Günter Eich - Erschriebene Wirklichkeit - Phil.

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Günter Eich - Erschriebene Wirklichkeit - Phil.
Günter Eich – Erschriebene Wirklichkeit (Proseminar im Sose 2014 an der Universität Augsburg)
Tobias Krüger M. A.
Zusammenfassung in Themenkreisen
Erschriebene Wirklichkeit
Die Sprache ist für Eich kein Schlüssel zu einer präexistenten Wirklichkeit, sondern die
Wirklichkeit geht erst aus der Sprache hervor: „Erst durch das Schreiben erlangen für mich die
Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst
herstellen. Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt
als Sprache zu sehen.“1 Doch nur die menschliche Sprache ist der Vernunft zugänglich. Zwar
thematisiert Eich den Versuch die Formen der Natur zu lesen, dieser scheitert aber stets (vgl. z.
B. das ‚Lesen der Haferkörner‘ in Nicht geführte Gespräche oder die ‚Entsiegelung der
Vogelschrift‘ in Ende eines Sommers und die ‚geschwungenen Zeilen des Ackers‘ in Winterliche
Miniatur). Die menschliche Sprache erlaubt jedoch immer nur eine Annäherung an die
Wirklichkeit; nie ein tatsächliches Erfassen: „Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in
der das Wort und das Ding zusammenfallen.“2 Damit spielt Eich auf die paradiesische, d. h.
‚adamitische Sprache‘ an, welche dem Menschen mit dem Sündenfall verlorengeht. Von dieser
Einheit von Wort und Welt ist dem Menschen nur noch die Welt verfügbar, während der
‚Urtext‘ verloren ist, so dass Eich jedweden Versuch einer Darstellung der Welt mittels der
normalen Sprache als unvollkommene bzw. unvollständige ‚Übersetzung‘ ansieht: „Aus dieser
Sprache, die sich rings um uns befindet, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext
zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten
Grad von Wirklichkeit.“3
Damit bezeichnet Eich eine unhintergehbare Distanz zwischen der Welt und ihrer sprachlichen
Darstellung. Die menschliche Sprache als Medium des Bewusstseins vermag immer nur eine
räumlich und zeitlich begrenzte, subjektive Ansicht der Welt zu erfassen; niemals die Welt in
ihrer raumzeitlichen Totalität. Dafür sind auch die ‚Zufallssinne‘ des Menschen verantwortlich,
vermittels derer wir nur einen Teil der Welt erfahren können. Dies illustriert Eich in seinen
Texten häufig durch Situationen, welche die Sinneswahrnehmung einschränken (vgl. z. B. die
Blindheit in Blick auf Venedig, die Dunkelheit in Träume (1. Traum), die Gehörlosigkeit in Man
bittet zu läuten und die durch Aussatz hervorgerufene Empfindungslosigkeit in Das Jahr
Lazertis).
Der Zwang, „die Wirklichkeit ungesehen zu akzeptieren“4 prägt Eichs Gesamtwerk. Als
besonders exemplarisch können jedoch u. a. folgende Texte genannt werden: Lyrik: Fragment,
Nicht geführte Gespräche – Hörspiele: Träume (1. Traum), Blick auf Venedig, Allah hat hundert
Namen, Das Jahr Lazertis, Die Stunde des Huflattichs – Maulwürfe: (Poetik der Maulwürfe) –
Reden/Schriften/Interviews: Der Schriftsteller vor der Realität, <Günter Eich im Gespräch mit
Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin-Zehlendorf>.
Eich, Günter: Der Schriftsteller vor der Realität. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hg. v. Axel Vieregg.
Frankfurt am Main 1991. S. 613.
2 Ebd.
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© Tobias Krüger, 2014
Günter Eich – Erschriebene Wirklichkeit (Proseminar im Sose 2014 an der Universität Augsburg)
Tobias Krüger M. A.
Das Gedicht als ‚trigonometrischer Punkt‘ und die ‚Poetik des Dazwischen‘
Der kognitiven Unzugänglichkeit der Welt kann laut Eich nicht mit empirischer Exaktheit und
sachlicher Sprache begegnet werden, sondern nur mittels der Poesie. So bezeichnet er die
„Sprache der Dichtung“ als „[d]ie andere Sprache also, die wie die Schöpfung selber einen Teil
von Nichts mit sich führt, in einem unerforschten Gebiet die erste Topographie versucht.“5 Das
poetische Wort, das sich eben keines etablierten Konnotats bedient, sondern eine Beziehung
zwischen Zeichen und Welt – die Wirklichkeit – erst zu schaffen sucht, erlaubt eine
Orientierung in der Welt, wenngleich es – ebenso wenig wie das streng sachliche Wort – nicht
in der Lage ist, die Wahrheit zu erfassen.
Daher rührt Eichs Metaphorik von der ‚Boje‘ und der ‚Triangulation‘: „Ich schreibe Gedichte,
um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder
als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.“6 Der poetische Text
beansprucht keine Gültigkeit und ist solchermaßen ebenso weltfremd wie über die Welt
erhaben: „Ein Gedicht ist ein Punkt, ein zugespitzter Augenblick, in dem Raum und Zeit
aufgehoben sind.“7 Es beansprucht die meditative Tätigkeit bzw. Leistung des Lesers, um auf
die Wirklichkeit übertragen zu werden. Das Gedicht bietet vorübergehend einen festen
Standort – einen archimedischen Punkt –, welcher zeitweilig Orientierung zu gewähren
vermag: „In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich in
auf festem Boden.“8
Das Gedicht ist damit aber – wie auch der Blindenstock und die Trigonometrie – kein Abbild
der Realität, sondern nur das Medium des Wirklichkeitszuganges. Es steht zwischen dem
wahrnehmenden Subjekt und der Wirklichkeit. Daraus konstituiert sich jene Schreibweise
Eichs, die man als eine ‚Poetik des Dazwischen‘ bezeichnen könnte. Der Gegenstand der
dichterischen Sprache ist eben nicht der von ihr benannte, sondern jener, welcher zwischen den
etablierten semantischen Wortinhalten liegt. Dies kann sich etwa synästhetisch äußern (z. B.
beschreibt Eich im Maulwurf Zwischenakt einen unbenennbaren Duft als „einen Geruch
zwischen Pfefferminz und weiblichen Hormonen“9) oder als Produkt einer Aufzählung (vgl. z.
B. die „Abmessung im Nichts“ in Der große Lübbe-See, die anhand einer Vielzahl von
Eindrücken vollzogen wird, um ein unbenennbares Gefühl dazwischen fassbar zu machen).
Ein solcher poetischer Zugang zur Wirklichkeit, in welchem Dichtung nicht als Bild, sondern als
Medium zu begreifen ist, findet sich u. a. in folgenden Texten deutlich exponiert: Lyrik: Der
große Lübbe-See, Tage mit Hähern, Die Häherfeder – Maulwürfe: (Poetik der Maulwürfe) –
Reden/Schriften/Interviews: Der Schriftsteller vor der Realität, <Günter Eich im Gespräch mit
Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin-Zehlendorf>.
Eich, G.: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 619.
Eich, G.: Der Schriftsteller vor der Realität. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 613.
7 Eich, G.: <Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin-Zehlendorf>. In:
ders.: GW. Bd. 4. S. 519.
8 Eich, G.: Der Schriftsteller vor der Realität. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 614.
9 Eich, G.: Zwischenakt. In: ders.: GW. Bd. 1. S. 319.
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Theodizee-Problem und die begrenzte Gültigkeit der Wahrheit
Eich wendet sich gegen das (scheinbar) ‚Nichtänderbare‘, dessen Bedenklichkeit er mit einer
säkularisierten Form des ‚Theodizee‘-Problems beschreibt: „mit allem, was ich schreibe, wende
ich mich im Grunde gegen das Einverständnis mit der Welt, nicht nur mit dem
Gesellschaftlichen, sondern auch mit den Dingen der Schöpfung, die ich ablehne.“10 Die
Vorbehalte gegen Religion als Kultur und Institution sind weder nihilistisch noch antiidealistisch motiviert. Vielmehr scheint Eich dem Menschen sogar ein religiöses Bedürfnis zu
attestieren, welches aber individuell zu befriedigen ist und sich keiner dogmatischen Wahrheit
unterwerfen soll. Er brandmarkt jene Machtinstanzen, welche für sich beanspruchen, die
gültige Wahrheit zu hüten, als unmenschliche Autoritäten. Die Kritik kulminiert also auch hier
in einem epistemologischen Problem. Eich wendet sich gegen die Apotheose von
Wissensordnungen, Weltbildern und Wirklichkeitsvorstellungen, indem diese dem Menschen
solchermaßen nicht mehr als Orientierung in der Wirklichkeit dienlich sind, sondern zum
Gängelband werden (vgl. z. B. das Marionettenspiel Unter Wasser, in welchem sich Elias
Johnson alias Abimelech durch eine Wiederholung der Sintflut zum Massenmörder machen
soll, um einen Fehler im göttlichen Plan zu korrigieren). Das Wissen soll zu einer
eigenständigen Entscheidung befähigen und nicht die Entscheidung diktieren.
Diesbezüglich fordert Eich ein menschliches Recht auf ‚Inkonsistenzen‘ ein: Wahrheit kann
immer nur die Wahrheit eines einzelnen sein und ist überdies auch von zeitlich beschränkter
Gültigkeit.11 Solchermaßen wehrt sich der Autor gegen die Übermacht und Endgültigkeit von
Antworten und hebt demgegenüber den Wert der Fragen hervor (vgl. z. B. der Krebs in Unter
Wasser: „Antworten sind billig. […] Aber stell mir eine gute Frage, – dafür gäbe ich was.“12).
Dies überträgt Eich auch auf den Umgang mit Literatur, wenn er sich wünscht, man solle seine
Werke nicht ‚interpretieren‘, sondern ‚meditieren‘.13 Die Notwendigkeit einer unabschließbaren
und zyklischen Revision von Medien illustriert Eich durch eine Engführung zwischen
Wissensformen von scheinbar dauerhafter Gültigkeit und der Erzählung als Äußerung von
offensichtlicher zeitlicher Terminiertheit (vgl. z. B. die exemplarische Darstellung dessen, was
das Medium der Karte verschweigt, in Eine Karte im Atlas).
Wahrhaftige Einsicht ist nur durch das Vergessen zu gewinnen (vgl. z. B. die Glückserkenntnis
in Träume (4. Traum)14). Erst wenn jene Begriffe, welche die menschliche Wirklichkeit ordnen,
nicht mehr erinnert werden, oder ihre Funktion verlieren, entsteht wieder ein unmittelbarer –
allerdings das Bewusstsein ausgrenzender – Zugang zur Welt. Diesen Zustand vergleicht Eich
mehrfach mit dem Zustand vor dem Sündenfall, vor dem Essen vom Baum der Erkenntnis (vgl.
Beta in Die Stunde des Huflattichs: „Ich bin vor dem Sündenfall.“15).
Eich, G.: <Vom Ernst zum Blödsinn>. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 510.
Vgl. Eich, G.: <Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in BerlinZehlendorf>. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 523.
12 Eich, G.: Unter Wasser. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 26.
13 Vgl. Eich, G.: <Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in BerlinZehlendorf>. In: ders.: GW. Bd. 4. S. 521.
14 Vgl. Eich, G.: Träume. In: ders.: GW. Bd. 2. S. 390.
15 Eich, G.: Die Stunde des Huflattichs (II). In: ders.: GW. Bd. 2. S. 580.
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Die zweifelhafte Macht der Wahrheiten und das Theodizee-Problem sind bei Eich eng
miteinander verwoben. Die begrenzte Gültigkeit von Wahrheit wird in folgenden Texten
exemplarisch verhandelt: Lyrik: Kartographien; Maulwürfe: Eine Karte Atlas, Hilpert – Hörspiele:
Eine Stunde Lexikon, Das Jahr Lazertis, Träume (v. a. 1. und 4. Traum) –
Reden/Schriften/Interviews: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Das TheodizeeProblem kommt u. a. in folgenden Texten explizit zur Sprache: Hörspiele: Festianus Märtyrer,
Gespräch der Schweine – Marionettenspiel: Unter Wasser.
Die ‚Maulwurfspoetik‘ als Unterminierung vermeintlicher Wahrheiten
Die produktive Aufarbeitung von Eichs erkenntniskritischen Perspektiven schlägt sich im
Spätwerk, in den ‚Maulwürfen‘, nieder, wenngleich bereits viele vorhergehende Texte
Vorformen dieser Poetik erkennen lassen. Eich führt die Versuche, mittels Sprache ein
verlässliches System zur Wahrheitsfindung und Wissensordnung zu entwickeln, ad absurdum,
indem er selbst Verbindungen herstellt, welche allgemein als widersinnig anerkannt werden
müssen (vgl. z. B. die Parodie auf Hilberts Axiomatik in Hilpert). Daher sind die Maulwürfe
auch lange Zeit als ‚Unsinnsdichtung‘ bagatellisiert worden.
Hinter dem Bild des wühlenden Maulwurfes, das an Nietzsches Einleitung zur Morgenröthe
erinnern mag, verbirgt sich eine anti-platonische Haltung: Zum einen kehrt Eich die
Metaphorik aus Platons Höhlengleichnis um, indem er den Weg zur Erkenntnis nicht im Weg
aus der Dunkelheit der Höhle ins Licht sieht, sondern im individuell gegrabenen und durchaus
zersetzenden Weg ins Dunkle und Unterirdische. Zum anderen wendet er sich damit gegen die
vermeintlich ontologische Relevanz von Wissensordnungen im Sinne der platonischen Ideen.
Der ‚Wühler unter dem Boden‘ (vgl. Blumenberg, Höhlenausgänge) bringt vermeintlich stabile
Vorstellungen von der Wahrheit zum Einsturz, wobei Eich diese Schädlichkeit als scheinhaft
ausweist: „Meine Maulwürfe sind schädlich, man soll sich keine Illusionen machen. Über ihren
Gängen sterben die Gräser ab, sie machen es freilich nur deutlicher.“16 Die Beliebigkeit der
Ordnung von Wissen offenbart sich auch von selbst, wie Eich vielfach anhand eines
offensichtlich irrigen Vertrauens in enzyklopädische Ordnungssysteme aufzeigt (vgl. z. B. die
Träume des Protagonisten in Eine Stunde Lexikon).
Als einzige Gewissheit verbleibt innerhalb dieser skeptischen Haltung die Einsicht in die
Sterblichkeit. Die Ahnung des Todes macht dem Menschen bewusst, dass er nicht in der Lage
ist, eine Wirklichkeit von unbegrenzter Dauer zu schaffen (vgl. z. B. die Einsicht Pauls in Das
Jahr Lazertis angesichts der Nutzlosigkeit einer ewig gültigen Sentenz: „Eine Wahrheit wie ein
durchlöcherter Sack. Man kann alles hineinpacken, weil es doch hindurchfällt.“17 Erst
eingedenk des vermeintlich sicheren Todes durch den Aussatz findet er eine Wahrheit, die sich
jedoch ebenso wenig formulieren lässt wie jenes Wort, welches ‚Lazertis‘ ähneln soll.).
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Eich, G.: Präambel. In: ders.: GW. Bd. 1. S. 318.
Eich, Günter: Das Jahr Lazertis. In: ders.: GW. Bd. 2. S. 18.
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