Zerbrochene Geschichten - der Systemisch Pastoralen Gesellschaft
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Zerbrochene Geschichten - der Systemisch Pastoralen Gesellschaft
1 CHRISTOPH MORGENTHALER, BERN Zerbrochene Geschichten Systemische Trauerseelsorge in narrativer Perspektive Übersicht: Der Verlust eines Menschen führt in Familiensystemen zu vielschichtigen Prozessen der narrativen Rekonstruktion der familiären Wirklichkeit. Trauerarbeit beinhaltet wesentlich auch die Überarbeitung der Geschichte der verstorbenen Person und der Geschichten der mit ihr verbundenen Menschen. Das gemeinsame Familiengedächtnis, die individuellen Erinnerungen und die damit verbundenen Identitätskonzepte der Trauernden, die öffentliche Repräsentation dieser Geschichten im Rahmen von Trauerriten und ihre Rückbindung an religiöse Traditionen sind dabei in paradoxer Form aufeinander bezogen. Systemische Trauerseelsorge begleitet methodisch kontrolliert diesen narrativen Ordnungsübergang, hilft trauernden Personen bei der Revision ihrer Geschichten und begleitet sie im liminoiden Übergang zu neuen Geschichten. Trauergespräch(e), der Ritus der kirchlichen Bestattung und unterschiedliche Formen der weiteren seelsorglichen Begleitung bieten kurz nach dem Todesfall einzigartige Möglichkeiten beraterischer und präventiver Art. Schlüsselwörter: Seelsorge, Trauer, Familie, Erzählen, Spiritualität, narrativsystemische Praxis, Beerdigung, Trauergespräch, Ritual, Erinnerung, Familiengedächtnis, narrative Mediation Wir werden sehen, sagte sie, und schloss die Augen. Kürzestgeschichte, Werner Reiser Welche besonderen Möglichkeiten der Trauerbegleitung eröffnet kirchliche Seelsorge? Wie können der Ritus eines Trauergottesdienstes und die Gespräche, die ihn begleiten, für die Begleitung trauernder Menschen hilfreich werden? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Trauer und systemische Trauerseelsorge sollen dabei unter narrativen Vorzeichen thematisiert werden. Dies legt sich aus mehreren Gründen nahe. In der Systemtherapie haben sich narrative Ansätze in verschiedenen Bereichen als fruchtbar erwiesen.1 Sie wurden auch in der Pastoralpsychologie mit Gewinn aufgenommen, bisher allerdings vor allem im 1 Vgl. beispielsweise White, M., Epston, D. (1998): Die Zähmung der Monster. Literarische Mittel zu therapeutischen Zwecken, Heidelberg (Carl Auer), 3. korr. u. überarb. Aufl.; O'Hanlon Hudson, P., Hudson O'Hanlon, W. (2000): Liebesgeschichten neu erzählen. Ein Lehrbuch für Paare und ihre Therapeuten, Heidelberg (Carl-Auer-Systeme), 2. Aufl. 2 englischsprachigen Bereich.2 Selten wurden solche narrativen Zugänge aber für ein Verständnis von Trauer genutzt.3 Gerade für eine systemische Trauerseelsorge ist diese Perspektive aber aufschlussreich. Geschichten sind der Stoff, aus dem Trauerseelsorge gewirkt ist: Geschichten von Krankheit und Sterben; Geschichten aus dem Leben, das zu Ende gekommen ist und keine neuen Geschichten zeitigen wird; Geschichten, die Trauernde erzählen, und solche, die sie verschweigen. Das Trauergespräch – Ouvertüre einer systemischen Trauerseelsorge Immer noch beanspruchen erstaunlich viele Menschen in unserer Gesellschaft bei einem Todesfall die Dienstleistungen von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Gerade die Begleitung in schwierigen Lebenssituationen gehört zu den wichtigsten Hintergrundserwartungen an diese Institutionen, wie religionssoziologische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte immer wieder belegt haben.4 So kommen Seelsorgerinnen und Seelsorger in ihrer Arbeit mit vielen Angehörigen in Berührung, bald nachdem diese einen Menschen verloren haben. Zur Vorbereitung des Trauergottesdienstes treffen sie sich häufig zu einem oder mehreren Gesprächen.5 Das folgende Beispiel, es stammt aus einem Ausbildungskurs in systemischer Seelsorge6, schildert eine solche Situation. Frau Hanna G. (1918-2002) stirbt innerhalb von drei Wochen, nachdem ein Speicheldrüsenkrebs festgestellt worden war. Auf dem Sterbebett ist es ihr noch möglich, einen Lebenslauf aufzusetzen und Wünsche für die Trauerfeier anzubringen. Pfarrer B. nimmt nach ihrem Tod mit Herrn Alfred G., dem ältesten Sohn von Frau G., 2 Capps, D. (1998) Living Stories: Pastoral Counseling in Congregational Context, Philadelphia (Fortress); Lester, A. (1995): Hope in Pastoral Care and Counseling, Louisville/KY (Westminster); Neuger, Ch. (2001): Counseling Women. A Narrative, Pastoral Approach, Minneapolis (Fortress). 3 Kirchliche Trauerbegleitung war lange bestimmt von Phasenkonzepten und psychoanalytischen Modellen der Trauerverarbeitung. In der Pastoralpsychologie besonders einflussreich wurde: Spiegel, Y. (1995): Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung, München/Mainz (Kaiser/Gütersloher Verlagshaus), 8. Aufl.. Dies änderte sich erst in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Zu einer systemische Sicht des Trauerprozesses im deutschen Sprachbereich haben besonders beigetragen: Worden, W. (2004): Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch (Psychologie Praxis), Bern et al. (Huber), 2., erw. Aufl.; Goldbrunner, H. (1996): Trauer und Beziehung. Systemische und gesellschaftliche Dimensionen der Verarbeitung von Verlusterlebnissen, Mainz (Grünewald). Viele weitere Referenzen auf Literatur sind zudem zu finden in: Morgenthaler, Ch. (2005): Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart etc. (Kohlhammer), 4. Aufl., S. 233ff.. Einen narrativen Ansatz im Bereich der Trauerseelsorge haben entwickelt: Anderson, H., Foley, E. (1998): Mighty Stories, Dangerous Rituals. Weaving Together the Human and the Divine, San Francisco (Jossey-Bass). 4 Das stimmt trotz gestiegener Austrittszahlen immer noch für eine Mehrheit beispielsweise der schweizerischen aber auch bundesdeutschen Bevölkerung. Dubach, A., Campiche, (1993): Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz: Ergebnisse einer Repräsentativbefragung, Zürich/Basel (NZN, Reinhard), 2. Aufl., z.B. S. 149. Einschränkend: Lammer, a.a.O. S. 47ff. 5 Lammer, K. (2003): Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vluyn (Neukirchener), 3. Aufl., plädiert dafür, ergänzend zu diesem üblichen Einstieg in Trauerseelsorge einer „perimortalen Trauerbegleitung“ vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Diese kann im institutionellen Umfeld eines Krankenhauses oder Alten- und Pflegeheim unmittelbar ums Sterben einsetzen und gerade in präventiver Hinsicht von grosser Bedeutung sein. 6 Mehrjährige berufsbegleitende Weiterbildungsangebote in systemischer Seelsorge bestehen in der Schweiz seit 1994. 3 Kontakt auf und verabredet einen Termin für das Trauergespräch. Am darauf folgenden frühen Abend trifft er sich mit den Angehörigen in der Wohnung von Hildegard G., der geschiedenen Frau von Alfred G. Alle Söhne und Schwiegertöchter finden sich pünktlich ein. Zudem sind auch die Enkelinnen Christa und Susanne anwesend. Nach der Begrüßung setzt man sich an den großen Tisch. Die Enkelinnen sitzen auf der Polstergruppe etwas im Hintergrund, aber mit gutem Sichtkontakt zu den Anderen. Am Anfang des Gesprächs würdigt Pfarrer B., dass sich alle Zeit genommen haben, hier zu sein, und nimmt dann Bezug auf das Telefongespräch mit Herrn Alfred G. „Sie haben mir ja bereits telefonisch etwas davon erzählen können, was in der letzten Woche geschehen ist.“ Alfred G. erzählt nochmals in kurzen Zügen, gleichzeitig ergänzt Kurt G., der jüngere Bruder, das Gesagte immer wieder. Alfred G.: „Sie hat eben noch gesagt, es sei ihr wichtig, dass nicht eine Riesensache gemacht werde.“ Worauf seine Tochter, Christa, Pfarrer B. einen ausgedruckten Lebenslauf hinstreckt und auch den andern ein Exemplar verteilt. Geschrieben hat den ganzen Lebenslauf allerdings Kurt G., der jüngere Sohn Frau G.s. Pfarrer B. beginnt zu lesen und möchte etwas nachfragen, da sagt Christa: „Großmutter hat gesagt, das Präsidium im Turnverein müsse dann nicht erwähnt werden und auch die Sache mit dem Handarbeiten. Das habe sie jeweils genervt an Beerdigungen, wenn da im Lebenslauf von jedem Halstüchlein und von jedem ‚Chueli’ (jeder Kuh) berichtet worden sei. Sprechen Sie dann nicht davon. Und man solle keine Sache daraus machen.“ Daraufhin entsteht ein lebhaftes Hin und Her. Kurt G. und seine Frau, Monica, betonen, dass der Lebenslauf von Hanna R. zu trocken und kurz sei und ihr nicht gerecht werde, während Alfred und seine Tochter Christa betonen, dass zu akzeptieren sei, was Mutter gesagt habe. Pfarrer B. versucht, die anderen ins Gespräch einzubeziehen: „Was denken denn Sie zu dem, was gesagt worden ist?“ Das führt zu einer ersten Annäherung der Standpunkte. Pfarrer B. sagt nun: „Es ist für Sie möglicherweise eine etwas merkwürdige Frage: Aber wenn wir jetzt Hanna G. selber fragen könnten: was denken Sie, würde Sie zum Lebenslauf sagen oder ergänzen oder was würde sie vielleicht freuen?“ Diese Frage löst die Anspannung und beide Parteien können schmunzelnd im Sinne der Verstorbenen sprechen und miteinander die umstrittenen Sätze umformulieren. Die beiden Seiten einigen sich darauf, gewisse Passagen zu kürzen und Pfarrer B. die endgültige, gegenseitig abgesprochene Version zuzuschicken. Er bekräftigt die Angehörigen in diesem Lösungsvorschlag und betont: „Es ist mir wichtig, dass der Lebenslauf aus Ihrer Sicht geschrieben ist und enthält, was Sie würdigen wollen, und ich sage dies auch, bevor ich ihn verlese. Die Predigt ist dann mein Teil, in dem ich aus meiner Sicht und mit Hilfe der Bibel auf das Leben schaue.“ Pfarrer B. fährt nun weiter: „Was wird Ihrer Meinung nach denn jetzt anders in ihrer Familie mit dem Tod der Mutter?“ Vorerst ist es einige Momente still. Hildegard schildert kurz die vielen Familienzusammenkünfte. Das werde wohl anders oder müsse jemand anders an die Hand nehmen. Wie aus heiterem Himmel und sehr emotional fährt Verena G., die Tochter von Frau G., die bisher wenig gesagt hatte, dazwischen. Sie stosse sich daran, dass im Lebenslauf nur etwas zu Weihnachten und Geburtstagen stehe, und schildert, wer am Trauergottesdienst was zu diesem Lebenslauf denken könnte. Pfarrer B. fragt nach: „Was finden Sie das Schlimmste, was die Leute denken könnten?“ „Dass es so aussehen könnte, wie wenn wir uns nur an den Festtagen getroffen hätten und sonst nie. Das stimmt doch einfach nicht.“ Monica, die Frau von Kurt G., wechselt die Gesprächsebene und meint, dass ihr Mann ihr Leid tue. Er habe den Lebenslauf unter Tränen geschrieben und jetzt sei alles nicht gut und fragt, was sie, Verena, denn bisher beigetragen habe? Das Gespräch droht zu entgleiten und in einen Konflikt zwischen Monica, Verena und Christa, die sich auch einschaltet, auszuarten. Die Besprechung dauert mittlerweile schon fast eine Stunde und es müssen noch weitere Punkte geklärt werden. Pfarrer B. schaut zu Kurt G. Dieser ergreift das Wort und versichert, dass er diesen Punkt 4 ergänzen werde. Der Seelsorger greift noch einen letzte Frage auf: „Am Schluss des Lebenslaufs füge ich oft den Spruch an, der über das Todesinserat gesetzt wurde. In einem solchen Vers kommt ja häufig zum Ausdruck, was einem Menschen und seinen Angehörigen wichtig gewesen ist. Ist das für sie alle gut so?“ Er schaut in die Runde, allgemeines Nicken. Alfred G. meint dazu, dass dieser Spruch und der andere – „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“ (Psalm 62,2) – etwas darüber sagten, wie die Mutter in den Tod gegangen sei. Sie habe den Tod nicht gefürchtet und der Glaube habe ihr Kraft gegeben. Erzählen und trauern Solche Gesprächssituationen sind bei Trauerfällen nicht selten. Der Seelsorge muss hier in einem komplexen Mehrpersonensetting in kurzer Zeit verschiedenen Herausforderungen begegnen: Anschluss finden an diese Familie, die eine lange Geschichte verbindet, die Beziehungsdynamik, wie sie sich abzuzeichnen beginnt, differenziert wahrnehmen, eine Haltung der Allparteilichkeit gegenüber schnellen Koalitionsangeboten bewahren, Schweigende ins Gespräch einbeziehen, den Beerdigungsgottesdienst in Absprache mit der Familie vorbereiten, Konflikte, die sich dabei abzeichnen, ansprechen und der Familie helfen, einen Konsens zu finden. Dies geschieht in einer Situation, in der alle vom Todesfall „betroffen“ sind, aber jede Person je anders ihre Trauer zeigt oder verbirgt oder ausagiert und vielfältig rekursiv mit den Anderen verbunden reagiert. Medium und besonderer Gegenstand dieser Gespräche sind dabei oft Geschichten. Bei näherer Betrachtung handelt es sich auch bei dieser Fallschilderung um ein mehrfach narrativ ineinander verschachteltes Gebilde. Ich unterscheide fünf Ebenen des Narrativen: 1. Da ist zuerst die „Kürzestgeschichte“: Hanna G. hat die Augen für immer geschlossen. Diese Geschichte führt die Personen zum Trauergespräch zusammen. Um den Tisch Hildegard G.s beginnt sich ein problemdeterminiertes System eigener Art zu bilden. Dabei ist eine eigenartige Unsicherheit festzustellen, die auch zum Streitpunkt wird: In welchem Ausmass darf das, was die Verstorbene autobiographisch niedergeschrieben hat, weitererzählend verändert werden? Muss diese Geschichte im Sinne der ureigenen Stimme der Hanna G. konserviert werden, wie Christa argumentiert. Oder darf sie ergänzt werden, wie Kurt G. und seine Frau dies sehen? Wer im System ist legitimiert, eine solche Veränderung vorzunehmen? Durch die narrative Mediation des Seelsorgers findet die Familie hier zu einer Lösung. Im Gegeneinander der Argumente kommt eine eigenartige Paradoxie zum Vorschein: Hanna G.s Geschichte ist abgeschlossen. Zugleich kann sie ganz offensichtlich nur abgeschlossen werden, wenn sie neu erzählt wird und auch die Betroffenen im System ihre Geschichten mit Hanna G. neu erzählen und neu aufeinander beziehen. Erst so kann sie in die Wirklichkeitskonstruktionen der Betroffenen im System integriert werden. 5 2. Das Geschichten-Erzählen erscheint in diesem Trauergespräch als eminent sozialer Vorgang. Wie muss die Geschichte Hanna G.s geschrieben sein, damit sie von allen als Lebenslauf anerkannt werden kann? Wieder ist die Antwort eigentlich nur in einem Paradox zu formulieren: diese Geschichte kann als gemeinsame Geschichte nur anerkannt werden, wenn sie zugleich von den einzelnen Familienangehörigen auch als ihre je eigene Geschichte mit Hanna G. anerkannt werden kann. Gerade so wird aber ein Stück Familiengeschichte geschrieben, welches gleich ist wie die Geschichten, die die Angehörigen je einzelnen von Hanna G. zu erzählen haben, und zugleich anders. Es gibt dazu eine interessante Debatte in der französischen Familiensoziologie des letzten Jahrzehnts, die für eine systemische Sicht von Trauer fruchtbar gemacht werden kann.7 Die These lautet: der Einzelne ist nie allein, wenn er sich erinnert. Erinnerung ist Teil einer Gruppe. Man kann sich nur mit Hilfe der Andern erinnern. Die Gruppen, in denen wir leben, sind zugleich „support“, Unterstützung unserer Erinnerung, und „cadre“, Rahmen, in dem Erinnerung rekonstruiert – oder auch ausgeblendet – wird. So gehören Familien in ihrer synchronen und diachronen Zusammensetzung zu den wichtigsten Auditorien unserer Geschichten. Mehr noch: Durch den gemeinsamen Erzählprozess, wie er auch am Verlauf unseres Trauergesprächs abgelesen werden kann, entsteht das, was als „mémoire familiale“, als kollektives Familiengedächtnis entlang der Linien der intergenerationellen Abfolge durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte wandert. Die gemeinsame Erinnerung und die Identität des Mehrgenerationenverbands sind eingegraben in Erzählungen. Sie wird oft auch an Gegenständen festgemacht. Ein geschriebener Lebenslauf ist eine der Formen der Vergegenständlichung solch kollektiver Erinnerung und gerade deshalb wichtig. 3. Es gibt eine dritte narrative Ebene, welche schwerer fassbar ist. Muxel8 nennt die soeben beschriebene Form des Familiengedächtnisses die „mémoire constituée“ einer Familie, die öffentlich überliefert, gefeiert, erzählt und kodifiziert wird. Von ihr unterscheidet sie eine „mémoire à soi“. Sie versteht darunter die intimen, oft nicht erzählten, doch wesentlich auch narrativ konstruierten Erinnerungen der Einzelnen in einer Gruppe, Erinnerungen zum Beispiel an eine verstorbene Person, an wichtige Episoden, Lebensphasen und Typen von Geschichten, die mit dieser Person verbunden sind. Dieses persönliche Gedächtnis ermöglicht unterschiedliche Perspektiven auf die gemeinsame Geschichte der Familie und begründet zugleich Identität. Auch hier finden wir wieder ein Paradox: Identität liest der Einzelne gerade an der Identität und Nicht-Identität seiner Geschichte mit der Geschichte seiner Gruppen ab. 7 Coenen-Huther, J. (1994): La mémoire familiale, Paris (L’Harmattan). Déchaux, J. (1997): Le souvenir des morts. Essai sur le lien de filiation, Paris (puf). 8 Muxel, A. (1996): Individu et mémoire familiale, Paris (Nathan). 6 Auch diese „mémoire à soi“ muss angesichts des Todes rekonstruiert, neu bewertet und verändert werden. Solche individuellen Narrativen begründen Identität. McAdams, der diese Zusammenhänge besonders differenziert empirisch untersucht hat, spricht von einem „life story model of identity“9. Menschen in modernen und postmodernen Gesellschaften versehen ihr Leben mit Sinn und innerem Zusammenhang dadurch, dass sie Narrationen ihres Selbst konstruieren. Es sind nicht nur individuelle Stücke und Versatzstücke des vergangenen Lebens, die Familie G. hier zusammenschustert. Mit diesen Erzählungen verbunden sind Identitätskonzepte: Die Identität des ältesten Sohns; die Identität der Enkelin; die Identität des um Anerkennung ringenden zweiten Sohns. Durch den Todesfall werden Erinnerungsprozesse angestossen, in denen die Trauernden innewerden, dass sie ihre Geschichte nun anders werden weitererzählen müssen. So verliert Christa nicht nur eine einflussreiche Verbündete, sondern wird keine Geschichte mit Grossmutter, die nur sie beide erlebt haben, mehr erzählen können. Weil Geschichten zerbrechen, bedeutet der Tod einer signifikanten anderen Person oft eine Identitätskrise, die im Kern auch eine narrative Krise ist. 4. Es kommt in diesem Fallbeispiel noch eine weitere Ebene ins Spiel. Die Geschichte, zu der sich die Familie zusammenrauft, ist eingelagert in die Geschichten, die im Umfeld der Familie über die Verstorbene und ihre Angehörigen zirkulieren. Auch hier finden sich Geschichten mit der Qualität der „mémoire constituée“, kodifizierte Erinnerungen von Bezugsgruppen, die beispielsweise im knappen Nachruf der Firma, im leicht schwulstigen Eingedenken des Gesangvereins ins Spiel kommen, die beim Beerdigungsgottesdienst vorgelesen werden. Dazu kommen jene Geschichten, die über die Verstorbene auch noch erzählt werden könnten, aber in der Intimität der persönlichen Erinnerung ihrer Bekannten, Verwandten, Nachbarn und geheimen Liebhaber als “mémoire à soi” bewahrt bleiben und doch als Folie herhalten, vor der beurteilt wird, was die Familie über die Verstorbene und sich selber an einer Beerdigungsfeier verlesen lässt. Verena G. spitzt diese Problematik an einem Punkt zu. Sie zeigt sich besorgt, was denn Andere von einer Familie denken könnten, die einen solchen Lebenslauf veröffentlicht. Nachdem ihr der Seelsorger Raum verschafft hat, kann sie benennen, was Inhalt dieser Sorge ist: Es könnten durch die Geschichte, die die Familie gegen aussen erzählt, Geschichten in Umlauf kommen, die auf die Familie zurück schlagen. Positiv gewendet: Die „mémoire familiale“ wird erst dann zur anerkannten Geschichte, wenn sie als private Geschichte zugleich öffentlich werden kann. Auch dies scheint ein hochsensibler Punkt zu sein, entbrennt hier doch nochmals der Konflikt, der zuerst gebannt erschien. Und 9 McAdams, D. (1998): The Psychology of Life Stories, Review of General Psychology 5: 100-122. S. 100. 7 auch hier scheint ein Paradox vorzuliegen: die private Geschichte muss öffentlich stimmig, die veröffentlichte Geschichte privat stimmig sein. 5. Auf eine letzte Ebene von Narrativen verweist der Schluss des Fallbeispiels: Pfarrer B. fragt, ob er den Bibelvers, der auf der Todesanzeige steht, als Abschluss des Lebenslaufs nehmen dürfe. Das bringt nochmals eine kleine Erzählung, eine Art Hagiographie der Verstorbenen durch die Familie in Gang: Die Motive des Psalmworts seien sehr wohl auch als Lebensmotto der Verstorbenen Hanna G. zu verstehen und hätten sie ihren letzten Weg mutig gehen lassen. Damit wird – milde seelsorglich suggeriert – ein weiteres Geschichtenuniversum ins Spiel gebracht: das Universum religiöser, konkret biblischer Traditionen. Nochmals geht es um Übereinstimmungen dieser Geschichten. Und auch hier zeichnet sich ein Paradox ab: die menschliche Geschichte der Hanna G. kann auch als eine Geschichte Gottes gelesen werden und die Geschichte Gottes wird so möglicherweise als menschliche Geschichte lesbar. Anderson und Foley10 entwickeln in einem anregenden pastoraltheologischen Entwurf die These, der Prozess der Trauer sei wesentlich auch ein narrativer Prozess, ein Prozess der Rekonstruktion von Erinnerung. Der Abschied von einem Menschen bringe umfangreiche Vorgänge des Wiedererzählens, des Umerzählens und Neuerzählens von Geschichten in Gang. Wir können dies auf dem Hintergrund des Fallbeispiels nachvollziehen und die Erkenntnisse verallgemeinern: Trauer bedeutet den Umschlag von einer autobiographischen zu einer biographischen Erzählposition. Trauer beinhaltet Überarbeitung und Weitererzählen des Familiengedächtnisses. Trauer bringt einen Prozess der Rekonstruktion individueller Geschichten und Identitäten in Gang. Trauer bedeutet Revision öffentlicher Geschichten. Und Trauer bedeutet im Kontext kirchlicher Trauerseelsorge auch: Deutung, Reframing einer menschlichen Geschichte im Licht der Gottesgeschichte und – vielleicht – gar: Reframing der Gottesgeschichte im Licht einer Menschengeschichte. Trauergespräch, Trauerritual und Trauerbegleitung Die verschiedenen narrativen Ebenen werden ganz offensichtlich gleichzeitig und gegeneinander ins Spiel gebracht, weil der Abschied von Hanna G. rituell und öffentlich begangen werden soll und deshalb ein Trauergespräch geführt werden muss. Ritual und Erzählung finden hier zueinander. Öffentliche Abschiedrituale schaffen also Rahmen, in denen die Rekonstruktion von Erinnerung auf den verschiedenen genannten Ebenen angestossen, beschleunigt und verdichtet wird. 10 A.a.O. (s. Anm. 4), S. 97ff. 8 Die Geschichte eines Mehrgenerationenverbandes ist auch als eine Geschichte der Weiterentwicklung eines gemeinsamen Gedächtnisses zu verstehen. Dieses Gedächtnis wandert mit den Menschen durch die Jahrzehnte. Auf der familiären Zeitachse scheint es nun Verdichtungen zu geben, an denen die Familie zusammenkommt und dieser gemeinsame Geschichtenprozess auf allen seinen verschiedenen Ebenen in besonderer Weise weiter getrieben wird. Verena nennt nicht von ungefähr die vielen Familienzusammenkünfte, die erinnert werden müssten. Solche Situationen sind oft ritualisiert, bringen die Angehörigen zusammen, schaffen Räume und Orte, an denen sich neue gemeinsame Geschichten entwickeln können und alte Geschichten gefestigt werden. Familienrituale und Familiengeschichten scheinen einander zu bedingen. Auch die Rituale um die Beerdigung tragen dazu bei, dass der gemeinsame Erzählprozess nicht abbricht. Die lange schon erkannte Funktion von Trauerritualen, den sozialen Zusammenhang zu stärken, kann in diese Perspektive gerückt werden: an einem Punkt, an dem die persönlichen, familiären, öffentlichen und religiösen Erzählstränge zu reissen drohen, ist ein öffentliches Ritual installiert, das die Möglichkeit schafft, die Geschichten der Einzelnen und Familien mit den Geschichte der Öffentlichkeit und Tradition wieder zu verbinden. Van Gennep und in seiner Folge Turner11 und viele Andere unterschieden dabei drei Phasen eines Rituals: Loslösung, liminoide Übergangsphase und Wiederanschluss. Dies lässt sich auch auf den Prozess der Transformation von Geschichten rings um den Tod beziehen. Das Abdankungsritual steht auf der Schwelle, ist zeitlich verdichteter Moment länger dauernder narrativer Prozesse: Zu diesen Prozessen gehört die Ablösung von vergangenen Geschichten. Zu ihnen gehört ein liminoider Übergangszustand des Geschichtenerzählens, in dem nicht entschieden ist, ob und wie der Erzählprozess weitergehen kann und in dem unterschiedliche narrative Strukturen in paradoxer Form aufeinander wirken. Zu diesem Prozess gehört auch der Anschluss der vergangenen Geschichte an eine weiter zu erzählende Geschichte. Spezifische Chancen der kirchlichen Trauerseelsorge ergeben sich aus diesem besonderen „Einstiegsort“ der Begleitung. Das Trauergespräch, in dem dieser Prozess der Rekonstruktion persönlicher und familiärer Erinnerung Raum finden kann, und der Trauergottesdienst als Ritus, der diesen Erzählübergang markiert und deutend begleitet, geben die Möglichkeit, Trauer als selbstorganisierten Ordnungsübergang in einem Trauersystem professionell zu 11 Gennep, A. van (2005): Übergangsriten, Frankfurt/M. (Campus), 3. erw. Aufl.; Turner, V. (2005): Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt/M. (Campus). 9 begleiten12. Dieser Übergang äussert sich gerade auch als Reorganisation von individuellen und kollektiven Geschichten. Eine der besonderen Chancen dieser Begleitung besteht dabei darin, dass sie ganz am Anfang dieses Prozesses der narrativen Rekonstruktion der Wirklichkeit in einem Familienverband angesetzt ist. Der Anschluss an die Erzähltraditionen einer Familie geschieht in diesem Zusammenhang oft sehr schnell und führt ins Zentrum familiärer Wirklichkeitskonstruktionen und individueller Identitätsentwürfe. Was dies methodisch bedeutet, soll in einem nächsten Schritt noch etwas weiter konkretisiert werden. Von der Story zum Story-ing Der Beerdigungsritus und die mit ihm verbundenen Gespräche bringen im Sinn einer unspezifischen Intervention vielfache Erzählprozesse in Gang, die zur narrativen Bewältigung des Verlusts beitragen. Dieser Prozess kann durch systemische Wahrnehmung und Methodik unterstützt werden. Vier Aspekte seien kurz hervorgehoben: 1. Es geht im Trauergespräch darum, den Erzählraum zu öffnen und in seiner Komplexität wahrzunehmen. Die verschiedenen narrativen Ebenen erhalten dabei ihr je eigenes Recht: die „mémoire à soi“, die Familiengeschichte, die öffentliche Geschichte und die religiöse Geschichte. Der Seelsorger schafft mehrparteilich Raum für die verschiedenen persönlichen Erzählvarianten und schützt die einzelnen Familienangehörigen, so dass sie ihre Geschichte erzählen können; er begleitet die Familie bei der Rekonstruktion ihrer gemeinsamen Geschichte; er kontrolliert sorgfältig den Übergang von der Intimität des Trauergesprächs in die Öffentlichkeit der Beerdigungsfeier; er öffnet den Blick für die öffentliche Geschichte und ihre Rückwirkungen auf die familiäre Geschichte; und er übernimmt Verantwortung für die heilige Geschichte, ohne die Familie auch hier aus ihrer Eigenverantwortung ganz zu entlassen. 2. Der gemeinsame Erzählprozess, wenn er denn in Gang kommt, ist ein gefährlicher Prozess. Er weckt Angst, weil er Identitätskonzepte, Selbstdefinitionen und Rollen, die mit den jeweiligen Erzählperspektiven verbunden sind, in Frage stellen kann. Ja, die Identität der Familie als Ganzer, deren Geschichtenuniversum zu zerbrechen droht, steht auf dem Spiel. So sind die Situationen nicht selten, in denen Familien Fallen auslegen und hoffen, Seelsorger und damit gefährliche Geschichten, die auch noch erzählt werden könnten, blieben drin hängen. Eine solche Falle könnte im Koalitionsangebot des ranghöchsten Familienmitglieds, Alfred G. angelegt sein, der von seiner Tochter Christa sekundiert wird: der Seelsorger könnte 12 In Anlehnung an Schiepek, G. (1999. hrsg. Von der Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie AGST): Die Grundlagen der systemischen Therapie. Theorie, Praxis, Forschung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 30. 10 sich deren Version der Geschichte, “es solle keine grosse Sache gemacht werden”, allein zu eigen machen, damit andere Erzählperspektiven und Familienangehörige aus dem Weitererzählen der „mémoires familiales“ ausschliessen und so den narrativen Prozess in der Familie blockieren. Zur Technik systemischer Trauergespräche gehört es, solche Vereinnahmungsversuche und “Delegationen” wahrzunehmen, selbstreflexiv damit umzugehen und damit den Erzählprozess offen zu halten.13 3. Fragetechniken können dabei helfen, neue Perspektiven in diesen Erzählprozess einzuführen und eingefrorene Erzählungen aufzutauen.14 Schweigende werden ins Erzählen mit einbezogen; der Blick wird nicht nur auf die vergangenen sondern auch die kommenden Geschichten gerichtet; auch die verstorbene Person kann durch zirkuläre Fragen in den Erzählraum geholt werden. Erzählperspektiven und -bedürfnisse können sich leicht gegeneinander richten. Solche Fragestrategien erlauben hier eine Art „narrative Mediation“. Das Aufgespaltene kommt wieder zusammen, wenn die verschiedenen Perspektiven nebeneinander ihre Bedeutung erhalten und aufeinander bezogen werden. 4. Weg weisend für eine solche Seelsorge – das zeigt das Beispiel – ist auf der einen Seite die Vision einer versöhnten Geschichte, die sich die Familie erarbeitet, dadurch dass sie Vergangenes abschliesst, den Übergang durchs Niemandsland der Trauer geht, dabei die Paradoxien des Erzählens aushält und sich so Zugang zu einer neuen gemeinsamen Geschichte bahnt. Dies geschieht aber gerade dadurch, dass der Erzählprozess offen gehalten wird, durch ein Bestreben weg vom Inhalt der Geschichten, weg von der einen Story hin zum Erzählen, zum Story-ing, zum Versöhnung stiftenden Prozess des gemeinsamen, ko-kreativen Erzählens und Weitererzählens, der Leben ermöglicht. 15 Trauerbegleitung ist in ihrer Substanz narrative Arbeit. Für sie gilt ganz besonders, was Rosmarie Welter-Enderlin ein Grundbedürfnis unserer Zeit nennt: das Bedürfnis nach sicherem Erzählen und Gehört-Werden.16 Es ist ein hartes Stück Arbeit, das Familie G. leistet und ihr vom Seelsorger zugemutet wird. Er öffnet den Raum des Übergangs in den Erzählungen dieser Familie und schützt ihn zugleich. Dadurch kommt das in Gang, was Welter-Enderlin als Essenz einer narrativ-systemischen Praxis versteht: ein „Prozess des gemeinsamen Redigierens von Lebensgeschichten mit der Eröffnung von Möglichkeiten, 13 Zu den komplexen Konstellationen, die sich hier ergeben können: Morgenthaler, a.a.O. S. 242ff. Vgl. Hildenbrand, B. (1993): Eingefrorene Geschichten und auftauende Beschreibungen. System Familie 6, 130-138. 15 Bradt, K. (1997): Story as a Way of Knowing, Kansas City (Sheed & Ward), S. 11. 16 Welter-Enderlin, R. (1999) Wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht. Neue Wege systemischer Therapie und Beratung, Freiburg i.Br. etc. (Herder), S. 190. 14 11 unerledigte Geschäfte zu Ende zu führen und Handlungsraum in der Gegenwart und Zukunft zu entdecken“.17 Es gibt viele Möglichkeiten, die Trauerseelsorge nach der Beerdigungsfeier weiter zu führen und Anstösse zu geben, dass der Trauerprozess auch als narrativer Prozess weitergehen kann: durch Einzelbegleitung, in Trauergruppen, durch rituelle Anlässe, die zu bestimmten Zeiten (beispielsweise am Totensonntag) stattfinden. Die Möglichkeiten einer solchen Begleitung sind oft aber auch begrenzt. Die Arbeit mit Familien, in denen Erzählprozesse längerfristig in die Irre gehen, ist meist nicht mehr Aufgabe kirchlicher Trauerseelsorge. Diese hat ihre Stärke darin, dass sie am Ausgangspunkt solcher Erzählprozesse steht und entsprechende Impulse setzen kann. Narrativ-systemische Seelsorge ist deshalb so etwas wie die kleine Schwester narrativ-systemischer Beratung und Therapie. Eine Spiritualität der Versöhnung Ich habe zu zeigen versucht, wie Impulse und Wahrnehmungsperspektiven aus der Systemik für die Trauerseelsorge aufschlussreich werden. Zugleich kennt diese Seelsorge eine zweite Ressource ihrer Arbeit: die Traditionen des Christentums, auf die sich theologische Reflexion und Deutung von Wirklichkeit beziehen. Es ist eine ihrer besonderen Chancen, den familiären Erzählprozess, der durch die Trauer in eine tiefgehende Krise gerät, durch den Anschluss an Erzähltraditionen unserer Kultur in eine neue Perspektive zu bringen. Anderson und Foley sprechen in diesem Zusammenhang von einer Spiritualität der Versöhnung18. Sie meinen damit narrative Versöhnungsarbeit, wie sie am Beispiel der Familie der Hanna G. nachvollziehbar wird. Sie gehen aber darüber hinaus und sprechen von einer Spiritualität, welche im zentralen Paradox der christlichen Erzähltradition, in der Geschichte des gekreuzigten Auferstandenen begründet ist. In diesem Paradox ist die zerbrochene Geschichte zugleich die zur Vollendung bestimmte Geschichte. Die Verborgenheit der Versöhnung ist der Ort ihrer Offenbarung. Das Paradox dieser Gnade konnte nur in einer Pluralität von Geschichten ausgelegt werden, die sich nie ganz zur grossen Evangelienharmonie zusammenfügen liess, so oft dieser Versuch in der Theologiegeschichte auch gemacht worden ist, sondern sich nur in einer Vielfalt von Erzählperspektiven bewahren liess. Eine Spiritualität, die sich auf dieses Paradox bezieht, ebnet Differenzen deshalb nicht ein, sondern umfasst die paradoxe Welt menschlicher Erzählungen. Sie verpflichtet nicht zu vorschneller Versöhnung, sondern setzt gefährliche Versöhnungsprozesse in Gang, die an die 17 18 Ebd. S. 49. Anderson und Foley a.a.O., S. 167ff. 12 Substanz von Geschichten und Identitäten gehen. Und sie umfasst gnädig die Paradoxe, die wir genannt haben: das Paradox, dass eine Geschichte nur abgeschlossen werden kann, wenn sie weitererzählt werden darf; das Paradox, dass eine Geschichte nur zur gemeinsamen Geschichte werden kann, wenn sie auch eine persönliche Geschichte bleiben kann; das Paradox, dass ich mich als identisch nur erfahre dadurch, dass ich meine Identität und NichtIdentität mit den Geschichten meiner Gruppe erkenne; das Paradox, dass eine menschliche eine göttliche, eine göttliche eine menschliche Geschichte sein kann; das Paradox, dass geschlossene Augen sehen werden. (Adresse des Verfassers: Prof. Dr. theol. et phil Christoph Morgenthaler. Lindenweg 4, CH-3074 Muri. Email: [email protected]) Summary: The death of a significant person leads to a multilayered process of narrative reconstruction of the reality in the systems struck by the loss. Working through grief and mourning encompasses the revision of the story of the deceased person and of the stories of the people related to the deceased. The family memory, the individual memories and the identity concepts connected to these memories, the public representation of this story and its interpretation with regard to religious traditions are connected in a paradoxical way. Systemic pastoral care in the context of grief and mourning provides methodically controlled support in the familial narrative self-organisation, helping people to revise their stories and accompanying them in the transition to the construction of new stories. Shortly after the loss of a person, the rites of the funeral as well as different forms of pastoral care before and after these rites offer unique opportunities for counselling and prevention in family systems. Key words: pastoral care, bereavement, grief, mourning, family, story-telling, spirituality, narrative-systemic practice, funeral, ritual, memories, family memory, narrative mediation