber, dass die Pumpe falsch gebaut wurde,
es so und so sein müsste. Alle probieren ihre Theorien aus und immer steht fest: „Spätestens morgen haben
wir wieder Wasser.“ Bei der Heizung hat das über zwei Wochen gedauert. Irgendwann wird also irgendeine
Improvisationsidee auch funktionieren. Und danach werden wir feststellen, dass überall das Wasser in den
Leitungen eingefroren ist, weil wir es ja nicht laufen lassen können. Und so wird das Leben seinen Lauf gehen,
an einem ganz normalem Wochenende. Jetzt fehlt nur noch der tagelange Stromausfall. Langsam bin auch ich
es müde.
31
Ein etwas anderes sibirisches Dorf
Jakob Steigerwald beschreibt seine Eindrücke des
Dorfprojektes „Pribaikalskij Istok“
27. Februar 2004
S
eit fast drei Wochen arbeite ich jetzt in dem „Istok“. Mittlerweile habe ich mich an die Kälte gewöhnt.
Auch mit der Sprache geht es jetzt schon besser, vor allem, weil viele Worte dem Deutschen sehr ähnlich sind. Am besten finde ich das russische Wort für „Sandwich“, nämlich „Budderbrod“.
Woran ich mich noch nicht ganz gewöhnt hab, ist die Lebensart hier. Die Leute leben einfach in den Tag hinein, ohne zu planen, ohne groß nachzudenken. Man lebt hier von der Hand in den Mund. Probleme gehören
zur Tagesordnung, und werden bekämpft, wenn sie auftreten und nicht von vorn herein. Wenn es zum Beispiel
kaum noch Feuerholz gibt, denkt niemand daran zu sparen oder neues zu holen. Wenn es dann aus ist, heißt
es: „Oh, wir haben ja gar kein Holz mehr, jetzt müssen wir halt ne Weile frieren, bis neues da ist, so ist das
Leben“.
E
rst einmal möchte ich
etwas zur geografischen
Lage sagen. Irkutsk liegt in SüdOst-Sibirien, ca. 50 km vom
Baikalsee, und ca. 8000 km von
Mitteleuropa entfernt. Obwohl
Irkutsk etwa auf dem selben
Breitengrad wie Hamburg liegt, ist
Klima und Vegetation hier komplett anders. Der Niederschlag ist
sehr gering (etwa ¼ so hoch wie in
Lieber schwitzen, als frieren: Bewohner des Dorfprojektes holen Brennholz.
Zeit zu einer Pause bleibt aber immer: Nur keinen Stress machen! (Links im Bild)
Deutschland), dafür kann es über
das Jahr Temperaturunterschiede
von bis zu 100 Grad Celsius geben. Es gibt Winter, in denen es hier -60 Grad kalt wird, und Sommer, in denen
es 40 Grad heiß wird. Die Vegetation besteht hauptsächlich aus Birken- und Kiefernwäldern, sowie aus unbewachsenen Steppen- und Moorlandschaften. Nur 500 km südlich von hier erstreckt sich die Wüste Gobi, und
nur 1000 km nördlich von hier erstreckt sich die ewig gefrorene, unbewachsene Tundra.
Das Dorf „Pribaikalskij Istok“ liegt ca. 50 km nördlich von Irkutsk, einer Stadt von der Größe Stuttgarts.
Bis zur nächsten Strasse sind es 7 km, zu Fuß ist das ganz schön weit. Bis 1997 war das Dorf ein Stützpunkt
der Sowjetarmee. Das hat viele Vor-, aber auch Nachteile für das Leben hier. Das Dorf ist für sibirische
Verhältnisse fast schon luxuriös mit Infrastruktur versorgt. Die Nachteile sind die Altlasten der Sowjetarmee.
Die Gebäude sind zwar zum Teil schon renoviert, aber dazwischen sieht man überall noch die alten
Bunkeranlagen und vor sich her faulenden LKW-Wracks. Während des Kalten Krieges waren hier wohl
Kurzstreckenraketen stationiert.
Zur Zeit leben und arbeiten hier zwölf Betreute und acht Betreuer, aber das ändert sich auch jeden Tag.
Außer mir und Tim allesamt Russen. Außerdem haben wir zwei Kühe, drei Kälbchen, drei Schweine, eine
Hand voll Hühner, zwei Hähne, zwei Hunde und eine Katze.
32
33
Gearbeitet wird im Garten (nur im Sommer), in der Holzwerkstatt und in der Keramikwerkstatt. Natürlich
muss sich auch jemand um die Tiere und den Haushalt kümmern. Außerdem gibt es hier noch eine Branche,
die es in Deutschland nicht in dem Maße gibt: Die Bekämpfung der Kälte. Sie nimmt jetzt im Winter etwa
die Hälfte der Arbeitszeit ein. Man muss regelmäßig Holz sägen, Hacken, nachlegen, die Heizung überprüfen,
Wasser nachfüllen. Morgens muss man das Futter für die Schweine auftauen, und abends darf man nicht vergessen, den Wasserhahn aufzudrehen, da er sonst einfriert. Regelmäßig muss man die Eisschicht in den
Trinktrögen der Tiere aufhacken, und regelmäßig muss man das Auto warmlaufen lassen, da es sonst nicht
mehr anspringt. Die Pumpstation wird rund um die Uhr von 18 Kilowatt beheizt, fällt der Strom aus, friert
sie ein. Vergisst man mal Holz nachzulegen, friert die Heizung ein. Ist erst mal etwas eingefroren, beginnt die
richtige Arbeit. Das Schweißgerät wird oft dazu missbraucht die entsprechende Wasserleitung unter
Starkstrom zu setzen, und sie somit zum Glühen zu bringen. Ansonsten helfen Drahtseil, heißes Wasser und
Salz. Die Russen haben da sehr viel Erfindungsreichtum. Neulich wurde sogar ein Feuer unter dem Auto entfacht, weil es nicht mehr ansprang.
Das Essen hier ist sehr einfach und dem
harten Klima angepasst: Morgens gibt es
Kascha (Brei) mit Brot, mittags Suppe mit
Brot und abends auch Suppe mit Brot.
Butter gibt es nur morgens, Fleisch nur an
Feiertagen und Käse nie, ganz einfach weil
er zu teuer ist. Das Dorf lebt von dem
Wenigen, was es durch den Verkauf der
Produkte
aus
der
Holzund
Keramikwerkstatt verdient, von den
Pensionen der Betreuten und von Spenden
aus dem Westen. Letztere fließen vor
allem, weil die Einrichtung anthroposoDas Essen im Dorf besteht meist aus einer Suppe. Zu Festtagen
wird aber aufgetischt, bis sich die Tische durchbiegen. Torte ist
phisch ist.
aber mit Vorsicht zu genießen: Für unsere Zungen ist sie meist zu
Ein riesiges Problem ist hier auch, dass
süß, für die Augen zu schrill.
es keine qualifizierten Mitarbeiter gibt.
Niemand hat eine Ahnung von Viehzucht, ich auch nicht. Nur weil ich gesagt hab, ich hätte mal auf einem
Bauernhof gearbeitet, wurde mir sofort die Verantwortung über die Tiere gegeben. Inzwischen kann ich zwar
melken, aber woher soll ich wissen, ab wann man ein Kälbchen von der Mutter trennt, und wie viel Milch es
dann wann und wie oft erhält? Hier kann es mir niemand sagen. Ich hätte Lust, mich in Deutschland gleich
hinter die Bücher zu klemmen, um alle diese Dinge zu erfahren, die man in Deutschland nicht braucht, die
aber hier zum Überleben notwendig sind.
Der Einzige, der Ahnung von seinem Metier hat ist Gennadij, unser Schreiner. Aber als ich ihm neulich
zugeschaut hab, wie er die Hobelmaschine repariert hat, war ich davon auch nicht mehr so überzeugt: Mit
Brecheisen und Fäustel, dabei macht das doch jeder normale Mensch mit einem Schraubenzieher und einem
Satz Schraubenschlüssel.
Das Leben hier ist sehr einfach und sehr anstrengend, aber man lernt die wenigen Dinge, die man hat, um
so mehr zu genießen. Man lernt voraus zu denken, weil hier einem das Denken wird einem das Denken nicht
wie in Deutschland abgenommen wird. Belohnt wird man durch die wunderschöne, unberührte Natur, die
klare Luft, die herrlichen Sonnenauf- und -untergänge, die Stille ringsum und die Gastfreundschaft der
Russen. Die glutrote Sonne ist gerade am Horizont verschwunden. Wieder ist ein erlebnisreicher Tag rum. Mal
schauen, was der morgige Tag der Dorfgemeinschaft, die nun seit 4 Jahren besteht, bringt. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, er wird ein Ende haben, aber normal wird er bestimmt nicht, hier ist nichts normal.
Tauwetter
Brief von Tim Mergelsberg vom 10. April 2004
E
rscheint mir das Leben mittlerweile als langweilig, nur weil es wohl zum Alltag wurde?
Ja, der Alltag ist eingezogen in meine Arbeitswelt. Das heißt zwar noch lange nicht, dass sich etwas
wiederholt, ein Ablauf planbar wäre. Aber ich begeistere mich nicht mehr für all das, was schief geht, was
anders ist oder unberechenbar hereinbricht. Es wird einfach mit einem Schulterzucken hingenommen, als wäre
es Alltag.
So ging mir neulich der Ersatzschlüsselbund mit allen Schlüsseln unseres Dorfes verloren ging, wohl irgendwo
auf dem sieben Kilometer langem Weg zur Straße, der derzeit aus einer einzigen Moorfläche besteht. Und
das, obwohl ich nicht einmal Zugriff zu diesem Bund hätte haben dürfen.
D
abei gibt es stets Veränderung. Zur Zeit ist zum Beispiel Frühlingsstimmung. Die Sonne streckt schon
früh ihre warmen Fühler aus, die schallenden Vogelgesänge und der morgendliche warme Duft las-
sen einen Schleier an Aufbruchstimmung erahnen. Mit jedem Morgen schwindet beim Blick aus dem Fenster
eine Schneefläche, mit jedem Tag fühlt man sich etwas freier. Wir haben seit über sieben Monaten nur weiße
Landschaften gesehen!
Dennoch enttäuscht, was sich
geheimnisvoll unter der weißen
Decke versteckte. Es ist genau das
Grau-Braun, das sich letzten
Herbst darunter verbarg. Keine
Blumen, kein saftiges Grün, nur
die Weiden lassen durch ihre aufstrebenden Kätzchen erahnen,
dass sich auch sonst überall die
Knospen recken. Diese sind erst
bei zweitem Hinsehen zu finden.
Daher mag die Frühlingsstimmung doch nicht so recht einziehen. Der Dreck, vor dem wir den
gesamten Winter bewahrt blieben, bricht nun in geballter Stärke
Wasser und Dürre: Nach sechs Monaten Schnee kommt eine triste Landschaft
auf uns ein. Sibirien hat sich
zutage, die erst langsam grünt. Sibirien verwandelt sich in einen Morast
innerhalb von zwei Wochen zu
dem größten Sumpf der Welt verwandelt. Wegen des extrem vielen Schnees dieses Jahr zeigte gar das Moskauer
Fernsehen Bilder von dem überschwemmten Elancy. Das Hauptstädtchen des Olchoner Verwaltungsgebiet ist
mir von den vielen Durchfahrten zur Insel gut bekannt.
Bei uns im Dorf ist es schon schwierig, tagsüber von einem Haus zum anderen zu gelangen, alle meine
Schuhpaare warten neben der Heizung auf bessere Zeiten. Aber so schnell wird sich die Nässe nicht vertreiben
lassen. Das Wetter spielt April, wir haben Temperaturunterschiede von über 40°C, neulich fiel gar noch 10 cm
Neuschnee, dann kam wieder ein Frühlingssturm und zum Gründonnerstag gab's zum ersten Mal wieder
Regen. Langsam reißen die Bäche die Nässe hinfort, bevor sich die knisternde Trockenheit einstellt, die die
nächsten Probleme mitbringt:
34
Letztes Jahr griffen die dreimonatigen Waldbrände besonders hart um sich. Mit der Wärme zieht auch das
Ungeziefer ein, von dem wir die kalten Monate über verschont blieben. Erst jetzt bemerkt man, wie sauber,
wie steril der Frost ist. Schwärme an Zecken und Stechmücken sind schon bald zu erwarten.
Sibirien erwacht zum Leben. Auch die Menschen, die sich auf einen kurzen, knackigen Sommer freuen.
Doch bis dieser wirklich eingezogen ist, müssen wir uns noch gedulden: Noch ist der Baikal von einer dicken
Eisschicht überzogen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das „heilige Meer“ Sibiriens träge ist. Die
Temperaturen zur Sommersonnenwende sind zuweilen niedriger als ein halbes Jahr später. Bis Juni schwimmen noch Schollen im Wasser.
Am schönsten ist der winterliche Baikal im Januar und Februar. Wenn das blanke Eis noch glatt ist, hat
man in ufernahen Gebieten einen Blick bis auf den Grund. Diesen Anblick konnte ich auch genießen. Im
Februar und März arbeitete ich für einige Wochen auf Olchon bei Nikita und machte schließlich eine Tour
vom Ostufer des Sees an die Nordspitze, wo wir in heißen Qellen bei Schneefall und milden -15°
Außentemperatur meinen Geburtstag begingen.
Nun hat meine letzte Arbeitsperiode bei Talisman-Istok begonnen.
Neben der Arbeit mit
den Betreuten in Stall
und
Holzwerkstatt
und immer öfter auch
im Freien habe ich
einige theoretische
Aufgaben aufgedrückt
bekommen.
Hauptarbeit ist die
Organisation eines
Jugendcamps
mit
Fragestellung
zur
Zukunft der Arbeit
mit Behinderten in
Europa und Russland.
Dieses internationale
Jugendcamp verbindet
Mit dem Frühling kommen auch die Feiertage. Nach dem internationalem Frauentag (8. März)
ist der 9. Mai, der „Tag des Sieges“ ein sehr wichtiger Feiertag. Der „Große Vaterländische
soziale, (inter-)kulturelKrieg“ ( 2. Weltkrieg) ist in Russland noch sehr präsent.
le und ökologische
Faktoren und ist damit
deswegen zum Teil bei meiner anderen Arbeitsstelle in Irkutsk (Wozroshdenie Semli Sibirskoje) angesiedelt.
Zwei Tage wöchentlich arbeite ich in der Stadt in dieser Jugendorganisation, die soziale und ökologische
Projekte durchführt.
Zu meinen Aufgaben gehört hier z.B. die ökologische Umgestaltung des Büros (angestrebt ist ein
Umweltmanagement), der Kontakt zu westlichen Firmen und Fundraising.
So viel in der österlichen Zeit von mir, warme Sonnenstrahlen an alle!
35
Ein schönes Osterfest wünscht
Tim
100 Jahre ist keine Zeit,
100 Kilometer ist keine Entfernung,
100 Rubel ist kein Geld
Brief vom 10. Juni 2006
V
or genau einem Jahr war die Sonne noch zur Mitternachtsstunde2) zu sehen und ich folgte ihr in den
Osten. Beladen mit viel Gepäck, Neugierde und etwas Naivität sollte ich meinen Zivildienst in dem
Land antreten, gegen das sich noch vor wenigen Jahren die meisten militärischen Aggressionen meiner Welt
aufstauten.
Dass 100 Kilometer in den Osten zu wenig waren, verstand ich sogleich.
Doch was ist schon ein Jahr, wenn bereits 100 Jahren keine Bedeutung beigelegt wird?
D
ie Zeit verflog, es folgten Abenteuer auf langes Warten, Ernüchterungen auf Träume.
Doch das Positive überwog, wie ich am Ende feststellen musste, um ein Vielfaches. Jetzt einfach aus
dem Land der Endlosigkeit sang- und klanglos zu entschwinden, den „sibirian dream“ nicht auszuträumen,
einfach westwärts ziehen? Das wäre irgendwie nicht möglich.
Die glühende Sonne verbrennt goldbraun die weite Steppe, die sich nach dem Winter vom frischen
Schmelzwasser getränkt in saftig-grüne Ebenen verwandelte. Aber jetzt im Sommer wirbelt von der verbrannten rissigen Erde heißer Staub auf, vor der trockenen Hitze flüchtet man in den kühlen Wald. Eine
Entscheidung zwischen Zecken- und Sonnenstich.
Ich
sehne
mich
nach
Abkühlung, nach Kälte.
Eine Hoffnung nimmt Formen an:
Ein weiterer Winter in Ostsibirien!
Einige Zeit schlug ich mich mit diesen Gedanken herum, ehe ich nun
beschließe, tatsächlich ab Herbst
noch einmal für einige Zeit die mir
nun bekannte östliche Welt aufzusuchen.
Dies ist besonders auf zwei
Tatsachen zurückzuführen.
Zum Einen wurde TalismanIskok, wo ich mittlerweile fast ausschließlich arbeite, gebeten, eine
Produktion traditionell-sibirischer
Döschen aus Birkenrinde für die
Verpackung eines natürlichen
2 Damals hielt ich mich in St. Petersburg auf
Die erste Serie an Birkendosen.
Noch ist es ein weiter Weg zu marktfähigen Produkten.
36
Abschied nehmen fällt schwer: Der Baikalsee lässt einen nicht mehr los.
Blick auf den Schamanenfelsen auf der Insel Olchon, nahe der Tourbasa von Nikita.
Heilmittels aufzubauen. Dieser Aufgabe nahm ich mich in den letzten Wochen an. Wie so oft liegt das
Problem im Detail und trotz enormer Fortschritte ist das Ergebnis noch lange nicht befriedigend. Auf der
anderen Seite ist mein Ziel eine Produktion, bei der die Dorfbewohner selbst so viel wie möglich realisieren
können. Dafür bedarf es Hilfsgeräte und ausgefeilter Techniken, da es sich um Millimeterarbeit handelt. Um
dies zu realisieren, brauche ich Geduld und vor allem Erfahrung. Diese beschloss ich im Herbst zu sammeln,
um fürs Weihnachtsgeschäft die erste Lieferung fertig zu stellen.
Der zweite Grund ist die enorme Reiselust, die gebliebene Neugierde und Naivität, die ich gegenüber diesem Land der unergründlichen Geheimnisse, der unzählbaren Entdeckungen, verspüre.
So werde ich wohl die halbe Zeit bei meiner ehemaligen Zivistelle arbeiten und mich auf unendlich viele
Erlebnisse einlassen, die mir schließlich den deutschen Frühling aufblühen lassen werden.
Zunächst aber geht es nach Hause.
So packe ich jetzt meine Rucksäcke, sage dem Baikalsee „do wstretschi“ (bis zum nächsten Mal) und werde
Russland Anfang Juli Hals über Kopf verlassen, die neue EU von der anderen Seite kennen lernen, ins alte
Europa von hinten durch die Brust ins Auge. Nach einem zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt werde ich dann
wieder versuchen, den Ural schnellst möglich zu überwinden in die strahlende Klarheit des Frosts.
Die zwischenzeitlichen 70, 80 Tage sind schon jetzt proppevoll, aber besonders freue ich mich darauf, durch
das kleine Deutschland zu fliegen und überall wo Interesse herrscht, mit Dias das Leben, das Erlebte und das
Lebendige Sibiriens darzustellen.
Somit grüße ich euch vorerst zum letzen Mal aus Irkutsk und freue mich
Auf ein Wiedersehen!
37
Tim
Projekt
Aufbau einer Werkstatt im heilpädagogischen Dorf „Talisman-Istok“
38
Zurück in der russischen Heimat
Brief vom 3. November 2004
M
it einer PET-Bonaqua-Flasche versuchen die „Santechniki“ gerade in meinemNachbarzimmer die brennende Wand der Holzwerkstatt zu löschen. Ein besorgter Mitarbeiter von Istok, verantwortlich für
Brandschutz, stürzt nach erfolglosem Einsatz der Flasche zu dem Feuerlöscher irgendwo in einer Ecke, reißt an
der Schlaufe und ..... leer!
I
n meinem Zimmer ist es kühl, die Außentüren sind der Werkstatt sind weit aufgerissen, dazu kommt, dass
das Heizen für einige Tage „auf Eis“ gelegt wurde. Nach der Heizungskatastrophe im letzten Jahr mit einge-
frorener Werkstatt und geborstenen Heizungsrohren soll nun das System erneuert werden.
Der Kleinbrand scheint unterdessen unter Kontrolle geraten.
Ihr seht, ich bin wieder zurück in meiner russischen Heimat, in das stets bewegte Leben.
Vor knapp drei Wochen landete ich in Irkutsk - ein Heimkommen nach kurzer Abwesenheit. Beim Laufen
durch die Straßen, Einkaufen in den Geschäften, auf den Märkten und beim Fahren mit den
Kleinsammelbussen erschien mir, als wäre ich nach nur kurzer Pause zurückgekommen, als wenn ich gerade
nur einen Ausflug an den Baikalsee gemacht hätte. Noch so gewohnt erschien mir die Umgebung, die
Menschen, das Leben.
39
Dennoch: ich bin unter einer anderen Voraussetzung zurückgekommen.
Abermals werde ich den größten Teil der Zeit in dem sozialen Dorfprojekt „Talisman-Istok“ verbringen.
Doch diesmal bin ich hier mit einem konkreten Arbeitsauftrag, mit klar definierten Aufgaben: Wie viele
von euch sicherlich während der Dia-Abende erfahren durften, werde ich eine Werkstatt aufbauen, in der die
Betreuten nach traditioneller kunsthandwerklicher Weise Döschen aus Birkenrinde produzieren werden. In
diesem hochwertigen Produkt soll dann ein TeeZusatzstoff, der in den asiatischen Hochlagen
wie der Baikalregion wild vorkommt, verkauft
werden.
Neben der fachgerechten Verarbeitung des
Materials sollen in der Werkstatt diese Döschen
serienmäßig erstellt
werden können.
Hauptaufgabe dabei ist natürlich, die
Arbeitsplätze so zu organisieren, dass der
Hauptteil der Arbeit von den Betreuten erledigt
werden kann und diese trotz notwendiger
Mechanisierung einen Bezug zum Produkt und
die Möglichkeit zur individuellen Entwicklung
bekommen.
Noch stehe ich am Anfang der Arbeit und
eine große Herausforderung ist, dass es quasi ein
Non-Budget-Projekt ist! Ich muss selber viel
Die Sonnenbrille dient als Augenschutz, ein Stück Pappe als
Werkzeug aus Schrott und guten Ideen
Brandschutz. Ein „Santechnik“ beim Verschweißen der geborstenen Heizung.
zusammenbasteln. Doch an einer solchen
Aufgabe wachsen alle Beteiligte!
Bald wird auch Jakob - mein Co-Worker aus Zivildienst-Zeiten - wieder hierher kommen und mich unterstützen und das Projekt fortführen, wenn ich Istok und Russland wieder verlassen muss. Dann soll hier im
Dorf eine Produktion starten könnnen, die auch der Einrichtung etwas mehr finanzielle Unabhängigkeit bietet.
Eine weitere Aufgabe für mich hier bei Istok ist die Einarbeitung zweier neuer Mitarbeiter in der
Holzwerkstatt, da die Dorfleitung chronisch überlastet ist. Ich soll sie in die Arbeitsabläufe einarbeiten, wobei
besonders der Rhythmus und die tägliche Arbeit mit den Betreuten zu berücksichtigen ist. Zum Glück haben
sich hier zwei Mitarbeiter eingefunden, die meiner bisherigen Erfahrung zufolge mehr oder minder lernwillig
und offen sind.
Leider haben sich in Russland die Sparmaßnamen so verschärft, dass sie sich immer stärker sogar auf die
Namensvielfalt auswirken. So haben wir nun an männlichen Dorfbewohnern fast ausschließlich „Andrejs“
und „Olegs“. Der einzige Mitarbeiter, der einen anderen Namen hat, heißt „Schenja“, so wie eine
Mitarbeiterin.
Toll ist, dass all die neuen Mitarbeiter zusammen in einer Wohnung leben, in einer großen Männer-WG!
Es ist zum Schreien, zu beobachten, wie diese nun mit „Frauen-Arbeiten“ wie Kochen, Abspülen und
Putzen zurechtkommen und wie die einzelnen Männer darauf reagieren. Manchmal komme ich mir vor, wie
in einer Big-Brother-Live-Show: Es ist zum Quieken, locker und leicht aber reales Leben zum Anfassen mit ständig kleinen Problemen: Was macht Andrej Nr. 5, wenn er nach vier Wochen ohne Stadtbesuch keine
Zigaretten mehr hat? Wie bereitet sich Oleg Nr. 2 auf die kalte Jahreszeit vor, nachdem ihn seine Frau rauswarf, ohne dass er die Winterklamotten packen konnte? Man lernt dabei soviel über die Menschen...
Nicht allen neuen Mitarbeitern fällt es leicht, sich auf die
Betreuten einzulassen. Immer wieder erlebte Tim Mergelsberg
Erfolgsaugenblicke, wie hier, als ein Betreuter bislang unbekannte Arbeiten verrichtete. Doch den endgültigen Sprung zu
Istok schaffte keiner der neuen Mitarbeiter.
Ich werde also in den nächsten Wochen die meiste Zeit im Dorf verbringen, mich dabei aber langsam herausziehen. Ende Dezember muss ich
schon wieder aus Russland raus, verbinde dies
mit Silvester in der Wüste Gobi, bevor ich bis
Ende Februar auch Freizeit in Russland erleben
werde.
In der Zwischenzeit wurden hier derweil abenteuerliche „Schweißgeräte“ hereingeschleppt,
deren Krach und Gewackel sogar einen sibirischen Bären in Angst und Schrecken versetzen
könnten! Es wurden Starkstromkabel verdrillt,
ohne sie zu isolieren und die ganze Werkstatt
wackelt, wenn an den Heizungsrohren gebohrt,
gesägt, geschraubt, geschweißt und gehämmert
wird.
Heute Nacht werden wir es wohl noch kalt
haben? Zum Glück gibt es auch hier eine
Klimaerwärmung und der Winter will und will
nicht eintreten.
Soweit herzliche Grüße!
Tim
40
Posharnik
Bericht vom Dienstag, 16. November 2004
E
in bisschen Blut rinnt an meinem Finger herunter. An den Händen spüre ich jede Brandstelle, überall
pieksen an ihnen die Splitterchen der Glaswolle. Mein Kopf tut weh und ein seltsames Gefühl spüre ich
in meinem Rachen.
Was ist passiert?
W
ieder mal eine kleine Katastrophe.
Ich beantwortete gerade eine Mail. Wie das Leben hier sei, wurde ich gefragt. Ganz normal schrieb
ich zurück. Ich stehe unter Druck und komme meiner eigentlichen Aufgabe nicht nach. Ein neuer Mitarbeiter,
mit dem ich täglich lange arbeitete, in ihn große Hoffnung setzte, wurde gerade geschmissen. Wodka. Ich musste geschwind die Holzwerkstatt einen Tag übernehmen, obwohl ich das von vornherein mir verbat. Draußen
beginnt es zu schmelzen, als wäre der Winter schon vorbei. Ganz normal eben alles, wie ich schrieb. Da läutete die Glocke zum Mittagessen, ganz normal um Punkt ein Uhr. Ich lief rüber, warf gerade noch einen Scheit
in den Ofen des Werkstattgebäudes. Doch zum Essen kam ich nicht. Bereits im Eingang des anderen Hauses
zogen mir Rauchschwaden entgegen. Ich stürme zum Ofen. Hier scheint alles normal, kein Rauchzeichen.
Wohl hat Slava, unser Heizmeister, beim Nachlegen die Klappe zu lange offen gelassen. Ich laufe zurück. Da
kommt Slava von
draußen hereingestürmt: „Rauch!“
ruft er. Da sage
ich: „Wo noch?“ „Beim Dach“ Ich
denke, er meint
den Schornstein,
er zeigt dorthin.
Ich gehe kontrol l i e r e n .
Tatsächlich. Das
Dach brennt. Jetzt
geht es um gute
Organisation. Ich
laufe zu der roten
Wand,
die
Das brennende Dach wird herausgerissen: „My s toboi posharniki“ sagte Slava noch Wochen
lang stolz zu mir: „Wir beide, wir sind Feuerwehrmänner!“
an
jedem Haus ist. Hier sollen sein: zwei Wassereimer. Eine Axt. Ein Brecheisen. Eine Wassertonne. Ein
41
Feuerhaken. Zwei Spaten. Löschsand.
Nichts ist da. Das rote Brett leuchtet in der Mittagssonne, man möchte wie ein Stier gesenkten Kopfes hinein-
rennen. Slava ist aufgeregt. Feuer sind etwas Besonderes. Nur ein, zweimal im Jahr. Er läuft Eimer suchen.
Derweil finde ich im Heizraum hinter Autoreifen einen alten Feuerlöscher. Ich zerbreche die Plombe. Mehr
ist nicht zu bewegen. Später wird mir gesagt, ich müsse den Feuerlöscher auf den Kopf halten. Eine braune
Soße läuft heraus. Wie verkohltes Wasser. Löschen wird das sicherlich nicht. Besonders praktisch auch, wenn
das Dach über einem brennt.
Schnell sind Eimer gefunden, eine Leiter herbeigeschleppt. Typisch russisch: Aus dem Nichts taucht alles auf.
An Ort und Stelle ist hingegen nichts. Ich begebe mich auf das Dach. Ein zweiter Mitarbeiter läuft herbei. Wir
reißen „Schieferplatten“ auf, Asbestwelldach. Darunter kommt der Schwelbrant. Sehr gesund. Ohne
Handschuhe, ohne Atemschutz (Bei Asbest hilft kein herkömmlicher Atemschutz), in kunstledernen
Wanderstiefeln ein brennendes Dach abbauen. Bestandteile: „Schieferplatten“, Glaswolle,
Weichasbestplatten. Alles sehr gesund. Dazwischen das Holz brennt. Alles siedend heiß. Was zu Beginn klein
aussah, gestaltet sich als sehr groß: Das gesamte Dach des Heizraumes muss herausgerissen werden, bis alle
brennenden Bretter und Balken entfernt sind. Gut, dass ich mein Privatwerkzeug wenigstens an Ort und Stelle
habe. Rasch habe ich notwendige Hilfsmittel zur Hand, wir bauen die Brandstelle Stück für Stück ab. Was niemand derweil merkt: Direkt neben uns der Stromabnehmer, 380 V.
Die ersten Schaulustigen sammeln sich. Auch Slava will lieber mit auf dem Dach turnen, als immer mehr Wasser
holen. Ich breche ein, mein Fuß hängt im Haus. Unten der Ofen gleicht einem Schlachtfeld. Schon wird begonnen,
aufzuräumen. Da haben die Betreuten einen Spaß. Das Feuer ist unter Kontrolle. Der Ofen unter freiem Himmel.
Das nächste Mal sollte man den
Schornstein vielleicht mit mehr, als
fünf Zentimeter Lehm vor der
Holzkonstruktion isolieren. In zwei
Stunden hätte vielleicht das Dorf
gebrannt. Zu dritt stehen wir da, drei
Feuerwehrmänner, ermattet nach
dem Einsatz. Wir hissen keine
Landesflagge auf den Trümmern.
Der Elektroofen muss eingestellt
werden,
sonst
frieren
die
Heizungsrohre ein. Mit 12 KW die
Taiga aufwärmen. Wir gehen. Den
Rest erledigt unser begeisterter
„Putztrupp“. Nach lauwarmer
Kartoffelsuppe
mit
wenig
Geschmack und viel Wasser ist mir
nicht zumute. Ich mache mir ein
Müsli. Ein bisschen Europa muss
sein an solch einem Tag. Sonst
beginne ich auch Schornsteine mit
Holz zu verkleiden.
In meinem Zimmer ist es warm. Die
Holzscheite brennen ganz normal
vor sich hin. Ich beantworte eine
Mail, als wäre alles ganz normal.
Euer Tim
Slava liebt es, fotografiert zu werden.
Er ist gerne der Offizier oder Gendarm.
Und wenn es sein muss, eben Feuerwehrmann.
42
Draußen von der Taiga komme ich her...
Brief vom 30. Dezember 2004
E
E
ine wunderschöne Weihnachtszeit euch allen und möge das Neue Jahr gut beginnen!
Was heißt das, es weihnachtet gar sehr?
s ist schwer, dies von einer Region zu schreiben, die einerseits eine religiöse Scheide darstellt und gleich-
43
zeitig europäische Traditionen und Glaube mit denen des Ostens vereint.
Die Weihnachtstage verbrachte ich im Kurort „Arschan“, außer dem Baikalsee sicherlich eine der faszinierendsten Gegenden Sibiriens. Der Ort liegt in einem Tal, das die Baikal-Rift-Linie bis in die Mongolei fortsetzt. Nach Norden hin von schroffen weißen Bergen abgegrenzt, fühlt man sich wie in den tiefen Alpen; im
Tal wirken die weißen Bäume, deren Äste sich unter der Last des Schnees tief beugen, wie ein Märchenwald.
Hier wächst neben Kiefer, Birke und Lärche auch die bekannte sibirische Zirbelkiefer. Hoch oben in den
Berglagen sind viele Heilkräuter zu finden, für die der Ort sehr bekannt ist. Nicht zuletzt wird hier unter
schweren Bedingungen an den Steilhängen Sagan Dailya gesammelt, diejenige Pflanze, wegen der ich noch mal
nach Irkutsk zurückgekommen bin: Dieses Kraft spendende Kraut wollen wir in den Birkendosen, deren
Produktion ich aufbaue, nach Europa vermarkten.
Kulturell bietet das Tunka-Tal
gewissermaßen einen Mittelpunkt der
ansässigen Stämme Ostsibiriens. Die
Bewohner des Tals stellen sich vor,
dass sich das Heldenepos „Gesser“,
das „burjatische Nibelungenlied“ hier
zugetragen hat. Auch drehen sich
viele Sagen um die Heldentaten des
großen Sibirieneroberers Jermark, der
auch diesen Ort besucht haben soll,
was allerdings von den meisten
Gebieten östlich des Urals behauptet
wird.
Doch allein rein objektiv strahlt
diese Region eine besondere Wirkung
aus: Über 200 Heilquellen, viele
davon mit wertvollen Mineralien und
Davos Sibiriens: Arschan ist eines der schönsten Bergdörfchen
mit
den
unterschiedlichsten
Russlands. Viele Heilkräuter und heiße Quellen helfen hier Menschen
Temperaturen, entspringen in den
zur Genesung.
Bergen rund um das reißende
Flüsschen Tunka. Der Leiter des
Buddhisten-Klosters sagte mir: Man bezeichnet dieses Gebiet als „die Schweiz Sibiriens“. Vielleicht ist aber
„Tibet Sibiriens“ passender. Der Lama lächelt ruhig. Rund die Hälfte der Bewohner sind Burjaten.
Nach den großen Wirren der 90er-Jahre und der geistigen Öffnung Russlands konnte der Buddhismus in
dem mongolenstämmigen Volk schnell wieder Fuß fassen. „Der Glaube hat sich in den Menschen fortgetragen. Besonders auf dem Land war er durch die Sowjetmacht nicht zu ersticken“. So sind die Menschen stolz
auf ihr kleines Kloster.
Aber nicht nur der Buddhismus lebt in den Bergen Ostsibiriens. Mittlerweile hat beinahe jeder Ort wieder
einen Schamanen, wobei es hier große Unterschiede gibt. Doch die Intension stimmt überein: Den Menschen
mit Naturkräften zu helfen. Kaum ein Bewohner dieser Gebiete, der nicht den Schamanenbräuchen huldigt,
selbst die meisten Russen ergeben sich ihnen. So hat die orthodoxe Kirche schwer zu kämpfen gegen den buddhistischen und schamanischen Glauben, die auch oft verblüffend einfach kombiniert werden. Erst langsam
entstehen die ersten christlichen Glaubenshäuser.
Das Buddhistische Kloster von Arschan.
Viele Gläubige schaffen es erstaunlich gut, Buddhistische
Tradition und schamanischen Glauben zu vereinen.
Außer der zauberhaften Schneelandschaft ist
weihnachtliche Stimmung also schwer auszumachen. Und auch diese scheint von dem deutschen
- zumindest dem süddeutschen Klima ernsthafte
Konkurrenz bekommen zu haben: In den vergangenen zwei Jahren will der sibirische Winter
immer weniger Strenge zeigen, was mittlerweile
nicht nur Umweltschützern Sorgen bereitet.
Dieses Jahr konnte noch nicht einmal Eis aus dem
Baikalsee für die Bauwerke in den
Vergnügungsparks gewonnen werden, der See
zeigt noch keine Anzeichen, sich dem Frost zu
unterwerfen.
Ganz anders sieht es mit der Weihnachtsstimmung im geschmückten Irkutsk aus, wenn man aus der ländlichen Isolation in die Großstadt gelangt. Hier holen mich immer die Wahrheiten der weiten Welt ein, von
denen ich sonst so isoliert verschont werde. Das erste, was ich bei meiner Ankunft in der Bezirkshauptstadt
mitbekam, waren die Nachrichten von der schrecklichen Katastrophe im Süden des asiatischen Kontinents3) .
Doch grelle Feststimmung versucht Sorgen zu übertünchen. Überall glitzert und flimmert es, vor den
Geschäften stehen lebensgroße rote Weihnachtsmänner aus Plastik, die ununterbrochen kitschige amerikanische Lieder piepen und mit den Hüften wackeln, während die Lichterketten knallbunt blinken. Das groß
gefeierte Fest - Neujahr - steht kurz bevor und lässt auch hier die Kassen klingen.
Ich werde diese Tage schon an einem völlig anderen Ort verbringen: Die russische Bürokratie, d.h. die
Visa-Bestimmungen vertreiben mich aus dem Land und so werde ich in die Mongolei ausreisen müssen, um
danach wieder für weitere drei Monate russischen Boden betreten zu dürfen.
Nachdem ich nun meine Halbzeit feiern konnte, folgen zwei weitere knappe Monate, um unser Projekt zu
beenden: Gemeinsam mit Jakob wollen wir eine funktionierende Birkenrindenwerkstatt auf die Beine stellen,
so dass zur kommenden Weihnachtszeit die ersten Birkendöschen über die deutschen Ladentische gehen.
Langsam werde ich mich aber auch aus der Personalbetreuung zurückziehen. Trotz kleiner Erfolge raubte
diese mir viel Energie und aus der letztmalig beschriebenen Männer-WG blieb ein einziger übrig: Die restlichen wurden von Alkohol und Ähnlichem eingeholt, ein weiterer hobelte sich derb in die Hand. Das war
natürlich auch für mich schwierig, weil ich sehr viel Kraft in die neuen Mitarbeiter steckte und nun die
Situation um so beunruhigender, aussichtsloser scheint, mein Einsatz als verlorene Zeit. Aber langsam, ganz
langsam gehen wir hier unseren Weg.
Ich hoffe, ich konnte einen kleinen Einblick in das hiesige Leben geben und wünsche euch allen nun
einen guten Start ins Neue Jahr!
Euer Tim
3 Gemeint ist die Tsunami-Katastrophe bei Sumatra
44
Eröffnung der Birkenwerkstatt
Brief vom 1. März 2005
I
n den letzten Monaten war ich nicht mehr allein in Irkutsk, seit Januar haben Jakob und ich uns Erfolge und
Sorgen in der Arbeit geteilt und unsere Arbeit wurde zu einem gemeinsamen Projekt. Und schließlich kam
zum Abschluss der Arbeit auch Annika zu Besuch. Bis dahin gab es noch sehr viel Arbeit, ehe nun mit
Frühlingsbeginn meine letzten Tage hier in Irkutsk anbrachen. Und die Arbeit sollte auch Früchte tragen: Am
Samstag konnten wir die Birkendosen-Werkstatt, für die wir zuletzt im Rekordtempo arbeiteten, offiziell
eröffnen.
V
on
nun
an
kann
das
Soziale
Dorfprojekt „Pribaikalskij Istok“ klei-
ne Döschen aus Birkenrinde produzieren, die in
Sibirien in jahrhundertealter Tradition kunsthandwerklich gefertigt werden. Die Generalprobe
hat die Werkstatt bereits bestanden, die ersten
Döschen wurden schon hergestellt. Auch lerne
ich seit rund drei Wochen eine Mitarbeiterin ein,
die seit dieser Woche mit den Betreuten in der
Werkstatt tätig ist. Bei guter Organisation und
durchschnittlicher Auslastung können leicht 20
Dosen täglich von rund vier Betreuten hergestellt
werden. Selbst wenn diese Zahl zu Beginn mit
Sicherheit nicht erreicht werden kann, so wird
die jährliche Stückzahl doch im vierstelligen
Bereich liegen. Somit konnten wir eine
Produktionsstätte aufbauen, die hier hinter dem
Ural eine Neuerung bedeutet: Eine sozialtherapeutische Werkstatt für Seelenpflegebedürftige
mit durchstrukturierter Großproduktion. Je nach
Nika arbeitet an einer Birkendose. Am Eröffnungstag wollte
sie unbedingt um 6:00 Uhr aufstehen, um gleich schon einige Dosen herzustellen. Auch für die Betreuten ist die neue
Werkstatt etwas ganz besonderes.
Fähigkeiten und Bedarf können die Betreuten somit tageweise jeweils ihre Aufgaben - stets ein bestimmter
Arbeitsschritt - erfüllen, ohne dass die Produktion ins Stocken gerät. Auch Probleme wie Maschinen- oder
Stromausfälle, für ein sibirisches Dorf nichts Außergewöhnliches, beeinträchtigen primär die Arbeit nicht.
45
Neben der Masse hatten wir noch zwei Hauptanforderungen zu meistern. Zum einen müssen alle Produkte
einen stets gleichbleibenden Qualitätsstandart standhalten. Bei einem Produkt, hergestellt von Menschen,
deren Zahlenverständnis und Feingefühl eingeschränkt ist, wo allerdings schon im Millimeter-Bereich
Ungenauigkeiten hervorrufen können, ist das nicht einfach. Nicht allein wegen der Serienproduktion mussten
wir also mechanisieren. Maschinen und Stanzen mit eindeutigen Anschlägen geben unseren Betreuten die
Möglichkeit, mit etwas Training genau arbeiten zu können. Doch eine Mechanisierung kann auch gefährlich
sein und unser Ziel war es, keine tote Fabrik im großen Stil aufzubauen, in der Mensch und Produkt voneinander abgekoppelt sind.
In einem Sozialen Dorfprojekt steht die Hilfe in der Entwicklung der Betreuten im Mittelpunkt der
Aufgaben, auch wenn ein Arbeitsresultat erforderlich ist. Doch stellt sich die Werkstatt als funktionstüchtig
heraus, kann die Arbeit der Betreuten zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für das Dorf werden, das Projekt
soll sich langfristig selbst tragen können. Nur wie baut man eine Maschine, die Massenproduktion, Qualität
und Sozialtherapie miteinander verbindet? Und dazu noch ohne Geld und in Sibirien. Als Westler muss man
sich erst noch daran gewöhnen, nicht in einen Baumarkt gehen zu können und einfach seine Einkaufsliste
abzuhaken. Die russischen Baumärkte bieten ein Paradies für Bummler, doch wenn man ein bestimmtes
Produkt sucht, kann man sich tagelang verirren. Man muss wissen, was es wo gibt, aber wenn man das weiß,
sind einem die Tore geöffnet. Nichts ist ist hier wichtier als Kontakte und hätte ich nicht mit der Zeit so viele
Menschen kennen gelernt, die mir auf die verschiedensten Arten und Weisen geholfen haben, wäre es unmöglich gewesen, eine Werkstatt aufzubauen. Daraus haben sich viele Freundschaften entwickelt, und der baldige
Abschied macht ein bisschen
traurig.
Doch auch mit Freuden
komme ich nach Europa, derzeit ist das bevorstehende
Sprachen-, Wirtschafts- und
Kulturraumstudium in Passau
weniger präsent in meinen
Gedanken, als auch die
Fortführung der Arbeit mit
den Birkendöschen: Hier
werde ich den Vertrieb der
Döschen in Deutschland
übernehmen.
Bei
einem
letzten
Spaziergang über den gefrorenen Baikal konnten wir schon
„Hauptaufgabe dabei ist natürlich, die Arbeitsplätze so zu organisieren,
Abschied nehmen von diedass der Hauptteil der Arbeit von den Betreuten selber erledigt werden kann,
sem mächtigen See, um den
dass diese trotz notwendiger Mechanisierung einen Bezug zum Produkt bekommen
sich so viele Sagen ranken
und die Möglichkeit zur individuellen Entwicklung haben, d.h. die Aufgabe muss
den richtigen Schwierigkeitsgrad haben, damit sie eine Herausforderung bleibt,
und der Ostsibirien diesen
aber eben auch zu bewältigen ist.
ganz besonderen Charakter
Dazu kommt der Aspekt, selber zum finanziellen Unterhalt des Dorfes beitragen zu
verleiht.
können.“
Tim Mergelsberg über die neue Birkenwerkstatt
Und so beginnt die frühlingshafte Sonne immer stärker sich gegen die weiße Weite durchzusetzen, schon beginnt der Schnee zu tauen. Mit
dem Beginn des Frühlings werde ich also das noch winterliche Sibirien verlassen und freue mich, von euch
allen wieder zu hören!
Sonnig-warme Grüße, zum letzten Mal aus Irkutsk
Euer Tim
46
Erreichtes Ziel: Die Werkstatt ist eröffnet!
Ein Film zur Arbeit in der neuen Birkenrinden-Werkstatt
An dieser Stelle befindet sich im
digitalen Dokument ein Film.
Den Film können Sie sich auch
seperat von der CD aus anschauen
Film: (10:32)
0:00
0:30
1:30
2:00
2:40
3:50
7:00
8:15
9:50
47
Chillout-Corner
Diesen Bereich gestalteten sich Annika, Jakob und Tim, um sich von den Strapazen der Arbeit zurückziehen zu
können. Meist wurden hier russische Kartenspiele gespielt, gegessen und gefeiert.
Mittagessen in Gemeinschaft
Zum Mittagessen findet sich die gesamte Dorfgemeinschaft in den zwei Haupthäusern ein.
Diskussionen am Essenstisch
Beim gemeinsamen Essen werden viele Erlebnisse, Anekdoten und Neuigkeiten ausgetauscht
Erntedank
Vor jeder Mahlzeit wird als Dank für das Essen das Vaterunser auf Russisch gesprochen
Holz sägen
Um den Winter bewältigen zu können muss viel Brennholz gesägt werden. Gerne wird dabei mit der
„Drushba“ gearbeitet, einer Säge, die „Freundschaft“ genannt wird: Man ist auf sein gegenüber angewiesen
und fühlt bald, wenn er keine Lust zum Arbeiten hat. Die „Drushba“ ist für die therapeutische Arbeit von großer Bedeutung
Birkenwerkstatt
Die Betreuten dürfen in der neu eingerichteten Werkstatt arbeiten. Stolz gehen sie ihren neuen Aufgaben
nach.
Holzwerkstatt
Auch in der Holzwerkstatt werden Teile für die Birkengefäße gefertigt. Ein Betreuter lernt den Umgang mit
der Lochsäge
Interview
Tim Mergelsberg erzählt über seine Arbeit in der Weite Sibiriens und die gegebenen Rückzugmöglichkeiten.
Büroarbeit
Obwohl es keinen wirklichen Telefonanschluss gibt, erst recht kein Internet, ist bei solch einem Projekt auch
Büroarbeit gefragt.
Nachwort
T
im Mergelsberg war erstaunt und empfand es als Hilfe, dass er in Irkutsk auf einen großen Kreis von
Menschen traf, die alle miteinander eines verband:
Sie waren in Pforzheim gewesen - als Schüler, Lehrer, Studenten, Professoren, Ärzte, Künstler, Sozialarbeiter,
Bauhandwerker
Sie waren bewegt von der Gastfreundschaft der Pforzheimer Deutsch-Russischen Gesellschaft und einem
interessanten Aufenthaltsprogramm.
Und sie haben den Wunsch, die Verbindung zu Pforzheim zu halten.
E
s sind Menschen, die sich regelmäßig in der dortigen Russisch-Deutschen Gesellschaft treffen, und
auch immer dann, wenn wieder ein Gast aus Pforzheim in Irkutsk weilt (oder wenn Irkutsker aus
Pforzheim zurückkehren), um das Neueste aus der Partnerstadt und von ihren Freunden zu hören.
Der gemeinsame Fokus Pforzheim stiftete in Irkutsk Bekanntschaften und Freundschaften, die stark genug
sind, um sich bei Bedarf gegenseitig zu helfen.
„Beziehungen haben“ ist eines der wichtigsten Elemente der russischen Gesellschaft. Wir nennen es vielleicht
„Netzwerk“, wobei ich meine, dass dieses „Beziehungen haben“ viel tragfähiger ist als unsere oft doch eher
oberflächlichen Netzwerke.
Hilfe erfuhr Tim Mergelsberg zum Beispiel von Handwerkern, die zuvor in Pforzheim
lernen durften. So schließen sich wieder Kreise.
Auch Tim Mergelsberg hat
es als sehr hilfreich erfahren,
Beziehungen
in
Irkutsk zu haben, die durch
die DRG entstanden sind.
Er brauchte z. B. für die
Einrichtung der Werkstatt
Plexiglas, was er nirgends
in Irkutsk fand - in keinem
Baumarkt, auf keinem
Chinesenmarkt. Den entscheidenden Tipp erhielt
er von Ira, der Frau eines
bei uns ausgebildeten
Bauhandwerkers, die selber
in einem Geschäft für
Werkzeug (u. a. auch von
der Firma Bosch) arbeitet
und einen Kunden hat, bei
dem Tim fündig werden
konnte.
48
Wehmütiger Abschied: Während 1 ½ Jahren in Irkutsk wurden viele Netzwerke gesponnen und
Freundschaften geschlossen.
Die Gastgeber bereiteten eine große Tafel - Die Kontakte dauern bis heute an.
Das Europäische Haus ist eher ein Teil eines Netzwerkes nach westlichem Muster. Hier sind Institutionen
beteiligt, deren Ziele von Ökologie bis zu bürgerschaftlichem oder humanitärem Engagement reichen, aber
auch Bildungseinrichtungen und Unternehmen.
Das Europäische Haus kann die Kooperation zwischen Unternehmern aus Irkutsk und seinen
Partnerregionen in Europa begleiten.
Der damalige Geschäftsführer des Europäischen Hauses, Sergej Arfanidi, war auch der Ansprechpartner für
Tim Mergelsberg; er hat dessen Einsätze bei „Istok“, bei „Vosroshdenie semli sibirskoje“ und bei Bencharovs
auf der Insel Olchon koordiniert.
Jeder Pforzheimer oder Einwohner des Enzkreises, der sich - auf welche Weise auch immer - in die
Städtefreundschaft einbringen möchte, kann über das Europäische Haus oder über Deutsch-Russischen
Gesellschaften beider Städte ihn interessierende Kontakte vermittelt bekommen.
Friedensdienst ist nicht nur Sache der Zivildienstleistenden, sondern Aufgabe von uns allen.
Katharina Leicht
Deutsch-Russischen Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis
49
Anhang
50
Unverständlich
Einige russische Phänomene werden erklärt
Tante Emma
Neulich schrieb mir eine Freundin, die zum ersten Mal in
Russland war, sie könne es sich gar nicht vorstellen: So viele
kleine Läden, kaum größer als eine Gefängniszelle. Und in
allen sind die gleichen Lebensmittel zu finden. Wie die
Der Irkutsker Chinesen-Markt „Shanghai“
denn überleben?
nach Verkaufsschluss
Einkaufen geht in Russland ein bisschen anders als in
Deutschland. Jeder Laden hat das Gleiche. Aber irgendeine
Besonderheit gibt es dann doch. Man muss nur eben wissen, wo man was findet. So kann ein
Einkaufsbummel durchaus einen ganzen Tag dauern. Ähnlich ist es auf „Fortuna“. Das war
unser Baumarkt. Auch hier steht Kiosk neben Kiosk. Alle haben die gleichen Dinge in der
Auslage. Man muss sich hier schon sehr gut auskennen.
Alles, aber auch wirklich alles bekommt man auf „Shanghai“. Das ist der Chinesen-Markt. Hier
kann man von Nahrung über Boxershorts bis hin zu Schusswaffen das kaufen, was das Herz
begehrt. Und dies dazu noch zu Preisen, die selbst für die angebotene Qualität billig erscheinen.
Schwitzkasten
Eine Banja ist nichts anderes, als eine Sauna. Aus Holz gebaut, mit Holz geheizt, dient sie als
Wäschekammer und Badezimmer gleichzeitig. Wann immer es kalt ist, in der Banja ist es warm. Mit
Birkenzweigen schlägt man sich auf den Rücken, bis es auch außerhalb der Banja warm zu sein scheint.
Mussi mussi bussi bussi
Ein tolles Wort auf Russisch ist das Wort „Marschrutka“,
das sind Sammeltaxen, die einer bestimmten Marschrute
folgen. Also private Konkurrenz zum Busverkehr.
Marschrutkas sind das Fortbewegungsmittel Nr. 1 in
Russland.
Jeder Marschrutkafahrer hat am Armaturenbrett entweder
orthodoxe Ikonen oder Pornos kleben. Bei den meisten findet man beides.
Faszinierend ist der Unterhaltungswert: Man bekommt
immer den letzten Schrei der Musikbranche mit. In ausnahmslos jeder Marschrutka spielen die Radios Poppmusik hinauf und herunter. T.a.t.u Glukoza, Mussi mussi bussi bussi. Man ist echt up to date, wenn man viel herumfährt.
Aber das ist man eigentlich immer: Hauseigener Popp ist in Russland von großer Bedeutung.
Das hören alle - vom Baby bis zum Mütterchen. Und auf zwei Tage im Jahr freuen sich die
Russen besonders: Auf Silvester und Neujahr: Da gibt es zwei Tage ununterbrochen
Zum Abspielen
bitte hier klicken! Livekonzerte und keine Werbung im Fernsehen. Das ist dann wirklich ein Grund zum Feiern!
51
In der digitalen Version gibt es hier eine Hörprobe des Liedes „Mussi mussi...“
8000 Kilometer gen Osten
Jakob Steigerwald beschreibt seine Fahrt mit der
Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk zu Tim Mergelsberg.
K
aum war ich in Russland, ist mir auch schon das erste Malheur passiert: Mein Bus kam morgens in St.
Petersburg am Bahnhof an. Dummerweise aber am Baltischen Bahnhof, mein Zug nach Moskau jedoch
fuhr vom Moskauer Bahnhof. Da stand ich also ohne einen Satz Russisch zu können in der Dunkelheit mitten in
St. Petersburg. Die Geschäftsleute tranken grad ihr Frühstücksbier, alle hatten es eilig, an den
Fahrkartenschaltern konnte niemand Englisch und
die Milizionäre waren ausnahmslos betrunken.
N
ach einigen ziemlich verplanten Stunden
(zum Glück hatte ich genügend Zeit) fand
ich dann doch einen Fahrkartenschalter hinter dessen Panzerglasbullauge jemand Englisch sprach. Die
Dame begleitete mich sogar bis zur richtigen MetroBahn. Das Metro-Fahren in St. Petersburg muss man
sich so vorstellen: Man wird von einem drängelnden,
Mit High-Speed in die Tiefe. Russische Rolltreppen sind doppelt so lang, wie bei uns. Ans Ziel gelangt man trotzdem in
der gleichen Zeit. Währenddessen wird man von Werbetafeln
überflutet und mittels Lautsprechern zum Kauf animiert
hastenden Menschenstrom auf eine rasend schnelle,
laute Rolltreppe geschoben. In einem dunklen
Tunnel geht es in die Tiefe, dessen Ende man nicht
erkennen kann. Nach etwa einer halben Minute Fahrt kann man das Ende erahnen. Unten angekommen
steht man plötzlich in einem riesigen, prächtigen Saal, reich verziert mit Gold, Marmor und Gemälden. Von
der Decke hängen riesige, glitzernde Kronleuchter, wie in
einer Kirche. Nur die Gleise auf beiden Seiten und die
vielen Menschen stören die andachtsvolle Stimmung. Am
Moskauer Bahnhof fand ich dann meinen Zug in die
Hauptstadt und stieg dort problemlos in die Transsib um.
Die Transsib ist echt ein total gemütlicher Zug. Die
Wagen habe ich nie gezählt, auf jeden Fall sind es sehr
sehr viele. Vorne hängen zwei überdimensionierte sowjetische Dieselloks, die den Zug mit 80 km/h durch die
Taiga ziehen. Jeder Waggon hat etwa 12 Vierbettabteile,
einen Samowar für heißes Wasser, zwei Plumpsklos, eine
Raucherecke und eine kleine Bar für Kaffe, Tee und
Snacks. Außerdem wird jeder Waggon von zwei
Waggonschaffnerinnen bewacht, die sich im 12-StundenTakt gegenseitig ablösen. Auf dem Boden liegen
Perserteppiche und die Gänge sind mit schönen
Gardinen und weniger schönen Plastikblumen
geschmückt.
Die Transsib ist die längste Bahnlinie der Welt.
Wer nicht mit ihr gefahren ist, kennt Russland nicht.
52
Während der Fahrt lernt man schnell
Leute kennen: Mal lädt das Nachbarabteil
zu einer Runde Kartenspielen mit Wodka
ein, mal teilt man seine Mahlzeit mit seinem Abteilgenossen. Unterhalten hab ich
mich meistens mit Händen und Füßen.
Wenn der Zug mal hält (alle zwei bis drei
Stunden), dann gleich eine halbe Stunde.
Da hat man genug Zeit sich auf dem
Bahnsteig bei den Babuschkas mit
Lebensmitteln einzudecken. Ansonsten
wird auch alles im Zug zu unverschämt billigen Preisen angeboten.
An großen Bahnhöfen hält die Transsibirische Eisenbahn meist für länAb und zu wird der Zug von der Miliz
gere Zeit. Die Bewohner der Umgebung kennen den Fahrplan auswendig
und verkaufen lauwarme Hähnchen, Obst, Milch, Fertigsuppen, Nüsse...
kontrolliert. Bei Kazan zum Beispiel war
So geordnet in einer Reihe wie hier stehen sie freilich selten.
ich gerade mit einem etwas zwielichtigen
Typ aus Tadschikistan in einem Abteil, als
ein Milizionär hereinkam und unsere Pässe sehen wollte. Meinen hab ich gleich wiederbekommen, aber der
Tadschike musste sein Gepäck zeigen, was eigentlich nur aus einer Hugo-Boss-Plastiktüte bestand. Darin
befand sich jedoch eine ganze Flasche voll Gras. Ich dachte: „Den nehmen sie bestimmt mit!“, aber der
Milizionär lachte nur und steckte sich eine Hand voll in die Tasche. Daraufhin machte er sich wieder aus dem
Staub, wobei er eine üble Bierfahne hinter sich her zog.
Solche suspekten Zwischenfälle gab es aber sonst kaum. Die Reise mit der Transsib ist einfach traumhaft.
Man fährt fast nur durch unberührte Natur: endlose Birkenwälder, wunderschöne Sonnenuntergänge, riesige
zugefrorene Flüsse, verschneite sibirische Dörfchen. Städte kündigen sich durch schwarze Qualmwolken an,
die aus den Schornsteinen der monströsen Kombinate stammen. Insgesamt machen die Städte keinen schönen Eindruck: quadratisch in die Landschaft gedonnert, wie aus dem Boden gestampft. Erst kommen die riesigen Industriekombinate, dann die Elendsviertel mit Blechhütten und Holzhäuschen und in der Mitte
Plattenbauten, systematisch nebeneinander.
Von der Kälte bekommt man im Zug relativ wenig mit. Wie in allen russischen Haushalten wird dort so
kräftig eingeheizt, dass man in T-Shirt und kurzer Hose herumlaufen kann. Konträr dazu sind die Übergänge
zum nächsten Waggon: man balanciert auf einem schmalen, wackeligen, vereisten Steg und kann dabei wunderbar auf die Schienen sehen. So richtig hab ich die Kälte aber erst beim Aussteigen gespürt. Ich kam am
Sonntag den 1. Februar, also fast eine Woche nach meiner Abreise, in Irkutsk an. Insgesamt hab ich damit fast
8000 Kilometer in sieben Tagenzurückgelegt. Dabei hab ich sieben Zeitzonen durchfahren, d.h. jeder Tag war
eine Stunde kürzer, das war schon ein bisschen komisch.
53
Als ich ausstieg, war der erste Atemzug so, als hätte ich gerade eine Tube Mentholzahnpasta gegessen: Total
frisch, kristallklar und beißend kalt. Ich wurde mit den Worten empfangen: „It’s very warm, it’s just 24
degrees“ (In Russland sagt man bei Temperaturangaben, genau umgekehrt wie bei uns, nur das Pluszeichen
dazu. Wenn man nichts dazu sagt bedeutet das „minus“). Die Kälte hier ist irgendwie total schön: Sie ist trokken, bescheiden gesagt erfrischend, und solange kein Wind weht, absolut auszuhalten, vorausgesetzt man zieht
sich warm an. Es scheint fast immer die strahlende Sonne, und lässt alles funkeln und glitzern. Sogar die Luft
glitzert vor Eiskristallen.
In dem sozialtherapeutischen Dorfprojekt „Pribaikalskij Istok“ in dem ich jetzt wohne und arbeite, wird die
Kälte allerdings ziemlich schnell sehr lästig, weil einfach alles ein- und anfriert.
Aggregatzustände
Annika Frohböse beschreibt ihre Erlebnisse von März bis Mai 2004
K
leine, glitzernde Eiskristalle überziehen die Fenster meines Zimmers. Sie sammeln sich in den unteren Ecken des Glases und werden nach oben hin weniger. Hier kann ich durch die Scheibe hindurch-
blicken und entdecke draußen auf dem Hof einen hellblauen Tankwagen. Er muss gerade eben erst vorgefahren sein, denn es kommen von allen Seiten Menschen herbei um beim Wassertragen zu helfen. Also drehe
auch ich mich nach meiner warmen Fleecejacke um, schlüpfe hinein und ziehe die gefütterten Stiefel an die
Füße. Hier im Haus beginne ich sofort darin zu schwitzen, doch kaum trete ich vor die Tür, schlägt mir die
Kälte entgegen. Dankbar für die warmen Sachen stapfe ich zu dem Verschlag, unter dem der verbeulte Tank
steht, welcher soeben von dem Wagen befüllt wurde. Nun heißt es schnell den Tank leer zu schöpfen, bevor
das Wasser gefriert, Eimer um Eimer, Wassertonne um Wassertonne. Es darf keine Zeit verloren werden, denn
schon hat sich um den Tank ein kleiner, gefährlich glitschiger Berg versehentlich verschütteten Wassers gebildet. Einer versucht schneller das Wasser abzufüllen als der Andere, alle erdenklichen Behälter werden zum
Tragen benutzt, bis schließlich die Hände vor Kälte schmerzen. Die Vorräte verschwinden in der wärmesicheren Banja, dem Waschhaus für alle Fälle. Dort wird es den gewünschten Aggregatzustand halten und auch in
drei Tagen, wenn die Suppe gekocht werden soll, noch flüssig zur Verfügung sein. Dies ist keine
Selbstverständlichkeit in einer Jahreszeit, in der sich der warme Atem schon nach einem kurzen Spaziergang
an der frischen Luft in Mütze, Augenbrauen und Wimpern in tausend kleinen Eiskristallen verfängt.
Mal ist es Eis, mal Wasser, mal Dampf. Nicht nur am Baikal spielt es die wichtigste Rolle für den Menschen,
doch hier hat die Form, in der sich dieses H2O befindet eine schlichtweg lebensentscheidende Bedeutung. Erst
recht wird mir diese Tatsache ein paar
Wochen später bewusst, als ich mich
entscheide, mit einem der letzten
Autos vor dem Tauen des Sees die
Insel in Richtung Festland zu verlassen. Der Baikal wird während des
Tauwetters für einen Monat weder
mit Autos noch mit dem Schiff zu
überqueren sein. Vor dieser Phase
möchte ich das soziale Dorfprojekt
Istok besuchen und diese lebendige
„Quelle“ in der Einöde Sibiriens
selbst erleben. Also lasse ich mich auf
das Wagnis ein und nehme die Fahrt
über das heilige Meer, den Baikal in
dieser riskanten Zeit in Kauf. Schon
bei dem ersten Versuch das schon
stark angetaute Eis zu befahren wird
Wenn hier auf dem Gelände von Natascha und Nikita Bencharov der
uns bewusst, welcher Gefahr wir uns
Wasserlaster ankommt, müssen alle mithelfen, Wassereimer in die warme
aussetzen. Die schwere Eisenstange,
Banja zu tragen.
54
55
die zum Überprüfen der Eisdicke mit uns fährt, verschwindet ohne große Widerstände mehrere Handbreit in
die matschige Sauce und zeigt uns, wie brüchig das Eis bereits ist. Ob es wohl zu spät ist, haben wir zu lange
mit der Überfahrt gewartet? Der Fahrer entscheidet sich für eine schattiger gelegene, aber unter dem Eis von
gefährlichen Strömungen unterwanderte Stelle des Sees. Ein kleiner PKW kommt uns entgegen, es wird versichert, es sei kein Problem hinüber zu fahren, wir könnten es ruhig wagen. Nur ist der kleine PKW um einiges leichter als der Kleinlaster, in dem wir uns befinden. Was für ein Auto reicht, muss für uns noch lange
nicht dick genug sei, um
hinüber zu kommen.
Doch eine andere Wahl
haben wir nicht und so
steuern wir auf die glatte
Fläche zu. Allen im Auto
ist klar: Jetzt geht es um
Geschwindigkeit, stehen
bleiben
oder
ins
Schleudern kommen,
kann sofort das Sinken
unseres Fahrzeugs bedeuten. Die letzten Autos
fahren deshalb grundsätzlich mit geöffneten
Türen, um den Insassen
zumindest eine gewisse
Überlebenschance zu
geben. Jedes Frühjahr
Mit viel Schwung hat das Auto vielleicht Chancen über den Graben zu kommen.
Oder auch nicht...
und jeden Herbst versinJährlich versinken Autos beim Befahren des Eises. Die offizielle Straße wird nur freiken hier dutzende
gegeben, wenn das Eis mindestens 70cm stark ist.
Fahrzeuge, weil die
Fahrer sich verschätzt haben. Diese Gedanken bewegen mich, als wir losfahren; der Fahrer gibt Gas und
schnell klettert der Zeiger des Tachos Strich für Strich höher. Die Luft scheint zu stehen, wie die Zeit, die in
unserem angehaltenen Atem nicht weiter gehen will. Konzentrierte Blicke auf die Fahrbahn vor uns, gibt es
Risse, gibt es Löcher, Packeis, das umfahren werden muss? Nur nicht verlangsamen. Wir rasen dahin, schneller und schneller. Allen ist schließlich die Erleichterung anzumerken, als endlich das Ufer in erträgliche Nähe
rückt. Der kleine Junge neben mir beginnt wieder sich zu bewegen, über das Gesicht des Fahrers huscht ein
Lächeln und ich erinnere mich, dass meine Lungen sich nichts sehnlicher wünschen als Sauerstoff. Diesmal
hat es uns noch getragen, das Eis. Doch all zu bald wird es sich verflüssigen und was wird dann aus der Familie
des Fahrers, die von dem Verkauf der Fische leben, welche regelmäßig von der Insel in die Stadt gebracht werden müssen? Es bleibt wohl nur zu beten, dass Vater und Sohn auf dem Weg nicht passieren möge. So verabschiede ich mich kurze Zeit später von den zweien und beginne, hinauf in das Dorf der Quelle zu spazieren.
Auch hier wird das Leben von den verschiedensten Formen des Wassers geprägt. So beispielsweise wenn
die Rohre eingefroren sind. Denn zwar lebt dieses Dörfchen nicht von Wasserlieferungen wie die Menschen
auf der Insel oder nährt sich gar von der unweit gelegenen Quelle, doch auch hier bleiben die Leitungen nur
passierbar, solange das Wasser ununterbrochen läuft und ihm keine Stillstandsgelegenheit geboten wird. Und
kommt es doch für ein paar Stunden oder Tage einmal zur Ruhe, dann wird den Rohren mit Lötkolben zu
Leibe gerückt und das Wasser unter Strom gesetzt. So wandelt es sich brav in seinen erwünschten Zustand
zurück und das Leben fließt weiter.
Eine Kuh macht muh, viele Kühe machen Mühe
Wie beruhigend, morgens den Zinkeimer unter der Spüle hervor zu holen, mit heißem Wasser auszuwaschen
und mit ihm noch halb verschlafen und in Gummistiefeln gemeinsam zu den Kühen zu stapfen. Den heißen
Dampf des Atems der Tiere im Nacken auf dem kalten Holzschemel zu sitzen, ein paar Tropfen der warmen
Milch an den Händen zu spüren, während der weiße Strahl im Eimer Schaum bildet. Umso überraschender,
wenn sich diese großen, schweren Tiere auf einmal ihren ganz persönlichen Willen in den Kopf setzen und
entscheiden, dass nur noch der Instinkt zu zählen habe. Ein Besucher aus der Stadt kommt nachmittags plötzlich herein und erzählt von der Wanderung der Kühe. Er habe sie unten auf dem Weg getroffen. Alles hätte
er versucht sie zur Umkehr zu bewegen, doch sie hätten sich partout nicht überreden lassen und wären weiter
gezogen. Also setzen sich der Kuhhirt des Dorfes und ich uns in Bewegung und jagen ihnen nach. Sofern man
auf der glitschigen Schlammstraße von Jagen reden kann. Kilometer um Kilometer laufen wir ihnen hinterher.
Von Zeit zu Zeit sind Hufabdrücke im Matsch zu sehen. Istok wartet auf die Kühe, denn ihre Milch ist ein
wichtiger Bestandteil im Speiseplan für Mensch und Vieh. Schließlich gibt es auch noch die Kälbchen zu versorgen. Nun sind sie auf Wanderschaft gegangen und niemand weiß so recht wohin. Auf gut Glück laufen wir
ins nächste Dorf und bitten zwei ältere Babuschkas uns zu sagen, ob eine braunweiße und eine schwarzweiße
Kuh in trauter Zweisamkeit vorbei gekommen wären. Ja, ja, irgendwo nach dort hinten, irgendwo in die
Hausruinen hinein seien sie spaziert. Zwischendurch werden allmählich unsere Beine immer müder, wir sind
schon mehrere Stunden unterwegs. So irren wir durchs Dorf, werden von einem zum anderen geschickt. Bis
der gute Kuhhirt auf zwei alte Bekannte trifft, die uns ziemlich genau Auskunft über den Verbleib der Tiere
geben können. Bei niemandem anders, als bei ihnen seien sie untergekommen, es sei schließlich Frühling und
die Kühe wüssten wie sie zum Bullen gelangen könnten. Bald seien sie wieder trächtig und dann kämen sie
zurück. Wir sollten uns bloß keine Sorgen machen. So kommen wir mit einer nur mittelmäßig befriedigenden Auskunft zurück ins Dorf und wissen: Der Weg zum Melken hat sich für die nächsten Wochen von ein
paar Schritten zum Stall um sieben Kilometer ins nächste Dorf verlängert. Da aber niemand Lust hat, ihn
gleich zweimal am Tag zu laufen, wird es in Zukunft etwas weniger Milch geben, die Kälbchen bekommen sie
mit Wasser verdünnt und überhaupt, gemolken werden wird von uns wohl hauptsächlich, wenn ein Auto in
die Stadt fährt. Dafür wird es den Freunden im Nachbardorf die nächste Zeit erst einmal an Milch nicht mehr
mangeln. Das ist ja immerhin auch ein Trost.
Das Hinterteil zugewendet: Plötzlich waren die Kühe aus dem Dorf verschwunden...
56
Irkutsk - eine Stadt zwischen Asien und Europa
Z
uerst möchte ich erst ein paar Daten zu Irkutsk und Umgebung loswerden. Irkutsk hat etwa 600000
Einwohner und ist Hauptstadt des Irkutsker Oblast (vergleichbar mit Bundesland). Russland ist in 89
Oblasti eingeteilt. Der Irkutsker Oblast ist etwa doppelt so groß wie Deutschland und beherbergt etwa 2,5
Millionen Menschen (zum Vergleich: In Deutschland leben etwa 80 Millionen Menschen). Die Stadt liegt an der
Angara, dem einzigen Abfluss des Baikalsees, etwa 50 km von ihm entfernt.
Irkutsk ist für russische Verhältnisse eine sehr weltoffene Stadt. In den Zeiten des Sozialismus gehörte sie zu
den wenigen Städten Sibiriens, die für Ausländer geöffnet war. Inzwischen findet man hier neben restaurierten russischen Kirchen mit Zwiebeltürmen auch Moscheen, Synagogen und buddhistische Tempel. Es gibt eine
große Universität, ein berühmtes Theater und die einzige Fußgängerzone Sibiriens. Auf der anderen Seite ist
aber auch die Kriminalität sehr hoch und ein großer Teil der Haushalte hat immer noch kein fließend Wasser.
E
s war ein Mittwoch, als ich das erste mal in Irkutsk war. Wir (Tim und ich) wollten mit unserem
Kleinbus mitfahren. Zu diesem Gefährt muss ich noch kurz ein paar Worte sagen. Es handelt sich um
einen alten, kleinen Nissan-Van. Ich glaube jeder kennt die vom Sehen: höher als lang, so schmal wie ein Trabi
und ziemlich wackelig auf den Beinen. Er hat, wie viele Autos hier, das Steuer auf der rechten Seite, obwohl
man hier auch auf der rechten Seite fährt. Das liegt daran, dass viele in Japan ausrangierte Wagen direkt hierher gebracht werden. Natürlich hat unser Kleinbus auch die Schrammen und Beulen, die hier einfach Pflicht
für jedes Auto sind. Des Weiteren hat die Fahrertür keinen Griff (mehr) und die Schiebetür geht nur halb zu.
Vor jeder Fahrt muss man jegliche Flüssigkeiten nachfüllen. Getankt wird mit dem Eimer, da Benzin in
Fässern billiger ist als an
der Tankstelle. Nach
jeder Fahrt muss der
Schnee
aus
dem
Kofferraum geschaufelt
werden, weil dort irgendwo ein Loch ist. Soviel zu
57
unserem „Auto“.
Es ist ein milder Tag,
um die 20 Grad minus,
aber die Februarstürme
sind gerade voll im
Gange, und machen die
angenehmen -20 zu ziemlich kalten -40 Grad
gefühlter Temperatur.
Nach einiger Zeit hat
Oleg, unser Fahrer, das
Auto dann doch noch
angekriegt. Jetzt müssen
wir uns nur noch eine
Irkutsk gilt auch als „Paris Sibiriens“. Neben alten Häusern aus Holz, die mit aufwendigen
traditionellen Schnitzereien versehen sind, bestimmt Architektur des beginnenden 20.
Jahrhunderts das Stadtbild.
viertel Stunde gedulden. In Russland ist es so
Sitte, das Auto 15 Minuten lang warmlaufen
zu lassen, völliger Blödsinn find ich, aber egal.
Schließlich sind wir auf dem unbefestigten
Feldweg, der uns zur Landstraße bringen soll,
unterwegs.
Bis jetzt sind wir noch im Wald, und es
sind noch keine Schneewehen zu sehen. Mit
70 km/h brettert Oleg über den vereisten
Weg. Bei jedem Schlagloch meint man, jetzt
sei es soweit. Nach fünf Kilometern erreichen
wir das offene Feld. In der Ferne ist schon die
Straße sichtbar. Jetzt kommen aber auch die
Kirchtürme und Kultureinrichtungen bestimmen seit jeher das
Schneewehen. Oleg gibt noch mehr Stoff.
Stadtbild Irkutsk’. In den 40er -Jahren kamen zunehmend auch
Eine Ein-Meter-Schneewehe geht noch mit
Schornsteine hinzu: Während des Krieges wurde die Industrie systematisch ins sibirische Hinterland verlegt.
ein bisschen Schwung, aber alles darüber ist
zu viel. Etwa 200 m vor der Landstraße sitzen
wir fest. Das Auto ist bis zur Frontscheibe in
den Schnee eingegraben. Zum Glück liegen Schaufeln im Kofferraum. Obwohl es noch mehr Schaufeln gäbe,
blieben die zwei Frauen wie selbstverständlich im Auto sitzen. Nicht dass ich das schlimm fände, so ist das hier
einfach. Im Gegenzug wird hier kein Mann sich dazu bewegen, vom Tisch aufzustehen, um etwas zu holen.
Ein bisschen veraltet, diese Mentalität.
Draußen weht ein eiskalter Sturm von Norden her. Nach einer halben Stunde war das Auto frei, aber vor
uns lagen noch ein paar solche Schneewehen. Nach zwei Stunden hatten wir letztendlich die 200 m bis zur
Straße geschafft. Zwischendurch
haben wir einmal Pause gemacht,
um Schokolade zu essen. Die Kälte
raubt ernorm viele Kräfte wenn
man draußen ist.
Auf der Straße angekommen ging es
dann schnurstracks die 50 km nach
Irkutsk. Das erste, was ich von
Irkutsk sah, war ein riesiges
Betonschild über der Straße, auf
dem in fetten Buchstaben „Irkutsk“
stand. Der Sowjetstern daneben war
einfach weggehämmert. Nach etwa
fünf Minuten konnte man die Stadt
Grundsätzlich funktionieren Autos in Russland nie. Häufig gibt es Pannen,
erspähen. Dann mussten wir erst
wenn der Schneesturm am stärksten, der Wagenheber eingefroren und kein
Werkzeug vorhanden ist.
mal die „Stadtmauer“ passieren.
Das ist einfach eine Betonbarrikade,
die von der Miliz kontrolliert wird.
Wir durften jedoch ohne Probleme passieren. Irgendwie hat mich das an Israel erinnert.
Dann ging es weiter, vorbei an den qualmenden Schloten der Kombinate, durch Viertel, in denen die
Menschen in Holz- und Blechhütten wohnten, vorbei an endlosen, gleich aussehenden Reihen hässlicher
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Plattenbauten bis ins Zentrum. In einer russischen Stadt die Stadtmitte zu finden ist ganz einfach: Man fahre
solange in die Stadt hinein, bis man auf die Uliza Lenina (Leninstraße) treffe. Auf ihr fahre man dann solange, bis sie die Uliza Karla Marksa (Karl-Marx-Straße) kreuze. Dann ist man genau im Zentrum.
Auf jeden Fall ließ uns Oleg irgendwo im Zentrum raus. Ich hatte eigentlich versucht, mich russisch zu kleiden, aber irgendwie haben uns alle komisch angeschaut. Die haben alle gleich gemerkt, dass wir Ausländer
sind. Russen tragen entweder dunkle Farben (schwarz oder dunkelgrau) oder Fleckentarn, der auch bei Frauen
sehr beliebt ist. Die Armee hat hier halt immer noch einen sehr hohen Stellenwert. So gut wie jeder hat ein
Pelzmütze, Pelzhandschuhe und Filzstiefel an. Außerdem tragen alle eine Plastiktüte mit sich. Ich hab noch nie
jemand mit Rucksack gesehen, aber dazu komm ich später noch.
Auf den Straßen sieht man hier entweder ausrangierte japanische Autos, oder russische Modelle. Ab und
zu sieht man mal einen Mercedes S-Klasse oder einen amerikanischen Geländewagen. Mittelklasseautos wie
einen VW oder einen Renault hab ich hier noch nie gesehen. Nicht zu übersehen sind hier auch die vielen
Holz- und Kohlelaster, meist alte russische Modelle, richtig nostalgisch. Die Straße bestehen aus in den Schnee
gefahrenen Spurrinnen, geräumt wird nicht. Sie sind spiegelglatt. Jeder gibt Gas so gut er kann.
Tim schlug vor, wir könnten erst mal einen Schaschlik essen gehen. Damit war ich voll und ganz einverstanden. Nach dem kargen Essen im Dorf hatte ich mal wieder so richtig Lust auf etwas Deftiges. Außerdem wollte ich
auch mal gern ein russisches Restaurant sehen. Das Restaurant sah dann so aus: Am Straßenrand stand ein
Mongole mit Frau hinter einem kleinen Grill. Daneben stand eine Bierbank, ein Biertisch und ein Sonnenschirm
mit Palmenstrand drauf. Der
Grillmeister war nett, ließ mit sich
handeln und die Schaschliks
waren gut. Dazu gab es einen
Instant-Kaffee im Plastikbecher.
Als Polster diente ein Stück Pappe
und als Tischdecke eine
Plastikfolie. Irgendwie fand ich es
stylisch, bei minus 20 Grad unter
einem
Sonnenschirm
mit
Palmenstrand zu sitzen.
Wir schlenderten weiter
Richtung Marktplatz, und was
ich dort gesehen habe, hat mich
richtig geschockt: Eisbuden, eine
neben der anderen. Ich meine
Speiseeis, am Stiel oder in der
Waffel. Das ist einfach der
Hammer. Na ja, ich hab keins
In Irkutsk entsteht im Winter jährlich eine Eisstadt mit filigranen Türmchen,
gegessen, mir war's kalt genug.
Labyrinth und großer Rutsche. Selbstverständlich werden auch die Eisbuden
eingemauert.
59
Nach einem anstrengenden
Einkaufstag nahmen wir uns eine Marschroutka (Sammeltaxi) zu Tims Wohnung. Er hat hier in einem
Plattenbau ein Zimmer untergemietet. Das war meine erste und hoffendlich letzte Nacht in einem russischen
Plattenbau. Die Philosophie ist hier so: Die Plattenbauten werden mit Strom beheizt, den es ja in Hülle und Fülle
gibt. Heizungsregler gibt es nicht, viel zu aufwendig und teuer die einzubauen. Es wird einfach so stark geheizt,
dass es auf jeden Fall jedem warm ist. Wem es zu warm ist, der kann ja das Fenster aufmachen. Tim hat in seinem Zimmer Tag und Nacht das Fenster offen, aber ich konnte trotzdem nicht schlafen, so heiß war es.
Zeugnis
Arbeitszeugnis von Tatjana Kokina und anderen zum Projekt
Herr Tim Mergelsberg war in den Zeiträumen 1. August 2003 bis 1. Juli 2004 und 13. Oktober 2004 bis 11.
März 2005 für und in den heiltherapeutischen Einrichtungen Pribaikalskij Talisman, einer Schule für geistig
und mehrfach behinderte Kinder in Irkutsk, und Pribaikalskij Istok, einem Dorfprojekt mit Werkstätten und
Landwirtschaftsbetrieb für geistig behinderte Erwachsene in der Nähe von Irkutsk, Russland tätig. Während
dieser Zeit wurden auch Arbeitseinsätze in anderen Einrichtungen geleistet. Herr Mergelsberg nahm an den
betriebseigenen Fortbildungsveranstaltungen teil und bildete sich selbständig weiter.
Die Aufgabengebiete von Herrn Mergelsberg im Dorfprojekt umfassten alle Einsatzbereiche von der Arbeit im
Garten, den Fahrdiensten, der Leitung der Holzwerkstatt, der Mitgestaltung des Freizeit- und
Kulturprogramms bis hin zur zeitweiligen Leitung der Tierhaltung (Rind, Schwein, Federvieh). Alle Arbeiten
fanden stets gemeinsam mit und für die Betreuten statt. Hauptaufgabe war die therapeutische Arbeit mit den
Betreuten in den vorgenannten Bereichen.
Bei seinem zweiten Einsatz im Dorfprojekt baute er zusammen mit seinem Kollegen selbständig und voll
verantwortlich eine komplette Werkstatt für die kunsthandwerkliche Fertigung von traditionellen Döschen aus
Birkenrinde von der Idee bis zur Serienreife auf. Es ging vor allem darum, mit den betreuten Menschen eine
anspruchsvolle Fertigung mit relativ großen Mengen gleicher Produkte aufzuziehen. Die Arbeitsabläufe mussten auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Betreuten abgestimmt werden. Einzelne Schritte wurden teilmechanisiert. Dabei kam es darauf an, die Arbeitsschritte so anzulegen, dass eine Fort- und Weiterentwicklung
der Fähigkeiten der betreuten Menschen möglich wurde. Da die Produkte im westlichen Ausland verkaufen
sollten, war ein hoher Qualitätsstandard zu erreichen und gleichbleibend zu halten.
Da sowohl Herr Mergelsberg als auch sein Kollege über keine formale Fachausbildung verfügten und keine
handwerklich technische Unterstützung vor Ort gegeben war, erarbeiteten sich beide Herren die theoretischen
und praktischen Grundlagen selbst. Ihre breit gefächerte Schulausbildung an einer Waldorfschule, ihr
Findungsreichtum und ihre grundsätzliche Problemlösungskompetenz kam ihnen dabei zugute.
So wurde nach der Konzeption des Produktes bzw. einer möglichen Produktfamilie (Dosen und sonstige
Behältnisse aus Birkenrinde) die ersten Prototypen gefertigt, daraus die Arbeitsabläufe strukturiert, der wechselnde Einsatz von Hand- und Maschinenarbeitsplätzen so geplant, dass möglichst viele Arbeitsschritte von
den Betreuten möglichst selbständig durchgeführt und auch therapeutische Gesichtspunkte berücksichtigt
werden konnten. Es wurden die Arbeitsanweisungen und Arbeitspläne festgelegt, die Mitarbeiter eingewiesen
und die Betreuten entsprechend ihren Möglichkeiten angelernt.
Die Material- und Fertigungskosten wurden kalkuliert und der Bau von einfachen Schablonen und
Vorrichtungen weitestgehend in Eigenregie vorgenommen, ebenso wie die Anpassung der Maschinen bzw. der
Maschinenarbeitsplätze.
Parallel dazu verhandelte Herr Mergelsberg mit potentiellen Abnehmern und gemeinsam wurden die
Qualitätsstandards festgelegt. Nachdem die Unterstützung durch Geldgeber und die komplette
Vorfinanzierung geklärt war und zusätzliche Sponsoren angeworben werden konnten, wurden die ersten
Serien gefertigt und erfolgreich vor allem nach Deutschland verkauft.
60
Herr Mergelsberg und sein Kollege kümmerten sich auch um die Beschaffung des Rohmaterials, die Hilfs- und
Betriebsstoffe, und richteten ein Lager mit Regalsystemen ein. Sie verschafften sich Kontakt zu örtlichen
Fachleuten.
Herr Mergelsberg hat sich sehr schnell in die Gegebenheiten vor Ort eingelebt, sich selbständig in die breiten
und umfangreichen Aufgabengebiete, sowohl die Landwirtschaft und die traditionelle Werkstätten bei seinem
ersten Einsatz als auch den Aufbau der Fertigung in der neuen Holzwerkstatt, eingearbeitet und alle technischen und organisatorischen Schwierigkeiten mit großem Improvisationsvermögen und Geschick erfolgreich
gelöst.
Sowohl mit den Leitern der Einrichtungen, den Mitarbeitern als auch den betreuten Menschen kam Herr
Mergelsberg stets sehr gut zurecht. Sein Verhalten war stets einwandfrei und vorbildlich. Es gelang ihm auftretende Konflikte erfolgreich und gemeinsam mit den Betroffenen zu lösen. Er arbeitete sowohl im Team als
auch auf sich gestellt mit großer Übersicht und Einfühlungsvermögen und hohem persönlichem Einsatz und
hinterließ der Einrichtung eine hervorragend organisierte und reibungslos laufende neue Produktlinie.
Herr Mergelsberg schied planmäßig zum Ende seines Russlandaufenthaltes aus unserer Einrichtung aus. Wir
sind ihm für seine Bereitschaft sehr dankbar, das Projekt weiterhin unterstützend zu begleiten. Wir bedauern
seinen Weggang sehr und wünschen ihm für die Zukunft alles Gute.
Brief von Tatjana Kokina
In einem Brief schreibt die Vorsitzende des Dorfprojektes „Istok“ folgendes:
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61
Vision sagaan
Blick in die Zukunft: Aus der Arbeit in Sibirien entsteht ein
russisch-deutsches Projekt. Die ersten Schritte sind gegangen.
D
urch seine Erlebnisse in Irkutsk fühlt sich Tim Mergelsberg den Menschen und der Region eng verbunden. Aus den Erlebnissen heraus will er das entstandene Band auch weiterknüpfen. Allerdings soll nicht
- wie sonst oft bei sozialen Einrichtungen üblich - eine einseitige Abhängigkeit durch Spenden aus dem Westen
entstehen. Daher gründete Tim Mergelsberg die Firma sagaan, die hochwertige Produkte aus sozialen
Einrichtungen in Sibirien, eben die Gefäße aus Birkenrinde, in Deutschland vermarktet.
Wir drucken die Vision der Firma sagaan ab.
Präambel
In der ehemaligen Sowjetunion sind - wie nirgends sonst auf der Welt - mit dem Niedergang des kommunistischen Regimes Freiheiten und Möglichkeiten entstanden, die unvorhersehbar waren. Seither befindet sich die
Gesellschaft im Wandel. Wir sehen unsere Aufgabe darin, dies als Chance zu erkennen und daran mitzuwirken, dass sich ein auf Freiheit beruhendes Geistesleben, eine Wirtschaftsweise in gegenseitiger
Verantwortung, sowie eine demokratische Politik und unabhängige Judikative entwickeln kann.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand in Russland, sowie den anderen Nachfolgestaaten ein
gesellschaftliches Vakuum. Bestehende Strukturen zerfielen, alte Krusten wurden aufgebrochen, die
Gesellschaft befindet sich im Wandel. Dies führt zu viel Verunsicherung, zu Ängsten und Krisen und zu großem Leid. Gleichzeitig lernten die Menschen zum ersten Mal ihr Schicksal auch offiziell selbst in die Hand zu
nehmen und erfuhren Freiheiten, die es noch nie gab. Viele zerrüttete dieser Zustand, einige wenige konnten
kraftvoll einen Weg beschreiten, der im geistigen wie im physischen ein Entwicklungspotential für die
Menschen darstellt.
Seit Beginn der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts kristallisiert sich in Irkutsk, einer Stadt nahe des
Baikalsees, ein Zentrum aktiver Menschen heraus, die durch ihre Arbeit das Leben bewusst mitgestalten. Sie
sehen im Menschen ein Wesen, das neben materiellen Bedürfnissen auch insbesondere geistige Freiheit und
individuelle Entwicklungschancen benötigt.
Tim Mergelsberg beim
Justieren einer Maschine
in Russland.
Mittlerweile ist er für den
Ver trieb der in dieser
Werkstatt hergestellten
Produkte verantwortlich
62
Unsere Vision
sagaan hat die Vision, Netzwerke zwischen bestehenden Organisationen und Aktivitäten zu unterstützen und
den Menschen auf dem Weg zu freier Entfaltung und gesellschaftlicher Entwicklung zu helfen. Wir
denken, dass nur ein solches Gesellschaftsmodell nachhaltig sein kann und vertreten die
Meinung, dass das Wirtschaften in sozialer und ökologischer Verantwortung einen
Gewinn für alle Beteiligten darstellt. Dass solche Modelle dennoch
auch wirtschaftlich lohnend sein können, beweist u.a. die
Initiative „Sekem“ in Ägypten.
Mit
unserem
wirtschaftlichen
Handeln wollen wir nicht nur
sozialen Einrichtungen
die Chance geben,
schöne und sinnvolle
Produkte für uns zu
erstellen und dafür
eine faire Entlohnung
zu erfahren. Vielmehr
sehen wir unsere
Aufgabe auch an der gesellschaftlichen Arbeit, indem wir gezielt Ideen und Projekte finanziell, aber auch in
Know-How und unsere Ressourcen unterstützen und somit eine gemeinsame Idee voranbringen.
Dies ist ein langwieriger Prozess und kann nur in kleinen Schritten vollzogen werden. Hierbei sind wir auf
Hilfe aller Beteiligten angewiesen.
Einen ersten Schritt wagte sagaan 2005, als wir eine Manufaktur für traditionelle Birkenrindenprodukte in der
heiltherapeutischen Einrichtung „Istok“ aufbauten. Heute werden hier, sowie in einer Werkstatt mit inhaftierten Drogenabhängigen die Birkendosen hergestellt, die sagaan vertreibt. Noch viel Arbeit muss erbracht werden, um später auch ein Reha-Projekt für die Drogenabhängigen aufzubauen.
Neben der sozialen Verantwortung will sagaan auch ökologisch nachhaltig wirtschaften. Die Taiga ist der größte Waldgürtel der Welt und somit die Lunge des blauen Planeten. Raubbau und Zerstörung sind hier
besonders gravierend. Wir achten auf nachhaltige Forstwirtschaft und erarbeiten Kriterien für die
Verwendung unserer Rohstoffe. Langfristig wollen wir nur noch FSC-zertifizierte Rohstoffe verwenden. Doch
auch hier liegt ein langer und steiniger Weg vor uns.
Wir
planen,
unsere
Produkte
CO2-neutral
zu
transportieren.
Noch
ist
ein
solcher Schritt für uns ein zu großer Kraftakt, in den nächsten Jahren werden wir aber Möglichkeiten untersuchen.
Mit diesen Aktivitäten wollen wir Verantwortung im Rahmen unserer Möglichkeiten übernehmen.
„Für eine lebenswerte Zukunft müssen wir
besonders zwei Qualitäten beweisen:
Verantwortung gegenüber Mitmenschen und
Verantwortung gegenüber der Natur.“
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Leitspruch der Firma sagaan