1. Teil - kompassrosen.ch

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1. Teil - kompassrosen.ch
»kompassrosen« März 2011
Das e-book in den »kompassrosen«
_____________________________________________________________
Der Nopalbaum
Roman über die Eroberung Mexikos durch Hernándo Cortés,
gekürzte und bearbeitete Fassung des Romans »Die weißen Götter«
von Eduard Stucken, herausgegeben unter Verwendung älterer Quellen und
Dokumente
von Bernhard Kay
Ein indianischer Posten beobachtet im Jahre 1518von einem Baum aus die Annäherung der spanischen Schiffe
an die mexikanische Küste (Gemälde von Diego Duràn, einem zeitgenössischen spanischen Historiker, in dessen
Buch zahlreiche einfache, in ihrer originellen Art aber höchst lebendige Illustrationen enthalten sind.)
»kompassrosen« März 2011 - Der Nopalbaum
INHALTSVERZEICHNIS
1. Teil: (1. März 2011)
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01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
11
Vorwort
Wasserhäuser
Die Hahnenfeder
Silberpuma
Schilfrohr
»Nach Mexico!
Cempoala
Schlagender Falke
Mächtiger Felsen
Goldmaske
Tlaxcala
Weißer Sommervogel
3
5
8
17
29
42
57
71
83
97
116
134
Gefleckter Berglöwe
Herrschendes Raubtier
Cholula
Tempelhüter
Tenochtitlán
Sengende Glut
Kiefernzweig
Moctezuma
Alvaro
155
168
187
207
221
232
249
264
276
3. Teil: (1. November 2011)
21 Noche Triste
22 Totengerich
23 Otumba
24 Olíd
25 Isabel
26 Tezcoco
27 Alderete
28 Perlendiadem
29 Hinrichtungen
30 Maisblume
31 Sandoval
32 Cuauhtémoc.
33 Nachwort
Auf der Index-Seite
befinden sich Links zu folgenden
PDF-Dateien:
Zeittafel
Glossar und Namensverzeichnis
Karte 1:
Der Weg der Conquistadoren 1519
Karte 2:
Die Lage von Tenochtitlán
Karte 3:
Tenochtitlán um 1520
Im Archiv befinden sich:
Teil 1 vom 01.03.2011
(Zitate und
Originalbezeichnungewerden kursiv
widergegeben.
2. Teil: (1. Juli 2011)
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Aussprache mexikanischer Wörter:
ch und x wie deutsches sch; z wie s; l
am Wortende wird nicht gesprochen; hu
vor Vokal wie w, z.B. Miahuaxiutl (Maisblume): Miawaschiut – Es werden nur
historisch verbürgte Namen wiedergegeben.
»kompassrosen« März 2011 - Der Nopalbaum
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Vorwort
Im Jahre 1519 landete der spanische Offizier Hernándo Cortes in Mexiko. Die einheimischen Aztekenstämme empfingen ihn als »Sohn der Sonne«, doch der ehrgeizige Cortes nahm ihren Herrscher gefangen und unterwarf ihre Hauptstadt Tenochtitlán. Cortes war einer der Konquistadoren,
die mit List und Brutalität die Zivilisationen Amerikas zerstörten. Cortés war ein hervorragender
Stratege, er besaß Charme und war ein guter Diplomat.
Schon seit einiger Zeit ging das Gerücht vom sagenhaften Goldland Eldorado um– Cortés wollte
es finden und für Spanien erobern. Er hatte Kuba, das seit 1511 unter spanische Herrschaft stand,
1519 verlassen, nachdem er sich mit dem Gouverneur der Insel verfeindet hatte. Kaum an der
mexicanischen Ostküste gelandet, verbrannte er seine Flotte und schnitt damit den Zaghaften unter den Soldaten den Rückweg ab. Um mit den Azteken in Verbindung zu kommen, musste er die Sprache der Indianer verstehen.
Ein schiffbrüchiger Spanier, der Geistliche Geronimo Aguilar, lebte
als Sklave bei einem Mayastamm und hat dort deren Sprache erlernt. Aguilar wurde von den Mayas freigelassen und gelangte zu
Cortés, was sich als Glücksfall für Cortez herausstellte. Zudem
gewann er in der Indianerin Marina eine Dolmetscherin und fand
Bundesgenossen in zwei von den Azteken geknechteten Nachbarvölkern. So konnte er bald nach Anahuac, dem mexicanischen
Kernland, zur Unterwerfung der Azteken in die Hauptstadt Tenochtitlán aufbrechen. Aber Cortés hatte auch einen starken Feind im
Rücken: den Gouverneur von Kuba! Er musste gegen den Neffen
des Gouverneurs, Pánfilo de Narváez, zu Felde ziehen. Er besiegte ihn zwar, aber inzwischen hatte eine aztekische Aufruhrpartei in
der Hauptstadt Tenochtitlán die Oberhand gewonnen. Moctezumas
Gegner ermordeten den Herrscher und vertrieben Cortés in der
Nacht der Schrecken aus Tenochtitlán. Aber ein Jahr später kehrte
er zurück. Er ließ 13 bewaffnete Schiffe bauen, mit deren Hilfe er
am 13. August 1521 Tenochtitlán zurückerobern und damit den
Besitz von Mexiko für Spanien sichern konnte!
Oben: Aztekische Darstellung der
Gründungslegende (Codex Mendoza)
Zwei Welten prallten aufeinander, zwischen denen sich – nach anfänglich friedlichen Annäherungsversuchen – nichts Gemeinsames herstellen ließ. Die Expedition des Cortés war mit allerlei Glücksrittern gesegnet. Viele ließen sich von den fantastischen Schilderungen der Reichtümer
Amerikas verleiten, um sich mit dem Rest ihres Vermögens und unter
Einsatz des eigenen Lebens an einer Expedition in eines dieser Wunderländer beteiligen zu können. Die unbarmherzigen Begehrlichkeiten
der Conquistadoren und ihre Fehleinschätzung aztekischer Todesverachtung führten schließlich zum Untergang Mexicos.
Das Wappen Mexikos: Adler auf einem Feigenkaktus,
eine Schlange verschlingend
Weder den Azteken noch den Kastiliern wurde bewusst, dass ihnen
beim Zusammenprall beider Gedankenwelten vieles gemeinsam war. Beide waren grausam, beide
wollten andere Völker unterjochen, beide pflegten Förmlichkeiten bei feierlichen Anlässen, und
beide hielten ihren Glauben hoch. Die Kastilier (die Bezeichnung »Spanier« begann sich erst langsam zu verbreiten) wollten Reichtum, Beute und Landbesitz erwerben, den Eingeborenen aber
auch voller Sendungsbewusstsein das Christentum bringen. Ihr Entsetzen angesichts der Menschenopfer war echt, ließ sie jedoch in einen kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheitswahn
fallen.
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Der Titel »Nopalbaum« geht auf eine mythische aztekische Sage zurück: »Vor sehr langer
Zeit befahl Huitzilopochtli den Azteken, aus dem Reiherland auszuwandern. Ihre alte Heimat im
Norden nährte sie nicht mehr, doch Huitzilopochtli zeigte ihnen im Traum einen schimmernden
See, den silbrig beschuppte Fische füllten. Er war mit Wasserrosen und Kolbenröhricht bedeckt
und von zahllosen Wasservögeln, Edelreihern, Ibissen, Seeraben, Sichlern und Blauflügelenten
bevölkert. Dort sollten die Azteken siedeln, dort, wo der Nopalbaum wächst, auf dessen Spitze ein
Adler horstet, der eine Schlange verschlingt.«
Die Namen historisch belegter Personen, Europäer wie Mexikaner, wurden unverändert
übernommen und sind im Namensverzeichnis aufgeführt, andere sind erfunden. Ich habe mich für
die im Duden verwendete Schreibweise Moctezuma entschlossen; andere Schreibweisen lauten
Montezuma, Motecuzoma, Motecucoma oder Motecucuoma, Cortés selber schrieb Mutezuma. Die
Worte Azteken, Azteca und Mexica werden identisch benutzt; ich habe mich Hugh Thomas angeschlossen, der Mexico und Mexica mit dem Buchstaben »c« schreibt, um so den historischen Gehalt von den heutigen Bedeutungen »Mexiko« und »Mexikaner« abzugrenzen.
Das Buch von Eduard Stucken († 9.3.1936) erschien in den Jahren 1918 bis 1922; seine
damals beim Publikum beliebte literarische Sprache ist heute schwer zu lesen. Die vorliegende
Fassung wurde in einen heute verständlichen Duktus gebracht, vieles weggelassen, Szenen dazugeschrieben und vieles dem heutigen Verständnis angepasst. Das ganze Buch wurde quasi
völlig umgearbeitet und die dreibändige Ausgabe mit über 1500 Buchseiteneiten stark gekürzt. Die
hier vorgelegte Fassung ist bisher unveröffentlicht.
Lage und
Ausdehnung
des Aztekenreiches um
1520
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1. Teil
Das Bild aus der schon erwähnten Chronik Diego Duràns schildert die Szene, die sich am Karsamstag 1519
zugetragen hat: Doña Marina, die eingeborene Prinzessin, dolmetscht für Cortés die Ansprache des
mexicanischen Gesandten (ganz rechts, hinter Cortés). Cortés Flotte ankert in Sichtweite an der Küste.
1. Wasserhäuser
»Töte mich, o König und Herr, ich habe zehnfachen Tod verdient, denn ungerufen kam ich!
Vernimm, was ich zu berichten habe, was sich am Ufer des Ostmeeres ereignete.«
(Crónica Mexicana, Kap. CVI; 1598)
Cuxíco rannte! Mit langen Schritten und den fließenden Bewegungen des Langstreckenläufers
eilte er seinem Ziel entgegen. Seit dem Morgengrauen war er unterwegs. Flink und unermüdlich
folgte er der Straße nach Tenochtitlán, und er war noch immer nicht müde. Cuxíco war ein junger
Mann, schlank und durchtrainiert. Stolz trug der Schnellläufer die Embleme seines Auftrags, sichtbare Abzeichen, an denen zu erkennen war, ob er dem König wichtige oder weniger wichtige, gute
oder schlimme Nachricht überbrachte. Vor sechs Stunden hatte er die Meldung von einem anderen Schnellläufer übernommen. In den Dörfern und Städten, die er bei früheren Aufträgen durchlief, hinterließ er zuweilen Jubel, zuweilen Trauer. Diesmal aber hatte er bei den Leuten, die er
unterwegs angetroffen hatte, nur sprachloses Nichtbegreifen hervorgerufen, denn die Insignien
seines Auftrags verrieten Botschaften, deren Wichtigkeit nicht einzuordnen waren, die aber ungeheure Folgen nach sich ziehen könnten.
In Anahuac kannten sie keine Reittiere, trotzdem war für einen regelmäßigen, zuverlässigen
Botendienst gesorgt, und Meldungen aus den entlegenen Teilen des Reiches erreichten die
Hauptstadt in kürzester Zeit. An den gut gepflasterten Straßen waren in Abständen Stationen erbaut, wo stets Träger und Boten bereitstanden, einander abzulösen.
Cuxíco hatte die Höhen von Tlalmanalco hinter sich gelassen, nun lag die paradiesisch
schöne Seenlandschaft unter ihm. Bald würde er am Ufer des Sees ankommen und bei Iztapalapá
den großen Seedamm nach Tenochtitlán erreichen. Dann noch eine halbe Stunde bis zur Festung
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Acachinanco, die inmitten des Tezcocosees den südlichen Zugang zur Hauptstadt bewacht. Und
während er die kurze Strecke nach Tenochtitlán zurücklegt, werden die Wächter vom Turm aus
Signale zum Huei tecpan senden, dem Königspalast, und die Ankunft des Boten melden. Im Großen Palast wird der Vorsteher des Hauses der Teppiche die Dringlichkeit der Nachrichten, die
Cuxíco überbringt, sogleich an den Abzeichen erkennen und entscheiden, ob der Herr der Welt
beim Essen, Spiel oder Schlaf gestört werden durfte.
Ohne den Inhalt der Botschaft zu kennen war ersichtlich, dass Cuxíco wichtige Kunde brachte, und so hatte es der Oberhaushofmeister gewagt, ungerufen in den Thronsaal einzutreten.
Moctezuma befahl ihm, mit dem Boten zugleich die Berater der Krone hereinzurufen, und
gleich darauf traten die Ratgeber ein, mit phantastisch gegabelten Zeremonienstäben in den Händen: Cuitlahuac, der Überwinder, Fürst von Iztapalapá und einziger Bruder Moctezumas; Calpopoca, die Sengende Glut, ein Oberfeldherr im Rang eines Vorstehers des Hauses der Spiegelschlange; und endlich der Weibliche Zwilling, der höchste Würdenträger und Kanzler. Bei allen Staatsgeschäften stand der Weibliche Zwilling dem König zur Seite. Gebeugt ging er unter der Last von
hundertundsechs Lebensjahren.
Die Sengende Glut war ein ernster und bescheidener Mann; in seinem blaugelb bemalten
Antlitz lag ein melancholischer Ausdruck, und die Federkrone auf dem Haupt, die grellbunte Bemalung und das Nasengehänge aus Türkis, das bis zur unteren Gesichtshälfte reichte, verdeckten die
schwermütige Aura des hohen Kriegers nicht. Die Sengende Glut stand Moctezuma besonders
nahe, seit er ihm vor Jahren das Leben gerettet hatte, bei einem Sklavenraubzug, den der Zornige
Herr − noch als Prinz, doch schon zum König gewählt − hatte unternehmen müssen: Zehntausend
Gefangene waren zu machen, ihre Herzen mussten zur Feier seiner Krönung dem Himmel dargebracht werden. Die Sengende Glut und der König waren Altersgenossen, eben ins vierzigste Lebensjahr getreten.
Moctezumas Bruder, der Überwinder, war zwei Jahre jünger. Breit traten die Wangenknochen in seinem Gesicht hervor, und die gebogen vorspringende Nase verlieh ihm den Ausdruck
eines entfiederten Papageien. Der Überwinder war von kraftvollem, ritterlichem Wesen, aber auch
fieberverzehrt von der Malaria, die er sich bei einem Feldzug gegen die Maya in Yucatán zugezogen hatte. Wie Moctezuma war auch er schweigsam, doch schneller zum Handeln bereit. Und der
feste ruhige Blick seiner schwarzen Augen unterschied sich vorteilhaft vom unsicheren Flackern in
den Augen des Großkönigs.
Nach stummer Begrüßung nahmen die Ratgeber auf niedrigen, mit bunt gemusterten
Baumwollkissen bedeckten Schemeln zu Füßen des Königs Platz. Zwei schöne cocos in grasgrünen, bis an die roten Knie reichenden Röcken brachten Tonschalen mit heißem Tee.
Cuxíco, den der Vorsteher des Hauses der Teppiche auf einen Wink Moctezumas hereinführte, ließ ein Kügelchen aus Kopalharz in ein Kohlenbecken nahe der Tür fallen, um dem Herrn
der Welt zu räuchern; er näherte sich mit drei Verbeugungen, wobei er »Großer Herr! Großer Herr!
Erhabener großer Herr!« sprach. Dann warf er sich zu Boden und erhob sich erst, als Moctezuma
ihn zum Reden ermuntert hatte.
Cuxíco begann mit gesenktem Blick: »Töte mich, o König und Herr, ich habe zehnfachen
Tod verdient, denn ungerufen kam ich! Vernimm, was ich zu berichten habe, was sich am Ufer des
Ostmeeres ereignete. Drei Häuser, gezimmert aus Holz, groß wie Türme oder wie kleine Hügel,
schwammen auf den Wellen, so leicht wie Nachen. Und auf den Dächern der drei Wasserhäuser
sah man weiße Götter, Diener des großen Quetzalcoatl! Doch ob Unser Herr Quetzalcoatl unter
ihnen war, weiß ich nicht.«
Eine Schwalbe hatte sich in den Saal verirrt und schoss unter dem Zedergebälk blitzschnell
hin und her, auf der Suche nach einem Weg hinaus. Ihr ängstlicher Ruf schrillte durch die Totenstille.
Der König schwieg lange. Seit einem Jahrzehnt senkten sich die Schatten weißer Männer
auf alle Freuden. Im Volk war es schon geraunt worden. Bis in die vulkanumgrenzte Hochebene
Anahuacs war das Gerücht von ihren Besuchen an östlichen Küstenstrichen gedrungen. Moctezuma glaubte, in jedem Naturereignis ein Zeichen des nahenden Weltendes zu sehen. Und es
fehlte nicht an Zeichen – auch nicht an Zeichendeutern. War doch der sonst so friedliche See, in
dem die Lagunenstadt Tenochtitlán errichtet war, erst vor wenigen Monaten von Stürmen aufgewühlt worden und hatte die Stadtteile an seinen Ufern überspült. Und bald darauf hatte man in ei-
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ner Luftspiegelung im Dunst der untergehenden Sonne gepanzerte, kämpfende Männer mit wilden
Bärten erkannt. Zu allem Unglück zeigte sich auch noch ein Komet am Nachthimmel und zog zwei
Monde lang Nacht für Nacht seine Bahn über die Königsstadt.
»Sagst du die Wahrheit?«, fragte Moctezuma schließlich.
»Herr und König, es ist wahr, Fremde sind an die Küste des großen Meeres gekommen.
Man sah, wie sie von einem kleinen Boot aus fischten. Einige hielten Ruten, andere warfen ein
Netz. Sie fischten, bis es spät wurde. Dann fuhren sie zu ihren beiden großen Wasserhäusern zurück und stiegen hinein. Es waren ungefähr fünfzehn Männer. Einige trugen blaue Umhänge, andere rote, wieder andere schwarze oder grüne und hässliche braune. Auf dem Kopf trugen sie rote
Tücher oder scharlachrote Mützen, und einige hatten sich große runde Hüte aufgesetzt, die wie
unsere comales aussehen und wohl vor der Sonne schützen sollten. Sie haben sehr helle Haut,
viel heller als wir. Sie tragen alle lange Bärte, aber ihr Haar reicht nur bis an die Ohren.« Cuxíco
überreichte dem Weiblichen Zwilling eine Pergamentrolle. »O großer König, du Schwert der Götter,
der Menschenmaler hat es aufgezeichnet, es ist alles so, wie ich es berichtet habe.«
Der Weibliche Zwilling gab die Rolle an die Sengende Glut weiter; der Kanzler war fast erblindet. Der Feldherr entrollte das Pergament, prüfte es kritisch und reichte es dem König. Moctezuma starrte es an, ohne viel zu sehen. Tränen verschleierten ihm den Blick. Er war niedergeschlagen und sprach kein Wort.
Nach einer Weile fragte Moctezuma: »Sind sie herabgestiegen auf die Erde?«
»O großer König, o Zorniger Herr, meine Augen sahen es nicht«, antwortete Cuxíco. »Die
Wasserhäuser verließen nach drei Tagen die Bucht und glitten nordwärts. Es mag wohl sein, dass
sie weiter im Norden vom Himmel herabgestiegen sind. Meine Augen haben es nicht gesehen; ich
bin nur einer der Stafettenboten und eilte her in den Großen Palast, um es vor deinem Mund und
deinem Antlitz zu melden.«
Wieder saß Moctezuma lange in Nachdenken versunken. Dann ließ er den Blick über die
Ratgeber schweifen. Die Ungeduld seines Bruders war unverkennbar.
»Rede«, sagte Moctezuma zu ihm.
»O großer König, o Zorniger Herr! Dein Kriegsheer ist deine Axt! Recke deinen Arm aus bis
an die Meeresbrandung. Mache mich zur Hand, die deine Axt schwingt...«
Moctezuma unterbrach ihn. »O tapferer Krieger, o Überwinder«, sagte er, »hast du schon mit
Göttern gerungen?«
Der Überwinder schwieg.
Der König wandte sich fragend an die Sengende Glut. »Und was denkt mein Freund?«
»Im Jahre Vier-Haus«, sagte die Sengende Glut, »vor nunmehr zehn Jahren, kam schon
einmal ein Bote, der Wasserhäuser auf dem Meer erblickt hat, und auf den Dächern der Wasserhäuser sah er weiße Götter. Doch unser Land betraten die Söhne der Sonne nicht.«
»Weil wir sie mit süßem Blut beschwichtigt haben!«, brabbelte mit zahnlosem Mund der
Weibliche Zwilling.
Diesen unangebrachten Ausruf empfanden alle als peinlich. Moctezuma vermied es, den
Weiblichen Zwilling anzusehen. Der weiße Gott, vor dessen geweissagter Rückkunft Mexico zitterte, war ja der Friedensbringer Quetzalcoatl, der Feind des Krieges; und der hatte gegen den blutigen Opferdienst geeifert.
Moctezuma verfiel wieder in dumpfes Grübeln; über die Anwesenden senkte sich Ratlosigkeit wie ein schwarzer Schleier. War es falsch, dass Mexico sich vom Himmel begünstigt geglaubt
und zum Dank die Opferzahl vervielfacht hatte? Hatten nicht die hohen Götter Huitzilopochtli und
Tezcatlipoca ihre Allmacht bewiesen, indem sie zum Lohn für die Opfer Siege und immer wieder
Siege verliehen? Hatte nicht Quetzalcoatl einst vor ihrer Macht weichen müssen, ein gemarterter
Flüchtling? Oder sprachen die Prophezeiungen wahr, dass er siegreich zurückkäme?
Moctezuma sagte zum Boten: »Du bist ermattet vom langen Lauf. Geh mit der Götter Segen
und ruhe dich aus. Das Meer soll bewacht werden; ich werde Mannschaften als Wächter aufstellen. Wir haben durch deinen Mund ein Geheimnis gehört, das niemand außer uns wissen darf. Gib
also acht auf deine Zunge. − Geh!«
Cuxíco verneigte sich und ging rückwärts aus dem Saal, tief gebeugt.
Moctezuma wartete, bis der Bote verschwunden war, und fuhr dann fort: »Lasst ihn in den
Teocalli bringen. Man soll ihm die Haut abziehen und seinen Edelstein den Göttern opfern. Auch
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alle anderen Boten, die diese Nachricht ein Stück des Weges hierher trugen, sind zu töten, ebenso
ihre Weiber, Söhne und Töchter. Ihre Häuser werden vertilgt bis auf die Grundmauern, und von
ihrer Verwandtschaft bleibt keiner am Leben. Es muss ein Geheimnis bleiben!«
Moctezuma befahl, die Küste des Ostmeeres durch Wachen ständig beobachten zu lassen
und beschloss, Huitzilopochtli jeden Tag einen Knaben zu opfern, um mit des Himmels Segen die
Fremden von Anahuac fern zu halten.
Der König erhob sich. Die Beratung war zu Ende.
*
Teocalli
Die Zeit verging, ohne dass die Wasserhäuser noch einmal erschienen. Bald ließen die Amtsgeschäfte und das bunte Leben bei Hofe den König die Furcht überwinden, und kein Knabe musste
mehr geopfert werden; Huitzilopochtli hatte geholfen.
Die Fremden jedoch hatten den verheißungsvollen Landstrich nicht vergessen. Ein Jahr später
kamen sie wieder. Ein Haufen sorgloser Abenteurer landete, die das Goldland Eldorado finden
wollten! An ihrer Spitze stand ein machthungriger und charismatischer Glücksritter, der aus dem
Räuberhaufen eine schlagkräftige Armee formte. Er war tapfer und ehrgeizig, skrupellos und
charmant, doch vor allem strebte er nach Ehre und Reichtum. Eine sprachbegabte Indianerin war
bei ihnen, die in den Ankömmlingen die Erfüllung einer uralten Weissagung ihrer Götter zu erkennen glaubte! Sie machten sich auf, das Reich der Azteken zu erobern.
2. Die Hahnenfeder
»Ich habe vor allen Dingen deshalb die Feder ergriffen, weil gewisse Geschichtsschreiber
von unser aller Verdienst und Waffenerfolg nichts vermelden.«
(Denkwürdigkeiten des Feldhauptmanns Bernal Díaz del Castillo)
In Medellín, einer kleinen Stadt in der spanischen Provinz Estremadura, stand seine Wiege. Er
entstammte einer verarmten, jedoch uralten Hidalgofamilie. Der Familie mangelte es zwar an
Wohlstand, aber sie konnte ihr Geschlecht von gotischen Königen herleitete. Sein Vater, Don
Martín Cortés de Monroy, ein bescheidener Hauptmann der Fußtruppen und ein Mann unbefleckter Ehre, sowie seine Mutter, Doña Catalina Pizarro Altamirano, standen in dem Städtchen in hohem Ansehen. Sie sparten jeden Escudo, den sie erübrigen konnten, um dem kränklichen, für
Kriegsdienste untauglichen Knaben den Besuch einer Universität zu ermöglichen. In der Lateinschule war der Knabe faul und unaufmerksam, bis ihn eines Tages, beim Lesen des De bello civili,
der Lehrer verärgert verspottete: »Freilich, faule Menschen wie du, Hernándo, erobern keine Königreiche!«
Die Worte brannten sich in des Kindes Seele. Seither war es verwandelt, überflügelte ehrgeizig die Mitschüler und verließ die Schule mit Auszeichnung. Kaum vierzehn Jahre alt, war Cortés Student in Salamanca. Doch damit war er noch zu jung, den Verlockungen des ungebundenen
Bacchantenlebens zu widerstehen, und er ließ sich vom Wirbel der Vergnügen forttreiben. Sein
Ehrgeiz schwand so schnell dahin wie sein Geld. Statt Jurisprudenz zu studieren, wie der Vater es
wünschte, schloss Cortés sich allerlei liederlichen Leuten an, Dirnen und jungen Literaten, übte
sich in Prosa und schrieb leidlich gute Verse. Nach zwei Jahren kehrte er mit leerem Beutel und
ohne Examen nach Medellín zurück.
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Dort wurde er zum Schrecken der ehrbaren Provinzstadt. Ein Nichtstuer und der Schandfleck
in der Ehre seiner hochanständigen Eltern, der seinen Unmut an den Bürgern ausließ; er trieb
Schabernack mit Honoratioren und friedlichen Leuten, lärmte nachts trunken in den Gassen, stieg
den Frauen nach und wurde immer wieder von deren Ehemännern, Vätern oder Brüdern zum Duell gefordert. In Wirklichkeit langweilte er sich und wurde sich bald bewusst, dass er nicht zum bürgerlichen Leben taugte. Da er sich in den Raufhändeln als geschickter Florettfechter erwies, kam
ihm der Gedanke, er sei zum Kriegshelden geboren. Seine einst so schwächliche Gesundheit war
nicht untergraben. Nur das Geld war vertan, nicht aber das jugendheiße Blut.
In den Moscheen Granadas ertönten längst christliche Gesänge. Die Katholischen Majestäten hatten Spanien von Mauren und Juden gesäubert; Kastilien war friedlich und langweilig geworden. Wer Abenteuer suchte, musste außer Landes ziehen. Am Garigliano-Fluss in Italien, unter
den Fahnen des großen Capitán Consalvo Ferrante oder seines Gegners Cesare Borgia, gab es
noch Abenteuer in dieser Endzeit des Mittelalters zu bestehen. Ein neues Zeitalter, die Renaissance, dämmerte herauf. Gier und Demut, Seelengröße und Grausamkeit gingen Arm in Arm. Als
ein spanischer Soldat einem gefangenen Schweizer die Goldkette vom Halse riss, verfolgte der
große Capitán Consalvo Ferrante den fliehenden Frevler, holte ihn ein und strafte ihn mit eigener
Hand. Als der Conte Fabio Orsini einen Getreuen des Cesare Borgia getötet hatte, wusch er sich
Hände und Mund mit dem Blut des Ermordeten...
Ruhm war in Italien wohl zu finden, aber kein Gold; daher entschied Cortés sich nach langem Schwanken für die Neue Welt. Genau vierzehn Jahre war es her, dass Colón den Fuß auf die
Antillen gesetzt hatte. Der Reiz des Neuen, die Schauer
des Unerforschten, die Aussicht auf Reichtümer – kurz,
Habsucht, Tatendrang und Abenteuerlust lockten in das
neue Westland. Der Nachfolger des Colón, Don Nicolás
de Ovando, Großkomtur des Ordens von Alcántara, rüstete 1506 eine Flotte aus. Cortés ließ sich anwerben. Doch
kurz vor der Abreise kletterte der Held auf einer seidenen
Strickleiter an einer hohen Hausmauer empor, um durch
das Fenster zu einer schönen Frau zu gelangen. Plötzlich
gab das Mauerwerk nach, und Hernándo stürzte zwei
Stockwerke tief, überschüttet vom nachbröckelnden Gestein und Kalk. Zwar hatte er sich nicht den Hals, aber doch mehrere Rippen gebrochen. Die Flotte
segelte ohne ihn ab!
Der Segler, auf dem Cortés zwei Jahre später die Reise nach Westindien antrat, gehörte einem dunklen Ehrenmann, Alonso Quintero. Bei den Kanarischen Inseln hievte Quintero verräterisch bei Nacht den Anker und segelte dem Geschwader der Kauffahrer davon, um in Haiti früher
als die anderen die verfrachteten Waren auf den Markt zu werfen. Doch ein jäher Sturm zersplitterte seiner Karavelle den Mast und zwang ihn zur Rückkehr. Zum Glück hatten die anderen Schiffe
der Flottille noch nicht abgelegt. Man flickte den Mast und segelte gemeinsam von den Kanarischen Inseln ab, aber bald wiederholte Quintero den bösen Streich und gelangte diesmal vor den
anderen nach Haiti.
Cortés wurde dank eines Empfehlungsschreibens von einem einflussreichen Verwandten eine Plantage – ein so genanntes repartimiento – mit Indianersklaven zugeteilt. Das aber war es
nicht, was Cortés sich erträumt hatte! »Ich kam, mit Schwert und Schild Gold zu erwerben, nicht
wie ein Bauer hinter dem Pflug herzugehen«, sagte der Dreiundzwanzigjährige hochmütig. Dennoch ging er eine Weile hinter dem Pflug her. Er pflanzte Zuckerrohr und führte andalusische Kühe
ein. Zuweilen schloss er sich Strafexpeditionen gegen aufständische naturales an. Der Kleinkrieg
mit Wilden wurde ihm vertraut.
So ging es drei Jahre lang. Auch in Haiti hatte Cortés zahllose Liebschaften und ebenso
zahllose Duelle. Bei einem Zweikampf wurde ihm die Unterlippe gespalten. Sonst blieb er immer
Sieger.
Im Jahr 1511 war Diego Colón, der Sohn des großen Admirals, Statthalter von Haiti. Da die
Silbergruben bereits erschöpft waren, beschloss er, das benachbarte, schon von seinem Vater
entdeckte Kuba zu besiedeln und sandte zur Eroberung der Insel ein Heer von dreihundert Mann
aus. Zum Anführer ernannte er Diego de Velásquez. Dieser war einer der ersten Kolonisten der
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Neuen Welt; er hatte schon Cristoforo Colón auf der zweiten Reise begleitet und galt als tüchtiger
Heerführer, da er siebzehn Jahre lang in europäischen Kriegen Dienst getan hatte. Velásquez eroberte Kuba, erwirkte durch seine Beziehungen zum Präsidenten des Indischen Amtes in Sevilla,
Juan Rodríguez de Fonseca, Bischof von Burgos, dass er zum Gobernador Kubas ernannt wurde,
und sprach sich selbst jeder Verpflichtung gegen Diego Colón los. Das Vertrauen, das Diego
Colón in Velásquez gesetzt hatte, wurde ihm übel gelohnt: Dankbarkeit galt nichts in der Welt der
Glücksritter und Emporkömmlinge. So sollte auch Undank Diego de Velásquez später strafen.
Damals schon ein Sechziger, korpulent und träge, überließ er die Pazifikation der Insel seinem skrupellosen Neffen, dem Leutnant Pánfilo de Narváez. Der schlachtete die Indianer ab und
ließ kaum genug übrig, um sie als Sklaven in die Silbergruben zu bringen. Narváez war mittelgroß,
kurzhalsig, mit rotem Bart und rotem Haar. Seine Überheblichkeit und Geistlosigkeit waren so unermesslich wie sein Geiz, obgleich er mit der reichen Erbin María de Valenzuela verheiratet war.
Mit Diego de Velásquez war Cortés nach Kuba gekommen und musste den hohlköpfigen
Leutnant Narváez als Vorgesetzten erdulden. Pánfilo de Narváez sah in Cortés keinen Rivalen und
ließ sich herab, ihn mit seinem Vertrauen, zuweilen sogar mit seinem Lob zu beehren. Während
des Feldzugs hatte Cortés sich durch Unerschrockenheit und Tatkraft hervorgetan, und Diego de
Velásquez ernannte ihn zu seinem Privatsekretär.
*
König Ferdinand der Katholische starb 1516. Die Kronen von Spanien, beider Sizilien und Flandern erbten gemeinsam die in geistiger Umnachtung dahindämmernde Johanna von Kastilien und
ihr Sohn, der noch minderjährige Karl. Für die Wahnsinnige und den Knaben führte der kluge, aber
schon gealterte Kardinal Ximenes die Regentschaft. Er sah, dass sich die indianischen Angelegenheiten in schlechten Händen befanden. Doch seine Macht war nicht Allmacht, und er vermochte den Präsidenten des Indischen Rates, Juan Rodríguez de Fonseca, Bischof von Burgos, nicht
seines Amtes zu entheben. Fonseca liebte und hätschelte die Mittelmäßigkeit, darum schätzte er
Talent und Begabung anderer nicht, und kein Mittel war ihm zu gering, um einen verdienstvollen
Mann zu demütigen.
Dieser kirchliche Würdenträger hatte Colón in Ketten legen lassen und dem großen Entdecker den Lebensabend vergällt. Fonseca trug die Schuld daran, dass der hoch begabte Vasco
Núñez de Balboa, der Entdecker der Südsee, Peru nicht erreichte und schuldlos den Kopf auf den
Henkerblock legen musste. Und das Schicksal sollte sich diesen Bischof als den
unversöhnlichsten, gehässigsten und gefährlichsten Feind des Cortés aussuchen.
Kardinal Ximenes konnte den Bischof von Burgos nicht entmachten, setzte dessen verderblichem Einfluss aber wenigstens einen Wall entgegen. Schon bald nach der Entdeckung hatten die
Leiden der Indianer die Dominikaner-Mönche auf Haiti zu einem leidenschaftlichen, mit geistigen
Waffen ausgefochtenen Feldzug veranlasst. Sie kämpften vor allem gegen die Einführung der
repartimientos – der brutalen Verteilung indianischer Leibeigener an Kolonisten. Zwar waren die
Urbewohner der Antillen nackte Wilde, doch auch die wilden Inselbewohner waren für sie Menschen – ein Standpunkt, der von vielen Weißen nicht geteilt wurde. Die spanischen Kolonisatoren
hatten ihre Gründe für die Behauptung, die naturales seien minderwertig und hätten auch keine
Seele, denn damit waren die Wilden von Gott praktischerweise zu den Sklaven der Kolonisatoren
bestimmt worden. Von den Dominikanern allerdings wurden die Menschenrechte für ihre rothäutigen Schützlinge proklamiert. Die Franziskaner stellten sich auf den entgegengesetzten Standpunkt. Sie verteidigten die Rechte der Kolonisten und machten geltend: Ohne Arbeitskräfte sei das
Land wertlos, und nur durch strenge Zucht könnte die Arbeitsscheu der Wilden überwunden werden. Ausgerechnet die Franziskaner machten sich zu Verteidigern sämtlicher Maßnahmen des
Statthalters Diego de Velásquez; sie fanden auch die Zustimmung des Bischofs von Burgos, denn
Diego de Velásquez hatte dem Bischof ein repartimiento mit achthundert indianischen Leibeigenen
zum Geschenk gemacht.
Kardinal Ximenes tat einen geschickten Schachzug und ernannte den kleinen Mönchsorden
der Hieronymiten auf Haiti zum Oberstatthalter der Neuen Welt.
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*
Allegorische Darstellung des Untergangs
der kubanischen Ureinwohner: Die Weissen teilen Land und Reichtum unter sich
auf, treiben die Kubaner in die Sklaverei
und töten die Widerspenstigen.
Cortés blieb nicht lange Secretarius
des Diego de Velásquez, doch lange
genug, um sich des Statthalters
Gunst und Vertrauen zu erwerben.
Velásquez beförderte ihn zum Alkalden seiner Residenzstadt St. Jago
de Cuba, denn es kam seiner altersmüden Bequemlichkeit gelegen,
dass Cortés sich als fähig erwies, die
Last der Regierungssorgen zu tragen. Die stets gleich bleibende Freundlichkeit des Cortés gewann des alten Mannes Herz. Er war
kinderlos und liebte Cortés wie einen Sohn. Schon machte er Pläne, ihn durch eine Heirat noch
enger an sich zu binden. Aus Granada waren damals vier Schwestern namens Suárez Pacheco,
entfernte Verwandte des Diego de Velásquez, nach St. Jago de Cuba gekommen. Sie waren jung,
schön und arm. Sie verhehlten nicht, dass sie Granada verlassen hatten, weil sie in der Neuen
Welt das Glück und einen Gatten zu finden hofften. Diego de Velásquez nahm die schutzlosen
Mädchen auf und missbrauchte bald seine vormundschaftliche Gewalt. Dass die älteste Suárez
das Bett mit ihm teilte, war bald stadtbekannt. An der Jüngsten, Catalina Suárez Pacheco, fand
Cortés Gefallen. Und bald schon verfiel das bleiche Mädchen dem schönen jungen Mann. Gerührt
durch ihre Hingebung, versprach Cortés ihr in einer schwachen Stunde die Ehe, zog sich dann
aber plötzlich zurück, da ihm Gerüchte zu Ohren kamen, alle vier Schwestern seien der Lüsternheit des Diego de Velásquez zum Opfer gefallen. Ob es stimmte oder nicht: Diego de Velásquez
erinnerte Cortés an sein Eheversprechen. Der zu Zornausbrüchen neigende, an Gehorsam gewohnte alte Mann ließ sich sogar dazu hinreißen, Cortés zu beschimpfen. Es kam zum offenen
Bruch.
Hatte der Günstling viele Neider und Hasser gehabt, so sah sich der Feind des Statthalters plötzlich von zahlreichen Freunden umgeben. Wer missvergnügt war – und auf Kuba waren es die
Meisten –, schloss sich Cortés an. Die Unzufriedenen berieten, wie den Übergriffen des Gewaltherrschers ein Riegel vorzuschieben sei. Eine Anklageschrift wurde aufgesetzt und Cortés dazu
ausersehen, mit einem kleinen Boot nach Haiti zu segeln, um dem kürzlich ernannten Oberstatthalter der Neuen Welt – dem Mönchsorden der Hieronymiten –, die Vorwürfe zu überbringen.
Doch Cortés wurde verraten, auf See ergriffen und in Ketten gelegt. Ein Speichellecker des
Gobernadors hatte Diego de Velásquez benachrichtigt. In seiner Wut wollte er Cortés sofort aufhängen lassen, aber das Schluchzen und Gejammer der Catalina Suárez, die sich ihm vor die Füße geworfen hatte, hielt ihn davon ab. So ließ er Cortés im zweiten Stock des Gefängnisgebäudes
einkerkern. Doch Cortés konnte fliehen: Es gelang ihm, die Fesseln zu lösen und, schlank wie er
war, durch die Eisenstäbe des Fensters zu schlüpfen. Er entkam und suchte Asyl in einer Kirche.
Da vorauszusehen war, dass Cortés sein Leben teuer verkaufen würde, wagte Diego de
Velásquez nicht, das heilige Haus durch ein Gemetzel zu entweihen. Er begnügte sich damit, die
Ausgänge des Gotteshauses bewachen zu lassen. Einige Tage blieb Cortés unbehelligt. Er glaubte sich geborgen. Doch als er einmal achtlos auf den Stufen vor der Kirche saß, fühlte er sich
plötzlich von hinten gepackt. Von allen Seiten stürzten Häscher herbei, und ehe er sich ihrer erwehren konnte, wurden ihm die Hände auf den Rücken gebunden. Ergriffen hatte ihn Pedro
Escudero, der Cortés später in Mexico noch weiteres Ungemach bereiten sollte.
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Diesmal wurde Cortés auf ein Schiff gebracht und erneut in Ketten gelegt. Doch wieder gelang es ihm, Hände und Füße aus den eisernen Ringen zu befreien. Er wartete die Nacht ab und
schlich sich an Deck. Ein Boot war am Schiff festgebunden. Geräuschlos ließ er sich hinabgleiten,
durchschnitt das Belegtau, und die Strömung trieb die Jolle ins offene Meer hinaus. Da er keine
Ruder hatte, sprang er ins Wasser, schwamm an Land zurück und suchte in derselben Kirche Zuflucht.
In jenen Tagen kehrte der zweite von Diego de Velásquez ausgesandte und von seinem Neffen Grijalva befehligte Freibeuterzug von den Küsten Yucatáns nach Kuba zurück. An der Expedition hatten auch Pedro Alvarado und Alonso Puertocarrero als Kapitäne teilgenommen. Grijalva
hatte den Auftrag, Handelsgeschäfte zu machen, vor allem aber Sklaven zu fangen. Grijalva
brachte zwar keine Sklaven mit, dafür aber Gold im Wert von zwanzigtausend Piastern und die
aufregende Nachricht von Eldorado, einem Goldland namens Mexico. Als Alvarado, dessen Schiff
früher als die anderen eingetroffen war, dem Statthalter die Nachricht überbrachte, zeigte der dicke
Greis große Freude und ließ sofort eine neue Flotte rüsten. Aber ihm fehlte ein
Kommandant. Mit Grijalva war er unzufrieden. Dieser, meinte er, hätte Mexico
gleich in Besitz nehmen sollen.
Juan de Grijalva (1490–1527), spanischer Entdecker, setzte
als erster Europäer 1518 seinen Fuß auf aztekisches Gebiet.
Seither hatte sich unausrottbar die Fiktion von Eldorado in die Herzen aller Conquistadoren
gebrannt: Gegen Sonnenuntergang, hieß es, läge ein Land, dessen Pracht und Reichtum jede
Vorstellungskraft überstiege; der König dort, der über das Land herrscht, bade jeden Morgen in
einem See aus Gold und sei – wenn er den See nach dem Bad wieder verlasse – über und über
mit Goldstaub und Goldplättchen bedeckt.
Obgleich Cortés' Asyl streng bewacht wurde, waren die Kirchentüren nicht verschlossen.
Zum Morgen- und Abendgebet strömte das Volk ein und aus. Und da Diego de Velásquez wenig
beliebt war, fehlte es dem Märtyrer seiner Willkür nicht an Speis und Trank. Auf die Gefahr hin,
sich den Hass des Statthalters zuzuziehen, wagten es Puertocarrero und Alvarado, Cortés in der
Kirche zu besuchen. Sie erzählten ihm von den Mühseligkeiten und Überraschungen ihrer abenteuerlichen Fahrt: wie sie auf der Insel Cozumel Bisamschweine sahen; wie sie an der Küste von
Champoton von schwarz und weiß bemalten Indianern überfallen wurden, während ein Heuschreckenschwarm den Himmel verfinsterte, sodass man die fliegenden Pfeile nicht von den Insekten
unterscheiden konnte und sämtliche Kastilier Pfeilwunden davontrugen; wie sie auf einer Insel so
vielen Hirschen und Kaninchen begegneten, dass ihr Jagdhund vor rasendem Eifer entlief, und
dass sie ihn bei der Rückreise so vollgefressen wieder auffanden, dass er sich kaum noch bewegen konnte; wie sie Freundschaft mit einem Kaziken schlossen und dieser ihnen durch zwei Indianer namens Melchorejo und Julianillo sagen ließ, das Land des Goldes liege gegen Sonnenuntergang und nenne sich Mexico; wie sie bei Aguayaluco Indianer sahen, die große Schildkrötenschalen als Schilde trugen; wie sie vom Meer aus ewigen Schnee von Gletschern erblickten, und wie
Alvarado einen nach ihm benannten Fluss stromaufwärts fuhr und sämtliche Tempel ausraubte;
wie als erster Europäer auf mexikanischem Boden landete und von einem Statthalter des Königs
von Mexico ausgefragt wurde; und wie sie endlich zu einer Insel gelangten, der Isla de Sacrificios,
wo in einem Tempel vor einem Furcht erregenden Götzenbild die Leichen von fünf kurz zuvor geschlachteten Indianerknaben lagen: aus den klaffenden Brustkörben waren die Herzen herausgerissen und lagen nun auf dem Schoß des Gottes; mit Beilhieben hatte man die Arme und Schenkel
der Knaben abgehackt, und die Tempelwände und das Götzenbild waren mit dem frischen Blut der
Opfer beschmiert.
Cortés lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit und wie im Fieber glänzenden Augen.
»Ich muss nach Mexico!«, rief er.
»Ja, wir haben an Euch gedacht«, sagte Alvarado. »Diego de Velásquez rüstet schon eine
neue Expedition aus. Er sucht einen Anführer, Don Hernándo. Gleich nach meiner Ankunft habe ich Euch als Generalkapitän vorgeschlagen, denn ich wusste noch nichts von den Misshelligkeiten zwischen ihm und Euch. Kaum hatte ich Euren Namen genannt, geriet er in solche
Wut, dass ich davon abließ, ihn weiter zu drängen.«
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»Ich will selbst mit ihm sprechen! Heute noch! Jetzt gleich!«, rief Cortés und lief zur Kirchentür.
Puertocarrero hielt ihn am Ärmel fest. »Seid ihr toll, Don Hernándo? Er hat geschworen,
Euch hängen zu lassen!«
Cortés riss sich los und stürmte hinaus.
Der Profos Escudero bemerkte die Flucht erst, als Cortés längst auf und davon war. In größter Bestürzung lief er zum Hause des Statthalters, die Flucht des Verbrechers zu melden und sich
selbst herauszureden, so gut es ging. Aber als er von einem Diener vor den Gobernador geführt
wurde, konnte er nur noch staunen. Den hochmögenden Don Diego de Velásquez und den Delinquenten Cortés fand er bei der Siesta vor, gemeinsam ausgestreckt auf einem Ruhebett.
Don Diego schickte Escudero lachend weg; er war gnädig gelaunt, denn Cortés hatte sich
bereit erklärt, Doña Catalina Suárez Pacheco zu heiraten. Don Diegos altes Kriegerherz schlug
höher angesichts der dreimal geglückten Flucht des Cortés, und er staunte ob der Tollkühnheit des
jungen Mannes, dass dieser es gewagt hatte, ohne Waffen vor ihn hinzutreten. Nach wenigen
Worten waren sie sich wieder um den Hals gefallen.
Kurz darauf führte Cortés Doña Catalina heim. Nun knüpften ihn verwandtschaftliche Bande
an Velásquez. Er ging im Statthalterpalais ein und aus und fand so Gelegenheit, mit zwei einflussreichen Personen unauffällig Zwiesprache zu halten. Es waren die Vertrauten des Gobernadors:
sein Sekretär Andrés del Duero und der Schatzmeister Seiner Majestät, Amador de Lluños. Cortés
verpflichtete sich, allen Gewinn des Unternehmens mit ihnen zu teilen. Den beiden Helfershelfern
fiel es nicht schwer, dem Statthalter eindringlich klarzumachen, dass er keinen umsichtigeren, klügeren und verwegeneren Führer finden könne als Hernándo Cortés. Der alte Mann vergötterte
seinen neuen Verwandten seit dessen dreimaliger Flucht. So ernannte er ihn zum capitán generál
der neuen Expeditionsflotte und zum caudillo der Truppen, und er ließ die Bestallung durch den
Secretario Andrés del Duero mit bester Tinte schreiben: de muy buen tinta.
Verwandte des Diego de Velásquez hatten damit gerechnet, dass einer aus ihren Reihen
das Kommando erhalten würde. Alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, den Statthalter umzustimmen. Cortés wusste, wie leicht dieser zu beeinflussen war, und tat das Menschenmögliche, die
Abfahrt zu beschleunigen. Vor der Hochzeit hatte er seine Braut wie eine Königin mit Schmuck
behängt und dabei sein letztes Bargeld verschleudert. Es gelang ihm, sein repartimiento sowie
eine Silbergrube, die er besaß, für viertausend Dukaten zu versetzen. Er kaufte Munition, Lebensmittel, Mais, Heu für Pferde und auch Tauschwaren: venezianische Glasperlen, kleine Spiegel und
Taschenmesser. Er schrieb Hunderte von Briefen, und aus allen Teilen des Landes strömten
Abenteurer herbei, um sich unter seine Fahnen zu stellen.
Um seiner Person mehr Ansehen zu verleihen, trug Cortés jetzt einen Samtrock, eine schwere Goldkette um den Hals, die ihm bis an den Gurt reichte, und ein Barett mit hoher Hahnenfeder.
Am Sonntag nach seiner Ernennung begab sich Diego de Velásquez mit großem Gefolge –
wie es sich für einen Machthaber schickt – zur Messe in den Dom. Neben ihm schritten Cortés und
Andrés del Duero. Da tänzelte plötzlich der bucklige Possenreißer und Narr Cervantes auf der
Straße vor ihnen her. Kreischend, damit alles Volk es vernehmen könne, rief er:
»O Gobernador, bist du blind?
Du hast – das merkt doch jedes Kind –
Den Falschen ernannt zum Admiral:
Leid wird’s dir tun noch manches Mal!
Wie konntest du nur ihn erwählen?
Er wird dir deine Flotte stehlen
Und übers Meer, das sieht ein jeder,
winkt nur noch seine Hahnenfeder!«
Andrés del Duero prügelte den Narren durch und nannte ihn el chocarrero, Trunkenbold und
Possenreißer. Velásquez äußerte sich nicht; aber der verbissene Zug in seinem aschgrauen Gesicht war beredt genug. Die Freundschaft zu Cortés kühlte seit diesem Tag ab, und er veranlasste
seinen Haushofmeister, Diego de Ordás, als Hauptmann mitzuziehen, um Cortés auf die Finger zu
schauen.
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Dann galt es, schnell zu handeln. Andrés del Duero und Amador de Lluños ließen Cortés wissen,
dass Diego de Velásquez den Entschluss gefasst habe, seine Ernennung zu widerrufen und einen
anderen Befehlshaber zu ernennen. Am späten Nachmittag hatte Cortés die Nachricht erhalten,
und schon am Abend desselben Tages wurden in aller Heimlichkeit die Mannschaften eingeschifft.
In der Nacht ließ Cortés sämtliche Fleischerläden der Stadt ausrauben und hinterließ seine goldene Halskette als Bezahlung. Am anderen Morgen machten die Bewohner St. Jagos die Entdeckung, dass ihnen das Fleisch zur Suppe fehlte. Hausfrauen, Köche
und Küchenmädchen strömten in Scharen lärmend zum Statthalterpalais. Don Diego lief halb angekleidet zum Hafen, den Possenreißer
Cervantes auf den Fersen. Cortés erblickte den Statthalter am Ufer,
bestieg ein Boot und ruderte zu ihm herüber. In respektvoller Entfernung hielt er und ließ den Nachen in den Wellen schaukeln.
Diego de Velásquez (1465–1524),
Gouverneur von Kuba und Cortés Förderer
»Nehmt Ihr so von mir Abschied? Wahrlich, das nenne ich ein feines
Benehmen!«, rief der dicke alte Mann zornig.
»Entschuldigt«, versetzte Cortés, »doch die Zeit drängt; und schneller
als ein Gedanke muss solch eine Tat sein, wenn sie gelingen soll.
Wenn Ihr noch ein Anliegen habt, sagt es mir jetzt, denn Gott weiß,
wann wir uns wieder sehen werden.«
Don Diego streckte stumm die geballte Faust zum Morgenhimmel empor, dann wandte er sich um und ging davon. Mit seiner gepflegten Hand winkte ihm Cortés
freundlich einen Abschiedsgruß nach. Der Narr Cervantes war derweil an das Boot herangeschwommen, um es zum Kentern zu bringen. Aber seine Kräfte reichten nicht, und um ein Haar
wäre er ertrunken. Mit spöttischem Mitleid zog Cortés den Erschöpften ins Boot und nahm ihn mit
auf das Flaggschiff. Dann wurden unverzüglich die Anker gelichtet, und die Flotte verließ St. Jago.
Der Possenreißer musste gegen seinen Willen Mexico erobern helfen.
*
An der Südküste Kubas, in den Häfen Trinidad und La Havanna, machte die Flotte Zwischenstation und nahm den Rest der Mannschaft, Geschütze, Munition und die sechzehn Pferde an Bord.
Francisco Verdago, der Alcalde von Trinidad und Schwager des Diego de Velásquez, sowie Pedro
Barba, der Stadtkommandant von La Havanna, erhielten durch Eilboten vom Statthalter den
schriftlichen Befehl, Cortés zu fangen, ihn abzusetzen und in Ketten zu legen. Doch beide erkannten die Unmöglichkeit, einem ausgeruhten Heer den beliebten Kommandanten zu entreißen. Pedro
Barba händigte Cortés sogar den Haftbefehl (und einen zweiten Brief, der später noch Bedeutung
erlangen sollte) aus und ließ sich als Hauptmann der Armbrustschützen von ihm anwerben. Auch
an seinen bisherigen Haushofmeister Ordás hatte Velásquez einen Brief geschrieben und verlangt,
er solle Cortés zu einem Festessen laden und an der Tafel von gedungenen Banditen überfallen
lassen. Doch der ritterliche Ordás warf das Schreiben ins Feuer.
Nachdem die Watterüstungen für die Soldaten genäht, die Lanzenspitzen geschmiedet und
alle erhältlichen Pfeile aufgekauft waren, segelten am 18. Februar 1519 die elf Karavellen von Kuba ab und steuerten westwärts dem unbekannten, geheimnisreichen Land des Goldes, der Wunder und der Schrecken entgegen.
Bei der Abreise von Kuba hatten die Kastilier zwei Indianer, die schon erwähnten Julianillo
und Melchorejo, als Dolmetscher mitgenommen. Als Don Diego de Velásquez zwei Jahre zuvor
drei Schiffe unter Führung des Feldhauptmannes Hernández de Córdova ausgesandt hatte, Sklaven zu fangen, war Yucatán wieder entdeckt worden. (Schon Colón hatte es berührt und über die
Sittsamkeit der Mayafrauen gestaunt, die an den Schiffsleitern emporkletternd ihre Röcke festhielten.) Die Mannschaft des Córdova – unter der sich manch Teilnehmer befand, der nun mit Cortés
gezogen war – hatte nach schwerem Kampf mit den Einheimischen diese beiden Indianer aufgegriffen. Trotz dem unerbetenen Taufwasser des fetten Lizentiaten Juan Díaz, trotz der christlichen
Namengebung, europäischer Kleidung und zweijährigem Aufenthalt auf der Insel Kuba waren »der
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kleine Julian« und »der alte Melchior« nur oberflächlich zivilisiert. Aber nach ihrer Abreise von Havanna war Cortés auf sie angewiesen, wie wenig Verlass auf die verschmitzt grinsenden, verschlossenen Burschen auch sein mochte.
Diego Veláqsquez fuhr mit Kolumbus 1493 in die Neue Welt.
Als Statthalter von Kuba rüstete er später mehrere Expeditionen aus, die in der Karibischen See nach Gold suchen sollten.
Eine dieser Expeditionen — wahrscheinlich die von Francisco
de Córdova — zeigt das zeitgenössische Bild links. Alle Unternehmen stießen auf heftigen Widerstand bei den Indianern,
deren Bogen und Schwerter keine gleichwertigen Waffen gegen den Stahl und die Schußwaffen der Spanier bildeten. Das
Bild unten stellt eine solche Kampfszene aus der Sicht eines
Künstlers im 19. Jahrhundert dar.
Auf der Reise berührte Cortés die Küste von
Yucatán, wo schon vor ihm Córdova und Grijalva gelandet waren. Bei der Insel Cozumel hörte er von Indianern öfter das Wort Kastilan. Auch Córdova hatte
diese Beobachtung gemacht. Durch Melchorejo und Julianillo ließ er die Indianer ausfragen und
erfuhr, dass auf dem Festland, zwei Tagesreisen von der Küste entfernt, zwei Kastilier als Sklaven
eines Kaziken lebten. Cortés schickte indianische Boten mit einem Brief an die weißen Sklaven
und gab ihnen für den Kaziken einen Haufen Glaskorallen als Lösegeld mit. Die Händler reisten ab
und übermittelten Brief und Geschenk. Der Kazike nahm das Lösegeld gern an und gestattete den
weißen Sklaven, sich zur Küste und in den Schutz ihrer Landsleute zu begeben. Die beiden waren
der Franziskaner-Frater Jerónimo de Aguilár und ein Matrose namens Gonzalo Guerrero. Ein
Schiffbruch hatte sie sieben Jahre zuvor mit vielen anderen Weißen an diese Küste verschlagen.
Ihre Leidensgefährten waren auf den Götzenaltären verblutet; nur sie beide hatte man am Leben
gelassen – den Matrosen, weil er sich durch Dienstfertigkeit beliebt gemacht hatte, und den Frater,
weil die Indianer ihn seiner geschlechtlichen Enthaltsamkeit wegen als Heiligen verehrten. Der
Kazike hatte ihm eine Indianerin als Ehefrau angeboten – ein Gnadenbeweis, den der fromme Frater mit Dankesbeteuerungen zurückweisen musste. Als Grund für seine Weigerung hatte er auf die
Fragen des gekränkten Kaziken erklärt, ein Gelübde untersage es ihm, Frauen zu berühren. Das
erschien dem Maya-Fürsten so ungeheuerlich und unglaublich, dass er sich vornahm, der Sache
auf den Grund zu gehen. Drei Nächte lang wurde die Reinheit Aguilárs auf die Probe gestellt:
halbwüchsige nackte Mädchen umtanzten ihn, reihten sich in hockender Stellung vor ihm auf, verhöhnten ihn kichernd, schmeichelten und streichelten, zupften ihn an Gewand und Bart und ließen
nichts unversucht, ihn zu verführen. Seitdem er ihren Lockungen widerstanden, behandelte der
Kazike ihn wie einen Freund und vertraute ihm die Aufsicht über seine zahlreichen Haupt- und
Nebenfrauen an.
Glücklich über die Freilassung wollte Jerónimo de Aguilár sogleich mit Gonzalo Guerrero zur
Küste aufbrechen, zu den Schiffen der Befreier. Doch der Matrose war ein Indianer geworden und
hielt nicht viel von den Segnungen europäischer Zivilisation. An Nahrung fehlte es ihm nicht, und
Palmen gaben kühlen Schatten. Mehr ersehnte er sich nicht.
»Geht allein!«, sagte er zu Aguilár. »Was soll ich dort? Mich hänseln lassen, weil meine Nase und meine Lippen durchbohrt sind? Mich abplagen für mein täglich Brot und doch im Elend verkommen, wenn die Knochen alt und müde geworden sind? Für so freundliche Aussichten verlasse
ich dies hier nicht!«
Aguilár hielt ihm vor, dass er Christ sei; seit sieben Jahren sei er nicht zur Messe und nicht
zum Abendmahl gegangen! Er könne seine Familie ja mitnehmen.
»Lasst es gut sein, compadre«, versetzte der Matrose. »Messe und Abendmahl sind vortrefflich für Grafen und Herzöge. Wäre ich einer, verspürte ich vielleicht Sehnsucht nach meinem
Schloss, nach Kaldaunenbraten und schönen Frauen. Doch in Europa werden die armen Leute
schon im Elternhaus misshandelt, vom Leben verprügelt und – wenn wir alt sind – auf den Kehrichthaufen geworfen. Ich habe mir einen lateinischen Seefahrerspruch übersetzen lassen und
auswendig gelernt: Navigare necesse est, vivere non necesse est. Ich weiß was das bedeutet!«
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»Aber Ihr seid Christ«, hielt Aguilar ihm entgegen. »Wir können wieder unter Christen leben,
können die Wärme und die Segnungen unserer heiligen Kirche...«
Guerrero unterbrach ihn. »Unsere heilige Kirche? Eure vielleicht, aber ist sie noch die meine? Ich habe mit den Maya den heidnischen Göttern geopfert! In den Augen der Kirche bin ich ein
Abtrünniger und Ketzer. Da wird wohl eher die Wärme des Scheiterhaufens auf mich warten...
wenn unsere ›Landsleute‹ mich nicht sofort aufhängen, rädern oder vierteilen.«
Aguilár trat allein die Reise zur Küste an, er war halb nackt, als Indianer gekleidet und mit
Bogen und Pfeilen bewaffnet. Als er an Bord der Capitána vor Cortés geführt wurde, legte er Bogen und Pfeile auf dem Schiffsverdeck nieder, fiel auf die Knie, schluchzte und rief: »Kreuz!...
Kreuz!... Kreuz!... Christus!« Der Franziskaner konnte sich vor freudiger Erregung nur mühsam in
seiner Muttersprache ausdrücken.
Hernándo Cortés nahm seinen Mantel ab und bedeckte Aguilár. Nach wenigen Tagen war er
imstande, seinem Retter wichtige Aufschlüsse über Verfassung, Religion und Sitten der Kulturvölker Zentralamerikas zu geben.
*
Als sie die Anker wieder lichteten, sahen sie, dass sich ein Boot dem Flaggschiff näherte. Im Boot
waren zwanzig Sklavinnen - ein Geschenk des Kaziken. Eine der Sklavinnen war Marina.
Puertocarrero, dem Marina als Kriegsbeute zugeteilt wurde, trauerte einer toten Geliebten
nach und trat die Sklavin an Cortés ab. Puertocarrero war der vornehmste Teilnehmer dieses Freibeuterzuges, der einer alten kastilischen Adelsfamilie entstammte. Als Jüngling hatte er eine glänzende Laufbahn am kastilischen Hofe in Aussicht gehabt, die jedoch ein jähes Ende fand, als seine Leidenschaft zu einer verheirateten Frau entflammte. Sie war eine Nichte von Juan Rodriguez
de Fonseca, des mächtigen Bischofs von Burgos und Präsidenten des für neue überseeische Gebiete Spaniens zuständigen Indischen Rates. Puertocarrero floh mit ihr nach Kuba und fand dort in
der Verschollenheit einige Jahre sein Glück; dann aber starb sie am Biss einer Giftschlange. Da
schloss er sich Freibeutern an, um seinen Schmerz zu betäuben. Doch sein Herz und seine Augen
blieben tot, und darum sah er Marinas Schönheit nicht.
Schon nach kurzer Zeit konnte Marina sich auf Spanisch verständigen, und während der eintönigen, mehrere Wochen währenden Segelfahrt fand Cortés Zerstreuung und Vergnügen am Geplauder mit der jungen Mexica. Ihr Lerneifer und ihre Wissbegier waren unersättlich. Als Frater
Jerónimo de Aguilár ihr von Christus und der katholischen Religion erzählte, erwärmte sie sich
sofort für den Glauben der weißen Männer. Voll Inbrunst lauschte sie den heiligen Geschichten
des Alten und Neuen Testaments.
Einmal erzählte Cortés ihr vom Erzvater Jakob und seinen zwölf Söhnen, und wie Josef nach
Ägypten kam und dort reich und mächtig wurde. Da füllten Marinas Augen sich mit Tränen.
»Das ist meine Geschichte«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«, fragte Cortés.
»Die eine Hälfte habe ich erlebt. Und gebe Gott, dass ich auch das andere erlebe!«
»Du sprichst in Rätseln! Erkläre es mir!«, sagte Cortés.
»Ihr werdet es gleich verstehen«, fuhr Marina fort. »Seht, die
Brüder zeigten das blutige Ärmelkleid vor und hatten doch Josef
nach Ägypten verkauft. Das ist es, was ich selbst schon erlebte. Und
nun möchte ich mit Gottes Hilfe gern noch erleben, wie Josef ein
großer Herr wurde, Vater und Geschwister zu Gast lud und ihnen
Böses mit Gutem vergalt.«
Marina (eigentlich »Malinche«)
in einer Darstellung des 19. Jahrhunderts
Dann erzählte Marina ihr junges, doch seltsames Leben. Im Südosten des mexicanischen
Reiches, in der Provinz Coatzacualco, war sie zur Welt gekommen, als einziges Kind eines hohen
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Würdenträgers. Ihrem Rang und dem Reichtum ihres Vaters gemäß wurde sie in den Künsten und
Wissenschaften erzogen, wie alle vornehmen Erbinnen des Landes. Sie war dreizehn Jahre alt, als
der Vater starb. Sein Besitz, die reiche Stadt Oaxaca und die großen Güter in der Umgebung,
wurde Eigentum ihrer Mutter. Bald darauf ging diese eine neue Ehe ein und bekam von ihrem
zweiten Gatten einen Sohn, den sie über alles liebte. Die Tochter aber mochte sie nicht mehr, da
diese die Erbansprüche des kleinen Stiefbruders beeinträchtigen konnte. Eine Haussklavin hatte
eine Tochter in Marinas Alter; das Mädchen erlag einer Krankheit. Marinas Mutter kaufte der Sklavin die Kinderleiche ab und schloss die eigene Tochter in ein dunkles Gemach ein. Prunkvoll bahrte sie die Leiche auf und ließ bekanntgeben, Marina sei tot. Vom dunkeln Gelass aus, in dem sie
gefangen war, hörte Marina die Litaneien ihres eigenen Begräbnisses, die heuchlerischen Wehklagen der Mutter, die Tröstungen der Verwandten und die Grabgesänge der Priester. Dann aber
wurde ihr Kerker heimlich und in dunkler Nacht von fremden Männern geöffnet, und sie wurde
nach Xicalanco geschafft und auf der Reise vergewaltigt. Im Auftrag ihrer Mutter wurde sie an
Sklavenhändler verkauft, und diese brachten sie nach Yucatán. Der Kazike verschenkte sie
schließlich an die Kastilier.
Ohne Trauer, Groll und Anklage erzählte Marina diese Geschichte, denn nun leuchtete ein
strahlendes Ziel vor ihr: so zu werden wie Josef, der Reinste der Reinen, und den blutigen Ärmelrock mit Güte und Beglückung zu vergelten.
3. Silberpuma
»Ihre Kriegstracht und ihre Waffen sind ganz aus Eisen gemacht, und sie kleiden sich ganz
in Eisen, und mit Eisen bedecken sie ihren Kopf. Aus Eisen sind ihre Schwerter, ihre Bogen,
ihre Schilde und Lanzen. Sie werden von Hirschen auf dem Rücken getragen, wohin sie
wollen...«
(Codex Florentino, Buch XII, Bericht der mexicanischen Gesandten an Moctezuma)
Die Wächter Moctezumas bewachten das Meer, unermüdlich und gewissenhaft, wie man einen
gefangenen Verbrecher bewacht. Doch unberührt davon leckten die Wellen den Strand, spülten
Muscheln, Korallen und Seetang, auch hölzerne Schiffstrümmer an, und ganz selten blieb eine
Perle im Auf und Ab der Tiden im Küstensand zurück - wie immer. Doch eines Tages blies der
stete Ostwind elf Karavellen heran. Kleine Punkte erst, die langsam größer wurden und für die
erstaunten Wächter bald als leuchtend weiße Segel zu erkennen waren. Es waren Wasserhäuser,
die zu melden seit einem Jahr ihre Aufgabe war. So mächtige Schiffe hatten sie nie zuvor gesehen; wie riesige Vögel segelten sie heran! Am Ufer einer Bucht klatschten schwere Anker in den
Grund, und die Riesenvögel falteten die gigantischen weißen Segelflügel ein. Nun ragten nur noch
nackte Stangen speerartig in den Himmel. Merkwürdig gekleidete Gestalten wimmelten an Bord,
die bald kleine Boote zu Wasser ließen, dass es aussah, als würden Entenküken um ihre Mütter
herum schwimmen. Machtlos mussten die Wächter zusehen, wie fünfhundertfünfzig fremde Männer mexicanisches Land betraten.
Doch bevor einer der Fremden den Fuß an Land gesetzt hatte, versuchten einige Wächter
auszukundschaften, welche Absicht die unheimlichen Fremden hergeführt haben möge. In ihren
schön geschnitzten Baumkähnen ruderten sie unter dem Vorwand hinaus, Tauschhandel treiben
zu wollen. Am Mast eines der großen Wasserhäuser erblickten sie eine schwarze Samtfahne mit
einem Goldkreuz, das von weißen und blauen Flammen umgeben war. Da zweifelten sie nicht,
dass sich dort ein tlatoani befinde, ein großer Herr, und sie kletterten die Schiffstreppe empor.
Etliche Tage später knieten sie im Saal der Botschaften vor Moctezuma und berichteten:
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»Wir küssten den Bug des Wasserhauses. Denn wir dachten: Kam nicht vielleicht Unser Herr
Quetzalcoatl vom Meer des Himmels herab auf dem Haus der Fluten? Als wir eine Treppe hinaufgestiegen, sahen wir ein Mädchen aus einer Tür treten, herrlich wie die Göttin der Blumen und der
Liebe. Sie redete unsere Sprache und ist eine Frau aus unserm Volk. Sie führte die Fremden hierher. Ihr Name ist Malintzín, und sie geleitete uns vor Unseren Herrn. Der gab uns diese durchsichtigen Perlen - sie funkeln wie zu Stein gefrorene Regentropfen -, und Unser Herr fragte uns durch
den Mund des Mädchens: ›Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Seid ihr aus Mexico? Wie nennt sich
der König in Mexico?‹ Und dann: ›Meldet eurem König Moctezuma, dass ich als Gesandter geschickt bin von einem König, der mächtiger ist als er - wie auch der Gott, dem wir dienen, mächtiger ist als alle Götter Mexicos. Die Botschaft, die ich überbringe, kann ich euch nicht sagen und
keinem der Großen dieses Landes. Nur Moctezuma selbst werde ich sie ausrichten, Auge in Auge.‹«
So geschah es im unheilvollen Jahr Eins-Schilfrohr der Mexica und im Jahre 1519 europäischer Zeitrechnung.
*
An einer trostlosen, sonnengedörrten Sandwüste war das kleine Heer kastilischer Abenteurer gelandet. Den kleinen wasserarmen Fluss, der sich zwischen den Sanddünen dahinschlängelte,
nannten sie Rio Tabasco. Sie waren von Kuba gekommen, um Gold, Ruhm und Abenteuer zu suchen. Manche wollten auch das Kreuz aufrichten als wahre Nachfahren der Kreuzritter, aber alle
hatten sie das Eldorado mit prächtigen Zaubergärten erträumt, Märchenländer voll schimmernder
Schlösser und liebeglühender Frauen, wie sie in den viel gelesenen Ritterromanen der Zeit gemalt
waren. Die dunkle Kunde von Mexicos Herrlichkeit war seit Jahren bis nach Kuba gedrungen. Nun
befanden sie sich auf Mexicos Boden – und was sie sahen, war Ödnis: ein Streifen dünenähnlicher
Sandhügel zwischen Weltmeer und Urwald.
Vielen sank der Mut. Das Feldlager musste eingerichtet werden. Ein weißes Zelt, das sie an
Land gebracht hatten, war bald kohlschwarz – bedeckt von Myriaden Stechmücken und angefressen von Termiten, noch ehe es aufgerichtet war. Die Offiziere erteilten Befehl, belaubte Zweige
aus dem Urwald zu holen. Unter Aufsicht der Zimmerleute wurden Laubhütten errichtet, je eine für
drei Mann. Dann wurden die zuckenden, von der Seereise noch benommenen Pferde ausgeschifft.
Es waren nur sechzehn, denn Pferde und Neger waren in Kuba fast unerschwinglich. Auf der kargen Wiese am Rio Tabasco hatten sie eine Koppel umzäunt, um die Tiere nach der langen Seereise wieder an festen Boden zu gewöhnen. Sie riefen »Holla« und »Hü-hü«, knallten mit den Peitschen und jagten die Tiere im Kreis herum. Der Wallach des Reiters Enrico Lares lahmte; er hatte
ein Hufeisen verloren. Auch bei einigen anderen Rössern wurden Mängel festgestellt: einigen fehlten Hufnägel, und Gonzalo de Sandovals dunkelbrauner Hengst Motilla hatte Hornverwachsungen
am rechten Vorderhuf. Die Schmiede bekamen Arbeit. Bald fauchte der Blasebalg in die Esse,
Eisen glühte rot, und mit hellem Kling-Klang fuhren die Schmiedehämmer auf Eisen und Amboss
nieder. Willig hielt der Wallach den Hinterhuf auf den Beschlagbock, doch Motilla, dem die Verwachsung vom Huf gefeilt werden sollte, trat wild aus und musste von mehreren Männern gebändigt werden.
Auch die Artillerie wurde an Land gebracht. Sie bestand aus einigen schmächtigen Falkonetten und zehn kupfernen Kanonen. Unter diesen fanden sich sechs lange Kartaunen, zwei kurze
Kartaunen und einige Feuerschlangen. Die umfangreichste der Kartaunen war Singende Nachtigall
getauft worden.
Der Feuerwerker Alonso de Mesa – der schon in Italien unter dem großen Capitán Consalvo
Ferrante gedient und Geschütze gegen Cesare Borgia gerichtet hatte – stellte jetzt, unterstützt von
den Artilleristen, die kupfernen, mit Essig und Wein blank gescheuerten Kanonen und Falkonette
rings um das Lager auf, was ihm das Aussehen einer Wagenburg verlieh. Nach den vier Windrichtungen war je ein größerer Zwischenraum zwischen den Geschützen gelassen – so genannte Tore
–, in welche die Gassen des Feldlagers mündeten. Posten bewachten die Tore.
Nächst dem Strand und den Schiffen waren die Lauben der Marketender errichtet worden.
Dort wurden die Viktualien gestapelt, Essig- und Ölfässer, Kisten mit gesalzenem Fleisch, weißem
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Zwieback und geröstetem Kassavebrot, auch Mehlsäcke. Doch erwies das Mehl sich als größtenteils von Meerwasser verdorben und musste weggeschüttet werden.
Der Wein hatte die Seereise besser überstanden. Die Marketenderin Catalina Márquez, genannt die Goldhyazinte, hatte bald alle Hände voll zu tun, den sonnenversengten, pflichttreuen
Soldaten nach schwerer Tagesmühe eine Erfrischung zu reichen. Die Nichtstuer des Heeres aber
wichen nicht von ihrer Seite: der Galicier Mansilla, den sie den Durstigen nannten; der kurzbeinige
Pedro Baracoa, geheißen fanfarrón sin obra, der Prahlhans ohne Leistungen, und der Schwätzer
Lope Cano mit den sauberen Händen, de las maños pulcros. Auch eine junge Mulattin, Beatriz de
Acevedo, war bei ihnen und trank viel und hastig, bis sie betrunken kreischte und von ihrem alten
Gatten Suárez schimpfend weggetragen wurde.
Die schönste und vornehmste unter den Abenteuerinnen war ohne Zweifel die olivenbleiche
Isabel de Ojeda, die Tochter eines verarmten Granden aus Salamanca, die mit ihrem jungen Bruder Alonso zum Heer gestoßen war. Rassig schön war auch die reiche, knabenhafte María de Estrada. Selbst die Lagerdirne Rosario Rossano, ihrer eckigen Grazie wegen »die hagere Rosario«
genannt, fand Anbeter. Ein besonderes Wesen aber war die kleine La Bailadora mit den schwermütigen Augen. Sie hatte einen hübschen, jungen Körper, aber im Gesicht war sie keine Schönheit, da hatte sie die Natur stiefmütterlich bedacht. Doch wenn sie sang – und wie sie singen konnte! –, blühte ihre Lieblichkeit auf wie eine Rose im Wasserglas. Und tanzen konnte sie! Der Bergmann Ortiz, der beste Gitarrespieler und Tanzmeister des Heeres, bewunderte La Bailadora und
erklärte sie zu seiner Meisterin.
In der Mitte des Lagers befand sich ein freier Platz, eingesäumt von den größeren Laubbaracken der Offiziere sowie der Regierungsbeamten. Die schwarze Standarte mit dem
flammenumloderten Kreuz wehte über der Laubhütte des Hernándo Cortés. Dort war auch ein
Schandpfahl errichtet und ein aus Feldsteinen roh erbauter Altar. Und über alle Laubdächer hinweg sah man einen hohen Galgen ragen. Das Hochgericht befand sich außerhalb der Tore. Aber
das Gespenst der Meuterei schlich schon am ersten Abend durchs Heerlager. Cortés wusste, dass
unter seinen Männern nur wenig Ehrenhafte waren, obwohl doch alle auf ihre Ehre großen Wert
legten. Sein Heer bestand aus einem Haufen Abenteurer, Haderlumpen, Verbrecher, Bigamisten,
entlaufenen Sträflingen und bislang noch nicht gefassten Mördern. Es waren Männer mit viel Haltung und wenig guten Eigenschaften. Diese würde Cortés noch schmieden müssen. Sein
schwarzbrauner Hengst hatte sich bei der Ausschiffung ein Bein gebrochen und musste getötet
werden. Cortés war missgelaunt – für seinen Kämmerer Rodrigo Rangel nichts Unbekanntes.
Rangel war ein exzentrischer Mensch mit langem Spitzbart, gutmütig, etwas philosophisch und
zerfahren. Er hielt Cortés eine langatmige Rede:
»Euer Liebden werden doch nicht zu Fuß ins Fabelland Mexico vorrücken? Euer Liebden hat
einen Stallmeister, aber kein Ross. Gut. Aber, und das verstehe ich vollkommen, Euer Liebden will
keinen Offizier des Streitrosses berauben; und was Euer Liebden Gegner unter den Offizieren betrifft, so werden diese Euer Liebden weder für die Schätze Venedigs noch für alle Perlen der Kleopatra ein Ross herleihen – und wäre es nur, um Seiner Exzellenz, dem Statthalter von Kuba, eine
kleine Freude zu bereiten. Bleiben unsere vier braven Kavalleristen. Doch was ist ein Vogel ohne
Flügel, ein Fisch ohne Flossen und ein Kavallerist ohne Schlachtross? Daher kommen für Euer
Liebden nur drei Pferde in Betracht. Der Musikus und Tanzlehrer Ortiz besitzt eins, gemeinsam mit
dem Schmied García. Es ist ein Rotfuchs, ein ganz elender Klepper. Ferner ist da die braune Stute
des Jacobo Hurtado aus La Havanna. Doch die hat heute früh, kurz vor der Landung, Mutterfreuden erlebt und ein kräftiges Graufüllen geworfen! Und ihr glücklicher Besitzer ist, wie Ihr wisst, der
reichste Mann unter uns und nennt ein Schiff, einen Neger und eine Ladung Salzfleisch sein Eigen
– was könnt Ihr dem noch bieten? Also, um es kurz zu machen: Der Scharfschütze Vaeña aus
Trinidad hat einen Rappen, ein vortreffliches Tier. Sagt selbst, was kann ein Scharfschütze mit
einem Rappen Besseres anfangen, als ihn sich berappen zu lassen?« So sprach Rodrigo Rangel.
Cortés ließ den Scharfschützen Vaeña zu sich in die Baracke rufen. Er redete dem Mann
freundlich zu und erstand nach einigem Feilschen das wertvolle Tier – für die Goldborte eines seiner Galakleider. Eigenhändig trennte er die Borte ab und reichte sie dem Arkebusier. Cortés nannte sein neues Pferd Romo, was so viel heißt wie Maultier.
Der Schütze entfernte sich, hielt aber die Goldborte in der Wamstasche versteckt. Er wusste
selbst nicht, warum er sich schämte, sie zu zeigen. Ein wenig reute ihn wohl der Kaufhandel. Seine
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mürrischen Äußerungen wurden im Lager dahin gedeutet, dass sein Ross ihm mit Gewalt weggenommen worden war. Alle, die zum Statthalter von Kuba hielten, Don Diego de Velásquez – und
das waren nicht wenige unter den Soldaten –, steckten die Köpfe zusammen. Noch schwelte und
glomm erst das Feuer der Rebellion, noch loderte es nicht zur Flamme empor. Und Juan Díaz, der
fette Dominikanermönch, war mal bei dieser, mal bei jener flüsternden Gruppe zu sehen und blies
mit wulstigen Lippen in die Glut.
Am anderen Morgen ordnete Cortés an, die Pferde wieder an die Reiter zu gewöhnen. Er
ließ sie satteln und die Zügel anlegen, dann wurden erst kurze Ritte um das Lager gemacht, doch
bald schon ritten sie in Gruppen in die nähere Umgebung, übten Galopp, schnelles Anhalten, Aufund Abspringen; sie drehten Volten, ließen ihre Pferde sich aufbäumen, ahmten Zweikämpfe nach,
zwangen die Tiere über Hindernisse, lobten sie und tätschelten ihnen begütigend den Hals. Kurz,
Pferde und Reiter gewöhnten sich wieder aneinander, und bald waren sämtliche Tiere einsatzbereit.
*
Schon am Ostersonnabend hatten sich Indianer eingefunden, hatten Maisbrot, Truthähne, Gemüse und Kaktusfeigen überbracht als Geschenk des mexicanischen Statthalters, dessen baldigen
Besuch sie ankündigten. Auch hatten sie bereitwillig geholfen, die am Gründonnerstag flüchtig
gezimmerten Laubhütten auszubessern; ja, in emsiger Beflissenheit hatten sie sogar die Hütte des
Cortés mit einem Baumwolltuch überspannt, um den tlatoani, den großen Herrn, vor Sonnenstrahlen zu beschirmen.
Am Morgen des Ostersonntags, kurz vor Beginn der Messe, wurde von Wachtposten gemeldet,
zwei reich gekleidete Kaziken mit vielen Begleitern näherten sich dem Lager. Mit dem Wort »Kazike« bezeichneten die Kastilier sämtliche Indianer von Rang, mochten es Könige, Feldherrn und
Würdenträger hoch stehender Kulturvölker oder auch nur Häuptlinge wilder Stämme sein. Pinotl,
der Silberpuma, Statthalter der Provinz Roter Berg, und Teudile, der Gebundene Falke, ein
Steuererheber Moctezumas, waren die Besucher. In zwei mit kunstvollen Ornamenten verzierten
Sänften trugen sie ihre Sklaven durch die Gassen des Lagers, machten in der Mitte halt, entstiegen den Tragsesseln und schritten leicht wiegenden Ganges der Hütte mit der schwarzsamtenen
Standarte zu, wo Cortés, umgeben von den zehn kastilischen Offizieren, sie stehend erwartete.
Rechts: Die Geschichte der Eroberung Mexikos wurde nicht nur von europäischen, sondern viel häufiger
auch von aztekischen Künstlern dargestellt. Die nebenstehende Szene aus einer aztekischen Handschrift zeigt einen Spanier mit Kreuz, Fahne und
Schwert, der von einem indianischen Gesandten begrüßt wird. Darunter ein Text in aztekischer Bilderschrift.
Diademgeschmückt und mit hochragenden
Edelfederkronen, gepanzert in Harnische aus kleinen
Goldplatten und geziert mit juwelenflirrendem Brustschmuck, schlohweißen Schulterbinden und metallen glitzernden Prachtmänteln aus karminroten,
ockergelben und grasgrünen Kehldaunen von Kolibris, goldene Glöckchen an den Goldsandalen, und in
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den bemalten Händen den runden Fächer und den Krummstab, machten die zwei Würdenträger
einen befremdlichen und beklemmenden Eindruck auf das christliche Heer, das sich eben um den
Altar zur Messe versammelte. Hochmütig war der Gang, hochmütig das Gebaren, hochmütig die
Kleidung dieser ersten Boten einer neuen, unbezwingbaren Welt!
Doch Cortés ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. In lässiger Haltung, lebhaft mit seiner
Umgebung plaudernd und lachend, stand er da in seinem ein wenig verknüllten Wams aus Brokat,
dem nun die Goldborte fehlte. Dazu trug er schwarzseidene Kniehosen, weiße Strümpfe und
Schnallenschuhe. Sein Samtbarett war von der legendären Hahnenfeder geschmückt. Cortés, erst
vierunddreißig Jahre alt, war schlank, die ihm eigene geistige Überlegenheit maskierte er durch
eine stets gleich bleibende, gewinnende Freundlichkeit. Der hellbraune Vollbart verdeckte die untere Gesichtshälfte und mochte wohl auch ein Lauern um den Mundwinkel verbergen; der Bart jedoch überdeckte nicht die tiefe Schramme in der Unterlippe, ein Andenken an eines der zahllosen
Duelle, die Cortés, schönen Frauen zuliebe, in Altkastilien und auf Kuba hatte ausfechten müssen.
Die Kastilier warteten die Begrüßung der Mexica ab. Der Silberpuma und Teudile verbeugten
sich, berührten mit der rechten Hand die Erde und führten die Finger dann zur Stirn. Es war ihr
herkömmlicher Gruß. Cortés schritt auf die beiden zu und umarmte sie. Einen Augenblick schien
es, als wollte der indianische Statthalter der Umarmung ausweichen, doch mit kühler Haltung ertrug er die körperliche Berührung wie eine Zudringlichkeit. Den Hochmut ließ Cortés ihn sogleich
entgelten. Die Mexica waren gekommen, um ein politisches Gespräch zu führen. Doch kaum hatte
der Silberpuma seine wohlgesetzte Rede begonnen, fiel Cortés ihm ins Wort und forderte ihn
durch Zeichen auf, mit den Kavalieren, Soldaten, Dirnen und Marketendern an der heiligen Handlung teilzunehmen. Die Mexica waren auf solch einen Empfang nicht gefasst, fügten sich jedoch
mit herablassender Höflichkeit und stellten sich unter die Andächtigen vor den mit einem Kruzifix
geschmückten Altar.
Die Messe sang der Hieronymitenpater Bartolomé de Olmedo vom Kloster der Gnadenmutter De Nuestra Señora de la Merced in Havanna. Wenn auch mancher barmherzige Bruder zum
Hohn der barmherzigen Mutter unter die armen Heiden gezogen war – Pater Olmedo wahrlich
nicht. Mancher Teilnehmer dieses romantischen Kreuzzuges war mehr Zelot als er. Und redete
Olmedo als gehorsamer Sohn der spanischen Kirche bisweilen auch ihre finstere Sprache – seine
Taten waren immer menschlich. Bartolomé war ein Hüne. Bis an den Gürtelstrick der Kutte reichte
ihm der graugesprenkelte Bart. Mächtig wie sein Körperbau war seine Stimme; er wurde als vortrefflicher Sänger gerühmt. Predigte er, so hallte sein Bass weit über die Tore des Lagers hinaus.
Die Responsorien las der fette Dominikanermönch Juan Díaz mit den wulstigen Lippen. Und
als Messdiener, in spitzenverbrämten Röckchen, waltete der junge Kaplan Francisco López de
Gómera seines Amtes. In Ermangelung einer Orgel begleiteten der Tanzmeister Ortiz und der Musikus Rodrigo Morón die geistlichen Herren auf ihren Gitarren. Und Canillas, der schon in Italien
Tambour gewesen war, rührte die Trommel, um auf die mexicanischen Gäste Eindruck zu machen.
Die Predigt des Pater Olmedo nahm auch auf die Mexica Bezug: »Seht hier die verlorenen
Kinder des allgütigen Vaters«, rief er donnernd und mit ausdrucksvollen Armbewegungen. »Sie
gleißen in Gold und Smaragden wie die große Hure Babylon, die auf dem Tier daherritt und die
Schale göttlichen Zorns austrank. Arme, verblendete Götzenanbeter! Ihr wisst nicht, dass am Ostersonntag, heute vor bald tausend und fünfhundert Jahren, Er vom Tode auferstand, der am Freitag verblutet war, – eurethalben verblutet war, ja, eurethalben!« Die Mexica wussten es wirklich
nicht. Sie verstanden von der Predigt kein Wort und sahen auch nicht schuldbewusst aus.
Nach der Messe schob Cortés die Unterredung noch einmal auf. Er lud die beiden vornehmen Mexica zum Frühstück. Sein Leibkoch hatte einige der Truthähne gebraten, welche die Begleiter des Statthalters nebst Gemüse und gedörrten Fischen überbracht hatten.
Mit Verwunderung beobachtete Cortés, dass die kultivierten Mexica das Geflügel sauberer
mit den Händen zerlegten als Diego de Ordás, Cristóbal de Olíd und die anderen Kavaliere von
altkastilischem Adel. An den Weingläsern, die ihre Lippen berührt hatten, war kein Fettrand zu sehen wie beispielsweise am Glas des Don Alonso de Avila.
Der Statthalter befahl seinem Menschenmaler, die essenden Christen auf Pergament aus
Hirschhaut mit Zypressenharzfarbe abzubilden. Doch der Malaga mundete den Mexica, und sie
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tranken viel davon.
Endlich ließ Cortés La Lengua rufen, die Zunge, und kurz drauf trat die Indianerin Marina,
gefolgt vom Franziskaner Jerónimo de Aguilár, in die Laubhütte. Marina hatte erstaunlich schnell
Spanisch reden gelernt; jedoch noch nicht genug, um bei so wichtigem Anlass zu dolmetschen.
Dafür konnte sie sich als geborene Mexica elegant in Nahuatl ausdrücken, dem Idiom der Azteken,
und sie beherrschte überdies die einem anderen Sprachstamm angehörende Sprache der Maya,
der Bewohner Yucatáns. Und der Spanier Jerónimo de Aguilár hatte sich in siebenjähriger Gefangenschaft im Innern Yucatáns die Mayasprache angeeignet. Das Glück hatte Cortés in die Lage
versetzt, dank Marina auf die zweifelhaften Dienste von Julianillo und Melchorejo verzichten zu
können.
Marina war fünfzehn Jahre alt. Die Wächter des Meeres hatten nicht übertrieben, als sie
Moctezuma von ihr berichteten: das Mädchen Malintzín – so sprachen sie den Namen Marinas
nach – sei der Göttin der Blumen und der Liebe zu vergleichen, der Xochiquetzal. Sie war so
schön, dass sie, die doch nur eine Sklavin war, von den Soldaten ehrfürchtig Doña Marina genannt
wurde, wenngleich sie eine Sklavin war. Selbst Aguilár, den sein Sklavenhalter drei Tage lang einer Keuschheitsprüfung unterzogen hatte und der dank seiner Weiberscheu dem Opfertod entronnen war, senkte die brennenden Asketenaugen, wenn er mit ihr sprach, oder er blickte an ihr vorbei, um nicht der Versuchung des Teufels zu erliegen.
Nach und nach erst wurde sie Cortés’ Beraterin, seine Freundin, seine Führerin. Nach und
nach erst weckte ihre Glockenstimme im Goldsucher den Kreuzfahrer. Anfangs sah er nur das
zauberhafte Weib, die Geliebte, von denen er schon allzu viele besessen hatte. Doch als er sie
nach Jahren fortwarf, sollte ihn auch sein Glück verlassen...
Welchen Wert Marina für die spanischen Desperados als Dolmetscherin hatte, erkannte man
erst beim Besuch der Wächter des Meeres auf den Schiffen. Es stellte sich heraus, dass weder
Aguilár noch Julianillo und Melchorejo die Sprache der Mexica verstanden. Da aber meldete sich
Marina. Sie übertrug die Worte der Mexica ins Maya, und Aguilár übertrug sie aus dem Maya ins
Spanische. Damit war der Riegel des Nichtverstehens fortgeschoben; durch den Mund Marinas
konnte sich nun auch Cortés mit dem mexicanischen Statthalter verständigen.
*
Auf der Universität Salamanca hatte Cortés einst nicht nur Weintavernen und die Wohnungen freier Damen besucht. Auch mit Poesie und Rhetorik hatte er sich befasst, bevor er seine militärischen Talente entdeckte. Seit jener Studentenzeit war seine Zunge ein glatt geschliffenes Rapier
und sollte ihm noch zu so manchem Sieg verhelfen. Sein Redestrom floss leicht dahin, mäanderte
durch die Argumente, verließ aber niemals das Bett des zielgerichteten Stromes. Ohne Stocken
und mit leicht zurückgeworfenem Kopf, setzte er dem Statthalter auseinander, warum das christliche Heer solche Sehnsucht hatte, die schöne Stadt Mexico zu sehen. Sie seien als Boten des
mächtigsten Kaisers der Welt ausgesandt, Don Carlos von Brabant, Kastilien, Aragon und beider
Sizilien, Erzherzog von Austria, Herzog von Burgund und Graf von Flandria und Tyrolia. Er herrsche über el mayor parte del mundo; alle Länder des Ostens seien ihm untertan, übertrieb er
schamlos, und sie, die Spanier, seien ausgesandt, weil der König vom Fürsten der Azteken, Moctezuma, vernommen und in seiner Gnade beschlossen habe, ihn sich zum Freund zu machen und
ihm eine Nachricht von großer Bedeutung für das mexicanische Reich durch seinen kaiserlichen
Gesandten Hernándo Cortés Auge in Auge zu überbringen. Am Schluss seiner Rede forderte Cortés den Statthalter auf, ihn und sein Heer unverzüglich vor Moctezuma zu führen.
Marina übersetzte: »Mein Herr sagt, er sei aus dem Sonnenland des Ostens gekommen, wie
es vor Zeiten verkündet wurde. Dort herrsche sein Herr, Don Carlos, der größte Kaiser des Ostens; alle Länder liegen vor ihm im Staub und leisten ihm Tribut. Mein Herr hat den Auftrag, König
Moctezuma in Freundschaft aufzusuchen und ihm eine außergewöhnliche und bedeutungsvolle
Mitteilung dieses Herrschers zu machen.«
Die Antwort des Mexicas entsprach dem aufrechten Stolz eines alten Kulturvolks, der durch
das taktlose Ansinnen dieses Abenteurers verletzt worden war. Der Silberpuma sagte: »Erst zwei
Tage bist du im Lande und willst schon den Huei-Tlatoani Moctezuma sehen? Es genügt
vollkommen, wenn du seine Geschenke siehst und sie deinem Herrn überbringst.«
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Jedes wertvolle Schmuckstück, das die
Spanier von den Küstenindianern erhielten, bestärkte sie nur in ihrem
Glauben, daß sie im Innern des Landes
noch größere Reichtümer erwarteten.
Auf dem Bild unten erhält Cortez von
einer Eingeborenengesandtschaft ein
prächtiges Perlenhalsband.
Darauf winkte der Statthalter seinen Begleitern und ließ eine mit Geschenken gefüllte Truhe
herbeischaffen. Außerhalb der Baracke breiteten die Lastträger des Statthalters auf einer Matte,
die über den Sandboden gerollt war, die Gaben aus: Edelsteine in kunstreicher Goldfassung, bunt
gemustertes Baumwollgewebe und mit Golddraht gebundene Büschel kostbarer Federn.
Die Gaben stammten nicht aus Moctezumas Schatzhäusern. Der Statthalter hatte sich damit
begnügt, der eigenen Kleiderkammer ein paar entbehrliche Schmuckstücke und Stoffe zu entnehmen. Doch für die Spanier war es ein unvorstellbar wertvoller Schatz. Nur Cortés hatte Mühe, seinen Ärger mit hochtrabenden Dankesworten und zur Schau getragener Freude zu bemänteln.
Wenn der Kazike glaubte, durch Bestechung seine Abreise erkaufen und ihn, Hernándo Cortés,
von seinem Ziel abbringen zu können, sollte er sich täuschen! Jetzt galt es, Zeit zu gewinnen.
Durch Marina und Aguilár ließ er dem Statthalter sagen: Auch der Herr des Ostens habe
Gaben gesandt für den Herrn des Westens. Dann befahl er seinem Haushofmeister Simon de
Cuenca, die bereitgehaltenen Geschenke zu bringen. Es war ein Lehnstuhl mit einer
Abruzzenlandschaft auf der Rückenlehne – gute Florentiner Intarsienarbeit (nur schade, dass ein
Bein des Sessels abgebrochen und eben erst notdürftig vom Zimmermann Cristóbal de Jaén angeleimt worden war). Ferner ein geschliffener Aquamarin, in ein mit Levantiner Rosenöl parfümiertes Spitzentuch gewickelt, und schließlich eine Schnur blauer Glasperlen und eine karmesinrote
Nachthaube nach Art der Dogenmützen, an welcher ein emailliertes Heiligenbild von Dukatengröße befestigt war, das den heiligen Georg mit dem Drachen zeigte.
»Dies alles sendet mein kaiserlicher Herr dem König Moctezuma«, sagte Cortés. »Überbringe ihm die Kleinodien und frage ihn, wann er mich empfangen will, auf diesem Thron und gekrönt
mit dieser unschätzbaren Krone.«
Der Austausch der Geschenke hatte viel Neugierige angelockt. In ehrfurchtsvoller Entfernung bildeten die Soldaten einen Halbkreis um die Feldobristen und ihre Gäste. Nach den letzten
Worten des Cortés drängte sich plötzlich der Possenreißer Cervantes durch die Zuschauermenge.
Er war klein, bucklig, und seine Hühnerbrust sprang wie ein Schiffsschnabel vor. Nie verlor sein
rasiertes, überlanges Gesicht den schwermütigen Ausdruck eines krähenden Hahnes. Blitzschnell,
sodass niemand ihn hindern konnte, stellte er sich dicht vor die Mexica und kreischte aus Leibeskräften:
»Man schickt euch zum Hohn,
Einen wackligen Thron
Und die falsche Pracht
einer Mütze der Nacht.
Er wird auch mit Lügen
Den König betrügen!
Sollt’ nicht auf ihn hören!
Er wird euch zerstören,
Kein Kaiser hat ihn gesandt,
Das liegt auf der Hand...«
Weiter kam er nicht. Ein junger schmucker Fähnrich, Bernal Díaz del Castillo, von seinen
Waffengenossen »der Ritterliche« genannt, hatte den Spaßmacher am Kragen gepackt und in den
Sand geworfen. Er blickte Cortés fragend an.
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»Soll ich ihn peitschen lassen?«
»Nein«, sprach Cortés. »Ein Hanswurst kann mich nicht kränken.«
Der Silberpuma wandte sich an Marina. »Was hat dieser Krieger gesagt?«, fragte er.
»Es ist ein umnachteter Zauberer«, antwortete Marina. »Er hat geweissagt.« Geisteskranke
galten den Indianern als unantastbar, da aus ihrem Mund die Götter sprachen.
»Was hat er prophezeit?«
»Dass Moctezuma meinen Herrn empfangen wird.«
Der Statthalter überlegte. Dann beriet er sich flüsternd mit dem Steuererheber. Den Wert
oder Unwert des Sessels und der roten Nachtmütze vermochten sie nicht zu bemessen. Die Glasperlen schienen Juwelen zu sein. Dem Großkönig solche Schätze und ihres Überbringers kühn
gefordertes Verlangen zu unterschlagen, wäre ein todwürdiges Verbrechen.
»Ich bin Moctezumas Sklave«, sagte der Statthalter zu Marina. »Sag deinem Herrn, ich werde die Geschenke vor das Angesicht meines Huei-Tlatoani tragen. Mag sein Mund entscheiden,
ob Malinche vor ihn treten darf.«
»Mein Herr wird Moctezuma aufsuchen!«, antwortete Marina mit Bestimmtheit.
»Warum bist du so sicher?«
»Weil aus dem Zauberer die Zukunft sprach.«
Der Silberpuma wollte noch etwas wissen: »Was war das für ein Zauber vorhin? Die
Demütigkeiten der Krieger des Ostens vor dem Kreuz und ihre Gesänge, das Gebrüll des großen
Mannes im härenen Gewand und der Gesang des dicken Magiers? Warum räucherten sie das
Kreuz an, und warum fielen dabei alle auf die Knie? «
»Sie beteten zu ihrem Gott.«
»Quetzalcoatl? Das Kreuz war auch sein Zeichen! Was gab ihnen der Zauberer zu essen?«
»Sie essen vom Leib ihres Gottes.«
»Sie essen vom Leib ihres Gottes?« Pinotl verlor vor Staunen beinahe seine würdevolle
Fassung. »Wir opfern unseren Göttern die Leiber der Menschen! Tun sie das nicht?«
»Nein, sie lehnen das Menschenopfer ab.«
»Und was trank der große Zauberer aus dem goldenen Glas?«
»Das goldene Glas nennen sie ›Kelch‹. Er trank vom Blut ihres Gottes.«
»Blut ihres Gottes? Seltsam! Unsere Götter verlangen das Blut der Menschen!«
Cortés hatte mit wachsender Ungeduld dem Wortwechsel gelauscht. »Was hat er gesagt?«,
fragte er nun den Frater.
Marina antwortete Aguilár: »Er will die Nachrichten und Geschenke Malinches aus dem Land
des Sonnenaufgangs seinem Huei-Tlatoani überbringen und getreulich berichten, was er von Euch
erfahren hat.«
»Was heißt Huei-Tlatoani?«
»Es bedeutet ›Ehrwürdiger Sprecher‹ und ist ein Ehrentitel Moctezumas, des Zornigen
Herrn.«
»Des Zornigen Herrn?«
»Moctezuma bedeutet ›Zorniger Herr‹.«
»Und was heißt Malinche?«
Röte breitete sich auf Marinas Wangen aus. »Das bedeutet ›Gebieter Marinas‹.«
Aguilár zögerte. »Hat er das gesagt?«, fragte er Marina.
Sie bemerkte sein Misstrauen. »So waren seine Worte!«
Cortés fragte ungeduldig: »Was habt ihr da zu reden? Übersetzt endlich!«
»Sie sagt, ›Malinche‹ bedeute ›Gebieter Marinas‹.« Aguilars Augen glänzten fiebrig. »Aber
ich weiß nicht, ob man ihren Übersetzungen trauen darf.«
Sieh an, dachte Cortés, der Bruder Mönch ist eifersüchtig! Nun hat Marina schon einen Stellenwert in unserem Schachspiel – und ich habe einen Namen.
Cortés wollte die Gäste nicht ziehen lassen, ohne ihnen einen Begriff von der Vernichtungskraft europäischer Kriegswaffen zu geben. Der Menschenmaler hatte nur friedliche Genrebilder auf
das Hirschhautpergament gemalt: die heilige Handlung vor dem Altar mit Gitarrebegleitung, das
Mittagsmahl in der Laubhütte, die Darbietung der Gaben sowie Bildnisse der elf Feldobristen und
der Malintzín. Jetzt aber sollte er bewegte Manöverszenen malen, damit Moctezuma, wenn er sie
zu Gesicht bekäme, es sich wohl überlege, einem so unüberwindlichen Kriegsführer Wünsche abzuschlagen. Schon beim Essen hatte Cortés seinem Stallmeister Martín de Gamba den Auftrag
erteilt, Romo zu satteln und dafür Sorge zu tragen, dass auch die übrigen Pferde des Heeres be-
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reitstünden.
»Meine Herren«, sagte er zu den Hauptleuten, »wir wollen den Kaziken unsere Reitkünste
vorführen und ihnen zeigen, wie kastilische Ritter zu stürmen vermögen. Bei der Gelegenheit können wir feststellen, wer von uns am besten im Sattel sitzt.«
Die Kavalkade bestand aus fünfzehn Reitern. Cortés wollte seinem Romo einen Ehrentag
bereiten. Aussicht auf den Preis hatten aber auch die Fuchsstute des Alvarado – feurig wie ihre
Farbe –, sowie der Hellbraune des Cristóbal de Olíd und der Grauschimmel von Juan Velásquez
de León, ein riesenhaftes Tier, »Stumpfschwanz« genannt. Die anderen Pferde taugten nicht viel,
wenn auch der Tanzlehrer Ortiz versicherte, sein Klepper, der Rotfuchs, könne fliegen wie Pegasus.
Der von Trompetenfanfaren und Musketenschüssen begleitete Sturmangriff auf den unsichtbaren Feind am Meeresufer war eine Überraschung, nicht nur für die zuschauenden Mexica.
Durchs Ziel – zwei leere Weinfässer – lief Romo als Dritter, Stumpfschwanz sogar als Achter. Der
Rotfuchs hatte vor einem toten Tintenfisch gescheut und den Tanzmeister im hohen Bogen ins
Meer geworfen. Sieger war der Fähnrich Gonzalo de Sandoval auf seinem dunkelbraunen Hengst
Motilla.
Sandoval war erst zweiundzwanzig Jahre alt und der geborene Reiter; er war zwar nicht
groß von Gestalt, jedoch muskulös und breitschultrig, und hatte leicht gekrümmte Beine. Ein kleiner herabhängender Schnurrbart zierte das breite, stets ernste Gesicht. Cortés hatte die Schriften
des Plutarch und anderer Klassiker auf die Reise mitgenommen und kannte die Namen seiner
fünfhundertundfünfzig Begleiter. Von vielen aber wusste er kaum mehr als den Namen. Doch was
Sandoval betraf, wusste Cortés, dass er aus seinem Heimatort stammte, aus Medellín.
»Ich beglückwünsche Euch, Sandoval!«, sagte Cortés.
Sandoval stotterte oft, wenn er verlegen oder aufgeregt war. Er errötete und tätschelte verlegen sein Pferd. Dann sagte er stockend: »Motilla... ist ein gu... gutes Pferd.«
»Und Ihr ein guter Reiter. Ihr reitet besser, als Ihr sprecht. Ich ernenne Euch zum Capitán!«
Der aztekische Menschenmaler, der – wie alle Indianer – in seinem Leben noch nie ein Pferd
gesehen hatte, zeichnete mit leuchtenden Farben wild umherspringende Ungeheuer auf das
Hirschhautpergament: bis zum Nabel Menschen, unterhalb des Nabels Tiere. Er vergaß auch nicht
den hohen Flug des Tanzmeisters von Rücken eines dieser Ungeheuer.
Inzwischen hatten die Artilleristen mehrere der langen Kartaunen auf die Spitze der vierzig
Fuß hohen Düne geschafft. Als die Singende Nachtigall zu brüllen begann, verloren selbst der
Statthalter und der Steuererheber ihre würdevolle Fassung. Sie fielen zu Boden, husteten, niesten
und erstickten fast im ungewohnten Pulverdampf. Steinkugeln, groß wie Kinderköpfe, schwirrten
zischend über die verängstigten Mexica hinweg in den nahen Wald und knickten dort einige Bäume.
Mit Genugtuung sah Cortés, dass die erhoffte Wirkung nicht ausblieb. Das Erschrecken der
Mexica war offensichtlich, wie sehr sie sich auch zu steinerner Ruhe zwangen. Der Menschenmaler, der eben erst Fabelwesen, Dämonen mit Menschenleib und Tierbeinen, aufs Pergament gemalt hatte, musste jetzt das Übermenschliche malen, die geistverstörenden, grauenhaften Zauberkräfte der Sonnensöhne. Ratlos stand er da, als man die Gäste an den Waldrand geführt hatte: Sie
sollten die vernichtende Macht der Zauberei bewundern. Cortés zeigte ihnen einen Baum, dem
eine Steinkugel die Krone weggerissen hatte.
»Hat Moctezuma so furchtbare Waffen?«, ließ er durch Marina und Aguilár den Silberpuma
fragen.
»Nein«, erwiderte der. »Wir haben nur hölzerne Schwerter, gefiederte Pfeile und Speere.
Doch ein mexicanisches Schwert vermag das auch.«
»Das möchte ich sehen!«, rief Cortés.
Der Statthalter winkte einem seiner bewaffneten Begleiter. Es war ein schildtragender Krieger mit einem habichtgroßen, stilisierten Schmetterling aus Federmosaik an den Schultern. In den
Händen hielt er außer dem bunt bemalten Schild das gefährliche Sägeschwert der Azteken. Zwar
war es nur aus Holz, doch an beiden Schneiden waren Obsidianspitzen eingelassen, scharf wie
Rasiermesser.
Auf Befehl des Statthalters durchschnitt der Krieger den Baumstamm mit einem einzigen
Hieb. Da staunten die stolzen Kastilier. »Solch ein Säbel durchschneidet einen Stahlpanzer wie
Butter«, bemerkte der stets spöttische Francisco de Lugo ein wenig beklommen. Nur die elf Offiziere besaßen Harnische. Die anderen Landsknechte der Expedition hatten sich mit wattierten
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Schutzröcken versehen, wie man sie auf den Inseln Haiti und Kuba trug, zur Abwehr von Pfeilen
nackter Wilder.
»Habt Ihr den Verstand verloren, Don Hernándo?«, platzte der verträumte und stets melancholische Diego de Ordás heraus. »Wollt Ihr mit so trefflich bewaffneten Leuten Händel suchen?
Das ist Narretei!«
»Wenn Ihr glaubt, an Moctezumas Tafelfreuden teilnehmen zu müssen«, sagte der ungeschlachte Alonso de Avila, »so reitet allein hin mit Eurem Romo! Guten Appetit! Ich prophezeie
Euch, Ihr kommt nicht weiter als bis zur nächsten Stadtmauer. Aber setzt gefälligst Eure Kameraden nicht der Gefahr aus, als Rostbraten in der Küche des Mexicakönigs zu schmoren.«
»Ich dachte, Don Diego«, sagte Cortés, ohne Avila zu beachten, »ein Ritter wie Ihr fürchtet
weder Tod noch Teufel.«
»Válgame Dios! Ich fürchte weder den Teufel noch seine Großmutter! Aber dieser Moctezuma scheint hunderttausend Teufel zu haben. Übrigens – dort, den roten Satan, der den Baum geköpft hat, wie kein Henker es besser macht –, werde ich zum Zweikampf fordern!«
»Und was wollt Ihr mit dem Teufelsurteil beweisen?«, fragte Alvarado.
Ordás blieb die Antwort schuldig. Cortés ließ ihn gewähren, obgleich der Vorschlag des
Zweikampfs nichts als ein törichter, grillenhafter Einfall war. Marina musste die großspurige Herausforderung des Ordás, die Aguilár ihr vorsprach, den verdutzt dreinschauenden Mexica übersetzen. Der junge Krieger mit dem großen Falter auf dem Rücken schien nicht übel Lust zu haben,
seine Haut zu Markt zu tragen. Doch die Besonnenheit des Silberpumas vereitelte das unsinnige
Duell. Noch benommen vom Pulverdampf und Getöse der Singenden Nachtigall, war der Statthalter sich bewusst, dass er Nachrichten – ungeheure Schreckensnachrichten – nach Tenochtitlán zu
tragen habe. Er wollte nicht auch noch Überbringer der betrübenden Kunde sein, dass schon ein
Waffengang stattgefunden habe. Mit artigen Worten lehnte er ab. Es sei Zeit, aufzubrechen. Er
habe Eile, die Geschenke und die Botschaft dem Zornigen Herrn vorzulegen.
Man war ins Lager zurückgekehrt. Die Träger standen mit den Sänften bereit. Der Sessel,
der parfümierte Aquamarin, die Glasperlen und die karmesinrote Tuchmütze mit dem emaillierten
Drachenkämpfer wurden sorgfältig verpackt. Noch fehlten drei Schildträger von der Gefolgschaft
des Statthalters. Man musste nach ihnen suchen.
Kastilische Soldaten hatten sich an sie herangemacht und einen Tauschhandel mit ihnen
begonnen. Ohne Dolmetscher, nur durch die Sprache der Finger und Augen, hatten sie einander
verstanden und sogar Freundschaft geschlossen. Arm in Arm war man schließlich zur Marketenderlaube der Goldhyazinte gewandert, um mit erhitzendem Portwein auf die Verbrüderung des
kastilischen und aztekischen Volkes zu trinken. Dort wurden die Gesuchten gefunden. Schuldbewusst kamen sie jetzt auf den freien Platz vor die Hütte mit der schwarzen Standarte. Den drei
Mexica, die an den einheimischen Rauschtrank Pulque gewöhnt waren, hatte der spanische Wein
nicht sonderlich geschadet; nur dass sie Barette statt der Federbüsche auf den harzigen Strähnen
trugen. Dafür prangte Mansilla der Durstige in einer Federkrone; der schönhändige Lope Cano
schwenkte ein mexicanisches Sägeschwert, verlor das Gleichgewicht und stolperte bei jedem
Schritt; Pedro Baracoa schließlich, der Aufschneider, angetan mit einem Lendenschurz, den er
über die Pluderhosen gestreift hatte wie eine Badehose, erzählte den mexicanischen Kriegern seine alten Geschichten von Don Pedro Jirón und dem Grafen von Urueña. Am tollsten aber benahm
sich die junge Mulattin Beatriz de Acevedo. Sie hatte einem der Mexica auf dem Schoß gesessen
und aus seinem Glas getrunken, nun trug sie sein Nasengehänge als Ohrring, rollte dem Statthalter betrunken vor die Füße und übergab sich, wobei sie des stolzen Herrn Goldsandalen beschmutzte.
Der Statthalter fragte liebenswürdig: »Ist die Blume des Ostens krank?«
Cortés ließ durch Marina und Aguilár antworten: »Die junge Frau leidet an der Krankheit des
Meeres, weil sie lange auf der See gefahren ist. Wir alle leiden an dieser Krankheit.«
Der Statthalter drückte in bildreichen Wendungen sein Bedauern über die Leiden aus. Cortés
fuhr fort: »Es gibt nur ein Heilmittel gegen diese schreckliche Krankheit. Aber die Medizin ist hier
auf den Sandhügeln schwer erhältlich. Wenn Moctezuma Freundschaft hegt für uns und unsern
kaiserlichen Herrn Don Carlos, soll er uns viel von der Medizin gegen die Seekrankheit senden.«
»Wie heißt die Medizin?«, fragte der Statthalter.
Und Cortés antwortete: »Gold!«
Zu den seltsamsten Gestalten des Abenteurerheeres gehörte ein Soldat, der in der vordersten Reihe der Umstehenden stand. Er war noch ziemlich jung und ungewöhnlich schön. In vier
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Sprachen – spanisch, italienisch, französisch und lateinisch – konnte er sich gewandt ausdrücken.
Er musste von hoher Herkunft sei, doch ihm fehlte die rechte Hand. Und er machte kein Hehl daraus, dass ein Henker sie ihm auf dem Block eines Blutgerüsts zur Strafe für ein schweres Vergehen abgeschlagen hatte. Sonst aber behielt er das Rätsel seines Schicksals für sich. Einen Namen
hatte er nicht. Darum hieß er bei den Waffengenossen »der Namenlose«. Er selbst nannte sich so.
Wusste man auch nicht, woher er kam, so war doch eins gewiss: Er musste an den Kämpfen in
Italien teilgenommen haben, denn er trug einen in Italien geschmiedeten Degen, und seine Sturmhaube unterschied sich von den Eisenhüten der Kastilier: Sie war aus Bronze, gute Schmiedearbeit, verziert mit einem geflügelten Drachen.
Der Silberpuma starrte mit weit aufgerissenen Augen die Sturmhaube an. Dann fragte er, ob
er sie mit nach Mexico tragen dürfe, um sie Moctezuma zu zeigen.
Cortés rief den Namenlosen heran. Ohne Widerrede stellte der ihm die Sturmhaube zur Verfügung. Cortés reichte sie dem Statthalter und sagte: »Unter der Bedingung, dass Moctezuma mir
diesen Helm bis an den Rand mit Gold gefüllt zurücksendet, gebe ich ihn dir mit. Aber erkläre mir,
warum du glaubst, dass der Anblick dieses Helmes Moctezuma Freude bereiten wird.«
Der Silberpuma gab zur Antwort: »Nicht nur was Freude bereitet, ist gut zu sehen. Einen
Helm wie diesen trug Unser Herr Quetzalcoatl, als er auf der Erde wandelte. In seinem Tempel
bewahrt man das alte Waffengeschmeide auf. Moctezuma wird die beiden Helme vergleichen, um
festzustellen, ob Ihr die Enkel seid, von denen Unser Herr geweissagt hat.«
Cortés konnte die Bedeutung dieser dunklen Worte nicht ermessen. Der Silberpuma dagegen hatte genug verstanden. Es gab ein Heilmittel, die Söhne der Sonne gefügig zu machen: Gold,
viel Gold! Den Schreckensnachrichten, die er Moctezuma zu melden hatte, konnte er wenigstens
diesen Trost beifügen. Denn in Tenochtitlán mangelte es nicht an dem Metall, das man hier Götterkot nannte.
Eilig verließen der Statthalter und sein Stab das Lager.
*
Ohne sich Ruhe zu gönnen, legte der Silberpuma den weiten Weg nach Tenochtitlán zurück. Als
er im Großen Palast anlangte, war es Mitternacht. Der Zornige Herr schlief. Der Silberpuma ließ
den Vorsteher des Hauses der Teppiche rufen und bestand darauf, dass Moctezuma geweckt
werde.
Moctezuma erwachte aus schrecklichen Träumen zur schrecklicheren Wirklichkeit. Unerhörtes musste geschehen sein, dass man ihn um diese Stunde weckte! Der Gottkönig erinnerte sich,
wie er vor Jahresfrist schon einmal gestört wurde, als ein Schnellläufer zum ersten Male Kunde
von den Wasserhäusern vor seinen Thron trug. Dunkle Ahnungen beschlichen ihn, erfüllten seine
Seele mit Beklemmung und verursachten ihm Herzklopfen. In seinem engen runden Schlafgemach
wollte er die Nachrichten des Statthalters nicht entgegennehmen. Der Vorsteher des Hauses der
Teppiche musste daher den Silberpuma und seine Begleiter in den Saal der Botschaften führen.
Inzwischen ließ Moctezuma ein Prunkkleid, auf das Totenschädel gestickt waren, von seinen Sklaven bringen. Festlich gewandet, in funkelndem Schmuck, begab er sich in den Saal der Botschaften und nahm auf dem Silberthron unter dem Baldachin aus Adlerdaunen Platz. Neben ihn stellten
sich sein Kanzler Weiblicher Zwilling und der schweigsame Feldherr Sengende Glut.
Kienfackeln, von Haus-Erleuchtern gehalten, füllten den weiten Saal mit Rauchstreifen.
Schummrig erhellt vom hüpfenden Flammenschimmer tauchten die blank polierten Götzenskulpturen der Jaspiswände wie aus Nebelfernen auf. Nicht weniger geisterhaft schwebten und wogten
die Menschen im gaukelnden Feuerschein.
Moctezuma hatte Befehl erteilt, fünf gefangenen Huaxteca das Gesicht und den Körper mit
Kreide zu weißen. Die fünf wurden von schwarz gekleideten Opferpriestern hereingeführt, nackt,
schneeig, wie aus Alabaster gemeißelt. Das toll gewordene Licht konnte sich nicht genug tun, auf
den weißen Leibern zu tanzen. Auf die Marmorfliesen wurden die fünf nebeneinander zu Boden
gestoßen, die Obsidiandolche der Priester blitzten auf, und der Edelstein, das Herz, wurde ihnen
entrissen. Ihr Blut aber – aus den klaffenden Brüsten zischte es empor wie fünf rubinrote Fontänen
–, ihr Blut wurde auf Anordnung Moctezumas dem Statthalter übers Haupt gegossen; und ebenso
seinen Begleitern – dem Grausen zu Ehren, das sie erblickt hatten. »Denn ihr habt vor dem Ange-
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sicht der Götter geweilt«, sprach Moctezuma düster, »habt mit Göttern Reden gewechselt!«
Der Statthalter berichtete: »Ihre Kriegstracht und ihre Waffen sind ganz aus Eisen gemacht.
Sie kleiden sich ganz in Eisen, mit Eisen bedecken sie ihren Kopf, aus Eisen sind ihre Schwerter,
ihre Bogen, ihre Schilde und Lanzen. Sie werden von Hirschen auf dem Rücken getragen, wohin
sie wollen. Herr, auf diesen Hirschen sind sie so hoch wie Dächer. Ihr Körper ist ganz verborgen,
nur die Gesichter sind nicht bedeckt. Ihre Haut ist weiß, heller als die unsere. Ihr Haar ist gelb, bei
einigen schwarz. Sie haben auch gelbe Bärte, die Backenbärte sind gleichfalls gelb. Ihr Haar ist
gelockt, in glänzenden Strähnen. Ihre Hunde sind gewaltige Ungeheuer mit flachen Ohren und
langen, hängenden Zungen. Sie haben feurige gelbe Augen, die Funken sprühen und blitzen. Ihre
Bäuche sind flach wie Löffel, ihre Flanken lang und schmal. Sie sind wild und unermüdlich, springen hierhin und dahin, keuchen immerzu und lassen die Zunge hängen. Und gefleckt sind sie wie
der Jaguar.«
Erschrocken hörte der König auch davon, wie die Kanone brüllt, wie ihr Donner trifft, dass
man taub und ohnmächtig wird. Die Gesandten sagten: »Sie haben Feuerrohre. Ein Ding wie ein
Ball aus Stein fliegt aus ihrem Bauch heraus, sprüht Funken und regnet Feuer. Der Rauch stinkt
wie Schwefel oder fauliger Schlamm. Er macht den Kopf benommen, denn er dringt bis ins Hirn.
Wenn die Kugel den Berg trifft, spaltet er sich und birst in Stücke. Trifft sie den Baum, verweht er in
Splitter, als hätte ein Zauberer in seinem Innern ihn fortgeblasen.«
Moctezuma schwieg lange. »Sind sie Götter?«, fragte er dann beklommen.
»Zorniger Herr, sie essen die gleichen Speisen wie wir.«
»Sind sie Götter?«, wiederholte Moctezuma.
»Vielleicht sind sie Abgesandte eines großen Herrschers von jenseits des großen Wassers«,
gab der Statthalter zweifelnd zu bedenken.
»Und die Feuerrohre? Woher sollen Menschen so etwas haben?«
»Vielleicht sind sie Unsterbliche. Jedenfalls sind sie keine Götter, denn sie benehmen sich
nicht mit göttlicher Würde.«
»Und ihr Anführer? Ist er Quetzalcoatl, ›die Gefiederte Schlange‹, der vor langer Zeit übers
Ostmeer ging und nun zurückkommt? Will er uns unterwerfen und zu seinen Vasallen machen?«
»Er lehnt das Menschenopfer ab – so wie Quetzalcoatl. Sie sind weißhäutig – so wie Quetzalcoatl. Er trägt schwarze Kleidung. Schwarz ist auch eine der Farben Quetzalcoatls. Auf seiner
Standarte ist ein Kreuz zu sehen, viele seiner Männer haben Kreuze auf der Kleidung – und das
Kreuz ist auch ein Zeichen Quetzalcoatls. Und der Helm, den wir mit Götterkot füllen sollen –
Quetzalcoatl trug auch einen solchen. Vielleicht sind es teules, göttliche, aber böse Geister. Doch
auch das fällt mir schwer zu glauben.«
Moctezuma starrte seinen Gesandten an. »Warum sind die bärtigen Männer auf ihren Wasserhäusern zu uns gekommen?«
»Ihr Anführer sagt, er stehe im Dienst eines mächtigen Königs des Ostens, dem alle Völker
dort untertan seien und die ihm Tribut leisten müssten. Dieser König habe bedeutungsvolle Nachrichten und Geschenke für dich, o großer Huei-Tlatoani, und nur dir persönlich dürfe er sie überbringen. Er will nach Tenochtitlán vor dein erhabenes Angesicht ziehen.«
Moctezumas Blick irrte fiebrig über die Schulter des Silberpumas in unbestimmte Ferne. »Er
ist zurückgekehrt«, flüsterte er heiser. Die Weissagungen erfüllen sich. »Es gibt keine Handlung
ohne Vorbedeutung! Glaubst du das auch?«, fragte er den Statthalter.
Der Silberpuma antwortete mürrisch: »Nein, ich kann es nicht glauben, denn ich habe die
Fremden gesehen. Und gerochen. Sie stinken! Sie waschen sich kaum und schlafen in ihren Kleidern.« Sengende Glut dachte nach. Dann sagte er entschlossen: »Nein, es sind keine Götter.
Zwar verlangen sie ständig nach Götterkot, doch ihre Exkremente – verzeih, erhabener König –
sind wie die unseren, und sie scheißen auch wie wir.«
»Und ihr Anführer?«
»Auch ihr Anführer ist ein Mensch wie ich und andere. Ich nenne ihn ›Malinche‹ – Gebieter
der Malintzín, des Mädchens, die unsere Sprache redet und eine Frau aus unserem Volk ist.«
Der Statthalter zeigte das Hirschhautpergament seines Menschenmalers vor. Doch Moctezuma
warf kaum einen Blick auf die Malereien. Er sagte auch kein Wort. Er weinte. Tränen zu vergießen
war den Mexica kein Zeichen der Feigheit, sondern die Bezeugung tiefen seelischen Schmerzes.
Von unendlicher Trauer ergriffen wusste Moctezuma: Der Untergang seines Volkes war vorherbe-
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stimmt.
Niemand sprach mehr im niedrigen, lang gestreckten Palastsaal. Und die Tanzwut des Lichts wurde zum Fieberschauer; in rasenden Zuckungen und Sprüngen hüpften die Lichterschatten auf den
fünf mit silbriger Kreide und glühendem Blut getünchten Leichen.
4. Schilfrohr
»Ein Mann aus Cempoala, ein Häuptling des Hauses der Pfeile, hieß sie als Erster willkommen. Er sprach Náhuatl und diente ihnen als Führer. Er beriet sie, er zeigte ihnen die besten
Straßen und wies ihnen die kürzesten Wege.«
(Codex Florentino, Buch XII)
Der Steuererheber Teudile war nicht mit nach Tenochtitlán gereist. Am Ostermontag und den folgenden Tagen erschien er im Lager und ließ jedes Mal reichliche Mengen gedörrter Fische, Maisbrot, Gemüse und Obst abliefern. Das war den Spaniern umso mehr erwünscht, weil der weiße
Zwieback und das aus Kuba mitgebrachte Kassavebrot von Würmern wimmelten und das eingesalzene Fleisch verdorben war. Rodrigo Rangel hielt an Cortés folgende Ansprache:
»Unser Brot und das Fleisch sind ungenießbar. Leider steht fest, dass auch viele Menschen
ungenießbar sind. Freilich der Wurm im Sarg, Euer Liebden, hat keine feine Zunge und findet alle
Menschenkinder schmackhaft. Und auch die Mexica sind keine Feinschmecker: Sie bringen uns
Maisbrot und Zwergbohnen, um uns für kannibalische Gelage zu mästen. Sie wollen das Werk der
Moskitos vollenden, die uns schon halb aufgezehrt haben. Denn Mücken sind ungesittet, geschmacklos und gar nicht wählerisch. Sie finden den Buckel des Narren Cervantes ebenso genießbar wie die Rinderbrust Juan Garcías des Aufgeblasenen und den Hintern unseres Seemanns
Alvara aus Palos, der auf Kuba im Lauf von drei Jahren dreißig Kinder von dreißig Indianerinnen
bekam. Wahrlich, Euer Liebden, zu beneiden ist Galleguillo, der kleine Galicier, weil er kurz ist.
Seht, die hagere Rosario bietet mehr Angriffspunkte. Auch die vornehmen Kavaliere werden von
den blutgierigen Insekten nicht verschmäht; ihr blaues Blut ist offenbar so schmackhaft wie das
rote der gewöhnlichen Sterblichen. Bleiben wir hier auf den Sandhügeln, werden wir aufgefressen.
Also, um es kurz zu machen: entweder zurück auf die Schiffe ohne Proviant und Ruhmestaten,
oder geradewegs in den Urwald. Helden können Löwen und eine vielköpfige Hydra bewältigen –
aber kein menschliches Ungeziefer!« So sprach Rodrigo Rangel.
Mit den Offizieren Alvarado, Ordás, Lugo und Tapia unternahm Cortés einen Rekognoszierungsritt. Es stellte sich heraus, dass der Wald kein Urwald war, und dass sich Dörfer in unmittelbarer Nähe befanden. Indessen, dank der Fürsorge des Gebundenen Falken, fehlte es an den
Tafeln der Offiziere und kaiserlichen Regierungsbeamten vorderhand nicht an Lebensmitteln. Und
um im guten Einvernehmen mit den Mexica zu bleiben, untersagten die Offiziere ihren Soldaten
streng, in den Dorfschaften zu furagieren. Die armen Kerle mussten das Meer plündern; sie angelten, nährten sich von Austern und Krabben, kratzten sich und fluchten.
*
Eine Woche war so vergangen. Der Geist der Meuterei grinste unheimlicher denn je vom hohen
Galgen herab auf das Gewimmel unter der Mückenwolke; doch nach schlaflosen Nächten waren
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die hohläugigen Gestalten zu zerschlagen, ihrem Unmut lärmenden Ausdruck zu geben.
Da traf die lang erwartete Antwort Moctezumas ein. Der Großkönig hatte seinen schweigsamen Freund, den Feldherrn die Sengende Glut zum Gesandten ausersehen und ihm den Silberpuma als Berater beigegeben. Begleitet von viertausend Soldaten, nahte die Sengende Glut dem
Lager. Seine Krieger ließ er außerhalb; sie waren zu entbehren, denn die Sengende Glut führte die
Medizin bei sich, die sie überflüssig machte: Hundertundzwanzig Lastträger trugen Körbe und Kisten voll leichter Edelfedern und schwerem Götterkot durch die Tore und Gassen des Lagers bis vor
die Laubhütte mit der schwarzen Standarte.
Hatten sich neulich schon die Mexica hochfahrend gezeigt, benahmen sie sich jetzt erst
recht dünkelhaft. Der Tonfall von Sengende Glut war beim auffallend kurzen Besuch verletzend
kalt und stand in grellem Widerspruch zum Überschwang seiner Worte.
»Malinche«, sagte er, wobei er den starr melancholischen Ausdruck seines mit blauen Streifen bemalten Gesichts durch ein Lächeln verzerrte, »Euer Knecht Moctezuma, der sein Reich aus
seinem Palast inmitten des Wassers des Tezcocosees regiert, befahl mir, Euch zu sagen: Mit Jubel vernahm er die Kunde, dass er den mächtigen Fürst des Sonnenaufgangs zum Freund hat;
und Freude erfüllt ihn, dass die Abgesandten des großen Königs den Fuß wieder auf das Land
gesetzt haben, das ihr Eigentum ist. Wir tragen Geschenke für Unseren Herrn, den Fürsten des
Ostens, dargebracht von Eurem Knecht Moctezuma. Und wünscht Ihr mehr noch, sollt Ihr mehr
haben, damit Ihr es vor das Angesicht des Herrn des Sonnenaufgangs bringt, als Wahrzeichen der
Freude Eures Knechtes Moctezuma!«
Darauf ließ die Sengende Glut die Gaben auf Matten ausbreiten. Was da lag, war mehr, als
Goldsucher in verwegensten Phantasien sich hätten erträumen können. Viele Kastilier trauten ihren Augen nicht, rieben sich die Lider – gebannt, geblendet, aufgepeitscht vom Goldfieber. Hauptmann Don Alonso de Avila stand mit blutunterlaufenen Augen gekrümmt da, dumpf keuchend;
seine Kameraden mussten ihn an den Armen festhalten wie einen von Tobsucht befallenen Irren.
»Tretet weiter zurück, meine Herren!«, mahnte Cortés. »Ein Fünftel gehört Seiner Majestät.
Rechnungsführer Albornoz wird alles buchen.« Worauf Rechnungsführer Albornoz mit der Arbeit
begann, überwacht vom Schatzmeister Mejía und beglaubigt vom königlichen Notar Godoy. Der
junge Kaplan Fray López de Gómera ging ihnen als Schreiber zur Hand. Ihm fiel auf, dass die Herren Gold und Silber wohl zu schätzen und den Millionen übersteigenden Goldwert sachkundig zu
taxieren wussten. Den anderen Wert, den unschätzbaren, künstlerischen Wert, erkannten sie
nicht. Wozu auch? Gold wird umgeschmolzen und bleibt doch immer Gold. Völker werden umgeschmolzen, doch Gold bleibt Gold. Verloren gehen nur die Zeugnisse überwältigter Völker. Eine
Weile noch lebt die Erinnerung in ihren Kunsterzeugnissen, so wie das Meeresrauschen noch in
der Muschel wohnt; und dann, im Schmelzofen der Zeit, verdunsten sie – unwiederbringlich.
Unter den Geschenken waren Bilderhandschriften, heilige Ritualbücher, über und über mit
Zeichenschrift bedeckt, älteste Aufzeichnungen über den weißen Kreuzträger Quetzalcoatl. Eine
goldene Muschel erzählte von den Wundern des Meeres. Verloren, unwiederbringlich verloren!
Das kostbarste Geschenk war eine Scheibe aus gestanztem Gold, groß wie ein Wagenrad; darauf
war als gehämmertes Relief die Sonne dargestellt, und um die Sonne herum zogen sich die Sternbilder und der Tierkreis der Tolteken. Nach Meinung des Schatzmeisters Mejía hatte die Scheibe
einen Goldwert von zwanzigtausend Dukaten. Verloren, für immer verloren! Eine gleich große
Scheibe aus Silber stellte den Mond dar, umgeben von den Gestalten des Herrn der Morgenröte.
Man sah auch Tiere, naturgetreu aus Gold geformt, zwanzig goldene Enten und drei Leoparden
waren darunter. Selbst die Perlengewandung des Quetzalcoatl, die allein bei feierlichen Festen
dem Götterbild umgetan wurde, hatte Moctezuma hergegeben, wie auch des weißen Gottes Gesichtsmaske, über und über besetzt mit weißen und blauen Edelsteinen. Der Helm des Namenlosen war nicht vergessen worden. Bis an den Rand war er gefüllt mit Körnern reinsten Goldes. Den
Wert dieser Goldkörner allein berechnete Schatzmeister Mejía auf dreitausend Dukaten. Die
Schmelzöfen Spaniens sollten Arbeit bekommen.
Mit schwungvollen Worten erstattete Cortés seines Kaisers Dank. Der Herzensdrang des
Spaniers, den lieben Freund Moctezuma zu umarmen, war ins Unermessliche gestiegen.
»Wann will der König von Mexico mich empfangen?«, fragte er durch Marina und Aguilár.
»Nie«, antwortete die Sengende Glut. »Denn König Moctezuma ist krank und kann nicht ans
Meeresufer kommen.«
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»Ich habe nicht verlangt«, sagte Cortés bescheiden, »dass Moctezuma sich die Mühe macht.
Ich und mein Heer scheuen die Strapazen der Reise nicht und wollen ihm in seiner schönen Stadt
einen Besuch abstatten.«
Die schwermütigen Augen der Sengenden Glut schienen zu lachen.
»Schlag dir das aus dem Sinn, Malinche, lässt dir Moctezuma sagen. Denn zwanzig Sonnenläufe entfernt liegt Mexico-Tenochtitlán; unüberwindliche Gebirge ragen zwischen dem Meer und
dem großen Moctezuma; durch Wüsten führt der Weg, wo ihr vor Hunger und Durst umkommt. Die
Straße führt durch Länder, wo unbotmäßige Völker wohnen, Feinde der Mexica. Sie würden keinen von euch am Leben lassen, da ihr Freunde Moctezumas seid.«
Nach diesen Worten stiegen die Sengende Glut und der Silberpuma in ihre Sänften, ohne
den Kastiliern noch weiter ihr Ohr zu leihen. Und seither ließ sich kein Indianer mehr im kastilischen Lager blicken.
Wie vor Jahresfrist ließ Moctezuma in Tenochtitlán wieder jeden Tag einen Knaben opfern,
um mit des Himmels Segen die weißen Fremden in Ketten legen zu können, falls sie das Land
nicht verließen. Die weißen Sonnensöhne – so hatte er beschlossen – sollten zum Kinderzeugen
benutzt werden, bevor sie auf Altären verbluteten. Aztekische Frauen und Mädchen sollten Götterfrucht in ihrem Schoß austragen, und das Volk der Mexica sollte ein Volk von Göttern werden!
*
Die Indianer blieben fort, brachten keine Körbe voll Maisbrot und Gemüse mehr. Unter der brütenden Sonne waren die Lebensmittel zusammengeschmolzen. Dennoch untersagten die Offiziere
den Mannschaften noch immer, in den benachbarten Dörfern Furage zu holen. Der gute Freund
Moctezuma durfte nicht verstimmt werden.
Da schlich sich ein Soldat, Gregorio Burgueño, aus den Toren des Lagers. Als er nach mehreren Stunden zurückkam, trug er zwei gestohlene Truthähne unter dem Arm. Sein Hauptmann,
Alonso de Avila, erfuhr davon und verurteilte ihn zum Tod durch den Strang. Ohne Cortés in
Kenntnis zu setzen, ließ er die Strafe vollstrecken.
An diesem Tag hatte Alvarado einen Spazierritt unternommen, um seine hitzige Fuchsstute
ausgaloppieren zu lassen. Prachtvoll sah er auf dem Tier aus, denn Alvarado kleidete sich stets
sauber und mit ausgesuchtem Geschmack. Sein schlanker Körper schmiegte sich jeder Bewegung
des Rosses an, sodass ein Juwel, das er an einer Goldkette um den Hals trug, so gleichmäßig wie
ein Pendel schwang. Golden flossen ihm lange blonde Locken über die Schultern, golden umrahmte ein blonder, gestutzter Vollbart das gebräunte Gesicht, und hell leuchtete das Feuer seiner großen hellblauen Augen, dass schon die Wächter des Meeres beim ersten Besuch auf den Karavellen ihm den Namen Tonatiuh verliehen hatten, die Sonne, die er den indianischen Völkern bis an
sein Lebensende blieb – eine funkelnde, schöne, manchmal segenbringende, aber auch versengende, todbringende Sonne.
Die Kavalleristen Domínguez und Lares begleiteten Alvarado bei seinem Ausritt. Die drei
trabten erst am Meeresufer entlang, dann in den Wald hinein, aber gleich am Waldrand hörten sie
ein Rascheln, ein Knacken von Zweigen – und ganz in der Nähe sprang ein aufgescheuchter
Hirsch vor ihnen her und verschwand im Unterholz. Von Jagdlust gepackt, verfolgten sie ihn eine
Weile; doch die Spur ging verloren. Dafür bot sich ihnen auf einer Waldwiese ein unerwarteter Anblick – die Kleider eines Europäers: Wams, Hose, Stiefel, Hemd und Mütze hingen an den Ästen
eines Baumes.
Sprachlos vor Staunen hielten Alvarado und seine Begleiter ihre Pferde an. Gab es hier noch
andere Weiße? War einer aus dem Lager hergeschlichen? Oder war er ermordet worden? Und
von wem? Domínguez und Lares holten die Kleidungsstücke vom Baum herab und brachten sie
Alvarado.
»Jetzt weiß ich es!«, rief Domínguez, »Melchorejo, der grinsende Pavian, hat dieses Wams
getragen!«
»Der verschmitzte Schuft ist ein Überläufer, kein Zweifel!«, rief Lares. »Neulich, als die
Mexica kamen, habe ich beobachtet, wie der Kerl Fratzen schnitt und mit den Armen fuchtelte.«
»Er kann nur Maya, aber kein Wort Mexicanisch«, bemerkte Alvarado.
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»Seine Finger können Mexicanisch!«, rief Lares erregt. »Mit Fingern lässt sich verraten, wie
gering an Zahl wir sind und wo unser Lager sich erstürmen lässt.«
»Das ist kein gutes Zeichen – auch die Mexica sind spurlos verschwunden«, sagte Alvarado.
»Und es kann kein Zufall sein, dass Melchorejo gerade jetzt entfloh. Wir wollen es Cortés melden.
Nehmt die Kleider mit!«
Sie kehrten um. Als sie sich dem Lager näherten, sahen sie, dass der Galgen von Soldaten
umringt war. Und sie erkannten beim Näherkommen, dass Burgueño auf der Leiter stand; soeben
wurde sie ihm unter den Füßen weggezogen. Burgueño war ein wackerer, ein wenig einfältiger
Bursche, den Alvarado gut leiden mochte. Domínguez und Lares hatten kurz vor dem Ausritt von
dem Unglück Burgueños erfahren und konnten Alvarado über den Geflügeldiebstahl und des
Hauptmanns Avila hartes Urteil Auskunft geben.
Da drückte Alvarado seiner Stute die Sporen in den Bauch und galoppierte schnell heran,
sodass die Zuschauer auseinander wichen; während er unter dem Galgen hindurchsprengte, hieb
er mit dem Degen den Strick des Gehängten durch.
Burgueño war noch nicht tot, glaubte es aber zu sein. Nach dem dumpfen Fall in den Sand
erhob er sich rasch, bekreuzte sich und stierte entgeistert um sich. Das Paradies hatte er sich
ganz anders vorgestellt.
»Jesús Maria y José«, murmelte er fast bedauernd, »bin ich denn nicht tot?« Und er kniff
sich in die Wangen.
Die Umstehenden lachten. Dem wutschnaubenden Hauptmann Avila zum Trotz bildeten sie
jetzt eine lebende Schutzmauer um den Auferstandenen und übergaben ihn der Pflege des Physikus, wie der pedantische Apotheker des Heeres genannt wurde – Leonel de Cerro, ein verrückter
Sonderling, dessen schlummernder Wahnsinn von den Landsknechten für gelehrte Skurrilität gehalten und hingenommen wurde. Arm in Arm mit Burgueño zog er durch die Gassen des Lagers
und brüllte: »Selig sind die Toten! Die Toten sollen leben...!«
*
Die Tat Alvarados wurde als elegantes Reiterstück bewundert, brachte ihm aber auch Feinde. Zum
Beispiel den Büttel Pedro Escudero. Vor Jahren in Kuba hatte er Cortés in seinen Henkershänden
und musste ihn freilassen, weil Cortés sich bereit erklärte, mit der armen Verwandten des
Gobernadors Diego de Velásquez statt mit des Seilers Tochter Hochzeit zu halten. Obgleich
Escudero sich einmal geschworen hatte, nie wieder herauszugeben, was des Galgens war, musste er es nun doch zum zweiten Mal zulassen. Er und sein Freund, der fette Lizentiat Juan Díaz,
standen überflüssig und lächerlich auf dem Hochgericht – sie, die treuen Reisebegleiter des Delinquenten, der gewissenhafte Henker und der seelsorgende Priester! Die wulstigen Lippen des Lizentiaten waren rot und angeschwollen vor Ärger, wie die Kropfhäute eines Puters. Hatte er doch
Burgueño mit Zuspruch für die Fahrt ins läuternde Feuer versehen und ihm mehrere tausend Jahre
Ablass in Aussicht gestellt, wenn er sich unten gut führe. Jetzt musste er zusehen, wie man der
Hölle ihr Eigentum stahl.
Völlig außer Rand und Band aber gebärdete sich Alonso de Avila. Es brauchte ja nicht viel,
um den Dreiunddreißigjährigen wütend zu machen. Wie neulich beim Anblick des Goldes bekam
er wieder einen Tobsuchtsanfall. So beliebt Alvarado war, so verhasst war Avila bei Untergebenen
und Kameraden. Auch Cortés konnte seinen Widerwillen gegen diesen derben Patron nur mühsam
verbergen. Erbarmungslos hart gegen die Soldaten, war Avila auch im Umgang mit den Hauptleuten streitsüchtig, eitel und anmaßend. Nur beim Kriegsrat und im Schlachtgewühl erwies er sich als
brauchbar.
»Seid Ihr des Teufels?«, fuhr er Alvarado nun an. »Wollt Ihr, dass mein Degen Euch durchlöchert wie ein Sieb? Was untersteht Ihr Euch?«
»Ihr hängt einen braven Burschen«, entgegnete Alvarado, »weil er sich herausnahm, Hunger
zu haben. Ihr hängt ihn ohne Profos und ohne dass unser Befehlshaber Hernándo Cortés das Urteil gutgeheißen hat!«
»Unser Befehlshaber ist Seine Exzellenz Don Diego de Velásquez, Statthalter von Kuba!«,
schrie Avila. »Cortés ist nicht mehr als wir anderen Hauptleute!«
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Ein Wort gab das andere. Der Streit hatte eine andere Richtung genommen. Man zankte sich
nicht um die vereitelte Henkerei; der einfältige Truthahndieb war bald vergessen. Aber der Streit
um den Oberbefehl sollte nicht mehr zur Ruhe kommen.
Der Aufruhr wäre wohl schon an diesem Abend ausgebrochen, hätte nicht ein merkwürdiges
Ereignis die Erregung abgelenkt. Die Feldobristen Velásquez de León, Olíd, Ordás und Montejo
hatten sich offen auf die Seite Avilas gestellt. León, weil er der Neffe des Statthalters Diego de
Velásquez war; Olíd, ein einstiger Galeerensklave, weil... er hätte es selbst nicht sagen können;
vielleicht, weil er zufällig neben León stand, als der Streit ausbrach. Ordás, weil er sich langweilte.
Und Montejo – sonst vergnüglich und friedliebend –, weil er soeben an den berüchtigten Spieler
Lope Márquez über zweitausend Dukaten verloren hatte, fast seine gesamte Habe.
»Don Diego de Velásquez ist unser Befehlshaber!«, wurde geschrien. »Er hat uns nicht ausgeschickt, Länder zu erobern. Wir haben schon fünfunddreißig Mann verloren die meisten durch
Hunger. Cortés ist nicht bei Sinnen, wenn er daran denkt, mit der kleinen Mannschaft und ohne
Lebensmittel sich in dieses mächtige Reich hineinzuwagen. Die Flucht Melchorejos beweist, dass
die Mexica Böses im Schilde führen. Diego de Velásquez gab uns nicht den Auftrag, einen Krieg
zu fechten; nur Gold sollten wir sammeln. Wir wollen nach Kuba zurück, Moctezumas Geschenke
heimbringen - damit ist unser Auftrag erfüllt!«
Sie brüllten durcheinander, und die Worte der Offiziere fanden ein lautes Echo bei den
Mannschaften. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die gelbe Scheibe des Mondes
schimmerte am fremden Horizont. Doch im Frieden des Abends wuchs die Empörung weiter.
Kaum einer legte sich zur Ruhe, die Laubhütten blieben leer. In Gruppen standen Gleichgesinnte
zusammen – hier Cortés, dort Diego de Velásquez! Man fasste Beschlüsse, konspirierte, schwor
Tod und Rache. Auch die Seeleute mischten sich ein, vor allem die Steuermänner, Schiffsmeister
und Matrosen. Sie waren entrüstet, dass sie Infanteriedienst leisten sollten, und sie verziehen es
Cortés nicht, dass er zwei von ihnen nach Kriegsrecht bestraft hatte. Nur der Seemann Alvaro aus
Palos, der in drei Jahren dreißig Kinder von dreißig Indianerinnen bekommen hatte, setzte Hoffnungen auf Mexico.
Unter den Anhängern des Velásquez sah man auch Jacobo Hurtado, der Krösus des Heeres, hatte nicht nur ein Schiff ausgerüstet, er besaß auch eine Mutterstute samt einem bei der
Landung geworfenen Fohlen, ferner einen Negersklaven – und jeder wusste, dass Pferde und Negersklaven in Kuba unerschwinglich waren. Kein Wunder, dass er Heimweh hatte nach seiner
schattigen Hazienda in La Havanna. Aber auch Leute, die nichts zu verlieren hatten, erwärmten
sich für den Statthalter Kubas. Ein gewisser Tarifa aus Sevilla, ein dummer Schwätzer mit dem
Spitznamen de los servicios, der Dienstbeflissene, deklamierte jedem, der es hören wollte, welch
schweren Dienst er für jämmerlichen Kupfersold leiste. Juan García der Aufgeblasene fand, seine
Leistungen würden nicht ausreichend gewürdigt. Auch Flores, der rothaarige Sänger, war unter
den Schreiern, weil seine schöne Stimme gern andere übertönte. Luis Paredes, ein ungeschliffener Grobian, liebte den Krakeel um des Krakeels willen. Und Domenico Mejía Hinojora, der Enkel
der Räuberin Mejía (in den Zeiten des Königs Don Juan war sie der Schrecken Spaniens gewesen), entsann sich plötzlich seines Räuberblutes. Die Hetzer aber waren der Profos Escudero, der
Lizentiat Juan Díaz und el chocarrero, der bucklige Narr Cervantes. Von Gruppe zu Gruppe eilend,
forderten sie die Murrenden auf, sich zusammenzuscharen, noch an diesem Abend die Hütte mit
der schwarzen Standarte zu umzingeln, in Brand zu stecken und Cortés gefangen zu nehmen.
Doch auch die Anhänger des Cortés suchten noch nicht ihr Nachtlager auf; sie kamen hinter
dem Magazin zusammen und besprachen die Ereignisse des Tages. Die Rettung des Gehängten
machte ihre Anhänglichkeit und Treue noch größer. Gewiss, die Flucht des Überläufers Melchorejo
war ein böses Zeichen: Ihr elendes Feldlager war einem möglichen nächtlichen Überfall durch
feindliche Streitkräfte ausgesetzt; doch sie waren ja Gefahren gewohnt. Schlimmer war die Gefahr
innerhalb der Tore. Man musste auf der Hut sein, die Augen offen halten und Maßnahmen treffen.
*
Alle Hütten waren leer und verlassen, bis auf die La Bailadoras und einer Nachbarhütte, in der
Pancho Luna wohnte, ein zwölfjähriger Junge. Pancho Luna war blind; eine verfrüht explodierte
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Kartusche hatte ihm an der Küste Yucatáns das Augenlicht geraubt. Kaum war sie eingeschlafen,
erwachte La Bailadora durch das Klagen einer weinerlichen Stimme. Eine Stalllaterne erhellte ihre
Hütte nur matt. Der Knabe tappte mit dem vorsichtigen Schritt der Blinden herein und stand im
Hemd vor ihrem Bett. Er hielt etwas Schwarzes krampfhaft in Händen, Blut tropfte dünn vom Hals
aufs Hemd.
»Ich sterbe, Bailadora!«, stieß er hervor. »Als ich erwachte, trank der Teufel an meinem
Hals... Da packte ich ihn. Er wird sich rächen, wenn ich ihn loslasse! Hilf mir, Bailadora, hilf mir!
Halt ihn fest, sonst muss ich sterben!«
La Bailadora sprang aus dem Bett, nahm hastig die Laterne an sich und hob sie empor.
Kalkweiß starrte der Knabe ins Licht, und nun sah auch La Bailadora die kleine Wunde an der
Kehle des blinden Jungen und erblickte gleich darauf das Ungeheuer, den Blutsauger. Mit Entsetzen krampften sich die Finger des Knaben um den Körper des Vampirs, dessen hautbespannte
Flügel wild um sich schlugen. La Bailadora hatte noch nie von einem solchen Wesen gehört, nie
eins gesehen. Sie hielt es für möglich, dass es der Teufel sei und fürchtete sich, ihn anzurühren.
Doch irgendetwas musste geschehen! Sie packte den Knaben, zerrte ihn aus der Hütte und lief mit
ihm, ebenfalls im Hemd, durch die Gassen des Lagers zu den Soldaten.
Diese wollten schon belustigte Zoten über ihren Aufzug machen, doch das
aufgeregte Gehabe der beiden erstickte jeden Witz.
»Rettet Pancho«, flehte La Bailadora, »der Teufel saß an seinem Hals und
trank sein Blut!«
Auch die Männer, die noch nie von Vampiren gehört hatten, packte die Furcht,
doch als Soldaten schämten sie sich, Angst zu zeigen. Mejía Hinojora, der Enkel der Räuberin,
fasste sich ein Herz und wollte dem blinden Jungen todesmutig das Ungeheuer aus der Hand reißen. Der Junge ließ aber zu früh los, sodass der Blutsauger davonflatterte und im Nachtdunkel
verschwand.
Die Soldaten hatten plötzlich Zweifel, ob es wirklich der Teufel gewesen war, vor dem sie
sich – mehr oder weniger zugegeben – gefürchtet hatten. Nur Leonel de Cerro, der verrückte Physikus, lachte hell heraus: »Eine Fledermaus, eine Hufeisennase war's, ihr Hasenfüße!«
Der Grobian Paredes gab dem Apotheker einen Tritt in den Hintern. »Da, flieg selbst wie eine Fledermaus!« Aber die Männer schämten sich.
Der schmächtige blinde Junge war vor Schreck und Blutverlust in Ohnmacht gefallen. La
Bailadora nahm ihn auf die Arme und trug ihn in ihr Bett. Dort wusch sie ihm beim Schein der Laterne die Wunde aus, legte ihn zu Bett, schlüpfte ebenfalls hinein und schmiegte den Knaben mütterlich an ihren warmen Körper.
Seither schlief er immer bei ihr.
Die Streitlust der Soldaten war erlahmt. Sie redeten noch eine Zeit lang vom geflügelten Satan, und dass er den blinden Knaben erwählt hatte. Pancho Luna musste wohl ein kleiner Heiliger
sein! Dann suchten auch die Männer verdrossen ihre Laubhütten auf.
Als um elf Uhr abends die Wachtposten vor den Lagertoren abgelöst wurden, war Ruhe ins
Lager eingekehrt.
*
Auch Cortés war an diesem Abend nicht untätig. Mit seinen Freunden, den Offizieren Alvarado,
Puertocarrero, Lugo, Barba und Tapia, hatte er Kriegsrat gehalten und in aller Stille Vorkehrungen
getroffen, um einem möglichen Überfall von innerhalb oder von außerhalb des Lagers zu begegnen. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise in Kuba zweifelte er am Gelingen seiner Pläne. Selbst wenn
sie einig und entschlossen blieben, würde das Unternehmen sie alle Kraft kosten. Doch durch
kleinlichen Hass, Eifersüchteleien und Missgunst rollten immer mehr Steine in ihren Weg.
»Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als nach Kuba zurückkehren!«, sagte er zu
Marina.
Marina sah ihn lange schweigend an. Seit sie vom Christentum vernommen hatte, war dieser
Glaube für sie nur die Bestätigung, im gekreuzigten Jesus ihren weißen Kreuzträger Quetzalcoatl
erkannt zu haben, der den Indianern das Friedensreich bringen würde, wie es in alten Überliefe-
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rungen geweissagt war. So hatte sie Cortés jüngst die rätselhaften Worte des Silberpumas erklärt,
die dieser beim Anblick der Sturmhaube gesprochen hatte. Marina hielt insgeheim Cortés für den
Gottgesandten, der an diese Küste gekommen war, um ihr Volk zu befreien, die Menschenopfer
abzuschaffen und die Tränen der Witwen und Waisen zu trocknen. Marinas dienende Hingabe an
Cortés war nichts anderes als ein Auftrag, der Weissagung zum Durchbruch zu verhelfen.
Mit niedergeschlagenen Augen erwartete sie stets seine Anrede. Nun aber, da sie ihren Helden und Befreier mutlos sah, standen Trauer und Enttäuschung standen in ihren Augen, und eindringlich beschwor sie ihn, den Glauben an seinen Auftrag nicht zu verlieren. Als er sie erstaunt
fragte, von welchem Auftrag sie rede, sprudelte es aus ihr heraus: Er sei der Kreuzträger, den ihr
Volk seit Jahrhunderten erwarte, die Unterdrückten zu erlösen! Und nun, an der Schwelle, wolle er
umkehren? Er sei nicht des Goldes, nicht des Ruhmes wegen ausgezogen, sondern um Freiheit
und Frieden zu bringen – den Azteken, Totonaken, Otomis und allen Völkern Anahuacs. Das sei
Gottes Wunsch und das Verlangen der Völker, und gewiss werde Gott ihren Retter nicht im Stich
lassen!
Schweigend und mit wachsendem Erstaunen hörte er zu. Als sie schließlich verstummte,
küsste er sie und sagte: »Wenn die Geknechteten dir gleichen, Marina, so sind sie jeder Anstrengung wert!« Dass sie ihn für Quetzalcoatl hielt, hatte er noch nicht begriffen.
Dann schickte er seinen Pagen Orteguilla zu Puertocarrero, Lugo und Tapia und ließ sie zu
sich rufen. Sie sollten einen geheimen Auftrag erledigen.
*
Beim Abendessen hielt Kämmerer Rodrigo Rangel wieder eine Ansprache an Cortés:
»Julianillo wurde hochnotpeinlich verhört. Er hat gestanden, dass er gern mit
Melchorejo geflohen wäre, hätte er gekonnt. Kann man das begreifen, Euer Liebden?
Melchorejo war Christ, und wir haben ihn mit Güte und Taufwasser überschüttet. War
das dankbar von ihm? War das klug? Alle Segnungen der Kultur wurden im zuteil –
Kleidung, Wäsche und Bildung. Aber so sind die Wilden: Sie schätzen nicht, was ihnen
durch uns widerfährt, hängen alles an einen Baumast und verharren stur und töricht in ihren alten
Anschauungen. Aber nicht nur Wilde wie Melchorejo sind starrköpfig und dumm. Auch Eure Widersacher. Die Dummheit des Diego de Ordás heißt Langeweile. Er hat es satt, seinen langen
Schnauzbart zu drehen. Er ist auf den Tod krank vor Nichtstun und ärgerlich, dass die Mexica seine Duellforderung ausgeschlagen haben. Euer Liebden schenke ihm Abenteuer, so ist er kuriert
und Euer Liebden treuer Freund. Die Unvernunft des Avila ist Goldgier: Euer Liebden stopfe ihm
das Maul und füttere ihn mit dem gelben Zeug, und er wird Euer Liebden wie ein Hund die Hand
lecken. Die Beschränktheit des Olíd liegt in seiner Unentschlossenheit; dieser einstige Galeerensklave weiß nie, was er will. Euer Liebden zeige es ihm und helfe mit der Goldschaufel nach; dann
wird er Euer Liebden ergeben sein – bis zum nächsten Mal. Die Torheit des Montejo ist seine
Spielsucht. Euer Liebden zahle seine Schulden, und niemand wird treuer zu Euer Liebden halten.
Und die Dummheit des Velásquez de León ist seine Leidenschaftlichkeit. Aber der kühle Kopf Euer
Liebden wird auch diese Mauer des Wahnwitzes erklimmen, heißt es doch: ›Ein goldbeladener
Esel ersteigt den höchsten Berg.‹ Geschenke lassen Probleme verschwinden. An Gold fehlt es
Euer Liebden ja nicht, und auch nicht an diensteifrigen Eseln.« So sprach Rodrigo Rangel.
*
Nach dem Nachtessen meldete Cortés' Page Orteguilla, dass ihn ein gemeiner Soldat namens
Botello möglichst allein zu sprechen wünsche. Hernándo schickte seinen Kämmerer Rodrigo hinaus und empfing den Soldaten.
»Señor Capitán, was ich zu sagen habe, wird Euch sonderbar vorkommen, und vielleicht
werdet Ihr es nicht glauben. Aber jetzt, wo Hunger, drohende Meuterei und mächtige Gegner unser
Ziel bedrohen, darf ich nicht verschweigen, was ich weiß.«
Botello war Italiener und hatte einst unter den Fahnen Cesare Borgias gekämpft. Er war groß
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und dürr und ging leicht gekrümmt, und auf den eingefallenen Wangen waren Narben früherer
Verwundungen zu sehen. Er trug das schon ergraute Haar kurz geschnitten, und es ging etwas
Tauriges von ihm aus. Er galt als Einzelgänger und hatte kaum Freunde im Heer.
»Was wisst Ihr, Botello?«, fragte Cortés lächelnd.
»Dass Ihr nach Mexico gelangen werdet«, antwortete Botello.
»Woher wisst Ihr das?«
»Bevor ich Kriegsdienste annahm, war ich Astrologe und berechnete die Nativitäten.«
»Das ist wohl lange her. Warum habt Ihr den Beruf gewechselt?«
»Es schafft nicht nur Überlegenheit, wenn man um die Zukunft weiß, es ist auch furchtbar.«
»Und da habt Ihr Eure Instrumente verkauft?«
»Nein.«
»Fortgeworfen, verbrannt, zerbrochen...?«
»Nein, ich habe sie noch. Nachts funkeln die Sterne und locken...«
»Ich nehme an, Ihr habt mir das Horoskop gestellt.«
»Nein, Euer Gnaden. Ich kenne weder Tag noch Stunde.«
»Aber Euer eigenes Schicksal kennt Ihr, Botello?«
»Ja, Euer Gnaden, ich werde in Mexico auf einem Blutaltar sterben.«
»Wollt Ihr zurück nach Kuba?«
»Euer Gnaden machen mich lächeln.«
»Was habt Ihr sonst noch in den Sternen gelesen?«
»Viel Entsetzliches, Euer Gnaden.«
»Redet!«
»Velásquez de León, der Tanzmeister Ortiz, Pedro Baracoa, Soares, Lope Cano, Mansilla,
der Namenlose und der Narr Cervantes, La Bailadora, der blinde Knabe Pancho – sie alle enden
auf dem Opferstein. Und noch viele andere!«
Als Cortés ihn sprachlos anstarrte, fügte er nach einer Weile leise hinzu: »Escalante werden
sie den Kopf abschneiden! Es ist grauenhaft...«
Der Capitán starrte ihn weiter an. Die Sterne! Die kosmischen Einflüsse! Wie konnte er sie
vergessen! Sonne, Mond und Gestirne übten seit jeher einen unheimlichen Einfluss auf das Gelingen oder Nichtgelingen aus! Nach einer Weile fragte er: »Mit wem habt Ihr darüber gesprochen?«
»Mit niemandem außer Euer Gnaden.«
»Hört, Botello, ich nehme Euch in meinen persönlichen Dienst – als Astrologen. Ihr versteht?
Ich will Euch gut belohnen. Aber schweigt Euch über das alles aus.«
»Ja, Euer Gnaden.«
»Könnt Ihr mir bis morgen die Zukunft sagen?«
»Da ist viel zu berechnen, Euer Gnaden, aber wenn Ihr mir Eure Daten gebt, sollte es bis
morgen Abend möglich sein.«
»Gut, Botello, ich danke Euch.«
*
Der Soldat José Solér war ein seltsamer Kauz. Er hatte den Spitznamen detrás de la puerta, »der
hinter der Tür«. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte – und er konnte oft nicht schlafen –, beobachtete er die Vorübergehenden. Dabei war er kein Spion irgendeiner Partei; Don Diego de
Velásquez war ihm so gleichgültig wie Cortés. Als man ihn zur Rede stellte, entschuldigte er sich.
Er sei ein Weltbetrachter, wie der berühmte Diogenes im Fass, und beobachte gern, wie arme
Fliegen sich im Netz der Spinnen verfingen. Er freue sich zu sehen, wie der Spieler Lope Márquez
einfältige Tölpel zum Glücksspiel verleitete, wie der Flegel Paredes sich sogar vor den Edeldamen
Pilar de Elgueta und Dolores de Cuenca unflätig benahm, und wie die hagere Rosario von ihrem
Galan, dem Aufwiegler Ignacio Morena, Prügel hinnahm, ohne sich zu wehren, und ihm obendrein
alle Ersparnisse gab. Nichts wunderte ihn, nichts bewunderte er. Er beobachtete nur und stellte
fest.
Auch in dieser Nacht stand José Solér hinter der Tür seiner Laubhütte und lauerte. Er traute
der plötzlichen Stille nach all dem Lärm um Teufel und Fledermäuse nicht. José wartete. Gegen
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Mitternacht wurde sein Argwohn bestätigt. Rasch ziehende Wolken verdeckten abwechselnd den
Mond und gaben ihn wieder frei. Als die blanke Scheibe wieder einmal mit blassem Schein über
dem Feldlager stand, sah er drei Männer, die verstohlen von Hütte zu Hütte schlichen. Er erkannte
sie: Es waren der Hauptmann Francisco de Lugo, der Leutnant Puertocarrero und der alte Fähnrich Juan de Escalante. José Solér sah, wie sie in den Hütten Leute weckten und flüsternd herausriefen.
»Nehmt Eure Waffen, Señor!«, hörte er Lugo sagen. »Ihr sollt Cortés begleiten, der die Runde macht.«
Trat der Mann heraus, nahmen sie ihn beiseite und redeten auf ihn ein. José Solér verstand
nur noch abgerissene Sätze: »Wir sind ruiniert... Diego de Velásquez wird unser Gold in die eigene
Tasche stecken... so wie nach der Grijalva-Expedition...« Dann wurden Eide geschworen, und die
drei gingen weiter. Solér sah auch, wie dunkle Gestalten in die abseits stehende Baracke des
Schatzmeisters Mejía schlichen und beladen wieder heraustraten.
José Solér war weder empört noch erstaunt. Er kannte die Menschen. Götterkacke schmeckt
gut, dachte er, macht aber nicht satt! Lautlos glitten die Wolken vor dem Mond dahin. Vom Wald
her hörte man einzelne Schreie der Nachtvögel, und ein Kojote bellte. Nach einer Stunde wollte
Solér sich schlafen legen, als ein Posten das Lagertor öffnete und eine Sänfte einließ. Kräftige
Indianer trugen schwer daran; fünf reich gekleidete weitere naturales folgten ihnen. Der Posten
führte sie zur Hütte mit der schwarzen Standarte. José Solér wartete. Nach drei Stunden verließen
die Sänfte und ihre Begleiter das Lager. Außer José Solér wussten nur wenige von dem nächtlichen Besuch.
*
Gewarnt durch das Verschwinden Melchorejos, hatte Cortés für diese Nacht die zuverlässigsten
Soldaten zum Wachtdienst ausgewählt. Auch waren die Posten verstärkt worden. Vor dem südlichen Tor wachten der junge Fähnrich Bernal Díaz del Castillo, der Ritterliche und Feind des Narren Cervantes, (weil er ihn am Kragen gepackt hatte, als er ein Spottlied auf den hinkenden Stuhl
vortrug); ferner der Bogenschütze Pedro de Tirado, der Tüchtigste im ganzen Heer und zugleich
der Bescheidenste, sowie Alonso Luís, ein baumstarker Hüne, der seinem schweren Wanst und
dem wackelnden Doppelkinn zum Trotz flink wie eine Gazelle war und seines harmlosen Lachens
wegen el Niño genannt wurde, das Kind.
Gegen ein Uhr nachts erspähte Pedro de Tirado die Indianer mit der Sänfte; sie näherten
sich ängstlich, blieben oft stehen und blickten sich scheu um. Luís, das Kind, legte schon die Muskete an die Schulter, um zu feuern; doch der Ritterliche flüsterte ihm zu, das sei unklug; man müsse die Feinde erst näher herankommen lassen.
Doch sie benahmen sich nicht wie Feinde. Beim Näherkommen grüßten sie ehrerbietig, berührten mit der Handfläche die Erde und ihre Stirn und gaben durch Zeichen zu verstehen, dass
sie zum Befehlshaber geführt sein wollten.
Die drei Posten berieten sich. Tirado und el Niño waren Manns genug, das Tor zu bewachen. Der Ritterliche übernahm es, die nächtlichen Besucher zu Cortés zu bringen.
Was Cortés zu sehen bekam, als er vom Ritterlichen benachrichtigt aus seiner Laubhütte
trat, hätte er nie und nimmer erwartet: Ein unförmiger dicker Mensch, ein wahrer Fleischberg
wuchtete sich aus der Sänfte. Diener beräucherten ihn mit Kopalharz, während zwei der Sänftenträger ihn unter den schwammigen Armen stützen mussten. Schwer atmend watschelte der Dicke
herbei, doch die Türöffnung der Laubhütte musste wegen seines gewaltigen Körperumfangs erweitert werden. Ein Feldstuhl brach unter der Fleischlast zusammen; nur eine mit Kissen bedeckte
Eichenkiste ertrug ächzend das fürstliche Gewicht. El Gordo – die Kastilier werden ihn nie anders
nennen als den dicken Kaziken – hieß Xicocalcatl, Schilfrohr, und war König der Totonaken. Hier,
an seiner Küste, war Cortés gelandet.
Nach der Begrüßung entschuldigte sich der dicke Kazike, dass er erst jetzt gekommen sei,
um seine Aufwartung zu machen. Natürlich habe er von der Ankunft der Sonnensöhne gewusst,
doch die Furcht vor Moctezuma, der jeden Verkehr mit den weißen Fremden untersage, habe ihn
bisher abgehalten. Aber heute habe er sich heimlich her begeben, im Schutz der Nacht, um den
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Blicken der Kundschafter Moctezumas zu entgehen.
Cortés hatte nach seinen Übersetzern Aguillar und Marina geschickt. Er erkannte schnell,
dass eine gütige Fügung ihm den dicken Kaziken geschickt hatte. Von ihm konnte er wichtige Informationen über das Reich Moctezumas erhalten, und er bemühte sich, durch Freundlichkeit das
Vertrauen des dicken Mannes zu gewinnen und ihn durch geschickt gestellte Fragen zum Reden
zu bringen. Wie es denn möglich sei, rief er aus, dass der König der Totonaken vor Moctezuma
zittere? Reiche der Arm Moctezumas denn zwanzig Sonnenläufe weit? Seien die Mexica denn
unüberwindlich? Wenn die Totonaken Hilfe brauchten, sei er bereit, sich und sein Heer für sie einzusetzen.
Die Augen des dicken Kaziken schimmerten wässerig. »O großer Krieger, o weißer Herr des
Ostens! Du kamst zu uns, damit wir uns unter deinen Mantel stellen!«, rief er, keuchend nach Luft
schnappend wie ein alter Karpfen. Tränen und Schweißtropfen glitten über die fleischigen Wangen
und ließen die Gesichtsbemalung zerlaufen. Er seufzte tief; dann schüttete er dem weißen Herrn
sein übervolles Herz aus.
Die Totonaken seien immer ein freies Volk gewesen; erst vor wenigen Jahren habe Moctezuma ihnen das Joch der Dienstbarkeit aufgezwungen. Die nimmersatten Götter Mexicos hätten
die Wasserstadt zum Entsetzen der Welt gemacht, hätten den Zornigen Herrn in Blut gekleidet.
Wie ein durchsichtiger Smaragd, wie ein Kristall sei Moctezumas Palast – doch abgeschnittene
Menschenhände, Leichenköpfe und fleischlose Kiefer lägen auf den Wegen, und die Menschen
sagen voller Angst: »Der Jaguar kam über uns...!« Und so wie den Totonaken sei es auch anderen
Völkern ergangen. Vom östlichen bis zum westlichen Weltmeer reiche die schreckliche Gewaltherrschaft der Azteken. Und nicht nur Goldtribut – auch Blutzoll müssten die Unterdrückten zahlen.
Der Wahnsinnige auf dem Aztekenthron forderte adlige Knaben, um sie auf den Altären Tenochtitláns zu zerschneiden; ihr Blut wird in Maisbrot verbacken und ans Volk verteilt. Auch Mädchen
müssten die Unterjochten liefern, damit sie als Kriegerdirnen in Tanzhäusern leben.
Cortés fragte, wie es komme, dass so viele tapfere Völker diese Scheußlichkeiten über sich
ergehen ließen; ob denn keine Aussicht bestehe, dass die Geknechteten sich vereinten, um in
gemeinsamem Aufstand das furchtbare Joch abzuschütteln und den Untergang Mexicos herbeizuführen.
Das bedrückte Gesicht des dicken Kaziken erhellte sich. »Der Untergang der Azteken hat
schon begonnen!«, rief er. »Wir waren uneins, seit alters her verfeindet. Doch Moctezuma hat uns
einig gemacht. Moctezuma selbst legte die Schlinge, die ihm das Herz abschnüren wird. Moctezuma selbst gab uns, was uns bis dahin fehlte: den Anführer, den sieghaften Feldherrn!«
Und der dicke Kazike erzählte von der Blauen Feder. Der König von Tezcoco, der Herr des
Fastens, hatte drei Söhne: Prinz Edler Betrübter, Prinz Blaue Feder und Prinz Felsenschlange.
Nach dem Tod des Königs bestimmten die Königswähler den ältesten Prinzen Edler Betrübter zum
neuen König. Doch sein junger Bruder, die Blaue Feder, war damit nicht einverstanden. Er eilte in
die Gemächer seiner Mutter, der Herrin von Tula, und forderte stürmisch, sie solle zwischen ihm
und dem Edlen Betrübten Schiedsrichter sein. Die Witwe des Herrn des Fastens gab ihrem Lieblingssohn, der Blauen Feder, Recht. Seiher war das Land Tezcoco in zwei Lager gespalten; denn
die Mehrzahl seiner Bewohner beugte sich dem Willen der Herrin von Tula, als wäre es der Wille
des entschwundenen großen Königs.
Der Edle Betrübte aber konnte die Niederlage nicht verwinden. Mit einigen Getreuen brachte
er heimlich den Staatsschatz Tezcocos nach Tenochtitlán, um ihn seinem Bruder zu entziehen.
Moctezuma sollte den Goldschatz treuhänderisch verwahren, doch der ließ ihn in aller Stille in seinen Palast schaffen.
Prinz Felsenschlange hatte anfangs die Ernennung seines Bruders Blaue Feder – die Mexico nicht genehm war – bekämpft und war mit dem Edlen Betrübten gegen den Bruder ins Feld
gezogen. Doch als er vom treulosen Diebstahl Moctezumas erfuhr, wechselte er das Lager und
unterstützte die Blaue Feder. Diese sammelte ein Heer von hunderttausend Mann und rief die unterdrückten Völker zum Aufstand gegen das verhasste Mexico auf. Dreißig Städte öffneten ihm die
Tore, huldigten ihm als Befreier, waren glücklich, endlich die lastenden Ketten Mexicos abwerfen
zu können. Moctezumas hochmütiger Feldherr die Rose hatte sich erboten, ihn im Zweikampf lebend zu fangen und vor Moctezuma zu schleppen. Bei Otumba kam es zur Schlacht. Die Blaue
Feder siegte und verfolgte die Rose bis vor die Tore Mexicos. Am Seeufer, angesichts der Tore
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Tenochtitláns und vor den Augen des Empörerheeres, wurde der Zweikampf ausgefochten. Mit
einem einzigen Schlag seines Sägeschwerts streckte die Blaue Feder den Gegner nieder und verbrannte den noch Lebenden auf einem Scheiterhaufen, während Moctezuma mit seinem Hofstaat
dem Tod seines Getreuen von den Mauern Tenochtitláns mitansehen musste.
Und jetzt, vor wenigen Tagen, hatte die Blaue Feder Boten an die Totonaken geschickt und
sie aufgefordert, zwischen ihm und den weißen Fremdlingen zu vermitteln. Der dicke Kazike bot in
seinem Namen ein Bündnis an und die Bereitwilligkeit, sich durch Verträge zu binden, auf dass sie
gemeinsam Mexico zu Fall brächten.
Drei Stunden lang verhandelte Cortés mit dem dicken Kaziken und zog auch den kaiserlichen Notar Godoy hinzu. In der nahen Totonakenstadt Cempoala, wohin der dicke Kazike Cortés
einlud, sollte der Vertrag beschworen und besiegelt werden.
*
In dieser Nacht hatte sich Cortés’ Schicksal – und das Mexicos – entschieden. Jetzt galt es nur
noch, das letzte Hindernis zu beseitigen: den Widerstand des zusammengewürfelten Haufen seines so genannten Heeres.
Die Sonne stieg schon herauf, als Cortés sich niederlegte. Nach kurzem Schlaf wurde er von
Lärm geweckt. Mit wilden Drohrufen eilten die Anhänger des Diego de Velásquez auf den freien
Platz. Doch die Freunde des Cortés hatten sich vorher schon zusammengeschart und umstanden
bewaffnet die Hütte mit der schwarzen Standarte. Cortés kleidete sich gelassen an und verrichtete
wie jeden Morgen sein Morgengebet. Die Zahl seiner Anhänger war über Nacht
gewachsen, die des Diego de Velásquez hingegen arg geschrumpft. Neben
Ordás und Velásquez de León sah man fast nur noch die unentwegten Hetzer:
den Lizentiaten Juan Díaz, den Profos Escudero, die Steuermänner Cardenás
und Cermeño, den Narren Cervantes, den Pagen Escobar und den zügellosen
Ignacio Morena, den Galan der hageren Rosario. Auch Flores, der rothaarige
Sänger, war dabei und überschrie mit seiner Stimme beide Parteien. Aber Avila,
Olíd und Montejo ließen sich nicht blicken.
Der Lärm verstummte, als Cortés aus der Hütte trat. Er war, so schien es,
völlig ahnungslos. Verwundert wandte er sich an Ordás und fragte nach dem
Grund des Aufruhrs. Ordás war in seiner Erregung kaum zu verstehen. Er stammelte etwas von den hunderttausend Teufeln Moctezumas und wollte Klage führen über die Verteilung des Goldes.
Cortés schaute alle der Reihe nach an. »Ich kenne meine Soldaten«, sagte er, »und weiß,
dass ihnen Waffenruhm mehr gilt als Gold, dass ihnen die Aufrichtung des Kreuzes auf blutigen
Götzenaltären mehr am Herzen liegt als alle Schätze Moctezumas! Nein, ihr seid weder lüstern
nach Gold noch feige! Euch ist der glühende Sand der Dünen hier verleidet, das ist es. Ihr fürchtet
die schlafraubenden Moskitos mehr als hunderttausend Mexica mit Schwert und Schild!«
Seine Anhänger riefen: »Ja, wir wollen nach Mexico ziehen! Nach Mexico!«
Velásquez de León trat vor. Der Neffe des Diego de Velásquez war noch ein junger Mensch,
sechsundzwanzig Jahre alt, schön gewachsen, schmal sein Gesicht, tiefschwarz sein Haupthaar
und der kurze Spitzbart. Sein Blick war voller Feindschaft, aber Cortés bemerkte wohl, dass er
unter seiner Abneigung litt. In kurzen Sätzen trug er die Klagen seiner Parteigänger vor: Don Diego
de Velásquez habe die Schiffe ausgerüstet, um an den Küsten Tauschhandel zu treiben. Eine Kolonie zu gründen und Krieg zu führen, davon wäre keine Rede gewesen! Der Auftrag sei erfüllt;
nun sei es an der Zeit, nach Kuba heimzusegeln.
Cortés hatte das erwartet. Bekümmert erwiderte er: »Ich wollte, ich könnte es leugnen. Doch
auf mein Gewissen«, Cortés benutzte sein Lieblingssprichwort, »Ihr sprecht die Wahrheit. Don
Diego schickte uns aus, Gold zu sammeln, meine Herren Kameraden! Ich bin bereit, nach Kuba
zurückzukehren.« Erregt und theatralisch schleuderte er seinen Mantel von sich.
Jetzt waren es die Getreuen des Cortés, die außer Rand und Band gerieten. Dazu hätten sie
sich nicht anwerben lassen, schrien sie; unverrichteter Dinge wollten sie nicht heimkehren. Die
Mexica würden nie wieder Weiße an ihrer Küste landen lassen, wenn diese Gelegenheit verpasst
sei.
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In der Nacht hatte Cortés dem alten Fähnrich Escalante Weisung gegeben, dass dieser im
Fall einer Meuterei die schriftliche Instruktion des Gobernadors verlangen sollte.
»Wir glauben's auch nicht«, rief jetzt Escalante, »wenn wir's nicht mit eigenen Augen sehen!
Zeigt uns das Schriftstück, Don Hernándo!«
Cortés zog das Pergament aus seinem Wams. Er ließ es vom Notar Godoy verlesen. Tatsächlich, der Auftrag beschränkte sich auf Handelsgeschäfte. Aber die Soldaten waren damit nicht
zufrieden. Sie rasten und tobten. Wenn sie hier vor den Schätzen der Indianer warteten, wollten
sie diese auch holen! Die wenigen Anhänger des Diego de Velásquez wurden niedergeschrien, die
Männer erklärten sich für souverän. Das Heer lehnte den Gobernador Kubas als Befehlshaber ab.
Es wollte nur dem Kaiser, Don Carlos, unterstellt sein und begehrte Hernándo Cortés zum Anführer. Erst sprach Cortés dagegen und warnte vor dem Zorn Don Diegos. Die Soldaten aber überredeten ihn und gaben ihm das Versprechen, sie würden ihm, ebenso wie dem Kaiser, ein Fünftel
aller Beute abtreten. Doch Cortés lehnte bescheiden ab. Die Soldaten drohten, flehten und bestürmten ihn. Da ließ er sich erweichen. Er nahm die Wahl an und stellte sich, mit Umgehung des
Statthalters von Kuba, unter den Oberbefehl des Hieronymitenordens auf Haiti.
Darauf wurden drei Anträge Alvarados, Puertocarreros und Lugos durch Zurufe und Erheben
der rechten Hand einhellig genehmigt: Es sollte eine Niederlassung unweit vom Feldlager gegründet werden – als Stützpunkt für das Heer und als befestigter Hafen für künftig landende Schiffe.
Zum Stadtkommandanten wurde der alte Escalante ernannt. Ferner sollte Cortés in einem Brief an
den Kaiser den vorauszusehenden Verleumdungen des Diego de Velásquez zuvorkommen und
ausführlich den wahren Sachverhalt darstellen. Und endlich sollten zwei Kavaliere mit den Geschenken Moctezumas auf der Capitána, dem Flaggschiff, nach Kastilien segeln, dem Kaiser eigenhändig den Brief überreichen und den Inhalt, falls nötig, mündlich bestätigen.
Alles dies wurde zum Beschluss erhoben. Nun schlug Cortés den Leutnant Puertocarrero,
seiner vornehmen Verwandtschaft wegen – er war der Vetter der Grafen de Medellín – sowie wegen seiner vielfältigen Beziehungen zum kastilischen Hof, als Boten an den Kaiser vor. Und er riet,
ihm einen Kavalier von der Gegenpartei, nämlich Montejo, als Begleiter beizugeben; das würde die
Unzufriedenen versöhnlich stimmen. Auch dies wurde beschlossen.
Der Vorschlag, Montejo nach Europa zu senden, war der einzige, nie mehr gutzumachende
Fehler, den Cortés an diesem Tag beging. Er hatte ihm, wie Rodrigo Rangel geraten hatte, durch
den Schatzmeister die Spielschulden begleichen lassen und glaubte seinen Dankesbeteuerungen.
Aber er würde es noch bitter bereuen, weil er die Maske dieses ewig lächelnden, vergnügten Spielergesichts nicht durchschaut hatte.
Ein letztes Mal flackerte die Meuterei auf, als die Beschlüsse im Lager bekannt wurden.
Ordás, Velásquez de León, der Profos Escudero und drei der Musketiere eilten vor die Laubhütte
des Cortés und bedrohten ihn mit gezückten Schwertern. Da ließ Cortés sie in Ketten legen und
auf die Schiffe bringen. Doch noch am selben Abend wurden auf seinen Befehl Escudero und die
drei Soldaten wieder in Freiheit gesetzt. Aber die beiden Rädelsführer Ordás und Velásquez de
León verhörte er selber an Bord der Schiffe.
Zuerst ging er in die Arrestzelle des Ordás. Zusammengekrümmt saß der langgliedrige
Hauptmann auf einer Bank; der schmale Kopf hing auf der Brust, wie von schweren Gedanken
überlastet, und die dünnen Finger drehten und haspelten am überlangen, schwermütig wirkenden
Schnurrbart, knüpften Knoten und Flechten hinein. Als ältester unter den Offizieren – er war acht
Jahre älter als Cortés – hielt er sich für überlegen, Achtung gebietend, unantastbar. Das Bild, das
er von seiner eigenen Herrlichkeit im Herzen trug, war zerstört! Doch merkwürdigerweise hegte
Diego de Ordás keinen Groll gegen Cortés – im Gegenteil, er bewunderte den Mann, dass er es
gewagt hatte, ihn anzutasten. Ordás war, trotz seiner rauen Schale, im Kern ein gutherziger und
ritterlicher Mensch. Als Cortés bei ihm eintrat und ihm die Eisenketten abnehmen ließ, bedankte er
sich stotternd. Doch Cortés wollte ihn nicht nur versöhnen, sondern zum Freund machen. Hatten
Tatenlosigkeit und Langeweile den alten Raufbold zur Verzweiflung getrieben, so konnte Cortés
ihm jetzt Abenteuer und Heldentaten in sichere Aussicht stellen. Cortés berichtete ihm vom Besuch des dicken Kaziken, vom Aufstand der Blauen Feder und vom Vertrag zwischen den
Kastiliern und den Totonaken. Fünfhundertfünfzig Weiße, unterstützt von Bundesgenossen, deren
Heer mehr als hunderttausend Mann zählte, konnten einen Besuch am Hofe Moctezumas wohl
wagen...
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Die Augen des Ritters begannen zu funkeln. Er erhob sich in seiner ganzen Länge und reckte die hageren Arme, als wollte er Mexico umschlingen. Dabei stammelte er undeutlich und verschluckte ganze Worthälften. Cortés erriet, dass es Dankesworte waren. Sie umarmten sich,
drückten sich die Hände und blieben fortan Freunde.
Dann begab Cortés sich zu Velásquez de León. Der saß nicht gebeugt da, lehnte vielmehr
trotzig in einem Winkel der Schiffskammer. Als Cortés eintrat, stellte er sich vor das Bullauge,
starrte auf das abendliche Meer hinaus und drehte dem Befehlshaber verächtlich den Rücken zu.
Auch nachdem er von den Ketten befreit war, starrte er unverwandt aufs Meer. Cortés schickte
seine Begleiter hinaus und blieb mit dem Gefangenen allein.
»Ihr seid frei zu gehen, wohin Ihr wollt«, sagte Cortés. »Besteht Ihr darauf, nach Kuba zurückzukehren, so stelle ich Euch das Schiff mit der erforderlichen Bemannung zur Verfügung. Aber
ich möchte Euch einen besseren Vorschlag machen: schließt Euch Puertocarrero und Montejo an
und segelt mit ihnen nach Europa.«
Velásquez de León rührte sich nicht. Er sah aufs Meer hinaus, teilnahmslos, als wäre er
taub. Cortés fuhr fort: »Voller Leidenschaft seid Ihr für Euren Oheim Don Diego de Velásquez eingetreten. Er ist Euch nah verwandt, darum haltet Ihr ihn für Euren väterlichen Freund. Ich muss
Euch leider den Glauben nehmen. Wenn Ihr nach Kuba kommt, wird Seine Exzellenz Euch den
Kopf vor die Füße legen!«
Velásquez de León wandte sich um. Mit fragend aufgerissenen Augen suchte er den Blick
des Generalkapitäns.
»Ihr seid der langgesuchte Mörder des de Seda!«, sagte Cortés leise.
Ein Zittern ging durch den Körper des jungen Mannes. Er wurde blass.
»Woher wisst Ihr das?«, sprach er mit aschgrauen Lippen.
»Durch einen Brief Eures Oheims!«, erwiderte Cortés.
»Ihr habt es gewusst und habt mich dennoch angeworben?«, rief León.
»Ja. Am Tag vor unserer Abreise kamt Ihr auf der Flucht von Haiti nach Kuba in La Havanna
an. Am selben Tag erhielt der Stadtkommandant von La Havanna, Pedro Barba, zwei Briefe von
Diego de Velásquez: Der eine war ein Haftbefehl gegen mich, der andere gegen Euch. Pedro
Barba zeigte mir beide Briefe, denn er wusste, wie treu das Heer zu mir stand. Ebenso leicht hätte
er die Sonne hinter Schloss und Riegel bringen können. Ich steckte beide Briefe in die Tasche und
ernannte Pedro Barba zum Hauptmann meiner Armbrustschützen. Hier ist Euer Haftbefehl – lest
ihn und zerreißt ihn!« Cortés reichte das Papier Velásquez de León. Der las, dann ergriff er Cortés'
Hand. Erregt sagte er: »Ich bin kein Mörder! Nein, so wahr ein Gott im Himmel ist, Don Hernándo,
ich war lediglich der Rächer meiner Ehre. Zwei Jahre währte mein junges Eheglück, da fand ich
den reichen de Seda, von einem Ausritt heimkehrend, bei ihr im Bett. Ich weiß nicht, was ich tat
und wie ich es tat. Doch ich sah die Kissen und Laken voller Blut... und sie kniete vor mir und flehte um Erbarmen. Da ließ ich auch sie nicht unversehrt und stieß zu. Dann floh ich und entkam auf
ein Schiff, das nach La Havanna bestimmt war.«
»Auf mein Gewissen, Ihr müsst nach Europa«, sagte Cortés mit großem Ernst. »Ich riet es
Euch schon. Ich will Euch nichts verhehlen. Der Italiener Botello hat Euch das Horoskop gestellt.
Es ist nicht gut, wenn Ihr nach Mexico mitkommt.«
Velásquez de León schüttelte bitter lächelnd den Kopf. »Euch verlasse ich nicht mehr,
Hernándo Cortés! Ich habe eine Schuld zu sühnen. Wisst Ihr, wie die Franzosen jene Verzweifelten nennen, die sich den Rotten voraus mit der Blutfahne in die dichtesten Speerhaufen stürzen?
Les enfants perdus! Ich bleibe! Der einhändige Namenlose und ich, wir sind die verlorenen Kinder
Eures Heeres, Don Hernándo!«
Velásquez de León hielt Wort. Erst der Tod sollte ihn von Cortés' Seite reißen.
Am Abend desselben Tages brachte der Italiener Botello seine astrologischen Berechnungen. Mit unverändert betrübtem Gesichtsausdruck trug er beispiellose Glücksverheißungen vor.
»Ihr seid in einer Glückshaube geboren!«, sagte er. »Auch Alexander der Mazedonier und Julius
Cäsar hatten solche Sterne!«
Cortés wollte den Astrologen belohnen, doch der lehnte ab. Er fand keinen Schlaf in dieser
Nacht. Das Tor ins Wunderland stand offen. Colón hatte das Tor nur von weitem und mit Riegeln
verschlossen gesehen. Nun kommt er, das Glückskind Hernándo, und pocht an die Tore zum Land
der tausend Wunder und der unvorstellbaren Schätze.
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5. »Nach Mexico!«
»Cortés erfuhr, dass König Moctezuma das Küstenland erst unlängst in seine Gewalt gebracht hatte und dass die unterworfenen Gebiete insgeheim danach trachteten, wieder unabhängig zu werden. Diese Erkenntnis veranlasste den Feldherrn, sich mit dem Volk der
Cempoalaner zu verbünden.... Die Zahl der kriegsfähigen Männer im Machtbereich der
Stadt schätzte Cortés auf 50 000.«
(A. Schurig: Die Eroberung von Mexico durch Ferdinand Cortés)
Die vom Heer gefassten Beschlüsse gelangten in wenigen Wochen zur Ausführung. An den Sanddünen, wenige Meilen nördlich vom Feldlager, wurde der Ort Villa Rica de la Veracruz gegründet
und ein Kastell, eine Kirche, ein Regierungsgebäude, Proviantmagazine, einige schlichte Wohnhäuser und eine »Stadtmauer« genannte Palisade mit Schießscharten und Türmen erbaut. Um
seine Leute anzufeuern, nahm Cortés selbst den Spaten in die Hand, trug Erdkörbe, Mörtel und
Kalk. Die Stadt erhielt eine kleine Besatzung, an deren Spitze der alte Fähnrich Escalante stand.
Puertocarrero, Montejo und der Obersteuermann Alaminos segelten auf der Capitána nach
Europa ab, als Überbringer der Geschenke Mocte-zumas und zweier Briefe an den Kaiser. Das
eine Schreiben war von Cortés, sein erster langer Bericht; das andere war eine mit den Unterschriften aller Offiziere und Soldaten versehene Bittschrift: Seine Majestät möge die Beschlüsse
des Heeres und die Ernennung des Oberbefehlshabers genehmigen.
Als das Heer marschbereit war, wurde eine neue Verschwörung aufgedeckt. Der Lizentiat
Juan Díaz, der Profos Escudero und die Steuermänner Cermeño und Gonzalo de Umbría gestanden unter der Folter, sie wollten sich eines Schiffes bemächtigen und nach Kuba zurücksegeln.
Cortés ließ die Schuldigen durch ein Kriegsgericht seiner Offiziere aburteilen. Weil man zu wenige
Priester hatte, wurde der Lizentiat begnadigt, dem Gonzalo de Umbría aber die Füße abgehauen,
und Escudero sowie Cermeño erlitten den Tod durch den Strang. Als Cortés das Todesurteil seines einstigen Häschers Escuder o unterschrieb, rief er aus: »Auf mein Gewissen, ich wollte, ich
hätte nie schreiben gelernt!«
Dann ließ er die Schiffe vernichten. Sie wurden auf den Strand gezogen und abgetakelt. Alles noch Brauchbare – die Instrumente, das Tauwerk, die Segel und Anker – kam in ein Magazin
an Land; dann wurden die Karavellen (bis auf eine) in
Brand gesetzt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Stumm
standen die Männer am Ufer, beleuchtet vom flackernden Schein der brennenden Schiffsrümpfe und den karminrot lodernden Fackeln der Masten. Sie ahnten nichts
von den Gefahren, die auf sie lauerten, kannten noch
nicht die Stärke des Gegners. Cortés erzählte, was der
dicke Kazike ihm berichtet hatte: von den Totonaken, der
Blauen Feder und den Grausamkeiten im Reich
Moctezumas.
Die Zeichnung unten schildert die Ankunft der Spanier im späteren Hafen von Villa Rica de Vera Cruz. Im Hintergrund sichtet ein
Indianer gerade die spanischen Schiffe, links vorne laden Matrosen Waffen, Tiere und Versorgungsgüter aus, während Doña
Marina (rechts) einen Eingeborenen befragt und ein Schreiber
die Informationen aufzeichnet.
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»Wir waren selbst vor zweitausend Jahren solche Bestien!«, rief Rodrigo Rangel.
»Gottlob, dass wir es nicht mehr sind«, bemerkte der blonde Alvarado.
Und Cortés sagte: »Darum zogen wir aus, um diese Gräuel abzuschaffen!«
Rot brandeten noch immer die Flammen, als Cortés den Befehl zum Abmarsch gab. Die Soldaten
schwenkten ihre Sturmhauben und schrien begeistert: »Nach Mexico! Nach Mexico!«
*
Die Spione hatten alles nach Tenochtitlán gemeldet. Dass der dicke Kazike den Cortés eingeladen
hatte. Dass die Kastilier auf mexicanischem Boden eine Stadt gründeten. Dass sie ins Innere des
Landes aufgebrochen waren, und dass in zweihundertundfünfzig totonakischen Ortschaften die
Häuser zu Ehren der weißen Ankömmlinge im Blumenschmuck prangten.
Da traf die Nachricht ein, dass das mexicanische Heer einen Feldzug in Guatemala siegreich
beendete und dass die beiden Befehlshaber, der Geschliffene Obsidian und der Schlagende Falke, nicht mehr fern von den Toren Tenochtitláns stünden. Spät, doch nicht zu spät, kam diese gute
Nachricht. Und mancher Mund, der bisher aus Vorsicht geschwiegen hatte, nannte nun leise den
Namen des Schlagenden Falkens. Moctezuma, vor einem Jahr noch ein selbstgenügsamer Gott,
war zu einem tyrannischen, von Träumen gehetzten Zauderer geworden. In seine Ängste reihte
sich auch die Vorstellung ein, Cuauhtémoc, seinem Neffen Schlagender Falke, bald Auge in Auge
gegenüberstehen zu müssen. Er hatte ihm einst seine schöne Tochter Prinzessin Maisblume versprochen, hatte sie dann aber dem Edlen Betrübten anverlobt, dem jungen König von Tezcoco.
Die Heirat jedoch war noch nicht vollzogen, was es für ihn einfacher gemacht hätte. Denn eine
unrechte Handlung gesteht ein König leichter ein als eine unrechte Absicht. Moctezuma würde
dem Schlagenden Falken erklären müssen, würde von politischen Rücksichtnahmen reden, von
der staatspolitischen Sicherheit, die Mexico erlangt, wenn es sich mit dem benachbarten Königreich am Schilfsee verbindet und von der Größe, die Anahuac gewinnt.
Sollte er nun die Hochzeit beschleunigen? Wenn aber der Edle Betrübte die Macht in
Tezcoco nicht zurückgewinnen kann? Hat die Verbindung mit Maisblume für Tenochtitlán dann
noch einen Wert?
*
Der Kampfgenosse des Schlagenden Falken, der Geschliffene Obsidian, war ein Otomi aus der
Republik Tlaxcala. Tlaxcala mit seiner stolzen Unabhängigkeit war früher eine Insel inmitten der
versklavten und tributpflichtigen Völker Mexicos. Das Land lag nach Sonnenaufgang zu, etwa auf
halbem Weg zwischen Tenochtitlán und der von Cortés jüngst gegründeten Hafenstadt Veracruz.
Das von Seen umgebene Anahuac war ein flaches Hochland, begrenzt im Osten von den mächtigen Kordilleren. Die beiden mit ewigem Schnee bekleideten Vulkane Popocatepetl und
Iztaccihuatl, der Rauchende Berg und die Weiße Frau, die sich im See von Tenochtitlán spiegelten, gehörten einer von vielen, kaum minder steilen Schneebergketten an. Das davor liegende
Gebirgsland jedoch, das sich, von wilden Schluchten durchzogen, viele Sonnenläufe weit erstreckte, war entgegen weit verbreiteter Meinung keine kahle Steinwüste. Dort, innerhalb der Bergschranken, gab es neben Firnschnee, Lavageröll und steilen Klippen mit blauschwarzen Arven
auch taufrische Matten, Täler und Ebenen, reich und blühend an Siedlungen und Feldern, wenn
auch nicht so prangend wie der Garten Anahuac. Dort lebten die Tlatepoca, »Die hinter den Bergen«, die Bewohner Tlaxcalas.
Vor wenigen Jahren war der Geschliffene Obsidian mit einem Trupp otomischer Krieger in
einen aztekischen Hinterhalt und in Gefangenschaft geraten. Der berühmte Tempelhüter besiegte
ihn und brachte ihn gefesselt nach Tenochtitlán. Dort sollte der Geschliffene Obsidian den Göttern
geopfert werden. Er wurde reichlich genährt und gut behandelt. Moctezuma hatte vor Jahren seinen erstgeborenen Sohn verloren, den Menschenfänger; nur die geliebte Tochter Prinzessin Maisblume, der lasterhafte zweite Sohn, der Von-Göttern-Beschirmte, sowie Prinzessin Goldkolibri waren ihm verblieben. Moctezuma fand Gefallen am Gefangenen, denn der Geschliffene Obsidian
erinnerte ihn an seinen toten Sohn, und er begehrte ihn vom Tempelhüter zum Geschenk. Bald
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stieg der Geschliffene Obsidian neben dem Schlagenden Falken zum zweiten der obersten Befehlshaber des mexikanischen Heeres auf. Und er zog mit dem Schlagenden Falken in das Land
des Südens, wo er Siege und Ruhm errang. Aber in seiner Heimat galt er als Verräter.
*
Als das kastilische Heer von der Meeresküste aufgebrochen war, um dem Kaiser Moctezuma in
seiner Hauptstadt Mexico einen Besuch abzustatten, ritt Hauptmann Diego de Ordás an der Spitze
des langen Zuges. Ordás war ein mittelmäßiger Reiter, und seine magere, unfruchtbare Grauschimmelstute war ein ungern trabendes Pferd; doch die Sporen, mit denen er die Stute kitzelte,
spornten mit ihrer auch seine eigene Tatenlust an. Er ritt seinen Kameraden hundert Schritte voraus, und hundert Meilen ihm voraus ritt sein Geist. Wahrlich, er hatte Eile. War ihm doch tags zuvor von einem reisenden indianischen Händler – von denen viele die halb fertige Stadt Veracruz
bewundern kamen – ein Smaragd angeboten worden. Als Ordás den Stein mit brillantierten Glasperlen bezahlte und nach der Herkunft des Smaragds forschte, hatte der Indianer nach Westen
gewiesen: »Vierzig Sonnenläufe westwärts«, glaubte der Hauptmann ihn verstanden zu haben,
»ragt ein grüner Fels zum Himmel empor, der ist ein einziger, riesenhafter Smaragd!«
Ordás behielt das Geheimnis für sich und verriet es nicht einmal seinen besten Freunden, ja,
er verschwieg es sogar der Doña Isabel de Ojeda, wie sehr er sie sonst auch mit seiner väterlichen, ein wenig verstiegenen Liebe bedachte. Ein Smaragdfels! Mein Gott, wenn er ihn fände!
Damit ließe sich das Heilige Grab den Moslems abkaufen! Schwierig würde es freilich sein, ihn
ungebrochen an die Küste zu schaffen. Ordás war dem Generalkapitän dankbar, dass er ihn an
die Kette gelegt und durch die Einkerkerung auf dem Schiff seinen vom Nichtstun krankenden
Geist zur Vernunft gebracht hatte. Nun war seiner Phantasie ein strahlendes Ziel gesetzt! Darum
hatte er es eilig und ritt allen Kameraden voran – dem Smaragdfels entgegen.
Die Vorhut bildeten Armbrustschützen und Musketiere. Es waren gut siebzig Mann; viele von
ihnen hatten sich schon bei den Expeditionen von Córdova und Grijalva Narben und Ruhm erworben – wie Juan Soares, den man mit Recht das Auge des Heeres nannte, da er ebenso umsichtig
wie scharfsichtig war. Gleiches galt für den Bogenschützen Pedro de Tirado, einen der besten
Soldaten des Heeres. Sebastián Rodríguez, im Nebenberuf Trompeter, und der alte Santisteban
waren ebenfalls ausgezeichnete Armbrustschützen.
Santisteban war einer der drei Überlebenden des Gemetzels beim Hafen Matanzas auf Kuba. Dreißig Kastilier und zwei Kastilierinnen waren dort gestrandet. Ihr Schiff war zur Sklavenjagd
ausgelaufen. Vom Schiffbruch angelockte Indianer hatten sich freundlich erboten, sie in Kanus
über den Fluss zu setzen. Doch mitten auf dem Fluss stachen die Indianer die Wehrlosen nieder
und ließen nur die beiden Frauen und drei der Männer am Leben, nämlich den alten Santisteban,
Pedro Lope Cano mit den sauberen Händen und Domenico Mejía Hinojora, den Enkel der Räuberin. Eine der beiden Frauen, des Lope Cano vor kurzem erst angetraute junge Gattin Elvira, nahm
sich der Häuptling. Die drei Kastilier wurden an andere Indianer verschachert und lernten als weiße Sklaven die Kehrseite des Sklavenhandels kennen. Ein Jahr später war es Cortés gelungen,
Santisteban, Cano und Hinojora aus der Hand ihrer Peiniger freizukaufen. Die beiden Frauen aber
waren von den Indianern nach der tierra ferma hinübergerudert worden und blieben unauffindbar.
Die Vorhut wurde von drei Reitern angeführt. Außer Diego de Ordás, der voraneilte, waren
es der Hauptmann Francisco de Lugo und der jüngst zum Capitán ernannte Gonzalo de Sandoval.
Pedro Barba, der Hauptmann der Armbrustschützen, bis vor kurzem noch Vizestatthalter und
Stadtkommandant von La Havanna auf Kuba, hatte nicht mehr die Zeit gehabt, sich vor der Einschiffung ein Pferd zu kaufen, als er Cortés – statt ihn in Ketten zu legen – die Haftbefehle des
Gobernadors Diego de Velásquez aushändigte. So musste Barba an der Spitze seiner Truppe zu
Fuß nach Mexico marschieren. Zwei Hunde trabten neben, vor und hinter den Armbrustschützen
und umkreisten sie wie eine Schafherde. Der eine war der Jagdhund, der dem Grijalva auf der
kaninchenreichen Insel entlaufen war und den dann Alvarado so wohlbeleibt wieder fand, dass das
Tier sich kaum noch bewegen konnte. Doch jetzt hatte der Hund seine natürliche Gestalt wiedererlangt. Er hieß Moro.
Der andere Hund, eine Dänische Dogge, gehörte dem Hauptmann Francisco de Lugo und
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war sein Stolz, denn das Tier war ein Enkel des berühmten Becerrico, der sich in den Antillen als
hervorragender Sklavenfängerhund erwiesen hatte. Von den Indianern wurde er für einen abgerichteten Puma gehalten; schon sein Anblick nahm ihnen allen Mut. Bei Scharmützeln sprang er
den Feinden an die Gurgeln und erwürgte in kurzer Zeit mehr Gegner, als zehn Spanier im selben
Zeitraum zu töten vermochten. Und er verstand es auch, ganze Indianerhaufen einzukreisen und
einzufangen. Seiner Taten wegen wurden diesem Tier menschliche Ehren erwiesen. Während die
Krone von Kastilien ein Fünftel aller Beute zugewiesen bekam, erhielt Becerrico anderthalb Teile.
So wurde der Hund zum Besitzer von Beute und Land. Sein Herr verwaltete die Güter im Namen
des Hundes. Auch der Hund des Hauptmanns hieß wie sein berühmter Großvater Becerrico. Sein
edles Geblüt berechtigte zu allen Hoffnungen; nur seiner Jugend war es zuzuschreiben, wenn er
bisher keine Ruhmestaten vollbracht hatte. Hauptmann Lugo schätzte den Stammbaum seiner
Dogge umso höher ein, als er selbst der Bastard eines verarmten kastilischen Kavaliers war.
Cortés hatte Befehl gegeben, ein Stück Weges am Strand entlang nach Süden zu ziehen,
wo die Dünen sich verflachten und wo es leichter sein würde, die Artillerie und den Tross voranzubringen; bei einer einsam stehenden Federpalme sollte das Heer nach Westen abbiegen. Als sie
die Stelle erreichten, stieg der Generalkapitän von seinem Ross. Er hatte eine runde Elfenbeindose aus der Tasche gezogen, den Deckel aufgeklappt und seinen Blick hineingesenkt. Marina, die
alles beobachtete, was ihr Idol tat, trat näher und betrachtete neugierig den Behälter, der etwas
größer als eine Männerhand und eine halbe Hand hoch war.
»Was habt Ihr da, Herr?«, fragte sie auf Nahuatl.
Er verstand nicht, was sie sagte, doch ihr Blick auf die Dose war beredt genug. »Eine Bussole«, antwortete er freundlich und ließ sie einen Blick ins Gehäuse tun. Dort drehte sich hinter Glas
eine runde Scheibe, auf die ein vielzackiger Stern gemalt war. Die Scheibe schwamm in Alkohol –
als Dämmflüssigkeit, was ihrer Drehbewegung eine gewisse Laufruhe gab. Auffällig war auch eine
blumenähnliche Zeichnung am Rand der Scheibe sowie eine ähnliche, aber kleinere Blumenranke
im rechten Winkel rechts davon.
»Bussole? Was macht man damit?«, fragte sie, wiederum in der Sprache der Mexica.
Cortés verstand nur Bussole. Er winkte Aguilár herbei. »Fragt sie, was sie gesagt hat.«
Der Pater sah auf die Dose und antwortete widerwillig: »Ihr wollt der Wilden doch nicht etwa
dieses Teufelszeug näher bringen?«
»Marina ist keine Wilde, sondern eine schöne und kluge Frau, wie sogar Ihr bemerkt haben
dürftet«, antwortete Cortés nachsichtig. »Und die Bussole ist kein Teufelszeug, Padre, sondern ein
sehr vernünftiges Instrument, das uns die Richtungen des Himmels zuverlässig anzeigt.«
»Ein Instrument des Satans!«, rief Aguilár fiebernden Auges, »der die Menschen damit in die
Irre treiben kann. In Kastilien hat die Heilige Inquisition schon Anhänger dieses Aberglaubens verbrannt.«
»Fraile, Ihr wart zu lange in indianischer Gefangenschaft. Inzwischen ist dieser Kompass ein
anerkanntes Mittel der Seefahrer, das sie den Weg übers Meer finden lässt. Das Sanctum Officium
sieht keinen Anlass mehr zu seiner Ächtung. Für seine Eigenart, die Nordrichtung anzuzeigen, gibt
es eine ganz einfache Erklärung. Unter dieser Lilie«, Cortés zeigte auf die blumenartige Verschnörkelung, »befindet sich ein Stück Magnetit, ein magnetisches Metall, das sich stets nach
Norden ausrichtet, wie man seit der Entdeckungsfahrt des Cristóbal Colón weiß. Die große Lilienzeichnung ist die stilisierte Form des Buchstabens T – für Tramontana, der Nordwind.«
»Und die kleine Zeichnung rechts davon?«
»Das ist das Symbol für Levante, der Ostwind. Er zeigt uns die Richtung nach Jerusalem.
Wie kann so etwas des Teufels sein? Also, fragt sie jetzt.«
Aguilár schien beruhigt. Wie das Gerät funktionierte, war ihm zwar immer noch undurchsichtig, doch dass im dunklen Norden die finsteren Mächte hausten, war ihm selbstverständlich. Wenn
das Instrument überdies zu den heiligen Stätten der Christenheit wies, wurde sein böser Einfluss
gewiss neutralisiert. Der Fraile war überzeugt, dass die Kirche dies in ihrer Allmacht bewerkstelligt
hatte, bevor die Seefahrer das Instrument benutzen durften. So folgte er der Aufforderung des
caudillo und fragte Marina in Maya. »Sie will wissen, was das ist«, erklärte er dann.
Marina schaute mit Inbrunst auf den Generalkapitän. »Das ist ein Kompass, er zeigt die
Richtungen an«, ließ dieser Aguilár ausrichten.
Zwischen Marina und dem Frater entwickelte sich ein lebhafter Dialog. Cortés bemerkte,
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dass der Mönch heftig und unwirsch diskutierte, während Marina eher verunsichert schien. Nach
einer Weile unterbrach Aguilár die Diskussion. »Sie versteht es nicht! Ich habe versucht, ihr dieses... dieses Instrument begreiflich zu machen, doch vergeblich. Für sie ist es eine Zauberbüchse!
Sie will wissen, welche Macht Ihr damit auszuüben imstande seid. Ich habe ihr gesagt, dass sie
ketzerische Gedanken hegt, aber auch das hat sie nicht begriffen.« Der Franziskaner ereiferte
sich.
»Hört zu, Aguilár, das ist nicht verwunderlich. Wie sollte sie etwas begreifen, das ihr völlig
fremd ist? Selbst uns erscheint die physica der Materie noch immer geheimnisvoll, selbst wenn wir
ihre Wirkungen kennen. Sagt ihr, dass ich damit weder Macht noch Einfluss ausübe, sondern nur
den richtigen Weg finde.«
Aguilár widersprach: »Aber das Ding zeigt Euch doch nur den Norden an! Wie kann ich da
sagen, es zeigt Euch den Weg?«
»Der Kompass zeigt immer nach Norden, auch in der Nacht und wenn die Sonne nicht
scheint. Und davon kann man alle anderen Richtungen ableiten. Ich muss es erklären, wie sie es
versteht. Sagt es Ihr jetzt.«
Der Frater übersetzte, und Marina antwortete ihm mit sichtlichem Erstaunen. »Sie fragt, ob
die Zauberbüchse Euch auch den Weg über das große Ostmeer gezeigt hat.«
»Sagt ihr, gerade dort hat sich ihre Kraft bewährt. Wir haben kein Land gesehen, doch die
Bussole zeigt uns, in welche Richtung wir den Bug unserer Schiffe richten mussten. Und erklärt ihr,
dass die Kompassrose ständig nach Jerusalem zeigt, wo unser Herr am Kreuz gestorben ist.«
Marina schaute mit scheuer Ehrfurcht auf den Schiffskompass. Sie hatte schon gewusst:
Mein Herr ist auch ein mächtiger Zauberer! Er kam über den großen Ozean, und in der Zauberbüchse ist eine Scheibe – oder ist es ein Spiegel? – die ihm sagt, wo der Gott Xesu Quilisto von
seinen Feinden ermordet wurde. Ihr Herr war unfassbar und rätselhaft!
Cortés drängte zum Weitermarsch, und bald zog das Heer wieder westwärts. Jenseits der
Dünen breitete sich eine öde, steinige Ebene aus. Der Marsch war wenig reizvoll und anstrengend
in der grellen Junisonne. Wasser war knapp und die Vegetation spärlich, dafür hatten sie einen
überwältigenden Anblick auf die in der Ferne emporragende Kordillerenkette.
Nach der Vorhut war das Gros des Heeres und schließlich, nicht ohne Mühe, auch die Artillerie und der Tross über die Düne in die Ebene gelangt. Als einer der letzten, in Begleitung seines
neu gewonnenen Freundes Juan Velásquez de León und des Pagen Orteguilla, ritt Cortés hinter
der Nachhut und sah zum ersten Mal den beängstigend hohen, schneebedeckten Bergwall, den es
zu übersteigen galt. Zwei gletscherweiße Spitzen vor allem, der später von den Spaniern Cofre de
Perote genannte erloschene Vulkan im Norden und der noch höhere Pico de Orizaba im Süden,
überragten das gewaltige Gebirge. Neben dem siebzehntausend Fuß hohen Orizaba erschienen
alle Berge, die Cortés in seiner Heimat gesehen hatte, wie lächerliche Hügel. Dem Generalkapitän
dämmerte allmählich, welche Strapazen sie erwarten würden; trotzdem sagte er leichthin zu
Velásquez de León: »Gleich beim ersten Schauspiel, das sich uns bietet, wird die Alte Welt von
der Neuen in den Schatten gestellt! Die kaiserlichen Kartographen werden begierig sein, den Namen dieses Ungetüms zu erfahren. Ob der Berg wohl einen Namen hat?«
»Der Berg dort im Süden heißt Citlaltépetl, Euer Gnaden!«, sagte der Page. Er war der Sohn
eines Infanteristen, ein schöner Knabe von zwölf Jahren.
»Wie?«, sagte Cortés. »Sitatpepet...? Der Teufel hat diese Sprache erfunden, um uns zu
narren!«
»Euer Gnaden sprechen es falsch aus. Nicht Sitatpepet, sondern Citlaltépetl – das bedeutet
Sternberg. Citlatin heißt nämlich Stern, und Tepetl heißt Berg.«
»Du kannst Mexicanisch?«, fragte Cortés erstaunt. »Wer hat es dich gelehrt?«
»Doña Marina«, antwortete der Page.
Cortés schaute den Pagen nachdenklich an. Wenn Marina sich mit Orteguilla unterhalten
konnte, beherrschte sie das Spanische wohl bald gut genug, dass man auf Aguilár als
Mitübersetzer würde verzichten können. Nach einer Weile sagte er zu Velásquez de León: »Ich
habe es versucht, musste es aber aufgeben. Die Sprache lernt kein Erwachsener. Marina beherrscht sie, weil sie sie als Kind erlernt hat. Nicht umsonst nennen wie sie La Lengua – die Zunge. Was unsere Dolmetscherin wert ist, hat uns jeder Tag gezeigt. Bald wird sie uns erst recht unentbehrlich sein. Doch es könnte ihr etwas zustoßen, sie könnte erkranken – was Gott verhüte! Ich
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denke daher, es wäre angebracht, diesen Knaben das Mexicanische gründlich erlernen zu lassen.«
»Gute Idee, ich muss Euer Gnaden zustimmen«, antwortete Velásquez de León. »Der Verstand eines Kindes ist wie ein Schwamm; seine Ohren lassen mehr ein als unsere Augen. Ein Kind
lernt diese Teufelssprache spielend. Und der Orteguilla zeigt Lust und Begabung dafür. Wenn wir
in die Stadt Cempoala zum dicken Kaziken kommen, sollte man ihm den Knaben in die Lehre geben.«
Cortés nickte und winkte dem Pagen, ihm rasch zu folgen. Dann ritt er an den Tross heran.
Die Frauen des Heeres gingen zu Fuß. Nur die reiche Abenteuerin María de Estrada hatte den
Rappen des Puertocarrero erstanden, als die Karavelle mit der Botschaft des Heeres an Kaiser
Karl nach Europa lossegelte. Und gegen Bezahlung waren auch der Stahlpanzer des Montejo und
sein Helm in ihren Besitz übergegangen. Sie ritt unternehmungslustig im Gros des Heeres unter
den Reitern und Hauptleuten. Die anderen Frauen aber schritten hochgeschürzt und der Hitze wegen halb entkleidet mitten im Tross dahin, breite, strohgeflochtene Federhüte auf den Köpfen und
Bündel auf dem Rücken.
Von zwei Negersklaven wurde in einer vom Tischler Cristóbal de Jaén aus
Kassavebrotkisten gezimmerten Sänfte die Sklavin Marina getragen. Dies hatte Cortés angeordnet, damit sie nicht ermüde, nicht erkranke und nicht in die Gefahr komme, von Dornen gestochen
oder einer Schlange gebissen zu werden. Marina war unersetzlich! Weil er den Neid der zu Fuß
gehenden Damen und ihrer Liebhaber kannte, hatte er einem seiner vornehmsten Soldaten, dem
reichen und nicht mehr jungen Juan Pérez Arteaga, Befehl erteilt, nie von Marinas Sänfte zu weichen und ihr Beschützer, Hofmeister, Diener und Gesellschafter zu sein.
Als er ihre Sänfte erreichte, sagte er, der Knabe Orteguilla werde ihr von nun an als Page
dienen. Dafür sollte sie ihn Mexicanisch lehren. Marina schwieg vor Ergriffenheit. Wenngleich sie
Sklavin war, hatte sie einen hoch angesehenen Hofmeister und nun auch einen zierlichen Pagen.
Sie dachte an Josef in Ägypten und das blutige Hemd.
Frater Aguilár, der Dolmetscher, ging auf der anderen Seite der Sänfte. Als Marina wie zufällig hinüberschaute, sah sie seinen versengenden Blick auf sich gerichtet. Sie erschrak und wandte
sich unwillig ab. Es war nicht das erste Mal, dass der Asket sie anstarrte, doch wenn Aguilár mit ihr
sprach, hielt er stets den Blick gesenkt. Was hatte das zu bedeuten? War es Eifersucht, Neid oder
Anbetung?
*
Zwei Tage später hinderte ein von hohen Bäumen umsäumter breiter Fluss mit starkem Gefälle
den Weitermarsch. Obwohl in weiser Voraussicht zwei Boote mitgeführt wurden, dauerte es doch
Stunden, bis das ganze Heer übergesetzt war. Auf den Nachen, in denen jeweils nur wenige Mann
Platz fanden, konnten die Pferde und die Artillerie nicht hinübergebracht werden; und das Herrichten der Flöße nahm viel Zeit in Anspruch. So zogen es einige vor, hinüberzuschwimmen. Bernal
Díaz del Castillo, der Ritterliche, war der erste, der sich in den Fluss wagte. Als er glücklich ans
andere Ufer gelangt war, folgten sein Freund Martín Ramós und noch einige Soldaten, darunter
Pedro de Tirado, Gonzalo Domínguez und Galleguillo, der kleine Galicier. Andere konnten gegen
die reißende Strömung nicht ankämpfen und kehrten um.
Da entledigte sich María de Estrada, die blondlockige Amazone, ihres Helms und Panzers
und warf die Kleider ab. Die Weißhand Lope Cano stieg mit der Mulattin Beatriz de Acevedo in
einen der Nachen; María bat ihn, Rüstung und Kleider mit hinüberzunehmen. Als sie ihr Hemd
abwarf, stießen alle, die am Ufer zusahen, Schreie der Bewunderung aus; knabenschlank stieg sie
ins Wasser, und als sie zu schwimmen begann, schillerten Schenkel und Hüften wie leuchtendes
Emaille im schäumenden Wasser. María de Estrada schwamm neben dem Boot und gab schlagfertig und fröhlich die Scherze der Insassen zurück. Der Mulattin Beatriz de Acevedo war vom
Schaukeln des Bootes schlecht geworden. Sie hatte sich Cano auf den Schoß gesetzt und umschlang mit den Armen seinen Hals. Plötzlich schrie sie auf und zeigte auf den aus dem Wasser
ragenden Kopf eines Kaimans. Der große Alligator näherte sich rasch der Schwimmenden, die ihn
– vom Schrei gewarnt – jetzt ebenfalls sah. Die Ruderer im Boot waren ohne Waffen. Cano hatte
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die Hände nicht frei, musste sich erst von der Umklammerung der Mulattin befreien. Ihm blieb gerade noch Zeit genug, eine Hellebarde zu ergreifen und sie dem Kaiman in den Rachen zu stoßen.
Das Tier verschwand mitsamt der Hellebarde. María war gerettet und konnte unversehrt das Ufer
erreichen. Nackt wie sie war, ging sie auf Lope Cano zu, als dieser aus dem Boot stieg, und küsste
seine saubere Hand.
»Mein Leben war verloren, Señor! Es gehört in Zukunft Euch!«, sagte sie mit strahlendem
Blick. Die Mulattin Beatriz de Acevedo bekam einen Weinkrampf und war nicht mehr zu beruhigen.
Ihr alter Gatte, der kahlköpfige Suárez, musste sie davontragen.
Erst am späten Nachmittag, nachdem die Artilleristen die Geschütze, die Singende Nachtigall und die anderen Kanonen, Kartaunen, Feuerschlangen und Falkonette über den Fluss geschafft hatten, konnte der Marsch fortgesetzt werden. Da der Fluss nach Westen abbog, befahl
Cortés, am Ufer entlang zu ziehen. Die Landschaft wurde freundlich. War den Soldaten der steinige Weg bis zum Fluss wie der Weg in die Hölle erschienen, so glaubten sie sich jetzt in ein Land
der Seligen versetzt. Sie hatten die Küstengegend, die ihnen bislang so öde erschienen war, das
»glühende Land« genannt, la tierra caliente. Jetzt tauften sie die Gegend um und nannten sie das
»irdische Paradies«, el paraíso terrestre. Im hohen Gras blühten exotische Blumen, von handgroßen Atlasfaltern, Kolibris und Honigsaugern umschwirrt. Sie sahen äsende Hirschherden in der
Ferne. Marder, Gürteltiere und Kaninchen sprangen davon; in tropischem Gebüsch hingen Faultiere, tollten und kreischten Affen, schwarze Wassermarder und Papageien.
Cortés schickte einen Trupp Berittener aus, Frischfleisch zu jagen. Die Marschierenden legten in Erwartung eines saftigen Abendschmauses im Marschtempo zu, doch einige wenige erfreuten sich auch an den Blumen. Ein gutmütiger kleiner Soldat, Hernándo Alonso aus Villanueva, der
während der Grijalva-Expedition bei den Kämpfen in Tabasco seinen linken Arm eingebüßt hatte,
trat aus Reih und Glied, um eine Cypurablüte zu pflücken. Er hatte nicht bedacht, dass der jähzornige Hauptmann Avila hinter ihm ritt. Fluchend galoppierte Avila mit angelegtem Speer heran und
durchbohrte dem Einarmigen den leeren Ärmel. Das machte viel böses Blut. Der kleine Soldat
aber wurde – weil es im Heer noch mehr Einarmige gab – von nun an el Maneguillo de Villanueva
genannt, der Einarmige von Villanueva.
Gegen Abend erreichten sie ein Dorf, doch außer ein paar Truthühnern trafen sie niemand
an. Die Dorfbewohner hatten die Soldaten heranfluten sehen; in panischer Angst vor den Hirschmenschen, den Reitern, und der Dogge Becerrico, die sie für einen abgerichteten Puma hielten,
hatten sie das Weite gesucht.
Hier wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Indianische Männer zur Hilfeleistung, aber mehr
noch indianische Mädchen zum Zeitvertreib wären erwünscht gewesen. An Fackeln, Kochgerät
und Mahlsteinen fehlte es nicht; Feuer brannten noch in den Herden der sauberen, mit Stroh und
Binsen pilzförmig überdeckten Hütten. Von Kaktusfeigen, Zwergbohnen, Mais und Chayotte – einer kürbisartigen Frucht – fanden sich reichliche Vorräte, und die Jäger hatten etliche Hirsche und
eine ganze Reihe Kaninchen erlegt.
Wenig höher als die Häuser erhob sich am Dorfende eine bescheidene, aus Lehm erbaute
Tempelpyramide. Der Namenlose stieg die Stufen des verlassenen Gotteshauses empor. Auf der
kleinen Plattform vor dem Heiligtum wandte er sich um und ließ den Blick über die Grasebene
schweifen, von deren leuchtendem Wiesengrün sich die langen blauen Abendschatten der Bäume
und Berge dunkel abhoben. Mit dem Armstumpf beschattete er seine Augen, während die untergehende Sonne Frieden auf die Landschaft ringsum senkte. Selbst das Klappern und Lärmen der
im Dorf sich tummelnden Soldaten klang wie aus weiter Ferne herauf. Er war von allen der Einzige, der die Schönheit dieser Stunde empfand. Ein Kardinalsvogel sang im nahen Gebüsch, und
zwei Reiher, mit lang herabhängenden, pendelnden Beinen, flogen am violetten Himmel der Sonne
zu. Angerührt vom Zauber der Stunde ging er in den Tempelraum hinein, kam aber gleich darauf
wieder herausgestürzt und floh entsetzt ins Lager zurück.
Er schaute verstört. Die Kameraden fragten ihn, was los sei. »Der Tempel!« Er wies nach
oben. »Geht selbst hin... ich kann es nicht beschreiben!«, stieß er hervor.
Dort fanden sie fünf geschlachtete Kinder! Vor kaum einer Stunde mochten die armen Wesen geopfert worden sein. Marina erklärte es: Die Dorfbewohner wollten die weißen Götter besänftigen, denn ihr Herannahen hatte die Leute in Schrecken versetzt. Schrecken soll den Schrecken
bannen! Den Kindern – drei Knaben und zwei Mädchen – waren die Brustkörbe aufgeschnitten, die
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Herzen herausgerissen und Arme und Beine abgehackt worden. Die Gliedmaßen hatten die Dorfbewohner mitgenommen, um sie zu verzehren, wie es dem Ritus entsprach. Den weißen Göttern
war das Opfer dargebracht; doch die weißen Götter lehnten es ab.
»Solche Gräuel auszurotten, ist unser Ziel. Dafür wollen wir unser Leben hingeben!«, rief Pater Olmedo aus. Was er sagte, empfanden die meisten. Mochte Abenteuerlust oder Goldgier sie in
dieses Land gelockt haben, so hielten sie sich doch vor allem für Kreuzritter.
*
Vor den Zelten brannten die Feuer, brodelten die Kessel. Die Marketenderin Catalina Márquez
hatte ihre Augen überall, war überall, half überall und wischte sich den Schweiß von den roten
Wangen – mit Recht trug sie den Spitznamen die Goldhyazinte. In Gruppen saßen und lagen die
Männer um die Feuer, schwätzten, lachten, aßen. Den Gräuel der geopferten Kinder hatten die
rauen Männer rasch verdrängt. Die flackernden Flammen malten wabernde Flecke auf die Lederwämser, Stahlwaffen, Sturmhauben und sonnenverbrannten Gesichter.
Auch nach dem Nachtmahl wollte sich keine Müdigkeit einstellen – kurz war der Tagesmarsch gewesen. Der Mond hatte die Sonne abgelöst; sein bleicher Metallglanz tauchte in den von
den Wiesen hochschleiernden Nebel. Weißglühende, heuschreckengroße Leuchtkäfer flogen umher. Ein Kojote heulte irgendwo weit draußen in der Grasebene, und Moro und Becerrico antworteten mit sehnsüchtigem Gebell.
»Wir wollen tanzen!«, rief el Niño, der feiste Alonso Luís. Der Bergmann und Tanzmeister
Ortiz stimmte seine Gitarre und rief nach La Bailadora. Sie hatte soeben ihren Schützling, den
blinden Knaben Pancho Luna, schlafen gelegt. Als sie vernahm, dass ihr Tanz begehrt werde,
kleidete sie sich um und erschien alsbald in einem kurzen, kaum bis zu den Knien reichenden
Röckchen und einem straff geschnürten Mieder. Winzige Messingscheiben an Rock und Mieder
klirrten bei jedem ihrer Schritte; auf dem Kopf trug sie eine Kappe, auf der – wie Schuppen eines
Goldkarpfens übereinander gesetzt – ebenfalls Messingplättchen genäht waren. Ihre schwarze
Lockenmähne quoll verführerisch darunter hervor.
Der Tanzmeister Ortiz stimmte das Lied Unsere Frau der Sieben Schwerter an, und La
Bailadora tanzte! Andächtig und konzentriert, voller Hingabe zwang sie die Soldaten zu lautloser
Andacht. Sie zeigte ihre Blöße, doch ihr Tanz war Gebet, und keinem der Spanier wäre etwas anderes dazu eingefallen. Als sie geendet hatte und sich ermüdet, mit rot glühenden Wangen, dem
Beifall zu entziehen suchte, kam Jacobo Hurtado, der Reiche, auf sie zu.
»Werde mein Weib«, flüsterte er. »Ich meine es nicht wie die anderen. Pater Olmedo soll
uns trauen!«
Sie entwand sich seinem Griff und suchte Zuflucht bei ihrem blinden Knaben.
Dann tanzten auch die anderen, die Soldaten und die mitreisenden Frauen. Sogar der bucklige, stets missmutige Narr Cervantes wurde von der allgemeinen Ausgelassenheit mitgerissen,
sprang und watschelte grotesk umher, Arm in Arm mit dem verrückten Physikus und Apotheker de
Cerro. Der Bogenschütze Pedro de Tirado aber drehte sich zierlich im Kreise, wobei er die vornehme Pilar de Elgueta herzhaft an sich drückte. Und während er darüber nachsann, wie federleicht sie in seinen Armen lag, reifte sein Entschluss, sie noch fester an sich zu fesseln.
María de Estrada hatte sich ihren Lebensretter Lope Cano zum Tänzer gewählt. Aus
Schmerz darüber warf sich die Mulattin Beatriz de Acevedo dem wüsten Mansilla, dem Durstigen,
an den Hals. Dass auch die anderen Frauen sehr umworben waren, versteht sich von selbst. Dolores de Cuenca, die eine Schwäche für Italiener hatte, tanzte mit dem Venezianer Maldonato, einem frühreifen, sechzehnjährigen Burschen. Und Isabel de Ojeda, die olivenbleiche, ließ sich vom
stattlichen Alonso de Barrientos im Kreise herumwirbeln.
Da trat der junge Fähnrich Antonio Villaroel an sie heran und reichte ihr zwei große, grünbraune Orchisblumen. Er war der Untergebene des Diego de Ordás. Eitel war er auf diese frischen
Lorbeeren, eitler aber noch auf sein anziehendes Äußeres. Sein Kummer war sein bürgerlicher
Name, der dem des portugiesischen Markgrafen Villareal so ähnlich klang. Neuerdings nannte er
sich Villareal statt Villaroel. Er überreichte Isabel die Blumen und sagte:
»Don Diego de Ordás schickt Euch, Doña Isabel, diese Venusschuhe als Wahrzeichen sei-
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ner Liebe und als Bewunderung für Eure liebreizenden, kleinen Füße.«
Die olivenbleiche Isabel sah ihn nur an. »Ich bin schuldlos an seiner Liebe, Señor«, sagte
sie.
»Wollt Ihr den alten Mann so kränken, Doña Isabel, und seinen Gruß zurückweisen?«, fragte
Villareal beinahe flehentlich.
Isabel warf ihm einen abweisenden Blick zu. Doch bald glätteten sich ihre Züge. Sie wunderte sich, dass sie diesen Jüngling bisher nicht beachtet hatte. Gewiss war er einer der Schönsten im
Heer. Und sie war – das wusste sie – die Schönste!
»Ich will die Blumen nehmen, Señor, weil sie aus Eurer Hand kommen!«, sagte sie. »Geht zu
Eurem Herrn Don Diego und überbringt ihm meinen Dank und meinen Kuss, den ich Euch für ihn
gebe!« Isabel beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund.
Hauptmann Ordás hatte diesen Auftritt von weitem beobachtet. Als Villareal ihm Isabels Botschaft ausrichtete, nickte er nur schwermütig. Auf den Kuss verzichtete er. Einsam inmitten der
tollenden Lebenslust stieg er die Tempeltreppen hinauf und nahm auf der obersten Stufe Platz. Er
kannte Isabel de Ojeda und ihren jüngeren Bruder Alonso seit ihrer Kindheit. Vor zehn Jahren war
er Reisebegleiter und Freund ihres Vaters gewesen – jenes prachtvollen, unglücklichen Alonso de
Ojeda, der die Küstenstriche nördlich des Orinoko entdeckt und dem Land, seiner Pfahlbauten
wegen, den Namen Venezuela gegeben hatte, Klein-Venedig.
Die Lebensgeschichte von Isabels Vater mutete wie eine Sage aus der
Wikingerzeit an. Als vor Jahren Königin Isabella von Kastilien in seiner Heimatstadt Salamanca zu Besuch auf weißem Zelter durch die Gassen ritt,
stieg er, ein Jüngling noch, auf den hohen Giralda-Turm, wo ein zwanzig Fuß
langer Balken aus einem Fenster ragte. Alonso schritt auf dem schmalen Balken dahin, bis ans Ende, und hob ein Bein, wobei er sich im Kreis drehte.
Schon glaubten Volk und Königin, er stürze herab. Doch ohne zu schwanken,
kehrte er ans Fenster zurück und verbeugte sich anmutig vor Isabella. Sie
nahm ihn in ihren Dienst!
Alonso de Ojeda (um 1466–1516),
spanischer Seefahrer und Entdecker
Nach der Entdeckung Venezuelas wurde er vom Vorsteher der indianischen Angelegenheiten, dem Bischof Fonseca von Burgos, zum Gobernador des an Veragua grenzenden Landes
Urabá ernannt. Mehr als den Titel gab ihm Spanien nicht; den Besitz der ihm verliehenen Provinz
sollte er sich erst erkämpfen. Der erste Kartograph Amerikas, Juan de la Cosa, und Diego de
Ordás begleiteten Ojeda auf dieser schlecht ausgerüsteten, dem Untergang geweihten Expedition.
Um die indianische Stadt Calamar einzunehmen, war Ojeda mit Juan de la Cosa und siebzig Mann
an Land gegangen; seinem Freund Ordás hatte er die Aufsicht über die Karavellen übertragen. Als
nach fünf Tagen keiner der Ausgezogenen zur Küste zurückkehrte, brach Ordás mit Bewaffneten
auf, die Gefährten zu suchen. Sie fanden sie in einem Wald, tot, alle siebzig niedergemetzelt; die
Leiche des Kartographen war schwarz, aufgedunsen und entstellt vom Pfeilgift der Indianer. Nur
Ojeda fehlte. Weitab von den anderen wurde auch er schließlich entdeckt, im Gebüsch liegend,
fast verhungert, halb verblutet, doch ohne Giftwunden. Es war ihm gelungen, sich zu verstecken
und dank seiner Löwennatur zu überleben. In seinem Schild staken dreißig Pfeile.
Beim nächsten, diesmal siegreichen Gefecht mit Indianern durchbohrte ein Giftpfeil den
Schenkel Ojedas. Da befahl er seinem Arzt, eine Eisenstange weiß glühend zu machen und durch
den Schenkel zu stoßen. Schreckensbleich weigerte sich der Arzt, bis Ojeda ihm den Galgen androhte. Während der grässlichen Prozedur ließ Ojeda sich nicht festhalten, wie manch anderer es
getan hätte; er setzte sich so, dass er Zuschauer der Ausbrennung wurde. Das weiß glühende
Eisen verkohlte nicht nur einen Teil des Schenkels, es dörrte auch den übrigen Körper so sehr,
dass Bauch, Brust und Hals noch lange hernach mit Weinessig gekühlt werden mussten.
Der Mangel an Lebensmitteln trieb das dezimierte Eroberungsheer bald zur Verzweiflung.
Die Ankunft eines genuesischen Korsaren mit Namen Talavera, auf dessen Schiff sich viel Piratenbeute befand, brachte wieder Hoffnung. Die Soldaten gaben ihre Habe her, um dem Seeräuber
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Brot und gesalzenes Fleisch abzukaufen. Ojeda konnte den Korsaren überreden, ihn und seine
Leute nach Haiti zu bringen. Mit Diego de Ordás und den übrigen Begleitern bestieg der Statthalter
das Schiff des Freibeuters. Ein Sturm verschlug es an die Westspitze Kubas; dann zerschellte es
in der Meerenge zwischen Kuba und Yucatán. Ein Teil der Besatzung rettete sich auf die Insel
Cozumel, fiel den Eingeborenen in die Hände und wurde einer nach dem andern verspeist. Nur
zwei kamen mit dem Leben davon: der Frater Jerónimo de Aguilár, der spätere Dolmetscher des
Cortés, und jener Matrose Gonzalo Guerrero, der es vorzog, Indianer zu bleiben, als er die Möglichkeit hatte, zu den Christen zurückzukehren.
Den anderen Schiffbrüchigen aber gelang es, an Planken und Schiffstrümmer geklammert,
die östlich gelegene, äußerste Spitze der lang gestreckten Insel Kuba zu erreichen. Von dort bis zu
den europäischen Niederlassungen war ein Fußmarsch von Wochen zu bewältigen. Er führte
durch schwülfeuchten Dschungel und endlosen Morast. Als ein indianisches Kanu gefunden wurde, befahl Ojeda, Ordás solle nach Jamaica hinüberrudern, um Hilfe zu erbitten. Der Statthalter
schickte umgehend eine Karavelle mit Lebensmitteln, Kleidung und Hilfsmannschaften ab, obwohl
Ojeda einst geschworen hatte, ihm den Garaus zu machen, wenn er ihn träfe. Der Anführer dieses
Schiffes war Pánfilo de Narváez, der Neffe des Diego de Velásquez, des Statthalters von Kuba.
Die Gestrandeten wurden an Bord gebracht. Als das Kanu mit Ojeda an der Karavelle anlegte, rief ihm der redegewandte Pánfilo de Narváez mit mächtiger Stimme freundliche Trostworte zu
und begrüßte den in Lumpen gekleideten, gebrochenen Mann als Statthalter von Urabá. Doch
Ojeda antwortete darauf nur:
»Mi remo no rema.« Mein Ruder reagiert nicht mehr!
Wenige Monate später starb er an Erschöpfung. Der Gobernador von Urabá hinterließ nur
Schulden und zwei Kinder, die achtjährige Isabel und ihren um ein Jahr jüngeren Bruder. Ordás
nahm sich der beiden Waisen an und gab ihnen die Erziehung, wie sie Kindern eines Statthalters
zukam. Seine väterliche Zuneigung wurde zur Vergötterung, als Isabel zu außergewöhnlicher
Schönheit heranwuchs. Um sie nicht schutzlos zurückzulassen, hatte er sie und ihren Bruder Alonso überredet, mit nach Mexico zu ziehen. Er wollte der Wächter ihrer Schönheit sein und hoffte, ihr
mehr sein zu können. Sie aber dankte ihm auf eine Weise, die wehtat.
*
Spät an diesem Abend hielt der Kämmerer Rodrigo Rangel wieder eine Ansprache an Cortés:
»Wäre ich eine Kuh in Andalusien, ich würde bei einem Gang durch die Gassen Sevillas den Kopf
nicht unmutiger schütteln als ich es hier tun muss, auf dem Weg ins Fabelland Mexico. In Sevilla
gibt es Fleischerläden – ja, ein bitterer Anblick für eine Kuh. Doch hier gibt es einen Opfertempel –
ein bitterer Anblick für einen Menschen! Suche ich aber nach einem Unterschied, dann finde ich
keinen. Würde Moctezuma ein Stück Menschenfleisch essen, wenn er denken könnte wie wir?
Würden wir ein Stück Rindfleisch essen, wenn wir denken könnten wie eine Kuh? Das ist es: Wir
denken nicht, wenn wir essen! Dem Namenlosen ist die Hand bei lebendigem Leibe abgehackt
und auf den Schindanger geworfen worden, wo sie von Ratten und anderem Geschmeiß gedankenlos zernagt wurde; die Indianer aber hacken den Leichen die Arme ab, bereiten sie appetitlich
zu mit Öl, Pfeffer und anderen Gewürzen, schmoren sie, verzehren sie selbst und sagen: ›Ich kaue
und esse meinen Gott!‹ Ich bitte Euer Liebden, was ist christlicher? Dass Avila den leeren Ärmel
Maneguillos de Villanueva durchbohrt, oder wenn Ordás einen toten Walfisch aufspießt? Kann ein
toter Fisch den Tod verdienen? So wenig wie ein leerer Ärmel. So wenig wie ein rotes Tuch. Aber
auch die Stiere denken nicht; nur die Kuh tut es, weil sie besinnlich ist und keinem Ziel nachjagt.
Womit ich nicht behauptet haben will, dass nicht auch Pferde denken. Aber was denkt sich so ein
Pferd, wie der Hengst des Tanzmeisters Ortiz, wenn es unablässig wiehernd hinter der Stute des
reichen Hurtado hertrabt? Oder wenn der Jammergaul Lope Cano hinter María de Estrada (die ich
für eine verzauberte Edelstute halte) hertrabt? Hat das einen Sinn? Verdient ein toter Fisch den
Tod, möchte ich nochmals fragen. Nein, er verdient den Tod nicht! Auch nicht den Opfertod; auch
nicht den Tod im Fleischerladen. Folglich – um es kurz zu machen – sollten wir ziellos sein. Nur
das würde uns befähigen, zu beruhigt-unbesorgten Kühen zu werden.« So sprach Rodrigo Rangel.
Am nächsten Morgen wurde der caudillo unerwartet früh geweckt. Pedro, ein getaufter India-
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nersklave aus Manzanilla auf Kuba, war aus Veracruz mit einem Brief des alten Escalante eingetroffen. Cortés überflog den Brief und gab Martín de Gamba, dem Stallmeister, den Auftrag, den
Romo zu satteln. Gleichzeitig ließ er Alvarado, Sandoval und den Kavalleristen Enrico Lares in
sein Zelt bitten.
»Escalante schreibt«, sagte er, »dass sich ein fremdes Schiff dem Hafen nähert, und er erbittet Verhaltensmaßregeln. Zum Glück sind wir noch nahe genug, dass ich selbst hinreiten und
nach dem Rechten schauen kann. Vielleicht will uns Diego de Velásquez einen Besuch abstatten.
Ich nehme Euch, Sandoval und Lares, als Begleiter mit. Und Ihr, Alvarado, sollt mich während
meiner Abwesenheit vertreten. Ich weiß, dass die Leute Euch mögen und Ihr daher keine Schwierigkeiten zu erwarten habt; aber haltet die Zügel nicht zu locker!«
*
Die drei Reiter schlugen einen scharfen Trab an. Mühelos hielt der Indianer Pedro Schritt mit ihnen, als wäre er ein nebenher tollender Windhund. Sie benötigten zwei Stunden nach Veracruz;
das Heer hatte dafür einen Tag gebraucht.
Das Schiff war inzwischen gelandet. Der alte Escalante erzählte, der Schiffskapitän sei ein
gewisser Francisco de Salcedo. Aus Veragna kommend, habe er in La Havanna zu spät von der
Unternehmung des Cortés gehört, habe sich mit zehn unzufriedenen Soldaten zusammengetan,
habe ein Schiff und drei Pferde gekauft und sei ihnen nachgereist, ohne Wissen des Statthalters
Don Diego de Velásquez.
»Mein guter Stern hat ihn hergeführt«, meinte Cortés. »Zehn Mann sind uns viel wert; und
noch mehr wert sind uns ihre drei Pferde!«
Da irrte er freilich. Denn als er auf den Marktplatz ritt, wo vor dem halb fertigen Magistratsgebäude die Neuankömmlinge auf ihn warteten, stellte sich heraus, dass mit den Pferden kein
Staat zu machen war: das eine hatte die Mauke und musste in Veracruz zurückgelassen werden;
die beiden anderen lahmten und waren infolge der Seefahrt ausgemergelt. Die Männer jedoch
waren gesund und tatkräftig.
Der Anführer Salcedo gefiel Cortés am wenigsten. Der Mann trug eine Freundlichkeit zur
Schau, die ihn misstrauisch machte. Wenn er ein Bein über das andere schlug, geziert den Ellenbogen und den kleinen Finger hob, sein Schnurrbärtchen streichelte, vor allem aber, wenn er mit
einer zur Schau getragenen Eleganz sprach, konnten Cortés und seine Begleiter sich eines ironischen Lächelns nur schwer erwehren. Salcedo war ein aufgeblasener Lackaffe!
»Wir haben Bernal Díaz unrecht getan«, flüsterte Cortés Sandoval ins Ohr, »als wir ihn den
Ritterlichen nannten! Er wird den Spottnamen abtreten müssen!«
Leutnant Luis Marín machte da einen besseren Eindruck. Er war ein hässlicher Kerl – grobschlächtig, rotbärtig, blatternarbig, mit Säbelbeinen, breiten Wangenknochen und einer auffallenden Spitznase; doch in grauen Augen spiegelte sich Besonnenheit. Sandoval erkannte in dem
Blatternarbigen mit dem roten Vollbart einen Jugendfreund, von dem er nichts mehr gehört hatte,
seit er von Europa fort war. Der ein paar Jahre jüngere Sandoval hatte einst in seinen Jugendjahren mit Luis Marín und dessen Freund Pedro Baracoa, dem prahlerischen Aufschneider, manche
Nacht durchschwärmt. Nun überbrachte Marín ihm Grüße von seinem Vater, dem Festungskommandanten Gregorio de Sandoval. Als Cortés den Leutnant befragte, antwortete er sachlich und
kurz. Cortés fühlte sofort, dass er einen tüchtigen Offizier vor sich habe.
Ein baumlanger Kerl stand neben Luis Marín: der Infanterist Antonio de Quiñones, stämmig
und lässig in der Haltung, mit pechschwarzem, verwildert-struppigem Bart und ebensolchem Haar;
schmalstirnig, brutal und gutmütigem Gesicht. Dass dieser Sechsundzwanzigjährige sein Lebensretter werden würde, konnte Cortés nicht ahnen; aber dass sein guter Stern ihm einen Dienst erwies, indem er ihm diesen Mann zuführte, sagte ihm die Menschenkenntnis.
Da standen auch noch zwei Freunde, schlank und gepflegt: die Reiter Francisco Martín de
Vendobal und Don Pedro Gallejo. Auf der Universität zu Salamanca hatten sie sich gefunden und
waren unzertrennlich. Die Hidalgos unterschieden sich von den meisten der unter diesem Himmelsstrich dem Eldorado nachjagenden Abenteurern durch ihre Universitätsbildung und das anerzogene Kavaliertum. Sie waren ernste und schweigsame Männer, besonders Don Pedro Gallejo,
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wie es Cortés schien.
Cortés ordnete an, dass Pedro, der flinke Läufer, die Neuangekommenen zum Feldlager begleiten solle. Er selbst ritt, nach einstündigem Aufenthalt, mit Sandoval und Enrico Lares zurück.
Als sie das Stadttor hinter sich hatten, sagte Cortés zu Sandoval:
»Zu einem Freund wie diesem Luis Marín kann ich Euch nur beglückwünschen, Señor. Dass
aber Pedro Baracoa Euer Freund ist, nimmt mich wunder!«
»Ich war vierzehn Jahre alt, als ich ihn kennen lernte, Euer Gnaden! Ich staunte ihn an wie
ein Meerwunder, weil er mir sein Erlebnis mit dem Grafen de Urueña und einem Don Pedro Jirón
erzählte«, antwortete Sandoval und fügte nach einer Pause hinzu: »Ich hatte dergleichen nie vernommen und habe seitdem auch nie Ähnliches gehört.«
»Vom Grafen de Urueña«, sagte Cortés, »soll Baracoa auch jetzt noch immerwährend fabulieren, sobald er ein Glas zu viel getrunken hat. Aber niemand glaubt ihm, wie ich hörte. Der Graf
de Urueña ist ein großer Herr, ein Grande von Spanien. Muss man nicht annehmen, dass Baracoa
lügt?«
»Er mag vielleicht ein wenig übertreiben, Euer Gnaden. Aber er lügt nicht.«
»Ist das ein Unterschied, Señor?«
»Gewiss. Wie zwischen einem Körper und einem Kleid. Er schneidet nur das Kleid zurecht,
wenn er prahlt. Pedro Baracoa hat nicht umsonst den Spitznamen fanfarrón sin obra, Prahlhans
ohne Leistungen.«
»So, so. Ich hoffe, Ihr habt Recht, und er hat sich's nicht aus den Fingern gesogen. Erzählt
mir Baracoas Geschichte!«
»Eine seltsame Geschichte, Euer Gnaden.«
»Erzählt, Señor. Es wird uns die Zeit vertreiben.«
Und Sandoval erzählte. Als Sohn eines Tuchwebers war Pedro Baracoa zur Welt gekommen; in seiner Jugend hatte er zwar keine Lese- und Rechenschule besucht, war aber durch die
harte Schule der Not gegangen. Im Alter von zwanzig Jahren, nachdem er sich als Lastträger, Küchenjunge, Eseltreiber, Glasbläser, Orangenverkäufer, ja, sogar als Schneiderlehrling versucht
hatte, verdingte er sich beim Grafen de Urueña als Stallknecht, wo er lernte, Pferde zu füttern und
zu striegeln. Nach einiger Zeit stieg er zum Reitknecht auf und durfte den Grafen bei seinen Ausritten begleiten. So ging es eine Zeit lang. Eines Morgens, als sie aus einem Wald auf eine Wiese
kamen, verlangsamte der Graf den Trab und ließ – was er noch nie getan hatte – den Reitknecht
neben sich kommen.
»Willst du dir ein Stück Geld verdienen, Bursche?«, fragte er ihn unvermittelt.
Pedro Baracoa gestand, dass für ihn ein Stück Geld keine Kleinigkeit sei. Der Graf fuhr fort:
»In meinem Haus wohnt ein Weibsstück, das ihrem Namen und ihrer Familie Schande macht.«
Der Graf schwieg eine Weile. Und Baracoa sann verwundert über seine Worte nach. Denn
noch nie war ihm zu Ohren gekommen, dass der alte Witwer eine leichte Person bei sich beherbergte. Der Graf fuhr fort:
»Nachdem sie sich herumgetrieben und sich mit allerlei Lumpenpack eingelassen hatte,
steckte man sie ins Kloster. Fünfmal. Aber jedes Mal wurde sie von einem Liebhaber befreit. Kein
Kloster nimmt sie mehr auf. Die Ärzte behaupten, sie sei krank, mannstoll. Nur ein Mann könne sie
heilen. Aber welcher Mann ihres Ranges würde sie nehmen! Und wäre sie noch reicher, als sie's
schon ist – ein getragenes Hemd kauft kein Edelmann. Darum raten mir die Ärzte, ihr einen Galan
zu suchen, damit das Gerede ein Ende hat.«
Wieder schwieg der Graf. Dem Reitknecht aber schlug bereits das Herz bis zum Hals.
»Ich habe dich dazu ausersehen, Bursche«, sagte schließlich der Graf. »Du sollst gut dafür
bezahlt werden.«
Am Abend desselben Tages wurde der Reitknecht mit verbundenen Augen von einem alten
Diener über Treppen und durch Säle und Korridore in ein Zimmer geführt. Dort nahm der Diener
ihm die Binde von den Augen, ließ ihn allein und schloss die Tür. Pedro Baracoa befand sich in
einem schummerig von einer Ampel beleuchteten Schlafzimmer. Goldene Ledertapeten, Ölgemälde in goldenen Rahmen, Gobelins an den Wänden. Auf einem Prunkbett lag, nur mit einem Spitzenhemd bekleidet, ein junges Mädchen, etwa achtzehnjährig, mit blonden Locken und weißer
Haut. Baracoa war verwirrt und unsicher, wollte fliehen, aber die Tür war ja verschlossen.
»Pedro«, hauchte das Mädchen und streckte ihm sehnsüchtig die Arme entgegen.
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Als er sich näherte, starrte sie ihn an, schrie auf und brach in wildes Schluchzen aus.
»Ihr seid nicht Pedro! Wer seid Ihr, was wollt Ihr?«
Sie schrie um Hilfe, jammerte, flehte. Ihre Schreie verhallten ungehört. Sie kratzte ihm blutige Striemen ins Gesicht, biss ihn in die Finger. Es half ihr nichts.
Seit jener Nacht wurde er immer wieder zu ihr geführt. Er hatte keinen Grund zu klagen.
Geld hatte er nun mehr als je zuvor, und da sie ihn bald besser behandelte, nicht mehr kratzte und
nicht mehr um sich biss wie eine Wildkatze, ja, nach einiger Zeit sogar zärtlich zu ihm wurde, entwarfen sie Fluchtpläne. Sie würde ihn heiraten, aber nur, wenn sie von hier fort kämen!
In einer stürmischen Herbstnacht gelang es ihm, die Bewacher zu überlisten und seine Geliebte aus dem Schloss zu entführen. Einen Teil des erworbenen Geldes hatte er verwendet, in
einem Dorf der Umgegend einen Kaplan zu bestechen, der die heimliche Ehe einsegnen sollte.
Sie rannten auf verschwiegenen Pfaden über die nachtschwarze Ebene, der Kirche entgegen, deren Tür offen stand. Kerzenlicht schien matt in die Nacht. Der Kaplan wartete schon auf
das Paar. Da sprengten geharnischte Reiter heran. Der Vorderste sprang aus dem Sattel und hielt
dem Kaplan eine Muskete unter die Nase.
»Ich heiße Don Pedro Jirón, und diese Doncella ist meine Braut. Ihr werdet uns trauen, wenn
Ihr vernünftig seid!«
Pedro Baracoa erlaubte sich bescheiden zu bemerken, dass die Braut seine Braut sei. Die
Umstehenden brachen höhnisches Gelächter aus.
»Die Tochter des Grafen de Urueña? Seid Ihr verrückt?«
Als er das hörte, glaubte er es fast auch, denn das Fräulein sagte zu ihrem Verlobten – ganz
leise zwar, doch so, dass Pedro Baracoa es hören konnte: »Ich schrieb Euch doch, dass der
Mann, der mich herbegleiten werde, nicht recht bei Verstand sei. Es ist ein Reitknecht meines Vaters.«
»Dann mag er als Trauzeuge hier bleiben. Mich stört er nicht!«, rief Don Pedro Jirón.
So geschah es. Pedro Baracoa blieb und wohnte der Zeremonie verwirrt bei. Der Frischvermählte ließ sich von ihm den Steigbügel halten, als er sich triumphierend wieder in den Sattel
schwang. Für das Herausschmuggeln der jungen Frau aus dem väterlichen Gefängnis gab er dem
Reitknecht ein großzügiges Trinkgeld.
Das aber war Pedro Baracoa zu viel. Er erwachte aus seiner Teilnahmslosigkeit, sprang auf,
stieß Jirón ein Messer in den Rücken und floh in die Dunkelheit der wolkenverhangenen Ebene.
Später erfuhr er, dass der Dolchstoß nicht tödlich gewesen war. Der alte Graf aber ließ ihm trotzdem einige Hundert Pesos auszahlen.
»Eine unglaubliche Geschichte, fürwahr«, sagte Cortés. »Doch mir fällt auf, dass Ihr nicht
mehr so oft stottert. Wie habt Ihr das geschafft?«
»Ich weiß es auch nicht! Seit Ihr mich befördert habt, Señor Capitán, fühle ich mich freier und
weniger behindert.«
Cortés fand Sandovals Erzählung unterhaltsam. Besonders amüsierte es ihn, wie der alte
Graf den Stallknecht seinem adligen Schwiegersohn vorzog.
»Dass Baracoa zum Messer griff«, sagte Sandoval, »versöhnt mit dem Vorangegangenen.«
»Allerdings!«, meinte Cortés. »Blut ist ein gründliches Reinigungsmittel, besser als Seife.
Vom Geld, das er bekam, kann er wohl sagen, es stinkt nicht – non olet –, seit es mit Blut gewaschen wurde. Er hat ja auch den Kaplan bezahlt, um seinen Nebenbuhler zu verheiraten.«
Sie hatten inzwischen den Fluss erreicht und ritten jetzt am Ufer entlang.
»Was schwimmt da?«, fragte Cortés und brachte seinen Rappen zum Stehen.
»Es scheint eine Tonne zu sein, Señor Capitán«, sagte der Reiter Lares.
»Seht nach!«, befahl Cortés.
Lares ritt nah ans Ufer heran. Die Tonne war vom Geäst eines überhängenden Ceibabaums
festgehalten worden und schwankte in der reißenden Strömung auf und ab. Lares kletterte auf den
schräg über den Fluss geneigten Baumstamm, zerrte und schob die Tonne ans Ufer und rollte sie
dann Romo vor die Füße.
»Die Tonne ist nicht leer, Señor Capitán!«, meldete er keuchend.
»Öffnet sie und schaut, was darin ist«, sagte Cortés. »Sie stammt aus unserem Lager, das
ist klar. Und wir sind nicht so überreich an Lebensmitteln, dass wir sie sorglos in den Fluss werfen
dürfen.«
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»Ich ka-kann mir nicht de-de-denken, dass einer aus unserem Heer so etwas tun würde.«
Sandoval fing wieder an zu stottern, wie auch weiterhin, wenn er aufgeregt war.
»Der Galgen wäre zu gelinde für ihn«, meinte Lares.
Sandoval stieg vom Pferd und half Lares, die Tonne zu öffnen. Sie würden wohl gesalzenes
Fleisch oder Kassavemehl finden. Aber dann bot sich ihnen ein grausiger Anblick: In der Tonne
steckten fünf Wesen: ein Mensch, eine Ratte, ein Marder, ein Affenweibchen und eine Giftschlange. Ein encubamiento, die Lynchjustiz, hatte die fünf Sterbensgenossen lebendig in die Tonne gepfercht und in den Fluss geworfen. Der Mensch, der Truthahn und das Affenweibchen waren tot.
Die Ratte und die Giftschlange aber lebten noch. Die Ratte hüpfte über den Rand und flüchtete ins
Ufergras; die Schlange kroch davon.
Die encubamiento genannte Tötung eines Menschen durch eine aufgeregte Menge war damals noch häufig in Spanien, allen Regierungsverboten zum Trotz. Eigentlich mussten dem Verurteilten ein Hund, ein Hahn, ein Affenweibchen und eine Viper in die Tonne beigegeben werden –
alle noch lebend. In Ermangelung eines Hahnes hatte man einen Truthahn genommen; und da
Becerrico und Moro zu wertvoll waren, war der Hund durch eine Ratte ersetzt worden.
»Wer ist es?«, fragte Cortés.
»Der alte Suárez, der Mann der Mulattin Beatriz de Acevedo!«, sagte Lares.
»Lebt der Alte noch?«, fragte Cortés, rot vor Zorn.
»Nein, Euer Gnaden. Die Schlange hat ihn gebissen.«
»Kommt, meine Herren, Alvarado muss Rede und Antwort stehen!«
*
Marina wartete im Zelt auf Cortés. Sie hörte ein Geräusch, und plötzlich stand der Dolmetscher
Aguilár da. Marina sprang vom Feldstuhl auf; Aguilárs Blick war ihr unheimlich.
»Was wollt Ihr?«, fuhr sie ihn an.
»Marina!«, stöhnte er.
Aguilár warf sich vor ihr auf die Knie, küsste den Saum ihres Kleides und versuchte, den Arm
um ihre Hüfte zu legen. Sie riss ihm den Rock aus den Händen, stieß ihn von sich.
»Geht!«, herrschte sie ihn an. »Geht, oder ich rufe um Hilfe!«
Er keuchte, rang nach Atem. »Nein, hört mich an. Ich bin in Not! Nur Ihr könnt mir helfen! Nur
Euch kann ich beichten!«
»Ich bin nicht Pater Olmedo!«, sagte sie mit Spott.
»Hört mich an«, flehte er. »Ich bin ein Verfluchter! Ich habe nicht alles erzählt von der
Keuschheitsprobe des Kaziken. Es wird mich befreien, wenn ich es erzähle. Nachdem die Mädchen mich nicht verführen konnten, ließ der Maya-Fürst mich in der vierten Nacht allein mit einer
kleinen Nackten, die noch liebreizender war als die anderen. Und ihr war der Tod in Aussicht gestellt, wenn es ihr nicht gelänge, mich zur Sünde zu verleiten. Doch mein Gebet zu Gott machte
mich hart. Der Stolz auf meine Keuschheit war stärker als die Lust und das Mitleid mit dem Kind.
Das Kind weinte, und als der Morgen dämmerte, schluchzte es laut aus Furcht vor dem Tod. Ich
hatte die Wahl, entweder mich zu retten oder das Kind. Ich habe mich gerettet und zugelassen,
dass das Mädchen grauenvoll geschlachtet wurde. Seitdem ist meine Keuschheit verflucht: Das
tote Kind hat sich gerächt und rächt sich immerzu; sein Bild verfolgt mich. Und die Soldaten halten
mich für einen Heiligen! Mich, der ich ein Sünder bin! Nur du kannst mir die Last von der Seele
nehmen, Marina! Das Bild der Kleinen schwindet vor deinem reinen Anblick. Halte mich nicht für so
wahnwitzig, dass ich glauben könnte, du würdest mich je lieben, aber erlaube mir, dass ich dich
liebe.«
Marina hatte ihm erschrocken zugehört. »Fraile«, antwortete sie, als sie sich gefasst hatte,
»am besten behaltet Ihr diese Erlebnisse für Euch. Die Männer und Frauen hier betrachten Euch
tatsächlich als Heiligen – und ich werde schweigen.«
Aguilár schaute mit fiebrigem Blick auf Marina. »Nur du... ich liebe dich, Marina!«
»Ihr seid nicht bei Trost! Reißt Euch zusammen, Aguilár! Ihr seid nicht mehr jung! Es wird
Euch doch wohl gelingen, dass Ihr Euch beherrscht!«
Wieder wollte der Frater sie umarmen, doch Marina wich ihm geschickt aus. Da fuhr er sie
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unbeherrscht an: »Du bist vom Teufel gesandt! Du bist eine Hexe! Was du den Mexica übersetzt,
sind nicht die Worte des caudillo! Und wie du Don Hernándo umgarnst, ist Arglist und Schmeichelei!«
Marina wusste im Moment nichts zu sagen. Von draußen war Pferdegetrappel zu vernehmen; dann hörte man Cortés rufen: »Alvarado! Wo ist Hauptmann Alvarado?« Aguilár war plötzlich
verschwunden.
Von Velásquez de León, den Cortés vor dem Zelt traf, erfuhr er, dass Alvarado mit Lugo,
Olíd und Tapia auf die Jagd geritten sei; für die Zeit seiner Abwesenheit habe er Avila die Beaufsichtigung des Lagers übertragen.
Böse lächelnd sagte Cortés: »Und Avila hat die Oberaufsicht dem Narren Cervantes übertragen! Und der Narr Cervantes, el chocarrero, hat sie dem Hund Becerrico übertragen! Schuld bin
nur ich, dass ich nicht von vornherein über die Köpfe meiner Hauptleute weg den Hund Becerrico
zum stellvertretenden Generalkapitän gemacht habe!« Cortés war wütend, und Léon musste ihm
berichten, was vorgefallen war.
Am frühen Morgen hatte man außerhalb des Lagers die Mulattin Beatriz de Acevedo mit zertrümmerter Schädeldecke aufgefunden. Man hielt sie für tot, und der Zimmermann Cristóbal de
Jaén hämmerte schon an einem Sarg für sie. Doch nach einer Stunde wachte sie noch einmal auf
und beschuldigte ihren Gatten, den kahlköpfigen Suárez, ihr mit einem Mühlstein den Schädel eingeschlagen zu haben. Er hatte die vermeintlich Tote heimlich im Dunkel der Nacht aus dem Lager
geschafft in der Hoffnung, sie werde zwar vermisst, aber nicht gefunden. Dass sie mit dem Schönhändigen oder dessen Freunden schäkerte, hatte er ihr immer nachgesehen, aber dass sie sich
dem derberen und weit weniger zurückhaltenden Mansilla, dem Durstigen, an den Hals geworfen
hatte, konnte der Alte nicht ertragen.
Nach dieser Aussage fiel die Mulattin wieder in Ohnmacht. Alle glaubten, sie sei nun gestorben. Da hatte sich im Lager ein Geheul erhoben, dass alle zusammenliefen, und als von irgendwo
das Wort »Tonne« gerufen wurde, fing die rachsüchtige Menge das Wort wie einen Spielball auf,
und eine Zeit lang hüpfte der Ball hierhin und dorthin. Ratte, Truthahn, Affenweibchen und Schlange waren bald herbeigeschafft; nur der alte Suárez fehlte noch. Auch er wurde schließlich gefunden, leichenblass, mit verweinten Augen. Und die Menge vollstreckte das Todesurteil!
»Warum habt Ihr den Wahnsinn nicht verhindert, Señor?«, fuhr Cortés den Velásquez de
León an.
»Ich tat mein Möglichstes, Euer Gnaden. Aber Avila gab mir zu verstehen, dass der Oberbefehl ihm und nicht mir übertragen sei. Ich solle mich nicht in Dinge mischen, die mich nichts angingen. Die Sache geriet außer Kontrolle.«
»Also hat er davon gewusst! Er ließ es geschehen, und Ihr habt zugeschaut!«, rief Cortés.
»Und das sind die Hauptleute, mit denen ich ein rebellisches Heer zum Sieg führen soll? Auf mein
Gewissen, ich zweifle an meiner Aufgabe!«
Cortés schickte nach Avila, um ihn zur Rede zu stellen. Da kehrte Alvarado mit den anderen
Hauptleuten von der Jagd zurück. Er strahlte übers ganze Gesicht, denn sie hatten einen Hirsch
und viel anderes Wild erlegt. Cortés konnte ihm nicht ernstlich zürnen, trotz seiner Pflichtvergessenheit. Er machte ihm Vorhaltungen und erzählte ihm von der Tonne. Der versteckte Sarkasmus,
mit dem Cortés seine Unzufriedenheit tarnte, bedrückte Alvarado. Seine gute Laune verflog. Er
war beschämt. Seitdem er den kleinen Soldaten Burgueños vom Galgen geschnitten hatte, war
sein Verhältnis zu Avila belastet. Er hatte geglaubt, eine Gelegenheit zur Aussöhnung mit Avila
gefunden zu haben, und dass es Avila schmeicheln musste, ihm statt einem der anderen Hauptleute den Oberbefehl zu übertragen.
»Wie ich ihn kenne, hat er das angestiftet, um mir eine Verlegenheit zu bereiten!«, rief Alvarado. Im gleichen Augenblick kam Avila hinzu.
»Hört, Señor«, sagte Cortés, »Ihr habt gestern dem Einarmigen aus Villanueva ein Loch in
den leeren Ärmel gestoßen. Ich habe es gesehen, wollte es aber nicht sehen, denn sonst müsste
ich Euch vor ein Kriegsgericht stellen. Auch was heute geschehen ist, ist eine gesetzlose Zügellosigkeit. Aber sie soll um des Friedens im Heer ungesühnt bleiben. Doch eine Verwarnung kann ich
Euch nicht ersparen!«
Avila antwortete unwirsch; es kam zu einem heftigen Wortwechsel. Die anderen Feldobristen, weniger zartfühlend als Cortés, schütteten ihren lange aufgestauten Zorn aus. Avila wehrte
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sich wie ein Wolf gegen eine Hundemeute. Mit Alvarado verbiss er sich so grimmig, dass beide die
Rapiere zogen und getrennt werden mussten. Cortés untersagte streng, den Streit fortzusetzen. Er
zwang die Wütenden, sich die Hand zur Aussöhnung zu reichen. Aber seit diesem Tag blieben
Avila und Alvarado heimliche Gegner.
Als sie wieder allein waren, sagte Cortés zu Alvarado: »Wenn unsere Aufgabe scheitern sollte, wird es nicht durch die Feinde da draußen geschehen. Uns werden Menschen in den Arm fallen, die uns näher stehen.«
Beatriz de Acevedo erwachte später aus der Ohnmacht, aber da konnte nichts mehr rückgängig gemacht werden. Der Sarg wurde zu ihrem Krankenbett und Transportbehälter, als die
Truppe auf dem Weg nach Mexico weiterzog.
Mais
6. Cempoala
»Es lag den Leuten von Cempoala ungemein daran, dass wir in ihrem
Gebiet verweilten, dieweil sie sich immer mehr vor der Rache des Königs
Moctezuma fürchteten. Um ihr Bündnis mit uns zu festigen, trachteten sie
danach, Cortés und seine Offiziere in Verwandtschaft mit ihren Häuptlingen zu bringen, und so führten sie uns acht vornehme Indianerinnen zu.«
(Denkwürdigkeiten des Feldhauptmanns Bernal Díaz del Castillo, Bild)
Gegen Mittag traf Salcedo mit seiner Mannschaft aus Veracruz ein. Der Marsch nach Mexico
konnte fortgesetzt werden. Niemand kannte den Weg. Irgendwo im Westen lag Eldorado, das
Goldland – jenseits der Savanne und der Schneeberge, unsichtbar, nebelfern wie der Smaragdfels
des Ordás. Aber nicht einmal der Weg zur nahen Stadt Cempoala war bekannt. Nicht lange nach
dem Aufbruch wurde Cortés gemeldet, dass zwölf naturales, augenscheinlich in friedlicher Absicht,
dem Heer entgegenkämen. Marina und Aguilár forschten sie aus. Totonaken wären sie, abgesandt
von Schilfrohr (dem dicken Kaziken); sie brächten Maiskuchen und Geflügel und böten ihre Dienste als Lastträger und Führer zu ihrer Hauptstadt Cempoala an.
Sechs der Totonaken behielt er bei sich, die anderen schickte er mit Ordás und einigen
schnellfüßigen und kriegerisch anzusehenden Infanteristen voraus in die Stadt. Er wählte Ordás
vor allem deshalb, weil der hagere Ritter in seiner blauschwarzen, strahlenden Turnierrüstung
mehr als andere geeignet war, dem Volk von Cempoala einen Begriff von der Erhabenheit der
weißen Göttersöhne zu geben.
»Haltet die Augen offen!«, sagte Cortés zu ihm. »Indianer sind Indianer, auch wenn sie
Freunde sind. Achtet auf jedes Zeichen, das auf Heimtücke deuten könnte.«
Unter der kleinen Schar, die Ordás begleitete, befanden sich Tirado und der eben erst gelandete Quiñones. So gut zu Fuß sie auch waren, konnten sie dem vorausreitenden Ritter kaum
folgen, der sich nie nach ihnen umschaute. Umso häufiger schaute seine Grauschimmelstute sich
nach ihnen um und blieb sogar des Öfteren trotz Sporendruck des Ritters stehen – einfach, weil
sie warten wollte.
Bald und immer häufiger gelangten sie zu bebauten Feldern. Maisfelder, gut bestellt, von
kleinen Wassergräben umzogen, wechselten mit Feldern ab, auf denen Chillipfeffer, Kürbisse, Tabak, Zwergbohnen, Bataten und Baumwolle gepflanzt waren; dazwischen wuchsen Kakaobäume,
Kirschbäume und Bananenstauden. Und überall sah man die Traubengewinde dunklen Weines.
Bald tauchten hinter den Hügeln Quadermauern und Turmzacken auf, unwahrscheinlich greifbar in
der klaren Luft.
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Der Einzug des Ordás glich einem Triumph. Schon eine Meile vor der Stadt warteten Indianer, näherten sich furchtlos; Frauen und Mädchen reichten Früchte und Blumen. Das aber hielt auf
und dauerte dem Ritter Ordás zu lange. Er ließ seine Schar im Stich und galoppierte allein der
Stadt entgegen. Es grenzte an ein Wunder, dass er niemand in der Menge niederritt und niemanden zertrampelte und dass es ihm gelang, sich und sein Pferd durch das verstopfte Tor zu bringen.
Die Gassen waren von Menschen überfüllt. Ordás gelangte, umwogt von der flutenden Menge, auf
einen großen Platz. Die Indianer staunten ehrfürchtig. Alle wollten den Hirschmenschen sehen,
dieses Fabeltier mit den zwei Köpfen, zwei Armen und vier Beinen! Ehrfürchtig knieten sie vor dem
Wesen nieder und ließen Weihrauch aus Kopal-Harz aufsteigen. Der Träumer Ordás ließ es sich
gefallen und fand es nicht seltsam. Mädchen reichten ihm Blumen. Er sah sie nicht. Er schien nur
eins zu sehen: die Häuser, die weißgetünchten Häuser. Das Licht taumelte und tanzte vor seinen
Augen. Ordás, überwältigt, geblendet, schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, zuckte gewaltige Freude auf seinem knochenmageren Gesicht. Die Stadtbewohner erschraken – was ging mit
dem Sohn der Sonne vor? Warum lachte er so laut? War er hungrig? Hungrig nach Blut?
Ordás ritt den Weg zurück, den er gekommen war. Scheu machte die Menge Platz. Vor dem
Tor gab er dem Pferd die Sporen. Plötzlich hatte er keine Zeit mehr. Einer jungen Indianerin konnte er nicht mehr ausweichen; das Mädchen erhielt von der Stute einen Tritt und blieb verletzt zurück. Er raste weiter, bis er seiner Schar begegnete. Von weitem schon brüllte er ihnen zu:
»Die Häuser sind aus Silber! Begreift ihr, was das heißt? Nein, ihr begreift es nicht! Die Häuser sind vom Fundament bis unters Dach aus massivem Silber! Zuhause wird man uns segnen!«
Und er jagte vorbei, galoppierte weiter, seinem Reittier bei jedem Hopser die Weichen mit
den spannenlangen Rittersporen kitzelnd. Quiñones, als Neuling, ließ sich von Tirado belehren,
dass der Hauptmann sicher nicht an der Wahrheit seiner Behauptungen zweifelte.
Inzwischen war Ordás bis zu den Arkebusieren der Vorhut gelangt und stürmte, seine Freudenbotschaft wie Almosenmünzen ausstreuend, am ganzen Heerzug entlang, bis er, stockheiser
und schweißtriefend wie sein Gaul, endlich Cortés fand, der mit Velásquez de León hinter dem
Tross her ritt. Ordás krächzte:
»Ich war in der Stadt. Alle Häuser sind aus Silber erbaut, Euer Gnaden! Ich weiß wohl, es
klingt unglaublich; aber es ist so. Der Stein der Weisen ist gefunden! Mit dem Silber lässt sich die
Armut aus der Welt schaffen! Für unsere Glasperlen können wir ein Stadtviertel kaufen, die Silberhäuser auf Schiffe verladen – es wird keinen Bettler mehr in Kastilien geben!«
Als Cortés Zweifel äußerte, hatte Ordás nur noch ein müdes Lächeln: »Colón ging es ebenso! Wer hat ihm geglaubt?«
Gegen Abend zog das Heer in Cempoala ein. Die Häuser waren aus Lehmziegeln erbaut
und mit blendend weißer Kreide getüncht. Das Spottgelächter der Soldaten, die durch die Gassen
marschierten, befremdete die Stadtbewohner und schüchterte sie ein, weil die Soldaten ohne ersichtlichen Grund kindisch vergnügt waren. Den Indianern war nicht wohl zumute. »Wenn die Götter lachen, weinen die Menschen«, besagte eines ihrer Sprichwörter.
Überhaupt war die Begrüßung nicht so herzlich, wie Cortés erwartet hatte. Von Marina erfuhr
von zwei Frauen, dass der erste der Hirschmenschen eine Jungfrau niedergetreten und mit den
Hufen schwer verletzt habe. Cortés wollte Ordás zur Rede stellen, unterließ es aber, als er ihm ins
Gesicht sah. Scham, Ekel und Lebensüberdruss verzerrten die aschfahlen, qualverzerrten Züge.
Mit einer Abwehrbewegung der länglichen Knochenhand flehte er:
»Lasst gut sein, Señor. Ich weiß... Ich weiß es selbst... Cervantes und ich, wir Narren...« Er
zwinkerte unbeholfen, um eine Träne zu zerquetschen.
*
Cempoala war auf einem Hügel erbaut. Die Gassen – noch flach in der Nähe der Tore – stiegen im
Stadtinnern an und wurden zu Treppen. In der Mitte, auf der Höhe des Hügels, wuchs eine Tempelpyramide in die Himmelsbläue; ihr gegenüber – getrennt durch einen ausgedehnten, rasenbewachsenen Platz – breitete sich der Tecpan aus, der einstöckige, lange Königspalast, ein Steinhaus mit rechtwinklig gebrochenen Ornamenten und spiralförmigen Dämonenverschlingungen auf
der Granitfassade. Auf dem Rasenplatz zwischen Schloss und Haupttempel sammelte sich das
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kastilische Heer.
Beim Gang durch die Stadt trafen die Soldaten auf Ungeahntes, Wunderbares und Rätselhaftes; es überraschte und überwältigte sie. Die Stadt war sauber wie ein Schmuckkästchen. Viele
Häuser umschlossen gepflegte Blumengärten. Springbrunnen, die Kühle spendeten, und leise
plätschernde Wasserbecken fanden sich allerorten. Außer dem Haupttempel reckten sich noch
weitere kleine Tempel zwischen den Altandächern des Häusermeeres empor, und außer dem Königspalast gab es viele kleinere Paläste, prächtig und aus Stein gemauert. Man wurde an Sevilla
und Granada gemahnt. Und erst die Menschen! Von Dienerinnen begleitet schritten Frauen in edler Haltung einher, aufrecht wie Königinnen aus Sagenzeiten. Bis zum Hals hinauf waren sie bekleidet. Die Männer trugen stolz, doch ohne Feindlichkeit ihre Waffen. Einen solchen Anblick war
man von den Antillen her nicht gewohnt.
Blickte man von der Höhe nach Osten, weitete sich ein grünender, blühender Paradiesgarten
bis zum dünnen Streifen des indigoblauen Ozeans, nach Westen stieg der Blick an der nahen Sierra-Wand hinauf zu Eisregionen in einsamen Höhen.
Der Vorschlag, der Stadt den Namen Sevilla zu geben, wurde verworfen. Doch man einigte
sich darauf, das Land Neu-Spanien zu nennen.
Aus dem Riesenportal des Palasts eilten Torwächter und Sklaven hervor und warfen sich
flach auf die Erde. Dann quollen die Fleischmassen des dicken Kaziken Schilfrohr aus dem Tor.
Zwei kräftige Männer stützten ihn an den Armen, denn er hätte die Last seines Körpers allein nicht
tragen können. Nach jeweils drei Schritten – kleinen überstürzten Schritten – machte er Halt, hilflos, erschöpft, nach Atem ringend.
Er hatte Cortés, noch bevor der capitán generál in Cempoala eingeritten war, eine Viertelmeile vor dem Stadttor durch zwanzig edle Hofleute mit Rosenzweigen willkommen heißen und
sich entschuldigen lassen, dass es ihm seiner Leibesfülle wegen verwehrt sei, »Unserem Herrn,
dem Gott Quetzalcoatl« entgegenzuziehen und ihm zu huldigen, wie es sich gebührte. Jetzt kam
er, das Versäumte nachzuholen, und hielt ein frühlingshaftes Blumenbüschel in der Hand.
Nachdem der dicke Kazike sich durchs Tor gezwängt hatte, traten seine Würdenträger heraus, der Hohe Rat und die Anführer des Totonakenheeres, und umstanden ihn – bescheidene
Maulwurfshügel neben einem massigen Fleischberg. Die Leuchtflecken der bunten Staatsgewänder, Juwelen und Schmuckfederkronen wirbelten und funkelten im Sonnenlicht.
Auch Freundliches Wasser, die Tochter des dicken Kaziken, trat aus dem Schloss, von anmutigen Dienerinnen begleitet, vor denen sich die unglaubliche Hässlichkeit der königlichen Jungfrau umso deutlicher abhob. Sie hatte von ihrem Vater die Anlage zur Fettleibigkeit geerbt. Mit einem seligen Lächeln auf dem in Fettfalten verlorenen Mund ging sie auf Cortés zu und warf ihm
eine Nelkengirlande um den Hals; dann spuckte sie auf ihre wulstige Hand, bückte sich, berührte
die Erde und führte die Hand an ihr Herz.
Cortés erschrak. »Ich habe schon ein Weib!«, flüsterte er Marina zu.
Doch Marina bedeutete ihm, dass er die Handbewegung falsch ausgelegt habe. Der Gruß
sei bei den Mexica üblich und bedeute: Ich demütige mich vor dir wie die Erde, die dein Fuß berührt!
Die Begrüßungsrede des dicken Kaziken war freundlich und kurz. Das Heer bezog Quartier im
Tempel gegenüber dem Palast. Der Narr Cervantes behauptete später, Cortés habe in der Nacht
im Schlaf geschrien, weil er von der Königstochter träumte. Der Narr Cervantes war ein Verleumder und nicht sein Freund, aber Tatsache ist, dass Cortés die Nacht nicht ohne Sorge verbrachte
und während der Ablösung der Schildwachen durch die Vorhöfe des Tempels wanderte, wo die
Männer lagerten. Er schloss sich mehrmals dem die Posten kontrollierenden Offizier an, um sich
mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass seine Anordnung, bewaffnet zu schlafen – ohne
die Rüstungen abzulegen und mit Pulver auf den Pfannen – genauso befolgt wurde wie der Befehl,
die Zugänge zur Tempelmauer aufs Schärfste zu bewachen.
Am nächsten Morgen hätte Cortés seine Anweisungen widerrufen können: Freunde sind
Freunde, auch wenn sie naturales sind! Trotzdem widerrief er seine Vorsichtsmaßregeln für die
folgenden Nächte nicht und untersagte, tagsüber den Tempel zu verlassen.
Bei einer nächtlichen Patrouille hatte Cortés in einem der Vorhöfe des Tempels Tausende
von Menschenknochen und Schädeln liegen sehen, zu Hügeln gehäuft. Sogar die Dachzinnen des
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Tempels waren mit aufgereihten Schädeln verziert. Unbehagen befiel Cortés und seine Offiziere.
Er beriet sich mit Pater Bartolomé de Olmedo und dem Lizentiaten Juan Díaz. Seit dem Strafgericht über die Aufwiegler Escudero, Cermeño und Gonzalo de Umbría trug der Lizentiat eine kriecherische Unterwürfigkeit zur Schau. Er wurde mit zu Rate gezogen, weil er als Dominikaner die
Meinungen des Hieronymiten Olmedo mit messerscharfer Dialektik zu zerlegen und zerfasern
pflegte. Cortés liebte es, entgegengesetzte Meinungen zu hören, unter denen er sich bisweilen die
bequemere, meist aber die gescheitere heraussuchte.
Er wolle, sagte er zu den beiden Priestern, noch heute den dicken Kaziken wegen der Menschenopfer zur Rede stellen, mit oder ohne seine Einwilligung die scheußlichen Götzen zertrümmern und das Kreuz an ihrer Stelle errichten. Der Lizentiat fing den Gedanken mit Enthusiasmus
auf. Das an die Tempelwände gespritzte Blut stinke zum Himmel, führe Klage vor Gottes Thron.
Der Nachtwind habe ihm den Gestank in die Nase geweht, sodass er kaum habe schlafen können;
wäre es ihm gestattet, würde er als Erster diese Wohnstätten des Teufels in Stücke schlagen,
selbst wenn er dafür den Märtyrertod erleiden müsse.
Pater Olmedo dachte anders. Und er drückte seine kluge Warnung im Jargon der Mönche aus:
»Der hochmütige Teufel, el soberio demonio, ist ein gefährlicher Feind und noch allmächtig in diesem Land!«, sagte er zu Cortés. »Euer Eifer ist verständlich, doch übereilt.
Das Ziel ist nicht Cempoala, sondern
Mexico. Darum braucht Ihr die
Freundschaft des dicken Kaziken,
mag er auch ein Knecht des Teufels
sein. Wartet ab. Vielleicht gelingt es
Euch, den Totonaken einen Dienst zu
erweisen. Dann ist die Zeit gekommen, Forderungen zu stellen.«
Aztekische Zeichnung der Stadt Cempoala.
Der name Cempoala bedeutet »Ort der
zwanzig Gewässer« und war eine der größten Städte am Golf von Mexiko und die
Hauptstadt des Königreichs Totonacapan.
(Benson Latin American Collection.)
Cortés gab Olmedo Recht, verwarf den Gedanken einer gewaltsamen Bekehrung und behielt sich vor,
dem dicken Kaziken bei Gelegenheit
die Vorteile und Segnungen des
Taufwassers darzulegen. Noch während sie sich besprachen, wurde der
Besuch Schilfrohrs gemeldet.
In Begleitung vieler Edelleute
kam er, seine Aufwartung zu machen. Hinter ihm her schritt eine ältliche Sklavin mit einem Gefäß,
die Nachttopf-Trägerin. Er umarmte Cortés. Ob die weißen Götter sich wohl fühlten in Cempoala?
Sie fühlten sich wohl. Ob sie gut geschlafen und gegessen hätten? Sie hatten gut geschlafen und
gegessen. Das erfreue sein Herz, sagte der dicke Kazike; sie sollten weiterhin fröhlich sein und
genießen; darum wolle er von ernsten Dingen nicht reden. Und schon verließ er sie.
Das war ein kurzer Besuch! Für einen Fleischberg eine beschwerliche Reise und umso höher zu bewerten, meinte der kaiserliche Rechnungsführer Albornoz, als er – wieder mit Hilfe von
Francisco López de Gómera – den hinterlassenen Goldschmuck auf gut zweitausend Dukaten
schätzen konnte. Auch die bunt gewirkten Baumwollmäntel waren ein nützliches Geschenk, gingen
doch einige der weißen Götter in geflickten Lumpen. Der Rechnungsführer hatte seit langer Zeit –
seit dem Besuch des mexicanischen Feldherrn Sengende Glut – nichts mehr zu buchen gehabt.
Cortés erwiderte den Besuch schon eine Stunde später. Fünfzig Mann und seine Hauptleute
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im Galastaat begleiteten ihn und umgaben seine Person mit königlichem Gepränge. Außerdem
nahm er Marina und den Pagen Orteguilla mit. La Lengua Marina sprach das Spanische bereits
fließend, und man konnte Aguilár entbehren. Sie hatte vom Überfall im Zelt und der Zudringlichkeit
des Diakons kein Wort gesagt, doch Cortés war nicht entgangen, dass ihr die Nähe des Fraters
Unbehagen bereitete.
Am großen Portal wurden sie vom dicken Kaziken und seinem Hofstaat begrüßt und mit Kopal angeräuchert. Dass sie gestiefelt und gespornt kamen, war eigentlich ein Verstoß gegen die
Landessitte. Aber vielleicht waren sie ja Götter – unwissende Götter! Sie wurden durch Säle geführt, so groß wie Turnierhöfe; die Wände waren niedrig, verwirrend schillernd und voll von gemeißelten Flechtmustern: skurile Gestalten, Sternbildern, Totenweltszenen. Manche Säle hatten keine
Decke, sondern waren offene Hallen, von windgeblähtem Zelttuch oder vom Blau des Himmels
gedeckt, andere mit Balkendecken aus kunstvoll geschnitztem Zedernholz und getragen von klafterdicken Steinsäulen.
Alles, auch das Überwältigende, gelassen hinnehmen, als wäre man von Kind auf gewöhnt,
durch Prunkhallen zu wandeln, das hatte Cortés seinen Feldobristen eingeschärft. Olíd, dem einstigen Galeerensklaven, gelang es gut; auch Ordás schritt unbeeindruckt dahin. Die anderen aber
rissen Maul und Augen auf und konnten ihre Verblüffung kaum meistern. Wenn ein Vasall
Moctezumas, ein kleiner Provinzherrscher so wohnte, wie mochten da erst die Paläste Mexicos
beschaffen sein?
Darüber nachzudenken, hatten die Hauptleute und die fünfzig Mann der Leibwache Zeit genug, da sie in einem der Säle etliche Stunden warten mussten. Der dicke Kazike zog sich mit Cortés in ein angrenzendes kleineres Gemach zurück, und nur Marina und der Page Orteguilla durften
mit hinein. Die wartenden Götter erhielten in der Zwischenzeit von Sklaven Ananas und Kakao, als
Schokolade zubereitet. Das hatte noch keine Europäerzunge gekostet. Die Äpfel des Paradieses
mochten nicht köstlicher munden. Das Entzücken war maßlos. Avila überaß sich so sehr, dass ihm
übel wurde.
»Diese Früchte«, meinte Lugo, »geben uns einen Vorgeschmack von der Süße Mexicos!«
»Auch diese Frucht werden wir pflücken!«, rief Alvarado.
»Doch dürfen wir uns den Magen an ihr nicht verderben wie Avila!«, sagte der ernste
Hauptmann Tapia.
Inzwischen konferierten Cortés und der dicke Kazike auf niedrigen, mit Jaguarfellen bedeckten Schemeln im kleinen Gemach.
»Ich bringe Euch einen Knaben«, sagte Cortés. »Er soll in Eurer Nähe bleiben, bis er
Mexicanisch gelernt hat.«
Der dicke Kazike begriff nicht. Dreimal ließ er es sich von La Lengua erklären. Und als er es
verstand, fasste er es falsch auf. Man schenkte ihm einen kleinen weißen Gott! Seine Augen quollen aus den Höhlen: Er sollte einen kleinen Gott besitzen, liebkosen, verhätscheln, täglich mit ihm
spielen dürfen! Sofort rief er einen Sklaven herbei, ließ einen damastenen Talar, einen Nasenpflock und gelbe Schminke bringen. Damit beschenkte er den Knaben, tätschelte ihn verliebt,
küsste ihn mit gespitzten Lippen. Der Page Orteguilla fing an zu weinen.
Cortés intervenierte mit gestrenger Miene. Der Knabe sei dem dicken Kaziken nur leihweise
überlassen. Die Nasenscheidewand zu durchbohren sei in Europa verpönt. Und Knabenliebe werde mit dem Tod bestraft, und überhaupt – nun vergaß Cortés den Rat Pater Olmedos und ereiferte
sich – überhaupt wäre es an der Zeit, mit den Teufelsgräueln in diesem Land aufzuräumen. Darum
habe der Kaiser, Don Carlos de Austria, ihn hergesandt, und der sei mächtiger als der große Moctezuma. Die scheußlichen Götzen seien als Götter verkleidete Teufel und Statthalter der Hölle. Der
wahrhaftige Gott aber wolle kein Blut, nur die Glückseligkeit der Menschen. Und Cortés erzählte
von der Erbsünde und der Erlösung, vom Baum der Erkenntnis und dem Kreuz, von Eva und der
süßen Gottesmutter Maria. Seine Worte wurden leidenschaftlich, verwandelten sich in der Übersetzung Marinas zu flammender Beschwörung. Der dicke Kazike lauschte aufmerksam.
»Wie du sprichst«, sagte er, »so sprachen auch die Könige von Tezcoco, der Hungrige
Schakal und der Herr des Fastens. Nur einen Gott gäbe es, tloque yn nahuaque heiße er, ›der in
und bei allem ist‹. Kein Blut wolle er, nur die Glückseligkeit der Menschen. Aber was haben sie
erreicht? Die anderen Götter sind machtvoller. Vor tausend Jahren sprach Quetzalcoatl, dessen
Enkel du bist, ebenso. Kein Blut wollte er, nur die Glückseligkeit der Menschen. Außer Landes
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musste er ziehen! Ich will gern an deinen Gott glauben, doch meinen alten Göttern bleibe ich treu.
Sie sind nicht so schlecht, wie du sagst. Denn sie machen, dass Mais und Früchte wachsen und
haben mein Volk seit Urvätertagen ernährt. Und außerdem...« Er stockte.
»Außerdem?«
El Gordo wurde verlegen und druckste herum.
»Was außerdem?«, hakte Cortés mit Hilfe Marinas nach. »Rede frei heraus.«
»Nur Feiglinge kämpfen ›aus der Ferne‹!«, sagte Schilfrohr mit schiefem Blick.
»Was meinst du?«
»Die Krieger Cempoalas, Tlaxcalas, die Otomis und aller Völker Mexicos kämpfen Mann gegen Mann und wollen viele Gefangene für die Opfertische der Götter heimbringen. Aber ihr Männer
des Ostens tötet mit langen Eisenstangen, Pfeilbolzen und Feuerrohren. Das ist für unsere Krieger
unehrenhaft und feige.«
Der caudillo lachte erleichtert auf. »Ja, so ist es nun einmal: Da wir keine Menschen opfern,
müssen wir sie im Kampf töten.« Und zu seinen Offizieren gewandt, fügte er hinzu: »Sollen sie uns
für Feiglinge halten! Nur durch die Macht unserer Waffen erlangen wir Gewissheit, dass eine Hand
voll Kastilier Tausenden von Heiden widerstehen kann! Den Sieger fragt am Ende niemand, wie er
den Sieg errungen hat!«
Seine Rede würde nachwirken,
hoffte er. Und er wollte Pater Olmedos
Warnung beherzigen und den Bogen
nicht überspannen. So wechselte er
das Thema und fragte nach der Blauen
Feder und dem Bruderkrieg in Tezcoco,
von welchem ihm Schilfrohr damals, bei
seinem nächtlichen Besuch im Lager,
berichtet hatte. Der vom Notar Godoy
entworfene Vertrag zwischen der Blauen Feder, den Totonaken und Kastiliern
sollte hier in Cempoala erörtert und
besiegelt werden; so war es damals
verabredet worden.
Auf dem spanischen Gemälde
festigt er ein Bündnis mit einem
Kaziken aus Cempoala, indem er
Trinkschokolade und geweihte
Speisen entgegennimmt.
Der dicke Kazike machte ein bekümmertes Gesicht; seine Unterlippe
schob sich vor, hing schwammig und
kläglich herab. Durch die Rückkehr des
Scharfen Obsidians und des Schlagenden Falkens aus Guatemala nach
México, setzte er verlegen auseinander, habe die Blaue Feder sich letzthin
gezwungen gesehen, einen Scheinfrieden mit seinen Brüdern zu schließen,
dem Edlen Betrübten und Prinz Felsenschlange, und sich mit Mexico auszusöhnen. Doch habe die Blaue Feder
ihm heimlich Botschaft gesandt. Sein Bündnisangebot bestehe noch, vorausgesetzt, dass es den
Söhnen der Sonne gelinge, Tlaxcalas Freundschaft und Beistand zu erringen. Dann berichtete der
dicke Kazike vom Land Tlaxcala und von einer Großen Mauer, die das Land umschließe, von der
Grenzwacht der Otomis und vom uralten Hass gegen Mexico. Die Kastilier sollten auf ihrem Weg
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nach Tenochtitlán durch Tlaxcala ziehen, auch wenn Moctezuma sie überreden sollte, einen anderen Weg einzuschlagen. Er selbst habe schon Boten nach Tlaxcala gesandt. Leider ohne Antwort
bisher, doch er zweifle nicht daran, dass die Tlaxcalteken dem Bund beitreten würden, sobald sie
die Unbesiegbarkeit der weißen Männer erkannt hätten. Cortés und nahm es zur Kenntnis fragte,
ob er seinem Gastgeber irgendeinen Gefallen tun, einen Dienst erweisen könne?
Der dicke Kazike schwieg eine Weile und seufzte schwer. Das Totonakenland, erzählte er,
sei seit achthundert Jahren von seinen Ahnen beherrscht worden. Jeder der Totonakenkönige regierte achtzig Jahre. Nicht mehr und nicht weniger als achtzig Jahre. Ein Wunder scheine das; und
doch verhielte es sich so: genau achtzig Jahre saß jeder dieser Könige auf dem Thron.
Cortés beglückwünschte ihn. Nicht jeder habe solche Aussichten.
Das Vorrecht, so alt zu werden, fuhr der dicke Kazike betrübt fort, sei neuerdings jedoch in
Frage gestellt, seit sein Großvater zwei Söhne statt einen zu Nachfolgern bestimmt und damit die
von den Göttern gewollte Ordnung umgestürzt habe. Das Doppelkönigtum erwies sich als verhängnisvoll. Die Brüder vertrugen sich nicht, das Volk spaltete sich. Der jüngere Bruder verließ
Cempoala und siedelte mit seinem Anhang in der kleinen Nachbarstadt Tzimpantzinco. Dass es
Moctezuma gelang, das Totonakenland zu unterwerfen, habe seinen Grund in dieser Aufspaltung
der Kräfte. Nun hätten die Mexica sogar Zauberer zu den Leuten von Tzimpantzinco geschickt,
Zauberer, die sich in Pumas, Wölfe und fliegende Schlangen verwandeln könnten. Sie drangsalierten sein Volk und brandschatzten nachts die bestellten Felder.
Cortés erbot sich, ihn von den Zauberern zu befreien; er hoffe auch, fügte er hinzu, ihn mit
seinen Blutsverwandten in Tzimpantzinco aussöhnen zu können. Sorgenvoll schüttelte der dicke
Kazike den Kopf.
»O großer Krieger, o weißer Gott!«, sagte er. »Du kennst nicht die Macht der mexicanischen
Zauberer!«
»Meine Zauberer sind mächtiger!«, erwiderte Cortés lächelnd und erhob sich.
*
Am nächsten Morgen zog das kastilische Heer gegen die Stadt Tzimpantzinco. Zum Transport des
Gepäcks und der Artillerie hatte der dicke Kazike fünfhundert tlamamas zur Verfügung gestellt. Die
Soldaten waren begeistert, brauchten sie doch nun Sack und Pack nicht mehr auf dem Rücken zu
tragen; und zwar nicht nur diesmal, sondern künftighin immer, da es in mexicanischen Landen
althergebrachte Sitte war – wie bald durch Marina bekannt wurde –, jedem Durchreisenden, mochte er darum bitten oder nicht, eine reichliche Anzahl Lastträger zuzuweisen.
In gebührendem Abstand ließ sich der dicke Kazike in einer mit Papageiendaunen tapezierten Sänfte hinterher tragen, begleitet von seinem Feldherrn Tehuch und einem Teil des
Totonakenheeres. Die Nachttopf-Trägerin kam keuchend hinterdrein. Es war klar; die Totonaken
wollten Zuschauer sein und sich mit eigenen Augen überzeugen, wer beim bevorstehenden grauenvollen Ringen Sieger blieb – die Zauberer Mexicos oder die Zauberer der weißen Götter.
Tzimpantzinco erwies sich beim Näherkommen als ein enttäuschend kleines Felsennest.
Kein würdiger Gegner! Beschämend das große Aufgebot, das Auffahren der Singenden Nachtigall
vor einem so mickrigen Ziel.
Cortés rief die Hauptleute zu einer Beratung zusammen.
»Die naturales tun so«, sagte er, »als hielten sie uns für Götter. Wie weit sie das wirklich
glauben, steht dahin. Einige mögen vielleicht Zweifel hegen, während die abergläubische Menge –
die Häuptlinge und Fürsten nicht ausgenommen – uns gewiss für höhere Wesen ansieht. Es wäre
klug, wir könnten sie in ihrer Meinung bestärken. Dazu ist jetzt Gelegenheit. Die Stadt im Sturm zu
nehmen, ist ein Kinderspiel, aber keine Heldentat. Doch wenn wir einen einzelnen Mann hinschicken könnten, einen Mann, dessen bloße Gegenwart, dessen furchterregendes Äußere, dessen
lähmende Entsetzlichkeit uns die Festung in die Hand liefern würde...«
»Ich bin bereit!«, erklärte Ordás.
»Bei allen Tafelfreuden seid Ihr bescheiden, Señor«, sagte Hauptmann Olíd zu Ordás, blass
vor Erregung, »und Ihr nehmt Euch kaum halb so viel auf den Teller als wir anderen. Wo aber
Ruhm serviert wird, beansprucht Ihr die ganze Schüssel für Euch!«
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»Weder an Olíd noch an Ordás habe ich gedacht«, fuhr Cortés fort. »Ihr seht zu menschlich
aus, meine Herren! Euch kann ich nicht gebrauchen – ich suche ein Scheusal, das Furcht einjagt.«
»Wenn Euer Gnaden an meinen Hund Becerrico denkt...«, begann Francisco de Lugo gekränkt.
»Nein, auch den meine ich nicht«, antwortete Cortés lachend, »denn er ist ja ein Held! Hier
handelt es sich nicht um einen Ritterkampf. Der dicke Kazike und die zweitausend
Totonakenkrieger seines Heeres wollen ein anderes Schauspiel sehen; sie wollen Zauber im Wettkampf mit Zauber erleben. Darum schlage ich vor, dass wir den alten Heredia schicken.«
»Heredia? Den altersschwachen Greis?«, riefen die Hauptleute erstaunt.
»Ja, ihn!«, sagte Cortés. »Gleicht er nicht aufs Haar den hässlichen Götzenbildern dieses
Landes? Vor seiner grauenerregenden Hässlichkeit wird die tapferste Schar die Flucht ergreifen!«
Die Feldobristen stimmten lachend, wenn auch mit Vorbehalten zu. Der alte Heredia wurde
herbeigerufen. Seine Hässlichkeit überstieg tatsächlich jedes Maß. Sein Bocksgesicht war von
Schwertwunden kreuz und quer gezeichnet, ein Auge ausgelaufen, der Mund hasenschartig, fast
zahnlos und mit zwei vorbleckenden gelben Hauern versehen; die Nase war gebrochen, kropfig
der Hals, einer quabbeligen Schweinsblase nicht unähnlich. Er trug ein Holzbein; das gesunde
Bein war krumm wie die Mondsichel.
Cortés unterwies ihn, was er zu tun habe. Der alte Musketier grinste fratzenhaft und fand die
Spiegelfechterei, die man ihm zumutete, keineswegs entwürdigend; im Gegenteil, er war geschmeichelt, fühlte sich im Mittelpunkt, beachtet, auserwählt unter den vielen Kameraden, ein Zielpunkt für Tausende von Augen. Die große Stunde seines Lebens war gekommen!
Nachdem er eingewiesen war, führte Cortés ihn zur Sänfte des dicken Kaziken und ließ diesem durch Marina sagen:
»So spricht der Sohn der Sonne: Die Stadt Tzimpantzinco ist das Blut keines der Meinen
wert. Darum ziehe mit meinem besten Zauberer hin, dass er dir die Stadt übergebe!«
Der dicke Kazike und seine Begleiter blickten der Reihe nach Marina, Cortés und den furchtbaren Zauberer an. Einen Augenblick schien er ärgerlich zu werden, ein ungutes Misstrauen. Hielt
man sie für Kinder, für Schwachköpfe, für Narren? Doch der Anblick Heredias verscheuchte alsbald die Zweifel. Welch ein Unhold! Die drüben hatten keinen solchen! Der dicke Kazike wollte
auch nicht als Feigling gelten; so machten er und sein Heer sich mit dem weißen Zauberer auf den
Weg.
Der alte Heredia spielte seine Rolle äußerst geschickt. Vor den Toren der Stadt kniete er
nieder, hob seine Muskete und gab einen Schuss ab. Das Echo rollte über den Talboden, stieß
sich an Hügeln, schlug an Felsen, prallte von Türmen ab, rollte in die Höhe bis zu den Wolken und
verlor sich. Das hatten die feindlichen Krieger auf der Stadtmauer und vor dem Stadttor noch nie
gesehen. Ein grausig anzusehender Zauberer hob ein Rohr kerzengerade in den Himmel; hellrot
spuckte Feuer und Rauch mit lautem Getöse aus diesem Rohr hervor. Solch mächtiger Magie war
schwerlich zu widerstehen! Ängstlich schreiend stoben sie davon. Der dicke Kazike und sein Zauberer konnten durch die unverteidigten Tore in die Stadt eindringen und mit ihnen das Heer der
zweitausend Totonaken. Sie raubten, plünderten, schändeten und schleppten Opfersklaven für
ihre Götteraltäre hinweg.
Einigen Edelleuten und Priestern Tzimpantzincos war es gelungen, aus der Festung zu entkommen, Hilfe suchend traten sie vor Cortés: Er möge die Stadt vor Vernichtung bewahren – sofern es wahr sei, dass er über das Wasser des Himmels in dies Land gekommen sei, um alles
Elend der Völker durch Glück, Knechtung durch Freiheit und Rechtlosigkeit durch Gerechtigkeit zu
ersetzen.
Cortés eilte mit Alvarado und Velásquez de León in die Stadt und trat den Gräueln entgegen.
Zornig schrie er den dicken Kaziken und dessen Heerführer an, zwang sie, das Geplünderte wieder herzugeben und die Opfersklaven in Freiheit zu setzen. Der dicke Kazike war dermaßen verschüchtert, dass er einwilligte, als Cortés verlangte, mit den Leuten von Tzimpantzinco Frieden zu
schließen. Die Stadt wurde begnadigt, die Aussöhnung sollte sich auch in Zukunft als dauerhaft
erweisen. Der König von Tzimpantzinco und Gegenspieler des dicken Kaziken war entkommen,
aber Cortés hatte einen neuen Bundesgenossen gewonnen.
Der dicke Kazike ließ durch La Lengua den Zauberer fragen, welchen Lohn er begehre.
»Überlegt es Euch, Heredia!«, sagte Alvarado scherzend. »Ihr habt nur den einen Wunsch
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gut... und Ihr kennt doch die Fabel von den drei Wünschen!«
Heredia sann nach und schmunzelte verlegen.
»Nun, was wünscht Ihr Euch?«, wurde er nochmals gefragt.
»Ein hübsches Mädchen!«, sagte der Alte mit dem Bocksgesicht.
Der dicke Kazike versprach es ihm.
*
Bei der Rückkehr nach Cempoala wurden die Kastilier wie Helden empfangen. War für ihr leibliches Wohl schon vorher gut gesorgt worden, so fanden sie jetzt in den Tempelvorhöfen, wo sie ihr
Quartier hatten, die doppelte Anzahl von Körben mit Maispasteten, Pfeffer, geschlachteten Truthühnern, gerösteten Heuschrecken und Wasserkäfern vor. In Schüsseln gärte weiß schäumender
Pulque und Honigwein. Selbst Schalen mit Kakaosaft und Ananas standen bereit.
An diesem Abend hielt Rodrigo Rangel folgende Ansprache, während er Cortés die gelben
Reiterstiefel auszog:
»Um es kurz zu machen, Euer Liebden, ich verstehe die Welt nicht. Der arme Tropf, der Heredia, hat sich ein Mädchen gewünscht. Ist das nicht zum Weinen? Er hätte sich eine Gurke an die
Nase wünschen können oder eine Krone auf den Kopf. Doch er zog ein Mädchen vor. Ist das zu
verstehen? Aber so ist die wunderliche Welt! Alles hat eine Daseinsberechtigung, auch die Hässlichkeit, und sie will sich nicht ausrotten lassen, will sich fortpflanzen – wie auch die Dummheit.
Ignotus (ein sehr berühmter Mann) hat einmal gesagt: Verbanne die Dummheit, und die Welt stirbt
aus! Er hätte das von der Hässlichkeit sagen sollen! Zum Glück ist nicht alles hässlich, was hässlich ist, weil ja nicht alles Gold ist, was glänzt, und nicht alles Zauber ist, was bezaubert. Um es
kurz zu machen: Ordás glaubte, im Fabelland Mexico seien die Häuser aus Silber, und er hat damit bewiesen, dass auch nicht alles Silber ist, was glänzt.« Also sprach Rodrigo Rangel.
*
Früh am folgenden Morgen wurde Cortés der Besuch des dicken Kaziken angekündigt. Umgeben
von seinem Hofstaat ging er ihm bis vor das Tempeltor entgegen. Auf dem großen Rasenplatz, im
fremdartigen, scharlachfarbenen Frühsonnenlicht, trafen sie sich, zwischen dem riesigen Granitpalast und der hohen Tempelpyramide mit dem Gesims aus Menschenschädeln. Hernándo kam die
Szene unwirklich vor. Eine Mondgegend! Bauwerke der Mondbewohner! Und Mondmenschen in
grellen Farben! Mondmenschen, die eigentlich Vögel waren, gekleidet in Vogelgefieder! Ein Mondkönig, dieser Fleischberg, auf kräftige Sklaven gestützt. In der Unterlippe drei Perlmutterknöpfe,
einen Schmetterling aufs Gesicht gemalt, in der Hand eine Rassel, mit der er lärmte wie ein Säugling! Ließ sich von einer Nachttopf-Trägerin ein Geschirr für die Notdurft nachtragen. (Wann benutzte er es?) Und seine Feldherrn – ihre Helme waren Adlerköpfe, die Augen schauten aus riesigen, weit aufgerissenen Adlerschnäbeln hervor, sie trugen Adlergewänder, waren Adler, gar nicht
zu unterscheiden von Adlern. Auch der weiße Knabe, der Page Orteguilla, zwölf Jahre alt, hatte
sich verwandelt, trug Türkissandalen an den Füßen, war unbekleidet bis auf einen Lendenschurz
und eine Edelmarderdecke auf dem Rücken, hatte eine mädchenhafte Perücke aus lang
herabwallenden ockergelben Papageienfedern auf dem Kopf, fächelte mit einem Kolibriwedel dem
Totonakenkönig die Fliegen aus dem Gesicht!
Schilfrohr war gekommen, seinen Dank zu entrichten. Er bringe, ließ er durch La Lengua mitteilen, acht Jungfrauen, darunter seine Tochter, alles Erbinnen aus hohem Adelsgeschlecht, Besitzerinnen einträglicher Landgüter in der Umgegend Cempoalas. Er käme, diese acht Mädchen, den
weißen Hauptleuten und dem großen Zauberer als Gattinnen zuzuführen. Der Oberfeldherr aber
solle seine Tochter Freundliches Wasser erhalten.
Die Söhne der Sonne blickten einander verdutzt an. Darauf waren sie nicht vorbereitet. Sich
verschwägern, Wurzel schlagen in diesem Land? Warum nicht? Die Königstochter war zwar unleugbar hässlich; auch der faustgroße Smaragd an ihrem Hals half darüber kaum hinweg. Aber die
anderen! Es waren blutjunge, zierliche Dinger. Und wenn sie in die Hand spuckten, die Erde berührten und die Hand zum Gruß ans Herz führten, sah das ganz artig und anmutig aus.
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Cortés flüsterte mit Pater Olmedo: Er habe seine Warnung beherzigt, habe gewartet, bis er
den Leuten einen Dienst erweisen konnte. Nun sei die Zeit gekommen, Forderungen zu stellen!
Pater Olmedo war nach wie vor der Ansicht, jetzt noch nichts zu unternehmen; der dicke Kazike
sei als Verbündeter gegen Moctezuma wichtig.
Doch Cortés bestürmte ihn: »Vergesst Diego de Velásquez nicht! Er wird alles daransetzen,
unser Vorhaben zu vereiteln. Aber dazu braucht er Unterstützung bei Hofe! Wahrscheinlich wird
ihm der Bischof von Burgos sein Ohr leihen und den König gegen uns aufhetzen. Die Heilige Inquisition wird unser Fürsprecher sein, wenn wir hier Heiden dem Christentum zuführen!«
Olmedo nickte. Das war ein überzeugendes Argument.
Cortés ließ den Totonaken durch Marina eröffnen, nur getaufte Mädchen könnten Gattinnen
der weißen Männer werden. El Gordo hatte nichts einzuwenden. Aber Cortés forderte mehr: nicht
nur die Mädchen, auch der König, auch die Würdenträger, das ganze Volk der Totonaken sollten
dem Irrglauben entsagen, den blutrünstigen Göttern abschwören und die Götzenbilder in Stücke
schlagen.
Der dicke Kazike lief rot an. Ärgerlich rief er: »Das geht zu weit! Ich habe es schon einmal
gesagt!«
Da wurde ihm eröffnet, dass das Tor der Tempelmauer geschlossen und er mit seinem Hofstaat Gefangene seien. Die Mädchen schluchzten auf, die dicke Prinzessin begann zu weinen, und
die Adler hoben ihre Holzschwerter. Doch umsonst, sie wurden abgeführt.
Cortés blieb mit dem dicken Kaziken allein und ließ ihn sich austoben. König Schilfrohr rief
aufgeregt, das sei Verrat und Treulosigkeit, und ob die Weißen alle ihre Bündnisgenossen so behandeln? Die Götter der Totonaken wachten seit ungezählten Generationen über seinem Volk –
wie könne er sie verraten?
Als der Kurzatmige, erschöpft von seiner Erregung, zu weinen begann, ließ Cortés ihm durch
Marina gütig zureden: Er solle doch sein Leben nicht aufs Spiel setzen! Der Kaiser Don Carlos
habe allen, die sich der Bekehrung widersetzten, den Tod angedroht. Doch Cortés lasse ihm ja
Zeit zum Überlegen. Er müsse doch einsehen, dass Cortés sein Freund sei und nur das Beste für
ihn und das Heil seiner Seele wolle.
Der Widerstand des dicken Kaziken erlahmte. Er liebte seine Götter, doch sein Leben liebte
er noch mehr. Er wischte sich die Tränen ab und griff nach der Hand des weißen Herrn. Er fürchte
sich vor der unaussprechlich grausamen Rache der Götter, und auch vor der Strafe Moctezumas
sei ihm bang. Sie redeten ihm seine Ängste aus. Rache der Götter? Kinderei! Armselige Steingötzen, stumm und taub und unfähig, sich zu wehren, wenn man sie schlüge! Wie sollten die sich
rächen? Und gar der große Moctezuma – ein Steingötze wie diese hier. Moctezuma schüchtere
ein, aber er sei genau so wehrlos, wenn die fällende Axt naht. Und wenn der Herr des Ostens den
schützenden Schild seines Wohlwollens vor einen Freund halte, treffe diesen die Strafe
Moctezumas nimmermehr.
Es war höchste Zeit, Schilfrohr wieder zu beruhigen, denn ein tausendstimmiger Tumult war
von irgendwo herangeflutet, näher und näher, und zum wahnwitzigen Kriegsgeschrei angeschwollen; es brauste, brandete und prallte gegen das Gemäuer des Tempels, und gefiederte Rohrpfeile
zischten über die Wälle! Da krachten die Explosionen eherner Feldschlangen und Musketen. Das
war kein Geplänkel mehr. Das Volk der Totonaken wollte erbost seinen König befreien.
Cortés ließ sofort das Feuer einstellen und alle Gefangenen in Freiheit setzen. Als der dicke
Kazike mit seinen Adlern, Jaguaren und den acht Jungfrauen aus dem Tor des Tempels trat, war
bereits Blut geflossen. Fünf indianische Krieger waren der Zauberwirkung der Blitzrohre erlegen.
Aber auch den Kastiliern, die von den Mauerzinnen herabgeschossen hatten, waren Verluste
durch indianischen Wurfgeschosse und Pfeile beigebracht worden. Zwei Soldaten waren verletzt:
Sandovals Freund Pedro Baracoa, der Prahlhans ohne Leistungen (der einstige Reitknecht des
Grafen von Urueña), und Alonso de Grado, jener Zungendrescher und Vielschreiber, dessen Bittschrift Cortés zurückgewiesen hatte.
Der Anblick des dicken Kaziken beruhigte das tobende Volk. König Schilfrohr hob beide
Hände und gebot Ruhe, doch es bedurfte seiner väterlichen Ermahnung kaum. Die Bogen wurden
entspannt, die Pfeile von den Sehnen genommen. Der dicke Kazike erklärte, dass »Unser Herr,
der weiße Göttersohn«, den mächtigsten Gott Quetzalcoatl verehre. Und das wollten nun auch sie
tun, die Totonaken, wenn der weiße Herr beweise, dass Quetzalcoatl tatsächlich mächtiger sei als
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die Götter der Totonaken.
Die Totonaken mochten wohl erwarten, dass nach ihrem König nun »Unser Herr der weiße
Göttersohn« durch den Mund seiner schönen Sklavin Malintzín zu ihnen reden werde. Doch eine
andere wurde diesmal Dolmetscherin seines Willens. Cortés hatte schon seine Befehle erteilt, und
so öffnete die Singende Nachtigall ihren Feuer speienden Mund, spuckte eine klafterweite Flamme
und Rauch aus und traf durch zauberische Fernwirkung das steinerne Bildnis des Gottes
Tezcatlipoca auf der Tempelterrasse. Der Kopf des Gottes wackelte, schwankte, fiel ab und rollte
die Treppe der Pyramide hinunter, hüpfend wie ein Ball. Der Feuerwerker Mesa hatte einen Meisterschuss getan.
Das Volk der Totonaken erstarrte. Klagelaute und Seufzer waren zu vernehmen und stiegen
ins wolkenlose Himmelsblau empor. Aus den Tempeltoren stürzten voller Entsetzen schwarz bemalte, langkrallige Priester, starrten zu ihrem König und erwarteten dessen rächenden Bannstrahl.
Doch nichts geschah. Der dicke Kazike rührte sich nicht – er war selber erstarrt und erwartete die
Rache der Götter. Kein Erdbeben – nichts! Der kopflose Gott saß regungslos und stumpfsinnig da.
Nun sprach auch Cortés, und Marina war La Lengua, seine Zunge: »Schläft euer Gott?
Weckt ihn doch, wenn ihr könnt! Oder starb er gar, der Geköpfte? Vor ihm habt ihr gezittert, vor
diesem tauben Steinklotz?«
Cortés hob die Hand, der Scharfschütze und Trompeter Rodríguez setzte die lilienförmige
Kupfertrompete an den Mund, entlockte ihr ein schmetterndes Signal, und ein Trupp Kastilier
stürmte über die Tempeltreppe nach oben, schlug auf den kopflosen Gott mit Stahlhämmern und
Äxten ein, zerschmetterte ihn wie einen tönernen Topf und schleuderte die Trümmer die steile
Tempelpyramide hinunter.
Die Totonaken erwachten aus der Erstarrung. Die Machtlosigkeit der Götter war bewiesen;
der Strahlenglanz ihrer Autorität verblich. Quetzalcoatl war übers Meer zurückgekommen, er war
mächtiger als sie alle! Ein Rausch der Zerstörungswut packte die Menge. Noch zwanzig Tempel
ragten über die Dächer Cempoalas empor. Von einem zum anderen zogen die Kastilier und
Totonaken, um das Zerstörungswerk zu vollenden. Nach ein paar Stunde war es getan. Es gab
keine Götter mehr in Cempoala!
Der Page Orteguilla erzählte später, bis in die Nacht hinein habe der dicke Kazike seine toten Götter beschimpft. Seine Tochter aber, die dicke Prinzessin Freundliches Wasser, habe stolz
erklärt, sie werde wirkliche Götter zur Welt bringen, denn sie sei die Braut des höchsten wirklichen
Gottessohnes und verachte die toten Götter; sie habe sie überhaupt seit jeher verachtet!
Drei Tage lang musste aufgeräumt werden. Die Tempelterrassen wurden von den Trümmern, Scherben und Splittern der zerschlagenen Bilder und Opferblutsteine gesäubert; das zu dickem Gallert verharschte, stinkende, braunschwarze Menschenblut an den Wänden und am Fußboden wurde abgekratzt, abgescheuert, heruntergewaschen. Indianische Bauarbeiter tünchten die
gesäuberten Wände weiß mit Kalk, um sie für christliche Heilige wohnlich zu machen. Der Schiffszimmermann Cristóbal de Jaén musste ein mächtiges Holzkreuz für die Dachspitze des Haupttempels anfertigen. Im Innenraum des Haupttempels stellten Pater Olmedo und der Lizentiat Díaz
ein auf Leinwand gemaltes Bildnis der Erlösermutter auf. Kein Kunstwerk, Dutzendware vielmehr –
mit dreißig ähnlichen Bildern auf dem Markt von Havanna zur Erhebung von Heidenherzen billig
erstanden.
Anschließend wurden die Tempelpriester gesäubert, ihre schwarzen Priestergewänder zu
Haufen geschichtet und angezündet. Was Wasser nicht reinigt, reinigt Feuer! Die nackten Priester
aber trieb man in den Fluss – zur Taufe. Dann wurden sie in wallende weiße Gewänder gekleidet.
So verwandelt, zogen sie am dritten Tag in langer Prozession durch die Stadt, von Tempel zu
Tempel, und räucherten sie mit Kopal-Harz, während Pater Olmedo und der Lizentiat die alten
heidnischen Kultstätten dem Christengott und seinen Aposteln und Märtyrern weihten.
Zur Beaufsichtigung der gewaschenen, nunmehr christlichen Priester – die von Xesu Quilisto
(so sprachen sie Jesus Christus aus) oder von Xesu Nazaleno oder Santa Malía kaum die Namen
kannten – wurde ein alter Soldat bestimmt, Juan Torrés, denn auf Olmedo und Fray Juan Díaz
konnte die Truppe nicht verzichten.
»Der Alte weiß von unserm Glauben nicht viel mehr als seine Schutzbefohlenen«, sagte
Velásquez de León zu Cortés. »Wie soll er sie bekehren?«
»Das hat schon das Wasser besorgt!«, erwiderte Cortés. »Zum Kriegsdienst ist der Alte
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kaum mehr tauglich – hier aber kann er uns nützen! Und wenn er bloß den Pfaffen beibringt, aus
Wachs Kerzen zu drehen und sie dazu anhält, die Lichter und Lämpchen vor den Heiligenschreinen nicht ausgehen zu lassen, muss das Gottesdienst genug sein!« Ihm war es egal, ob die
Totonaken bekehrt wurden oder nicht. Wichtig war, dass König Carlos davon erfuhr. »Übrigens«,
fuhr er fort, »wird sich der Page Orteguilla mit ihm beraten können, sollte uns im Rücken Gefahr
drohen; auch wird der Knabe sich leichter mit seiner Verlassenheit und der Papageienfederperücke abfinden, wenn der alte Torrés mit ihm in Cempoala zurückbleibt.«
Pater Olmedo hatte alle Hände voll zu tun. Auf die Reinigung der Gotteshäuser und der
Priester folgte die Taufe der acht Bräute und ihrer Verwandten. Ein Glück, dass der Fluss die Stadt
durchquerte; in Reihen am Ufer aufgestellt, mussten die Täuflinge – Männlein und Weiblein –, bis
zum Hals ins Wasser steigen. Pater Olmedo sprach für alle zugleich die Taufformel, die weißen
Männer und Frauen sahen als Taufpaten zu. Nur am Totonakenkönig und seiner Tochter wurde
ihres hohen Ranges wegen – auch weil die dicke Prinzessin sich geweigert hatte, ihre hüllenlosen
Reize profanen Blicken preiszugeben – die Handlung gesondert vorgenommen. Cortés, als Bräutigam, und nur wenigen seiner Getreuen war es gestattet, Zeugen dieser Zeremonie zu sein.
»Ein rötliches Nilpferd«, flüsterte Lugo, als die Prinzessin im Wasser plätscherte. Den Vergleich weiter zu spinnen, hinderte ihn ein strenger Blick des Generalkapitäns. Doch in seinen Augen blitzte Ironie.
*
Dann wurde Hochzeit gehalten. Drei Tage dauerten die Feierlichkeiten. Es half nichts – Cortés
musste mit Doña Catalina India (so war »Freundliches Wasser« getauft worden) Beilager halten.
Wohl hatte er Ausflüchte gesucht und durch Marina der Braut und ihrem Vater mitteilen lassen, er
habe eine Ehefrau daheim – gleichfalls Catalina genannt –, und Doppelehen einzugehen gestatte
die christliche Religion nicht. Doch die schmerzvolle Enttäuschung, die jede Falte im Antlitz des
dicken Kaziken noch tiefer furchte, die aschgraue Hoffnungslosigkeit, mit der er versicherte, er
wolle niemandem sein Kind aufdrängen, das Entsetzen des indianischen Hofstaates, der Schrecken und die klagenden Wehrufe der dicken Prinzessin – dies alles erweichte Cortés' Herz, und er
dachte darüber nach, ob er der Politik nicht das Opfer bringen müsse.
Marina, mit der er sich beriet, überredete ihn selbstlos dazu. Es tat ihr in der Seele weh, ihrem Geliebten, ihrem Gott Cortés zur Hochzeitsnacht zu raten, aber sie war auch mit einem ausgeprägten Sinn für Strategie und politische Notwendigkeiten begabt. Den Ausschlag gab Doña
Catalina India selbst. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, weiße Götter – sollten sie auch unehelich
sein – zur Welt zu bringen. Das war ihre vom Schicksal zugedachte Lebensaufgabe, davon war sie
nun überzeugt, und von diesem Entschluss ging sie nicht ab. Und sie war so verliebt, dass sie Cortés ihren faustgroßen Smaragd zum Geschenk anbot. Cortés schätzte ihn gut und gerne auf 20
000 Dukaten. Diesem Argument konnte er nicht widerstehen! Damit schmolz das Eis. Cortés
brachte es nicht übers Herz, eine so beharrliche Liebe mitsamt dem Smaragd zurückzuweisen. Er
nahm das Geschenk an und damit auch die Schenkerin. Von nun an trug der Anführer der Kastilier
den Schmuck an einer Kette um den Hals. Die Eingeborenen gaben ihm den Namen »Grüner
Stein« – denn der Smaragd war auch ein Symbol Quetzalcoatls.
Doch Bigamie war ein schweres Vergehen. Pater Olmedo jedoch half Cortés aus der Patsche. Man würde keine echte Trauung vornehmen, und die Sünde des Ehebruchs sei weniger zu
sühnen als eine verbotene Doppelehe. Schließlich gab es in europäischen Fürstenhäusern immer
wieder morganatische Ehen.
Cortés wusste, dass er noch manchen Widersacher im Heer hatte, darum ließ er sofort verbreiten, die dicke Prinzessin werde nur seine Konkubine sein. Durch Marina ins Mexicanische
übersetzt, hieß das: »des Sonnensohnes zweite Gemahlin«, und die Totonaken sowohl wie Doña
Catalina India waren es zufrieden. Cortés allerdings weniger. Als ihn die Hauptleute mit heiterer
Freundlichkeit beglückwünschten, erschien ihm dies in seinem schlechten Gewissen teils bemitleidend, teils sarkastisch. (Hatte nicht Alvarado ein ironisches Zucken um den Mund? Aber vielleicht
kam es Cortés nur so vor.) Den Hauptleuten musste es wohl einleuchten, dass die Politik einen
Feldherrn vor schwere Aufgaben stellt. Nur vor Marina entschuldigte er sich unter vier Augen. Sie
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reagierte verständnisvoll und so wenig eifersüchtig, dass es eigentlich schon wieder kränkend war.
Für die sieben anderen Bräute Männer zu finden war indes nicht ganz so leicht, wie die
Totonaken es sich gedacht hatten. Die Kavaliere im kastilischen Heer verhielten sich sehr zurückhaltend. Man befand sich ja noch nahe der Küste und wollte abwarten; in den Ländern Tlaxcala,
Cholula und Mexico gab es ja auch noch Prinzessinnen! Nur der stille, stets bleichwangige Hauptmann Andrés de Tapia ließ sich herbei, eines der adeligen Mädchen, seit der Taufe Doña Francisca genannt, zum Altar zu führen – die Tochter des totonakischen Heerführers Cuhextecatl und
eine der reichsten Erbinnen des Landes. Unter den übrigen Bräuten durfte der alte
bocksgesichtige Heredia — der furchtbare Zauberer von Tzimpantzinco – Ausschau halten und
sich ein liebliches, zartes junges Ding aneignen. Die Freier der fünf anderen Bräute waren Fähnriche und Kavalleristen, keine Hidalgos.
Auf dem Rasenplatz zwischen Haupttempel und Königspalast wurde ein Traualtar errichtet.
Wieder sang der fette Franziskanermönch und Lizentiat Juan Díaz mit den wulstigen Lippen die
Responsorien; als Messdiener in spitzenverbrämtem Röckchen waltete Kaplan Francisco López
de Gómera. Weil es auch hier keine Orgel gab, begleiteten der Tanzmeister Ortiz und der Musiker
Rodrigo Morón auf ihren Gitarren, der Trommler Canillas, der schon in Italien Tambour gewesen
war, rührte dazu die Trommel. Die Feier war erhebend. Der dicke Kazike schwamm in Tränen.
Cortés und Doña Catalina India wurden gesegnet, aber nicht getraut. Es war ja sozusagen eine
Heirat linker Hand. Dennoch barst das dicke Mädchen schier vor Glück und verriet die Glut ihrer
Empfindungen, indem sie sich wie rasend fächelte. »Sie könnte ein Ei in der Hand kochen«, flüsterte Hauptmann Francisco de Lugo.
Pater Olmedo hatte sodann die sieben anderen Paare ehelich zu kopulieren, und außer diesen noch einige kastilische Hochzeiter. Denn in einer Armee gibt es viele nach Liebe hungernde
Männer, und heiraten ist ansteckend. Die schöne Amazone María de Estrada wechselte die Ringe
mit ihrem Lebensretter, dem schönhändigen Lope Cano; der Bogenschütze Pedro de Tirado, der
Tüchtigsten einer, führte die vornehme Abenteuerin Pilar de Elgueta zum Altar, wie er es sich erst
kürzlich beim Abendtanz im Indianerdorf vorgenommen hatte; und zum Bedauern Vieler wurde die
reizende, ein wenig rundliche Rosita Muños die Frau des Tarifa, des dienstbeflissenen de los
servicios, der allzu häufig davon sprach, welche Dienste er Seiner Majestät dem Kaiser leiste und
wie schlecht er dafür entlohnt werde.
Eigentlich hatten auch Antonio Villareal, der junge Fähnrich des Diego de Ordás, und die olivenbleiche Isabel de Ojeda vorgehabt, sich trauen zu lassen. Seit er ihr an jenem Tanzabend die
beiden Venusschuhblumen überreicht und sie ihm den Kuss für Ordás gegeben hatte, waren sie
ineinander verliebt und hatten sich wieder und wieder gesehen, hatten sich geküsst und Treue
geschworen. Doch als sie am Morgen dieses Tages vor Don Diego hintraten, sein Einverständnis
zu erbitten, und der schwermütige Rittersmann sie mit einem verwundeten Blick ansah, verloren
sie den Mut und redeten von gleichgültigen Dingen.
Eine Stunde vor der Trauungsfeier trat der alte Armbrustschütze Santisteban zu Lope Cano
dem Schönhändigen, als dieser eben sein bestes Seidenwams angelegt und damit beschäftigt
war, sich mit Moschusduft zu parfümieren; nicht umsonst hieß er der Schönhändige.
Besorgt fragte Santisteban: »Macht Ihr Euch keine Gedanken, Señor?«
Nun war es gewiss nicht die Art des Schönhändigen, sich Gedanken zu machen. Und heute
hatte er weniger Grund dazu als sonst. Er begriff die Frage gar nicht – jedermann hatte ihn beglückwünscht. Was wollte der Alte eigentlich? Santisteban nestelte verlegen an seinem Ärmel und
sagte erst nach einigem Stottern und Zaudern:
»Stellt Euch vor, Señor, Doña Elvira lebt noch! Ihr würdet Schuld auf Euch laden!«
»Pater Olmedo hat mich beruhigt«, erwiderte Cano kalt und betrachtete sich in einem kleinen
Spiegel, den er stets in seinem Barett trug. »Sie ist tot!«
»Woher wisst Ihr das?«
»Doña Elvira war zart und kränklich. Sie muss tot sein. Es sind zehn Jahre her. Als Sklavin
verkauft – ich bitte Euch, wer hält das aus!« Er war selbst Sklavenhändler gewesen; er musste es
wissen. »Nein, nein, sie ist tot«, wiederholte er.
»Ich wünsche ihr und Euch, dass Gott sie bald zu sich nahm!«, murmelte Santisteban und
entfernte sich kopfschüttelnd.
Das Hochzeitsmahl wurde im Atrium eingenommen, einem dachlosen, mit grellbunten Zelt-
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tüchern gedeckten Prunkhof des Königspalastes. Das gesamte kastilische Heer und zweiunddreißig Frauen nahmen daran teil. Gemischt saßen die weißen Götter und Göttinnen zwischen ihren
rothäutigen Anbetern mit Nasen- und Lippenpflöcken aus Perlmutt und schlossen Brüderschaften.
Reden auszutauschen war umständlich, umso mehr sprach man den Speisen und Getränken zu.
Neue Genüsse für Nase und Gaumen boten sich dar, und auch die Totonaken erhielten Gelegenheit, die Kochkunst der östlichen Hemisphäre zu bewundern, denn die Marketenderin Catalina
Márquez, die man die Goldhyazinte nannte, hatte in einem der zauberhaften Königssäle ihre Marketenderbude und einen Kredenztisch aufgeschlagen, schmorte, kochte, buk und schenkte von
den beliebten spanischen Süßweinen aus. Ihre Pasteten und Tortillas fanden den Beifall der Indianer. Mit dem spanischen Wein freilich musste gespart werden; daher durfte nur die königliche Familie davon kosten; und sie tat es ausgiebig.
Die Europäer fanden die vorgesetzte Speisenfolge überaus mannigfaltig, konnten ihr jedoch
nicht bedingungslos Anerkennung zollen. Die in Erdlöchern gebratenen Hirsche, Wachteln und
Faultiere mundeten allerdings ausgezeichnet. Auch siebzig kleine Hunde, mit Chillipfeffer und Tomaten geschmort und mit Truthahnfleisch überdeckt, waren zart und lecker. Doch nur wenigen
Weißen gelang es, gerösteten Heuschrecken, Wasserkäfern und den weißen Maiswürmern Geschmack abzugewinnen. Da zog man die gekochten Iguanas und Schwanzlurche vor; oder man
hielt sich an die Maiskuchen.
Nach dem Mahl brachten cocos, Dienerinnen des königlichen Haushalts, Wasser zum Händewaschen und Mundspülen. Dann wurden Tabakpfeifen herumgereicht und ein Getränk, bereitet
aus Kakaomehl und Vanille. Zum Schluss boten die Gastgeber unbekannte Früchte an. Die Frucht
des Zapotebaumes schmeichelte dem Gaumen, doch die Europäer kannten die süße Tücke der
apfelgroßen Frucht nicht. Die Totonaken machten Zeichen, dass man nur mäßig davon genießen
dürfe, aber die Zeichen wurden nicht verstanden. Zu süß war die Frucht. So trat schicksalhaft das
Unheil ein: Die stark abführenden Zapoteäpfel taten ihre Wirkung, und fluchtartig musste ein Teil
des kastilischen Heeres den Königspalast verlassen. Die Zurückgebliebenen fanden das sehr erheiternd.
Der dicke Kazike ließ an seine kastilischen Gäste tausend buntgewirkte Mäntel und vierhundert Schambinden durch den Vorsteher des Hauses der Teppiche verteilen. Obgleich das nach
landläufiger Sitte ein großzügiges Geschenk war, sprach er unterwürfig die Bitte aus, ihm die geringe Anzahl der Mäntel nicht nachzutragen. Dann hielt er eine Festrede, die mit den Worten begann: »Vereinigt seid ihr in meinem Palast, o ihr Krieger, o ihr Tapferen! Ihr habt die Mühe nicht
gescheut, euch an diesen bescheidenen Ort zu begeben, trotz eures Ansehens!« Und dann brachte er eine Entschuldigung hervor. »Das Mahl, das ich euch vorsetzte, war reichhaltig für gewöhnliche Sterbliche, aber doch kein Göttermahl, denn die beste Speise fehlt!«
Und während Marina übersetzte, rollten ihm Tränen der Entsagung über die gemalten Wangen: Gleich nachdem er seine Tochter dem Höchsten der weißen Männer anverlobt hatte – nach
der Einnahme Tzimpantzincos durch den großen Zauberer Heredia und noch vor der Zerstörung
der Götterbilder –, hatte der dicke Kazike sich auf den Sklavenmarkt begeben, um seinem göttlichen Schwiegersohn zur Hochzeit die Speise der Götter vorzusetzen. Bei einem als redlich beleumundeten Menschenhändler aus Tlatelolco setzte er sich nieder und ließ sich die Ware zeigen.
Der Mann führte keine anderen Sklaven als nur solche, die gegessen wurden und die man tlaltiltin
nannte, die »Gutgewaschenen«. Da sie dazu bestimmt waren, als Speise zu dienen, wurde Gewicht darauf gelegt, dass sie sauber und wohlgenährt aussahen und dass ihr Fleisch weich, saftig
und gesund war.
Mit redseligem Wortschwall pries der Händler dem dicken Kaziken seine Ware an, machte
ihn auf die zierlichen Tanzbewegungen des einen der Gutgewaschenen aufmerksam, auf die
wohlproportionierte Körperform eines anderen, auf die Zartheit der Schenkel eines dritten, auf die
klangvolle Stimme eines vierten und so weiter. Leute mit Körperfehlern führe er überhaupt nicht,
gab er zu verstehen, und wenn er für diesen oder jenen nur dreißig Mäntel als Preis verlangte, so
sei es, weil sie weniger Grazie beim Reigen zeigten. Die aber, die geschmackvoll singen und tanzen konnten, kosteten vierzig Mäntel! Von diesem Preis ging er nicht ab, und mochte selbst ein
König Käufer bei ihm sein. Der dicke Kazike wählte zwölf Gutgewaschene, sechs Jünglinge und
sechs Mädchen, und bezahlte sie mit vierhundertachtzig Mänteln. Tags darauf aber waren die alten Götter tot, und die vierhundertachtzig Mäntel waren umsonst vertan.
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Cortés dankte König Schilfrohr mit artigen Worten und sagte, da sie nun Christen seien, dürften sie auch keine Menschen mehr essen. Zwar gebe es immer Arme und Reiche, Glückliche und
Betrübte, Tapfere und Feige – doch auf getaufte Christen warte nach ihrem Hinscheiden das ewige Leben im Himmelreich, und vor Gott seien alle Menschen gleich. Er freue sich, in König Schilfrohr einen tapferen und treuen Verbündeten gefunden zu haben, dessen Schwiegersohn er nun
auch sei und dem er seinen allzeitigen Schutz gewähren werde. Sie würden gemeinsam nach Tenochtitlán ziehen, König Moctezuma entthronen und die Totonaken von der Bedrohung durch die
Azteken befreien.
7. Schlagender Falke
»Cortés schickte sich an, von Cempoala aufzubrechen. Ein Bote, den Juan de Escalante
von der Küste geschickt hatte, überbrachte die Nachricht, einige kastilische Schiffe seien vor
Veracruz aufgetaucht. Es handelte sich um eine Flotte von vier Schiffen, die unter dem
Kommando von Alonso Álvarez de Pineda stand. Pineda kam im Auftrag von Francisco de
Garay, dem ruhelosen Gouverneur von Jamaika, der noch immer glaubte, zukünftig eine
wichtige Rolle auf dem Kontinent spielen zu können.«
(H. Thomas: Die Eroberung Mexikos)
Das Hochzeitsfest wurde fünf Tage lang gefeiert und artete in der ersten Nacht gegen Morgen zur
Orgie aus. Betrunkenen Soldaten hatten die bedienenden cocos und sogar vornehme Indianerinnen belästigt. Daher übernachteten auf Anordnung des Cortés die Kastilier fortan wieder in ihren
Tempelwohnungen. Trotzdem wurde im Königshaus weiter gezecht und geschlemmt, gegrölt und
scharmiert – fünf Tage und Nächte lang war es ein Kommen und Gehen, Fressen und Saufen,
Grölen und Rülpsen, Zechen und Kotzen.
Am Vormittag des fünften Tages schritt Cortés mit Marina über den großen Rasenplatz, um
sich in den Tecpan zu begeben. Eine Menge Neugieriger, Handwerker und Bürger, die zum Palast
keinen Zutritt hatten, wartete vor dem großen Schlosstor, in der Hoffnung, die zierliche Gestalt
Marinas zu erspähen oder einen Blick, ein Lächeln, einen Gruß des Höchsten der Sonnensöhne
zu erhaschen. Doch plötzlich erhob sich ein Raunen, und fragendes Kopfwenden huschte über die
hundertköpfige Menge. Cortés und Marina in der Mitte des Rasenplatzes sahen, wie das Volk auseinander wich und vier phantastisch bunt gekleideten Indianern Platz machte. Zwei von ihnen waren als Jaguare, die beiden anderen als Adler verkleidet. Lässig schritten sie dem Eingang des
Palastes entgegen. Besonders einer der Adler fiel durch seine stolze Haltung auf. Die Kostbarkeit
seines Panzers und Helms überstieg alles, was Cortés bisher unter den Begleitern des Silberpumas und der Sengenden Glut bei den Sanddünen und unter den Adlern und Jaguaren des dicken
Kaziken an Pracht gesehen hatte. Unnachahmlich auch die Arroganz seiner Kopfhaltung, seines
Armschlenkerns, seines lässigen und dünkelhaften Schrittes. Er sah Cortés, aber er übersah ihn
und würdigte ihn keines Blickes. Dann betrat er den Königspalast, als wäre dieser sein eigenes
Haus.
»Wer sind sie?«, fragte Cortés Marina erstaunt.
»Mexica!«, erwiderte sie. »So benehmen sich nur Mexica!«
Von den umherstehenden Totonaken vermochte sie keine weiteren Auskünfte zu erhalten;
offenbar waren die vier Mexica eben erst in Cempoala angelangt. Cortés und Marina begaben sich
eilig in den Tecpan. Als sie sich dem großen Festsaal näherten, fiel ihnen die ungewöhnliche Stille
auf. Das Becherklirren, Singen und Grölen der Kastilier war ebenso verstummt wie der schwermütige Ton der Trommeln, das klappernde Kürbisgerassel und das Flötenspiel der indianischen Musi-
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kanten. An der Tür des Festsaales bot sich ihren Augen ein unglaubliches Bild: el Gordo wälzte
sich auf den Knien vor den vier Mexica, rang die Hände und schluchzte. Die dicke Prinzessin lag
platt und ohnmächtig auf dem Fußboden; der Page Orteguilla, der nichts weiter trug als seine
Schambinde und seine Perücke aus lang herabwallenden gelben Papageienfedern, besprengte
sie mit Kräuterwasser. Die Totonaken mit ihren Frauen folgten dem Beispiel ihres Königs und knieten bestürzt nieder. Selbst die Kastilier, soweit sie nicht sinnlos betrunken waren und schnarchten,
waren aufgesprungen und standen starr, gelähmt, rat- und tatenlos herum. Die rothäutigen jungen
Edelmädchen aber, dreißig an der Zahl, waren wie ein Rudel verängstigte Rehe in eine Ecke des
Saales geflüchtet. Doch sie hatten einen Verteidiger: Mansilla der Durstige fuchtelte (wenn auch
unsicher auf den Beinen) mit einem großen Kochlöffel herum, den er der Goldhyazinte aus der
Hand gerissen hatte, und schwankte vor den Indianermädchen auf und ab, willens, sie – falls nötig
– mit dieser Waffe zu verteidigen. Doch wenn er geglaubt hatte, die Mexica zu beeindrucken, so
hatte er sich verrechnet. Ohne dem Gewinsel des knienden Königs Gehör zu geben, schritt der
schöne Adlerjüngling auf die Mädchenschar zu, wählte einige der Schönsten und zerrte sie heraus.
Als Mansilla Anstalten machte, den Kochlöffel zu heben, stieß er ihn verächtlich beiseite, dass der
Betrunkene zu Boden stürzte.
An die Göttlichkeit der Weißen glaubte dieser Mexica augenscheinlich nicht. Marina, die in
aller Eile von Umstehenden unterrichtet wurde, erklärte Cortés, dass die vier Mexica gekommen
waren, um im Namen und auf Befehl Moctezumas ein Strafgericht über die Totonaken wegen der
Zerstörung der Götterbilder und der Verbrüderung mit den Weißen zu halten. Der König und seine
adlige Umgebung würden später bestraft. Zuerst verlangten sie einen sofort zu entrichtenden Blutzoll von zwanzig adligen Jünglingen und Mädchen, Kindern der höchsten Würdenträger. Die Jünglinge sollten in Tenochtitlán auf den Altären Huitzilopochtlis und Tezcatlipocas geschlachtet, die
Mädchen aber der Göttin der Lust geweiht und dem großen Freudenhaus überwiesen werden.
Cortés hatte gleich beim Betreten des Saales nach seinen Feldobristen schicken lassen, von
denen keiner zugegen war. Die Leibwache wurde alarmiert und besetzte die Ausgänge. Einige der
Hauptleute rieten, die Mexica festzunehmen, andere meinten, man solle sie unverzüglich hängen;
Cristóbal de Olíd aber, der einstige Galeerensklave, legte wert darauf, die Mexica ausgepeitscht zu
sehen.
Cortés verwarf alle diese Vorschläge.
»Wir haben jetzt Gelegenheit«, sagte er, »die Totonaken in ein Netz zu locken, aus dem sie
sich nie mehr werden lösen können. Wir müssen sie dazu bringen, die Mexica gefangen zu nehmen und das Band zwischen ihnen und Moctezuma für immer zu zerreißen. Diese Schmach kann
der Aztekenherrscher nicht hinnehmen, und die Totonaken sind für immer an uns gekettet.«
Bis auf Ordás, der den reich gekleideten Adler zum Duell fordern wollte, waren alle einverstanden. Doch Cortés befahl ihm, dem noch immer knienden dicken Kaziken auf die Füße zu helfen. Er und Cristóbal de Olíd aber vermochten nicht, die Körpermasse des Fleischbergs zu heben,
und sie mussten sich Hilfe von Tapia und Luis Marín erbitten. Leichteres Spiel hatte die Überredungskunst Marinas. Der König räumte mit verlegenem Grinsen ein, dass er den Kopf verloren
habe. Ein Rückfall. Die alte Gewohnheit. Der Schrecken des Namens Moctezuma. Aber nie wieder
werde er, mit Cortés an seiner Seite, vor Moctezuma zittern. Er sei ja jetzt ein Christ und glaube an
den Gott Dios. Und gewiss brauche er mit einem Heer von vielen tausend Totonaken die kleine
Schar – bloß vier Mexica – nicht zu fürchten!
Seine jämmerliche Feigheit schlug in Rachsucht um. Er schrie die Mexica an, beschimpfte
sie und erteilte mit laut krächzender Stimme Befehle. Sofort traten zweihundert totonakische Krieger in den Saal und stürzten sich mit wildem Kampfgeheul auf die vier Adler und Jaguare. Die Gesandten Moctezumas verkauften ihre Freiheit teuer. Die weißen Orchideen, die den Fußboden des
Hochzeitssaales schmückten, färbten sich rot, und zehn Totonaken verröchelten, ehe die vier
überwältigt und gefesselt waren. Der dicke Kazike befahl, sie unverzüglich abzuführen und in Käfige zu sperren.
Mittlerweile war Doña Catalina India aus ihrer Ohnmacht erwacht. Und als die Gefangenen
abgeführt wurden, stellte sie sich, eine böse Spinne, dem vornehmen Adler in den Weg und spukte
ihm ins Gesicht. Der Adler sah sie nicht einmal an.
Die Totonaken wollten die gefangenen vier Mexica sofort ihrer neuen Göttin Santa Malía –
wie sie das Bild der Jungfrau Maria auf dem Tempelberg nannten – schlachten, aber Cortés sagte,
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das sei unchristlich. Verlegen fragte Schilfrohr, was er denn mit den Gefangenen tun solle. Cortés
lehnte es ab, ihm einen Rat zu erteilen. Nicht Kastilier, sondern Totonaken hätten die Mexica festgenommen. Also wäre es Sache der Totonaken, sie abzuurteilen und hinzurichten, falls sie es verdienten.
Der dicke König fragte, was das sei – hinrichten?
Cortés antwortete, das könne ihm der Narr Cervantes erklären. Und der setzte ihm auseinander: Das bedeute, dass man Leute an einen Baum hängt oder ihnen den Hals durchschneidet
oder sie lebendig verbrennt. Man könne sie auch ertränken, vierteilen, köpfen, erwürgen...
Der dicke Kazike schwieg und fragte nicht mehr. Aber es schien ihm nicht in den Kopf zu
wollen, warum eine Hinrichtung erlaubt sei und das Opferschlachten nicht.
Cortés ließ durch Marina auskundschaften, wer denn die Gefangenen seien und erfuhr, dass
der eine ein Neffe Moctezumas war und Cuauhtémoc heiße, der Schlagende Falke. In der Nacht
ließ er durch zwei verwegene und verschwiegene Soldaten – Tirado und Domínguez – den Schlagenden Falken und einen zweiten Gefangenen heimlich befreien und vor sich führen. Er ließ die
Mexica mit Speise und Trank bewirten und stellte ihnen seine Feldobristen vor. Dann zog er sich
mit Cuauhtémoc in ein anderes Gemach zurück. Nur Marina durfte zugegen sein. Sie sprachen
eine Stunde lang miteinander. Cortés drückte Cuauhtémoc sein Bedauern aus. Ein Missverständnis. Er sei stets ein Freund Moctezumas gewesen. Er missbillige die Gewalttat der Totonaken.
Aber, bei Gott, die Kastilier seien schuldlos und viel zu wenige, um Derartiges zu verhindern. Er,
Cortés, finde es unerhört, dass man Hand an die unantastbaren Abgesandten des Weltherrn gelegt habe.
Cuauhtémoc sprach nicht viel, gab sich höflich, kühl und weltgewandt. Leere Worte wurden
gewechselt und verschleierten die wahren Absichten und Gedanken beider Männer. Cortés erkannte, dass er einem gescheiten Mann und tapferen Krieger gegenübersaß.
Inzwischen war unauffällige Kleidung herbeigeschafft worden. Als Totonaken verkleidet,
wurden die beiden Mexica von Tirado und Domínguez durch nachtfinstere Gassen zum Fluss geführt, wo ein Kanu bereitlag.
*
Kaum eine Woche zuvor war der Schlagende Falke als siegreicher Feldherr aus den südlichen
Maya-Ländern nach Tenochtitlán zurückgekehrt, in die Stadt des Feigenkaktus. Er und der General des mexicanischen Heeres, der Geschliffene Obsidian, hatten in einjährigem Krieg den Ruhm
Mexicos bis nach Guatemala und Nicaragua getragen und neue Länder dem Weltreich der Azteken einverleibt. Bei ihrer Rückkehr nach Mexico waren sie nicht mit Jubel empfangen worden, wie
sie es hätten erwarten dürfen. Den Unheil kündenden Geschehnissen, den Vorzeichen des Weltendes, die seit einem Jahrzehnt die Gemüter ängstigten, hatte sich eine neue hinzugesellt: die
Schreckensnachricht von der Zertrümmerung der Götter im Cempoala.
Doch Cuauhtémoc war ein Liebling des Volkes. Deshalb verlangte das Volk nach dem Triumphzug, den Moctezuma der Landestrauer wegen abgesagt hatte. Die Bewohner der Wasserstadt hatten schon seit einiger Zeit die Fäuste geballt; nun begehrten sie den Schlagenden Falken
zu feiern. Moctezuma musste dem Volkswillen nachgeben und den Triumphzug erlauben. Die große Trommel auf dem Gipfel der Schlangenberg-Pyramide ließ ihre dumpfen Laute ertönen. Kopalrauch der Räucherpriester tauchte die Stadt in weiße Nebelwolken. Fellpauken donnerten, Muschelhörner schmetterten. An der Spitze des Heeres, das zehntausend gefesselte Schlachtopfer
für die hungrigen Götter Mexicos mit sich führte, schritten der Schlagende Falke und der Geschliffene Obsidian über den großen Steindamm von Iztapalapá, durch Siegespforten aus
Blumengehängen und Papierfähnchen, über Kanalbrücken und Plätze und durch die Haupt- und
Prozessionsstraße Tenochtitláns, welche man die Straße der blauen Scheibe (d. h. des Erdenrunds) nannte. Flötenspielende Mädchen umtanzten sie, Greise zogen ihnen ehrwürdig entgegen.
Und als sie sich dem Großen Palast näherten, trat auch Moctezuma in Kriegstracht aus dem Palasttor, einem türkisenen Schild am linken Arm und umgeben von seinen Krüppeln, Narren und
dem Rat der Alten. Auf den langen Treppenstufen vor dem Palasttor wurden der Schlagende Falke
und der Geschliffene Obsidian vor den Augen des Volkes entkleidet, und ihre nackten Körper
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ockergelb, ihre Gesichter karminrot bemalt. Auf das geflochtene Haar setzte man ihnen Siegerkronen, prachtvoll gearbeitet aus aufrecht stehenden Federn des Schlangenhalsvogels. Und Moctezuma sprach die Worte, mit denen seit toltekischen Zeiten alle Könige Anahuacs ihre siegreichen
Feldherren begrüßten:
»Die Mexica und ich, wir sind zufrieden mit euren Taten! Ihr habt euch vor dem Feind gut
gehalten; nun aber erholt euch und ruht euch aus!«
Und zum Scharfen Obsidian gewandt fuhr der König fort: »Du sollst mir noch einen zweiten
Dienst leisten! Nach Tlaxcala sollst du gehen, zu deinen Bergen und Tälern!«
Der Geschliffene Obsidian rührte sich nicht. Verständnislos blickte er den Großkönig an.
»O mutiger Krieger, du Junger!«, fuhr Moctezuma fort. »Du wirst als mein Abgesandter zu
deinen Bergen und Tälern gehen. Denn nur deine Treue kann dem weißen Sohn der Sonne den
Weg versperren!«
*
Von Iztapalapá aus war Cuauhtémoc, der Schlagende Falke, in einem Boot, nur von einem Sklaven begleitet, auf den Schilfsee hinausgerudert. Merkwürdig fremd und leblos lag der Terrassengarten da, als das Boot sich näherte. Herrlich wie immer zwar glitzerten die polierten
Porphyrtreppen, dunkelten sich die Lorbeerwipfel, glühten die Zedernäste, purpurn von Abendsonnengold verbrämt. Cuauhtémoc gab dem Sklaven ein Zeichen, langsam zurückzurudern. Als aber
das Boot sich wandte, gewahrte er ein Kanu, das ihm mit schnellen Ruderschlägen entgegenkam.
Im Kanu saß ein Mann, in der Tracht eines huaxtekischen Tonwarenhändlers und mit einer zuckerhutähnlichen spitzen Kopfbedeckung aus Kaninchenhaarfilz. Trotz der Verkleidung erkannte
der Schlagende Falke im Nahenden alsbald seinen Vetter Prinz Felsenschlange aus Tezcoco. Sie
begrüßten sich nach Indianerart mit spröder Herzlichkeit. Seit frühester Kindheit waren sie Spielgefährten gewesen. Stets eines Sinnes, waren sie in fester Freundschaft und Treue verbunden. Aber
ein Stern leuchtet nur in der Dunkelheit, und Treue nur, wenn Leid sie umgibt. Heute sollte zum
ersten Mal ihre Freundschaft geprüft und in kommenden Tagen auf eine harte Probe gestellt werden.
Doch ehe Felsenschlange zu reden begann, warf er einen misstrauischen Blick auf den
Sklaven und lud den Schlagenden Falken ein, in sein Kanu zu kommen. Der kletterte in das andere Boot hinüber, bemerkte jedoch lächelnd, dass der Sklave kaum ein Wort Mexicanisch verstünde. Und in der Tat, fremdartig genug sah der Mann aus. Er trug das Sklavenhalsband und am
Scheitel die Sklavenfeder, zugleich aber auch die Insignien eines Heerführers der Maya, hatte Ohren und Nase mit Kristallpflöcken durchbohrt; seine Haut war sonnengerötet, jedoch auffallend hell,
und sein schmalknochiges Gesicht umrahmte ein wilder roter Vollbart.
»Mein Sklave ist ein weißer Gott!«, sagte der Schlagende Falke.
Erst seit kurzem besaß er diesen Mann, für ihn das kostbarste Beutestück des Feldzuges.
Als er aus Guatemala und Nicaragua heimkehrte, waren die Mexica durch Yucatán gezogen und in
das Reich jenes Mayakönigs eingefallen, der den Franziskaner Jerónimo de Aguilár, nachdem er
ihn einer Keuschheitsprobe unterzogen, zum Aufseher seiner Frauen ernannt hatte. Als die Schiffe
des Cortés die Insel Cozumel anliefen, wurde ihm die Freiheit zurückgegeben. Der Leidensgefährte Aguilárs, der Matrose Gonzalo Guerrero, hatte sich geweigert, zu seinen Landsleuten zurückzukehren.
Als Seemann hatte er Schiffbruch erlitten. Und was er vordem in zwanzig Jahren als Matrose
durchmachen musste, erschien ihm wie eine nie abreißende Kette von Mühsalen und Erniedrigungen durch die Schiffsreeder und Seeoffiziere. Hass hatte sich in sein Herz gefressen gegen die
gottgewollte Ordnung der christlichen Welt, gegen die Lehre vom Zinsgroschen, welche die Benachteiligten auf ein Entgelt im Paradies vertröstete, auf Erden aber dem Kaiser geben wollte, was
des Kaisers war. Das alles hatte es ihm leicht gemacht, ein Indianer zu werden. Er hatte dem
Christentum abgeschworen, war zur Religion der Maya übergetreten, er ließ sich tätowieren und
Ohren, Nase und Lippen durchbohren. Als Renegat, der er war, stieg er die Erfolgsleiter Stufe um
Stufe empor. Unter Ojeda hatte er die Strategie der Weißen kennen gelernt und war imstande,
seinem Fürsten wertvolle Ratschläge zu geben, als dieser mit seinen Nachbarstaaten Krieg führte.
In den Kämpfen zeichnete er sich durch Unerschrockenheit und taktische Klugheit aus. So wurde
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ihm das weiße Purpurkranichhemd verliehen, ein Abzeichen hohen Kriegerranges. Und jüngst
beim Einfall der Mexica, welcher der Unabhängigkeit der kleinen Mayaländer ein Ende machte,
führte Gonzalo Guerrero das Heer seines Fürsten an. Aber er wurde trotz verwegener Heldentaten
besiegt. Die Mexica vermieden es, in den Kämpfen ihre Feinde zu töten. Sklaven zu machen war
das Hauptziel des Krieges, und jede Leiche auf dem Schlachtfeld beeinträchtigte den Glanz des
Triumphzugs und die Speisung der hungrigen Götter. In der Entscheidungsschlacht gelang es dem
Schlagenden Falken, eigenhändig den rotbärtigen Anführer des Mayaheeres zu fangen.
Tausende von Mayas waren gefangen worden. Und wie die Mehrzahl dieser Gefangenen
war auch Gonzalo Guerrero ursprünglich dazu ausersehen, auf der großen Adlerschale Mexicos
zu verbluten. Doch um über die Schlupfwinkel seiner noch unbesiegten Bundesgenossen Aufschluss zu erhalten, ließ Cuauhtémoc ihn foltern und durch Dolmetscher ausforschen. Da ergab es
sich, dass er ein weißer Mann war. Der Schlagende Falke befahl, dies geheim zu halten, erfasste
er doch sofort die Tragweite dieser Entdeckung. Als er den einstigen Matrosen verhörte, erkannte
er auch dessen indianische Lebensanschauung; staunend erfuhr er, dass der ehemalige Christ die
Christen verachtete. Jetzt erst begriff Cuauhtémoc, welch wertvolles Beutestück ihm das Glück in
die Hände gespielt hatte. Da wäre er dumm gewesen, den weißen Sklaven zu opfern! Er gab ihm
den Namen Gefleckter Berglöwe und behielt ihn in seinen Diensten.
Als der Schlagende Falke ins Kanu hinüberstieg, ging gerade die Sonne unter. Und es wurde
tiefe Nacht, bis Prinz Felsenschlange seinen Bericht beendete. Ihr Zusammentreffen auf der Lagune war kein Zufall. Felsenschlange hatte ihm aufgelauert, um ihn heimlich sprechen zu können, um
seine Handlungsweise zu rechtfertigen, seinen Abfall von Mexico, seinen Bruch mit Moctezuma
und dem Edlen Betrübten wegen des gestohlenen Staatsschatzes von Tezcoco und seinen Übertritt zum Rebellenheer der Blauen Feder.
»Auch dein Leben, Cuauhtémoc, wird Moctezuma nicht schonen«, sagte Prinz Felsenschlange abschließend. »Das Volk ist seiner zaghaften und ungerechten Führung schon lange
überdrüssig. Seit deinen Siegen in Guatemala bist du der neue Hoffnungsträger. Aber wehe dir,
Moctezuma vernimmt davon.«
»Ich will mein Leben nicht schonen, wenn es um das Wohl Anahuacs geht!«
Beide Freunde schwiegen lange. Dann sprach der Schlagende Falke: »Ich habe den Grünen
Stein gesehen!«
»Was?« Felsenschlange starrte Cuauhtémoc an.
»Ja, sie nennen ihn Cortés. Er hat mir das Leben gerettet. Ich will es dir erzählen. Nach dem
Triumphzug ließ ich mich bei Moctezuma melden. Unruhe flackerte auf dem Antlitz des Weltherrn.
Ich beantragte meine Entsendung nach Cempoala, wo ich die Totonaken wegen ihres Abfalls von
Mexico und ihren Göttern zur Rechenschaft ziehen wollte. Zwanzig Jünglinge und Mädchen für die
Altäre Mexicos sollte der Blutzoll betragen, und ich würde ihnen eine spätere Bestrafung der
Schuldigen in Aussicht stellen. Der Zauderer Moctezuma schreckte zurück, wie er vor jeder Entscheidung zurückschreckt. Mein Vorschlag wäre eine klare Stellungnahme gegen die weißen Götter, sagte er. Er suchte nach Ausflüchten, um sich nicht entscheiden zu müssen. Die
mexicanischen Soldaten seien ermüdet, sehnten sich nach Weib und Kind, wollten ihre Maisfelder
bestellen... Ich sagte, ich bräuchte keine Soldaten, weder um die Totonaken zu schrecken noch zu
meinem Schutz. Der Name des großen Moctezuma, dessen Bote ich wäre, genüge vollkommen.
Ohne Heer, mit nur drei Begleitern, würde ich nach Cempoala gehen.
Moctezumas Finger krampften sich an die Armlehnen seines silbernen Thrones. Er schwieg
und dachte nach. Ich bemerkte, dass Misstrauen in ihm erwachte. Noch war in seinen Ohren das
Triumphgeschrei nicht verklungen, mit dem das Volk dem Scharfen Obsidian und mir zugejubelt
hatte. Eigentlich bot ich ihm an, in mein Verderben zu rennen. Moctezuma fand keine Antwort. Er
wollte erst mit sich zu Rate gehen, sagte er.
Da trat sein Sohn, der Von-Göttern-Beschirmte, in den großen Thronsaal, unterwürfig begrüßt von den zahllosen Höflingen. Ich begrüßte Den-Von-Göttern-Beschirmten förmlich und höflich. Er hatte seinen Lustknaben dabei. Ich fragte ihn nach dem Namen seines schmucken Begleiters und fügte hinzu: ›Einen so schönen Mann habe ich weder in Mexico noch in fernen Ländern
gesehen.‹
Der Königssohn nannte den Namen Xoctemecl, Purpurkranich. Da packte ich – im Thronsaal, angesichts des Herrn der Welt – mit flinkem Griff, wie man Kriegssklaven zu fangen pflegt,
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den langen Haarschopf Xoctemecls, drückte seinen Kopf nach hinten, bis Hinterhaupt und Rücken
sich berührten, hielt ihn so mit der linken Hand, zog blitzschnell mit der Rechten den Feuersteindolch aus dem Gurtgehenk und schnitt dem schönen Höfling die Nase ab. Und während die herumstehenden Höflinge und Speichellecker aufheulten, trat ich vor den Thron Moctezumas. ›O großer König, o Herrscher‹, fragte ich ihn, ›gingst du mit dir zu Rat?‹
Die Schranzen im Saal standen erstarrt. Moctezuma saß unbeweglich. Nach einer Weile
sagte er leise: ›Geh nach Cempoala!‹«
Felsenschlange hatte regungslos zugehört. »Das sollte dein Todesurteil sein«, sagte er nun.
»Ja, aber es kam anders.« Der Schlagende Falke schilderte, was er in Cempoala erlebte
und wie Cortés ihn heimlich hatte entkommen lassen. »Der Grüne Stein ist ein ernst zu nehmender
Gegner«, schloss er seinen Bericht, »und er wird nicht aufgeben, bis er Tenochtitlán in seinen Besitz gebracht hat. Ich liebe Mexico, und ich liebe Moctezumas Tochter Maisblume, die er mir einst
anverlobte und dann dem Edlen Betrübten versprach. Und es ist auch schwer, den Freund hinzugeben!«
Felsenschlange reichte ihm die Hand. »Auch als Gegner wollen wir Freunde bleiben!«, sagte
er. So schieden sie.
*
Der capitán generál ließ Fray Francisco López de Gómera in sein Zelt rufen. Er hatte sich vorher
mit Fray Olmedo abgesprochen.
»Nehmt den jungen Kaplan«, hatte der zugestimmt, »das Pfäfflein taugt mehr zum Chronisten und weniger als Kämpfer für die Christenheit. Er wird Euch als escribiente gute Dienste leisten!«
Der Pater erschien – ein hübscher, kaum zwanzigjähriger Mann – und bemerkte Papier, Feder und Tinte auf dem Tisch.
»Ich hörte, Ihr lebt schon eine Weile in Neuspanien.«
»Ja, Euer Gnaden. 1514, da war ich 15 Jahre alt, kam ich mit meiner Schwester nach
Darien, das man auch Panama nennt.«
»Was trieb Euch von daheim fort?«
»Nun, ich bin der Zweitgeborene eines nicht gerade begüterten Granden aus San Sebastián
de Gómera. Mein Vater hat schlecht spekuliert. Er starb hoch verschuldet an den Pocken, und
auch meine Schwester wurde von der Seuche dahingerafft. Ich half bei der Epidemie, im Kloster
der Madonna de la Concepción Immaculata die Kranken zu Pflegen, ja – und dann bin ich dort als
Priesterschüler geblieben. Ihr wisst sicher, Señor: Hidalgos ohne Geld und Einfluss haben nur die
Wahl zwischen Kirche, Seefahrt oder Königshof!«
»Da habt Ihr Recht, iglesia, mar o casa real!«, sagte der caudillo lächelnd.
»Als ich von Eurer Unternehmung hörte, bei der es noch viel zu entdecken gäbe, habe ich
mich Euch angeschlossen.«
Cortés suchte einen Schreiber. »Als Priester könnt Ihr Lesen und Schreiben?«
»Natürlich, Euer Gnaden.« Eine leichte Röte breitete sich über Franciscos Gesicht.
»Nehmt mir die Frage nicht übel, ich habe damit gerechnet, aber ich kenne genug Pfaffen,
die das Schwert besser führen als den Griffel.«
»Ich habe mich Eurer Expedition angeschlossen, weil ich neugierig auf fremde Länder bin.
Aber ich bin kein Soldat. Mut und Heldentum sind nicht unbedingt meine Sache, Señor Capitán.
Wenn es um Eroberungen geht, will ich die Seelen der armen Heiden hier für unsere Heilige Kirche erobern.«
Cortés schaute den jungen Priester nachdenklich an. »Lasst mich erklären«, sagte er dann.
»Wir sind ein Heer des Kaisers! Es ist unsere Pflicht, seiner Majestät getreulich zu berichten, was
wir in diesen Neuen Ländern in seinem Namen erobern. Und dazu benötige ich einen Chronisten.
Wollt Ihr diese Aufgabe übernehmen?«
»Ich soll niederschreiben, was wir hier antreffen, was wir erleben, was wir erreichen?«
»Ja. Haltet die Augen offen und notiert, was Euch wichtig dünkt. Meine Eindrücke werde ich
Euch diktieren. Seid Ihr bereit?«
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»Euer Gnaden müssen nur befehlen.«
»Wohlan.« Cortés deutete zum Tisch. »Nehmt Platz, dort stehen Eure Utensilien. Wir wollen
sogleich beginnen.«
Und Cortés diktierte Francisco López de Gómera in die Feder:
»Ich, Hernándo Cortés, capitán generál einer Flotte Eurer Majestät, habe am 16. Juli des
Jahres 1519 durch meine Offiziere Puertocarrero und Francisco Montejo einen umfassenden Bericht an Eure Majestät mit allen Begebnissen, die seit meiner Landung hier in Neu-Hispanien, am
Karfreitag, dem 22. April desselben Jahres, sich zugetragen haben, alleruntertänigst übersandt.
Dort habe ich eine Stadt Veracruz in Allerhöchstdero Namen gegründet. Seither habe ich keinerlei
Gelegenheit gehabt, Eurer Kaiserlichen Majestät Weiteres zu melden, dieweil es mir an Schiffen
mangelte und weil die Eroberung dieses Landes mich allezeit beschäftigte...
Ich bin im Schreiben ungeschickt, denn ich hatte in den Händeln des Krieges nicht Gelegenheit, mich darin zu üben... Schon in meinem ersten Bericht habe ich Kunde gegeben von einem
gewaltigen König, den man Moctezuma nennt und dessen Hauptstadt Tenochtitlán nach der
Rechnung hiesiger Leute 75 bis 80 Leguas vom Meer zu suchen ist. Ich habe mir vorgenommen,
mit Gottes Hilfe und zu Euer Kaiserlichen Majestät Ehre und Ruhm an den Ort vorzudringen, wo
dieser König seinen Sitz hat... Ich will Eurer Majestät im Vertrauen auf mich selbst versprechen,
ihn entweder als Gefangenen zu bringen oder ihn seines Lebens zu berauben.
Mit solchem Entschluss bin ich am 16. August 1519 mit 15 Reitern und 500 wohlgerüsteten
Fußknechten von Cempoala aufgebrochen, dem Hauptquartier meines bis dahin eroberten Gebiets. In Veracruz ließ ich 150 Mann und zwei Reiter mit dem Befehl zurück, die Stadt zu befestigen, was inzwischen geschehen ist. Dem Offizier der zurückbleibenden Spanier unterstellte ich die
gesamte Landschaft Cempoala, was an die 50 000 streitfähige Männer in fünfzig Städten und Orten bedeutet, allesamt treue Untertanen Eurer Kaiserlichen Majestät. Sie waren dem König Moctezuma noch nicht lange untertan, und dies nur durch Gewalt. Sie begehrten, Eurer Kaiserlichen
Majestät Untertanen und meine Freunde zu werden. Sie baten, ich möchte sie vor besagtem Moctezuma beschützen, der sie knechte, ihnen die Kinder raubte und sie seinen Götzen opferte...
Mir war zur Kenntnis gekommen, dass es manchen der mit mir gelandeten Männer Verdruss
bereitete, was ich in Eurer Kaiserlichen Majestät Namen mit Glück erobert habe. Etliche hatten
sich zusammengetan, um von mir abzufallen und aus diesem Lande wieder abzureisen. Sie wollten einen meiner Kapitäne ermorden und sein Schiff übernehmen, das in Veracruz verproviantiert
vor Anker lag. Sie alle waren Freunde des Diego de Velásquez und wollten zurück zur Insel Kuba
segeln. Und dann gab es andere, die auch danach trachteten, das Land zu verlassen, weil sie erkannten, wie groß dieses Reich ist, das ich zu erobern gedenke. Sie sahen, dass wenigen
Hispaniern gar viel feindliches Volk gegenüberstand. So bin ich zu der Meinung gekommen, die
Schiffe nicht hinter mir zu lassen, weil damit alle entweichen könnten, die zum Abfall neigten. Daher habe ich erklärt, die Schiffe seien zur Seefahrt untauglich, habe sie auf Land laufen und verbrennen lassen. Indem ich so meinen Rücken sicherte, ward ich aller Furcht ledig, machte das
kastilische Heer bereit, vom Land der gastfreundlichen Totonaken Abschied zu nehmen und nunmehr guten Mutes meinen Marsch auf das unbekannte Reich Moctezumas anzutreten...«
*
Der Aufbruch war mehrmals hinausgezögert worden. Der Narr Cervantes behauptete, die dicke
Prinzessin habe ihren Gemahl verzaubert, um ihn für sich zu behalten. In Wirklichkeit verging Cortés vor Ungeduld, aber eine unheimliche Krankheit war ausgebrochen und hatte den Aufbruch verhindert. Das schwarze Erbrechen, vómito negro, auch gelbes Fieber genannt, raffte viele Erkrankte
dahin. Auch Cortés und die Feldobristen hatten leichtere Fieberanfälle zu überstehen. Sandoval
war der Einzige unter den Hauptleuten, der nicht von der Krankheit befallen wurde und seinen
Dienst verrichten konnte.
Unter den Soldaten waren etliche vom Fieber so ermattet, dass sie für den Zug über die
Kordilleren zu schwach waren und mit Pedro Baracoa und Alonso de Grado, die beim Kampf vor
der Vernichtung der Götzenbilder verwundet worden und noch nicht geheilt waren, zurückbleiben
mussten. Und die Mulattin Beatriz de Acevedo schlief zwar nicht mehr im Sarg, genas jedoch nur
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langsam von ihrer Schädelverletzung, lachte irr mit flackernden Augen, handelte und redete wie
eine Mondsüchtige.
Es wurde beschlossen, die Kranken nach Veracruz zu schaffen. Cortés hatte Escalante in
einem Brief beauftragt, mit einer Eskorte nach Cempoala zu kommen, um die Kranken abzuholen.
Escalante brachte eine Nachricht mit, welche den Abmarsch des Heeres von neuem um etliche
Tage hinausschob. Zwei Schiffe hatten sich an der Küste gezeigt und kreuzten südlich von Veracruz. Escalante hatte durch Fischer in Erfahrung bringen können, dass diese Schiffe Francisco de
Garay gehörten, dem Statthalter der Insel Jamaica, aber von einem Kapitän namens Alonso Álvarez de Pineda kommandiert wurden.
Seine Exzellenz Juan Rodríguez de Fonseca – Bischof von Burgos und Erzbischof von
Rosano, Leiter der Casa de Contratación, des Amtes für indianischen Angelegenheiten in Sevilla,
der Unterdrücker jeder Begabung – war ein Gönner des unbedeutenden Francisco de Garay und
hatte ihm ein Patent ausgefertigt, das ihm Sklavenfang und Tauschhandel an der Festlandküste
westlich von Florida gestattete. Garay hatte von Kuba her vage Nachrichten über den Freibeuterzug des Cortés erhalten und fühlte sich benachteiligt. Er hatte die beiden Schiffe ausgesandt, um
zu verhindern, dass die Kubaner in seinem Gebiet Sklaven raubten. Über Moctezuma und Mexico
hatte er noch nichts gehört und von den eigentlichen Zielen des Cortés keine Ahnung. Aber er
wollte nicht dulden, dass ein anderer ihm ins Gehege kam. Eigentlich begann die »ihm zugesprochene Küstenstrecke« viele Meilen nördlich von Veracruz, doch seine Kapitäne und Piloten hatten
sich um einige Breitengrade geirrt, was bei der Standortberechnung mittels Quadrant und Astrolabium auf schwankendem Schiff nicht selten vorkam.
Cortés beschloss, selbst nach dem Rechten zu sehen. Er übergab Alvarado und Sandoval
die Aufsicht über das Heer, begleitete den Krankentransport bis zur Hafenstadt und ritt dann die
Dünen entlang weiter nach Süden, in Begleitung von Escalante, Galleguillo (dem kleinen Galicier),
den Bogenschützen Soares, Peñalosa und vier weiteren Soldaten.
Bald stießen sie auf drei Leute des Garay, die in einer Schaluppe an Land gerudert waren
und an einem ins Meer mündenden Bach eine Tonne mit Trinkwasser gefüllt hatten. Beim Anblick
der Bewaffneten flohen sie zurück zur Schaluppe, doch die Reiter schnitten ihnen den Weg ab. Ein
kleiner, dicklicher Mann mit Spitznase, im schwarzseidenen Rock eines Gerichtsschreibers, mit
Silberschnallen an den Schuhen und einem sauberen, doch zerrissenen Spitzenkragen, begann,
als er sich umstellt sah, ein pergamentenes Schriftstück auseinanderzufalten, welches mehr Umfang hatte als er selbst.
Im Jahre 1513 entdeckte Ponce de
Léon die Halbinsel Florida. Er wurde
1521 durch den vergifteten Pfeil
eines Indianers tödlich verwundet.
Der Holzschnitt aus dem 18. Jahrhundert stellt, natürlich ohne geschichtliche Treue, dieses Geschehnis dar.
Cortés redete ihn freundlich an: »Ich hoffe, Ihr kommt uns in guter Absicht besuchen,
Señor!«
Der Kleine antwortete ebenso freundlich: »Da scheint Ihr mir doch zu irren, Señor. Die Besuchenden werdet Ihr wohl sein, wenn Ihr mir Zeit lasst, meinen Auftrag auszuführen.« Und er fuhr
fort, sein großes Pergament zu entfalten.
»Ob ich Euch Zeit lasse, hängt von Eurem Auftrag ab«, sagte Cortés und stieg vom Pferd.
»Was habt Ihr vor?«
»Mein Name ist Guillén de la Loa. Ich bin Notar und Gerichtsschreiber und ergreife Besitz
von diesem Land, Señor, im Namen unseres Kaisers Don Carlos und des Statthalters Francisco
de Garay von Jamaica – vor diesen meinen beiden Zeugen!« Der kleine Gerichtsschreiber zeigte
auf seine beiden Begleiter. Es waren einfache Matrosen.
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Cortés klopfte ihm auf die Schulter. »Zu spät, lieber Freund. Vom Land nahm ich schon Besitz. Nun aber möchte ich auch von Euch Besitz nehmen!« Eine kleine Verstärkung spanischer
Männer in seinem doch schon etwas dezimierten Heer war ihm in dieser Situation willkommen.
Und der Generalkapitän, der bezaubern konnte, wenn er wollte, bezauberte nun den kleinen
Schreiber. Er schob alle Schuld den nautischen Instrumenten, dem Astrolabium und der magnetischen Abweichung des Kompasses zu. Und dann malte er ein Bild von Mexico, vom Märchenland,
vom Goldland Anahuac. Welche Möglichkeiten für unternehmende Männer! Der Notar sei ein
Mann von Willenskraft und scharfsinnigem Verstand – das sehe man ihm an! Nicht minder Wagemutige befänden sich gewiss unter der Besatzung der beiden Schiffe, bereit, alles daranzugeben,
wenn ein solches Ziel winke!
Es fiel Cortés nicht schwer, den kleinen Mann und seine beiden Begleiter zu gewinnen. Sie
erboten sich, die Schiffsbesatzung an Land zu rufen. Doch ihre Bemühungen waren erfolglos.
Wohl brüllten die beiden Matrosen stimmgewaltig die frohe Botschaft zu den ankernden Schiffen
hinüber. Doch die Leute auf den Schiffen hatten, wenn auch aus der Entfernung, die Umzingelung
ihrer drei Kameraden beobachtet und glaubten, ihr Winken und Rufen sei durch Drohungen veranlasst.
»Auf die Weise erreichen wir nichts!«, sagte der alte Escalante missmutig. »Wenn wir aber
hinrudern, so empfangen sie uns mit Musketenschüssen!«
»Vielleicht haben wir mit einer Kriegslist mehr Glück«, schlug Galleguillo vor. »Wir sollten so
tun, als hätten wir unsere Absicht aufgegeben und ritten den Weg zurück, den wir gekommen
sind.«
Der kleine Gerichtsschreiber und seine Gefährten wurden in die Mitte genommen; und der
sichtlich enttäuschte Trupp ritt in Richtung Veracruz, bis sie hinter einer Düne verschwanden. Hinter der Düne ließ Cortés Halt machen. Auf seinen Befehl mussten der Gerichtsschreiber und die
beiden Matrosen ihre Kleider mit Galleguillo, Soares und Peñalosa wechseln. Der Schreiber protestierte gutmütig gegen die Maskerade, fügte sich jedoch ins Unvermeidliche. Die Kleider des
kleinen Galiciers schlotterten an ihm wie an einer Vogelscheuche, während Galleguillo in der kurzen Amtstracht wie ein hochgeschossener Bub aussah. Es war schon Abend geworden, und Cortés meinte, sie sollten das Morgengrauen abwarten, ehe sie an die Ausführung des Planes gingen.
Nach mehrstündiger Rast hinter der Düne schlichen sie im Schutz der mondlosen Nacht an den
Strand zurück und legten sich hinter buschigem Gehölz auf die Lauer. Die Pferde hatte man jenseits der Düne an Bäume gebunden.
Kurz vor Sonnenaufgang liefen der kleine Galicier, Soares und Peñalosa am Strand auf und
ab, schrien und winkten, dass die Schiffsmannschaften – im Glauben, die Kameraden wären aus
der Gefangenschaft geflohen – den Hilferufen diesmal Gehör schenkten. Bald näherte sich ein
Boot mit sechs Mann dem Strand. Um nicht zu früh erkannt zu werden, fielen, während das Boot
heranruderte, der vermeintliche Gerichtsschreiber und die vermeintlichen Matrosen am Meeresufer
wie erschöpft nieder. Zwei von den Leuten im Boot kamen an Land, um – wie tags zuvor ihre Gefährten – eine Tonne mit Trinkwasser zu füllen; sie eilten dem Bach zu. Die anderen im Boot Verbliebenen jedoch wunderten sich, dass Guillén de la Loa und seine Begleiter keine Anstalten
machten, sich zu erheben.
»Ihr seht, dass wir euch holen kommen, Don Guillén! Was fackelt ihr so lange!«, rief einer
der Garay-Leute.
»Kommt ihr doch auch an Land!«, entgegnete der kleine Galicier. »Hier gibt es pflaumengroße Honigameisen!« Seine Stimme glich zwar kaum der des Gerichtsschreibers, trotzdem hätten
die Angeredeten vielleicht Vertrauen gefasst, aber da wieherte hinter der Düne eines der Pferde.
»Ein Hinterhalt!«, rief einer der Matrosen.
Sofort stieß das Boot von Land ab und entfernte sich. Dann fielen Schüsse. Die hinter dem
Gebüsch versteckt Liegenden waren aufgesprungen und schossen zurück. Eine Musketenkugel
durchbohrte Escalantes Hut, streifte ihm die Schläfe.
»Genug!«, rief Cortés, »das Schießen ist zwecklos.« Und an Escalante gewandt fragte er:
»Ihr seid doch nicht etwa verwundet, Señor?«
Der alte Escalante lachte, dass sein weißer Knebelbart wackelte. »Ich habe eine gute Waffensalbe und einen Krötenstein, Don Hernándo, die zwingen jede Kugel aus der Bahn!«
»Vorsicht ist ein besserer Lebenstalisman!«, sagte Cortés. »Wenn nicht um Euretwillen, so
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schont Euch mir zuliebe! Ich habe nicht viele Getreue wie Euch.« Seit ihm der Italiener Botello, der
Astrologe, etwas über Escalantes Schicksal gesagt hatte, sorgte Cortés sich um den alten Mann.
Die Festnahme der beiden Garay-Leute, die Trinkwasser holen wollten, brachte eine Überraschung. Der eine von ihnen, ein junger Matrose, hatte auf einer der elf Karavellen des Cortés
Dienst getan. Im Nebenberuf war er Musikus; und wie der Tanzmeister Ortiz und Flores, der rothaarige Sänger, hatte er oft zur Unterhaltung und Aufmunterung des hungergeplagten und moskitozerstochenen Heeres während des Lagerlebens an der Seeküste beigetragen. Da er eine kleine
Harfe besaß, auf der er seine Romanzen zu begleiten pflegte, hatten sie ihn Pedro de la harpa
genannt. Als nach der Gründung von Veracruz vor drei Monaten auf dem Flaggschiff (dem einzigen nicht verbrannten Schiffe) Puertocarrero und Montejo mit dem Auftrag nach Spanien segelten,
die Geschenke Moctezumas – die wagenradgroße Scheibe aus gestanztem Gold mit den Sternbildern und dem Tierkreis der Tolteken, die nicht minder große Silberscheibe mit der Darstellung des
Mondes und des Morgensterns sowie alle anderen unschätzbaren Gaben und Goldbarren – dem
jungen Kaiser Karl V. persönlich zu überbringen, vor allem aber den Brief des Cortés und das Bittschreiben des Heeres, hatte der Schiffskapitän, der Pilot Alaminos, den Pedro de la harpa mit auf
die Reise genommen.
Domínguez und Lares, die die Gefangenen dingfest machten, hatten zuerst an eine zufällige
Ähnlichkeit geglaubt; den Harfenspieler hier zu treffen, war kaum denkbar. Aber der gab sich
selbst zu erkennen und redete die alten Kameraden mit ihren Namen an. Da gab es erstaunte
Ausrufe, Händeschütteln, Hänseleien und Gelächter. Doch Cortés wurde ernst; er verlor selten die
Fassung, aber jetzt aber war seine Unterlippe weiß geworden. Cortés nahm den Mann ins Gebet.
»Ist die Capitána untergegangen?«
»Nein, Señor, sie ist auf dem Weg nach Kastilien.«
»Wie kamst denn du nach Jamaica?«
»Erst war ich in Kuba, Señor.«
»Zum Teufel! Ich habe Puertocarrero verboten, Kuba anzulaufen!«
»Der Teniente Puertocarrero war seekrank.«
»Aha, also Montejo, der Falschspieler! Ihr seid gelandet?«
»Nein, Señor. Doch als wir am Landgut des Hauptmanns Montejo vorbeisegelten, ging er vor
Anker und er schickte mich mit einem Brief an seinen Pächter.«
»Was stand in dem Brief? Heraus damit! Lüg mich nicht an, Kerl, sonst lass ich dich hängen!«
»Den Brief gab ich ungeöffnet ab, Señor. Erst später habe ich erfahren, dass im Brief ein
weiterer Brief eingeschlossen war.«
»An wen?«
»An den Statthalter Don Diego de Velásquez.«
Cortés blieben fast die Worte weg. »Alles verraten«, brachte er mühsam hervor.
»Ja, alles, Señor. Ich erfuhr es später. Denn als das Schiff weitersegelte, musste ich in Kuba
bleiben. Dort pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Als Erstes hatte Don Diego de Velásquez
zwei bewaffnete Karavellen auf die Suche nach der Capitána geschickt, um sie mit allem Gold
Moctezumas nach Havanna zu bringen. Doch das misslang. Eine Zeit lang soll der Statthalter niedergeschlagen gewesen sein. Dann hat er Leute anwerben lassen, um einen Feldzug gegen Euch
zu rüsten.«
»Wie stark sind diese Streitkräfte?«
»Dreizehnhundert Mann, Señor. Er hat auch schon achtzehn Schiffe bereit.«
»Wer soll das Heer anführen? Wohl kaum der dicke Gouverneur selber!«
»Nein, Señor. Als Befehlshaber hat er seinen Neffen Pánfilo de Narváez ausersehen.«
»Wie das? Narváez war doch um Weihnachten nach Europa abgereist.«
»Das ist richtig, Señor. Er weilt auch jetzt noch in Europa. Don Diego de Velásquez hat ihn
nach Kuba zurückrufen lassen, aber bis er dort wieder eintreffen kann, vergehen einige Monate.«
Cortés ritt nachdenklich mit Escalante und den anderen nach Cempoala zurück. Bisher hatte
er kaltblütig sein Spiel gespielt, und die Menschen in diesem Spiel waren nur Schachfiguren. Nun
sah er den nie mehr gutzumachenden Fehler in seinen Berechnungen. Er hatte mit der Dankbarkeit Montejos gerechnet! Er, der scharfsinnige Stratege, war von einem Glücksspieler matt gesetzt
worden. Doch eine Gefahr, die erkannt ist, kann durch beherztes und kluges Vorgehen ihren
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Schrecken verlieren. Bis zur Rückkehr des Narváez konnte ein halbes Jahr vergehen, wenn nicht
mehr. Und bis dahin war Mexico sein!
*
Im spanischen Heer gab es noch einen zweiten Chronisten. Im Gegensatz zu Francisco López de
Gómera, dem Cortés seine Briefe an Kaiser Karl V. diktierte, begann ein anderer Kastilier, Bernal
Díaz del Castillo, aus eigenem Antrieb seine Erlebnisse aufzuschreiben. Er hatte aus Havanna
etliche Bögen Papier in seinem Gepäck mitgebracht, die er wie seine Augäpfel hütete. Eines
Abends saß er vor seinem ersten Blatt und schrieb in gerundeten Buchstaben:
»Denkwürdigkeiten des Bernal Díaz del Castillo oder Wahre Geschichte der Entdeckung und
Eroberung von Neuspanien.«
Zufrieden betrachtete er den Titel, sinnierte vor sich hin und begann seinen Bericht, der später als authentisches Dokument in die Geschichte eingehen sollte:
»Ich, Bernal Díaz del Castillo, bin nur schlichter Abstammung; mein Vater war Sattelmacher
in Medina del Campo in der Provinz León, und ein guter dazu. Trotzdem reichte sein Einkommen
kaum für die siebenköpfige Familie. Da kam mir ein Angebot des Francisco Hernández de
Córdova gerade recht, mit ihm nach Darien zu reisen. Ich nahm 1517 auch an seiner Expedition
und ein Jahr später an der des Grijalva teil. 1519 trat ich in das Heer des Hernándo Cortés ein, der
mit einer Flotte von Kuba nach Tabasco wenig nördlich der Halbinsel Yucatán
reiste, um neues Land in Besitz zu nehmen... Schon 1511 war ein Schiff des
Kapitäns Valdivia an der Ostküste Yucatáns schiffbrüchig geworden, und wir
reisten zuerst dorthin, um die Suche nach versklavten Christen aufzunehmen,
konnten aber nur Jerónimo de Aguilár und Gonzalo Guerrero finden. Sie hatten
seither unter den Indianern gelebt und ihre Sprache erlernt. Aguilár, ein Franziskaner, schloss sich unserem Heer als Dolmetscher an. Guerrero war inzwischen
zu einem Indianer geworden, hatte eine indianische Frau und Kinder mit ihr, und
wollte nicht mehr zurückkehren...«
Büste von Bernal Díaz del Castillo
in Medina del Campo, Spanien
*
An einem schwülen Nachmittag befand sich Prinzessin Maisblume auf der untersten Gartenterrasse des Palasts in Chapultepec. Zwischen den beiden Steinbildnissen König Himmelspfeils und
König Wassergeists lag der Eingang in eine natürliche, sehr geräumige und kühle Grotte. Die Prinzessin bereitete der Göttin Siebenschlange eine Opfergabe zu. Unweit vom Eingang saßen ihre
Gefährtinnen im Schatten hoher Magnolienhecken auf dem Rasen – ein wenig schläfrig an diesem
heißen Sommernachmittag.
Die von der Prinzessin bereitete Opfergabe war ein am Kopf blau geschminkter und von den
Lenden abwärts mit einem bunten Mädchenröckchen bekleideter gebratener Frosch. Die Prinzessin hatte dem toten Tier das Röckchen bereits umgebunden, da kam eine ihrer Gefährtinnen atemlos herbeigestürzt.
»Der Gott...«, stammelte das Mädchen.
»Welcher Gott?«, fragte Maisblume ruhig, doch sichtlich verstimmt darüber, dass man sie
beim Opfer zu stören wagte. »Welcher Gott?«, wiederholte sie ihre Frage, da das Mädchen nicht
gleich eine Antwort fand.
»Tezcatlipoca kommt zu dir!«, schrie das Mädchen grell und stürzte hinaus. Ihr Schrei brandete an die Grottenwände.
Erstaunt blickte die Prinzessin zum Grottenausgang, wo das Mädchen verschwunden war.
Und nun sah sie ihn, den Gott. Jünglingshaft stand er im flirrenden Licht, sein linkes Bein geschwärzt bis an den Schenkel, an den Sandalen goldene Glöckchen und Schellen, im Kopfschmuck die weiße Truthahnfeder. Ja, es war Tezcatlipoca, der oberste der Götter. Offen fiel ihm
das langsträhnige Haar auf die Hüften herab; sein Antlitz war durch eine Goldmaske verdeckt. Er
schritt auf die völlig Gelähmte, vor Ehrfurcht Erstarrte zu, nahm sie bei der Hand und führte sie in
den inneren Teil der Grotte.
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Erst nach geraumer Zeit wagten sich die Gefährtinnen der Prinzessin zurück, aber da war der Gott
verschwunden. Vom Seeufer her hörte man sein schwermütiges Flötenspiel, dort schritt er mit seinen vier Gattinnen und seinen acht Begleitern. Die Tochter Moctezumas aber stand wie vordem
nahe beim Höhleneingang über einen hölzernen Teller gebeugt, auf welchem ein mit einem Mädchenröckchen bekleideter Frosch lag. Sie hatte einen feinen Pinsel in der Hand und bemalte mit
blauer Farbe den Kopf des gebratenen Frosches.
*
Als die Sonne am nächsten Morgen aus dem Gletscherschnee emporstieg, saß Maisblume in ihrer
zierlichen Sänfte und ließ sich die Porphyrtreppen der Gartenterrassen hinab und über den Steindamm der Lagune tragen. Sie fragte die Sänftenträger, ob sie wüssten, wo der alte Zauberer
Sacusín wohne. Ja, es sei ihnen bekannt, es sei eine verrufene Gegend. Die Prinzessin befahl
ihnen trotzdem, sie in die Wohnung des Zauberers zu tragen, und so kam es, dass die Sänftenträger nach Norden abbogen, anstatt wie sonst den Weg nach dem südwestlichen Stadtviertel
Moyotla zum Großen Palast zu nehmen. Der Weg führte zuerst an prunkvollen Wohnhäusern der
Kaufmannschaft Tlatelolcos vorbei, doch bald gelangten sie in das Gassengewirr ärmlicher Stadtviertel, eilten über beschattete Plätze und zahllose Kanalbrücken. Huren standen umher und zeigten kichernd ihre mit Cochenille rot gefärbten Zähne.
Maisblume hatte von den Verlorenen schon gehört, sie aber noch nie mit eigenen Augen gesehen. So starrte sie nicht minder erstaunt zurück, als sie von den Dirnen angestarrt wurde. Kaum
dass eine ehrerbietig ihrer Sänfte aus dem Wege ging, hielt man sie doch für eine begüterte Insassin des Tanzhauses von Mexico, wo die den unverehelichten Kriegern zugewiesenen Mädchen
vom Staat unterhalten wurden. Dass eine Tochter des großen Moctezuma sich in diesen Gassen
zeigen könnte – auf den Gedanken wäre keine verfallen.
Vor einem unscheinbaren Häuschen hielten die Sänftenträger an. Während Maisblume noch
zögerte, in die dunkle Türöffnung zu treten, kam ihr ein Knabe entgegen, nahm sie bei der Hand
und führte sie hinein. Der Knabe war blind, er trug eine brennende Kienfackel in der Hand. Sie
erleuchtete ihr – nicht ihm – den Weg. Und so wie sie eben zum ersten Mal die käuflichen Mädchen gesehen hatte, so nahm die verwöhnte Königstochter zum ersten Mal die hässliche Seite der
Armut wahr. Die Räume waren kahl, schmutzig, modrig, Brutstätten für Ratten und Ungeziefer.
Der Knabe führte sie in einen sonnenerhitzten Hof. Nur unter der einen Wand war ein wenige
Fuß breiter Schatten. Dort hockte auf einem Schemel der alte Zauberer. Sein Borstenbart, sein
weißes Strähnenhaar, die zerschlissene, fleckig geflickte Kleidung unterschied ihn kaum von den
vielen im Lande umherziehenden Zauberern, deren Künste darin gipfelten, aus Töpfen Hornissen
und Schlangen, Feuersbrünste oder Quellen zu zaubern. Ungepflegt und zerlumpt saß er da, doch
aus seinem uralten Gesicht leuchteten zwei klare, alles und jeden durchschauende Augen. Im Volk
galt er als mächtigster Zauberer in Anahuac; man flüsterte, er esse die Herzen lebender Menschen
und trage, in eine fliegende Schlange verwandelt, die Schlafenden auf dem Rücken durch die
Nacht.
Wenn die Prinzessin gehofft hatte, ihren Rang vor ihm verbergen zu können, so nahm er ihr
diese Hoffnung mit den ersten Worten, indem er sie ehrerbietig als Prinzessin anredete und nach
ihrem Begehr fragte.
Sie erzählte ihm, sie hätte geträumt, in der Grotte habe der Gott sie erwählt. Das stand für
sie fest; es zu glauben, zwang sie ihr Stolz, und sie bat den Zauberer, ihr den Traum zu deuten.
Lange sann er nach. In der Hand hielt er einen verdorrten menschlichen Unterarm und zog
damit kreuzweise Striche in ein vor ihm liegendes, mit Sand bestreutes Brett. Auf die Felder legte
er je ein, zwei oder drei Maiskörner.
»Es war kein Traum«, sagte er endlich.
»War es Tezcatlipoca?«, fragte sie schaudernd.
Der Wahrsager schüttelte den Kopf. »Du wärst eine Tote, hätte sein Mund deinen Mund berührt.«
Die Prinzessin starrte ihn stumm, ratlos, flehentlich an. Der Zauberer fuhr fort:
»Auch der Opfersklave kann es nicht gewesen sein, welcher ein Jahr lang der Gott ist und
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Flöte blasend mit den vier Mädchen einherzieht. Vor siebzehn Tagen wurde er geopfert. Der an
seiner statt neu gewählte Gott wird erst zum Gott erzogen und streng beaufsichtigt. Er war es
nicht.«
»Dann muss ich sterben«, sagte die Prinzessin leise.
»Nein«, sprach der Zauberer. »Doch du musst erfahren, wer es war. Er wird wiederkommen.
Und nun höre und befolge meinen Rat. Halte in der Grotte einen Topf mit rotgelber Axinfarbe bereit
und tauche die Finger hinein, wenn der Gott dich an der Hand fasst. Selbst heiße Bäder waschen
das Axin nicht ab. Es frisst sich in die Haut ein, und mindestens fünf Tage lang bleibt es sichtbar.
So wirst du ihn finden und wiedererkennen. Dann vollbringe eine Schreckenstat, die deine Unschuld vor aller Welt dartut.«
Maisblume reichte ihm ihre Edelsteinkette als Bezahlung. Der Zauberer wies sie lächelnd zurück.
»O Prinzessin«, sagte er, »die Weisheit der Sterne hat keinen Preis.«
8. Mächtiger Felsen
»Wir zogen drei Tagesmärsche durch ödes Land... Dann gelangten wir in ein Tal, das stark
bewohnt war. Wir wurden vom Kaziken mit fröhlichem Gesicht empfangen und gut beherbergt. Nachdem ich ihn im Namen Eurer Kaiserlichen Majestät angeredet und ihm die Ursache meiner Ankunft erzählt hatte, fragte ich ihn, ob er Untertan des Herrn Moctezuma wäre
oder eines anderen Fürsten. Meine Frage verwunderte ihn arg, und er gab zur Antwort:
›Wer lebt auf der Erde und ist nicht Knecht des großen Moctezuma?‹«
(Hernán Cortés, 2. Brief an Karl V. vom 30. Oktober 1520)
Sie hatten auf dem blumenprangenden Hausdach seines Freundes, des gelehrten
Annalenschreibers Weißer Mondstein, mit heiterem Munde von finsteren Dingen geredet. Sie hatten die flüchtigen Stunden genossen und trübe Gedanken niedergezecht, denn beide waren nicht
taub für die Not der Zeit. Berauschten Sinnes, aber mit klarem Blick sahen sie das herannahende
Weltende. Sie diskutierten lange, wägten ab, tranken wieder und wieder vom süßen, trostspendenden Honigwein und erkannten in der Klarheit der Betrunkenen, wie hoffnungslos und unfähig
sie wären, das Rad des Geschehens aufzuhalten.
Nun war er auf dem Heimweg, aber der junge, rauschselige Dichter, den sie den Träumer
nannten, fand – trunken wie er war – sein eigenes Haus nicht und verirrte sich im Gassengewirr
des ärmlichen Stadtviertels Tenochtitláns. Der Träumer wankte durch eine fremde Gasse und blieb
vor einem Häuschen stehen, das er für das seine hielt, da es baufällig aussah wie seines. Die Tür
war unverschlossen. Er torkelte durch ein nachtschwarzes Gemach, wo Ratten bei seinem Eintritt
davonsprangen, und kam auf einen Lichthof. Hier sah er sich einem Greis und einem blinden Knaben gegenüber. Er war in die Wohnung des Wahrsagers Sacusín getreten. In seinem von Alkohol
umnebelten Verstand fand der Träumer das nicht weiter verwunderlich.
Der Alte wies ihn nicht hinaus, begrüßte ihn vielmehr freundlich, als hätte er ihn erwartet, und
bereitete ihm auf einer Strohmatte ein Lager. Der Betrunkene schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen war es dem Träumer peinlich, doch seine Entschuldigungen wurden
von Sacusín verständnisvoll zurückgewiesen. Sie kamen ins Gespräch, die Zeit verstrich und der
Tag ging hin, bis sie Abschied nahmen. Und als sie schieden, waren sie Freunde.
Seitdem besuchten sie sich gegenseitig. Im Garten des Träumers lernte Sacusín bald darauf
Weißer Mondstein kennen. Der Annalenschreiber, obgleich ein Höfling und reicher Mann, scheute
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sich nicht, mit dem Träumer auch den ärmlich gekleideten Zauberer einzuladen oder Gast in dessen einfacher Behausung zu sein. Eines Nachts saßen die drei in der Wohnung des Zauberers.
Das nie verlöschende Feuer auf dem Hausherd inmitten des Lichthofes flackerte rötlich. Eine Kienfackel flammte an der Hofmauer. Der alte Wahrsager hatte drei Holzschemel in den Lichthof gestellt. Seine Gäste zu bewirten, fiel ihm wegen seiner kärglichen Armut nicht leicht, doch die Gebote der Gastfreundschaft und sein Stolz ließen ihn immer eine Möglichkeit finden. Die große
Pulqueschale, aus welcher sie schlürften, hatte der Annalenschreiber durch einen seiner Sklaven
hinschaffen lassen.
Wie sie aßen und zechten, spielten nach einer Weile die vierhundert kleinen Pulquegötter
dem Dichter wieder einen Streich, dass sie ihn, als er eben aufstehen wollte, vom niedrigen Schemel sanft auf die Erde gleiten ließen, wo er, wie leblos ausgestreckt, in tiefen Schlaf verfiel. Da trat
der blinde Knabe in den Hof, tastete sich am Gemäuer entlang zum Wahrsager vor und flüsterte
ihm eine Nachricht ins Ohr. Sacusín nickte, erhob sich schnell und stellte das fast leere
Pulquegefäß in ein angrenzendes, nur von einer zerschlissenen Binsenmatte abgetrenntes dunkles Gemach. Dort hinein bat er auch seinen Freund zu treten, weil zwei späte Gäste eingetroffen
seien, die er weder abweisen noch in Gegenwart anderer empfangen könne. Den Träumer hingegen zu wecken, war ein vergebenes Unterfangen. Weißer Mondstein und der Wahrsager mussten
ihn in die finstere Kammer tragen.
Der blinde Knabe war, nachdem er die Zaubergeräte bereitgestellt hatte, wieder mit erstaunlicher Sicherheit hinausgegangen, um die Gäste hereinzurufen. Im Lichthof hockte Sacusín an der
Wand, vor sich ein mit Sand bestreutes Brett. Mit dem verdorrten menschlichen Unterarm als Griffel strichelte er geometrische Figuren und legte auf jede zwei oder drei Maiskörner.
Die beiden Fremden waren in ärmliche Mäntel gehüllt. Der eine ließ seinen Mantel zu Boden
fallen, und Sacusín sah, dass er Dienerkleidung trug. Als der Diener aber mit untertäniger Gebärde
dem anderen den Mantel von den Schultern nahm, füllte königlicher Glanz den armseligen Hof:
Saphire, Gold, Türkise und Smaragde blitzten im Kienfackelschein.
»Du bist nicht der große Moctezuma, obgleich du ihm sehr ähnlich siehst!«, sagte der Zauberer zu Moctezumas Doppelgänger. Es war Tziuacpopocatzin, der Tempelhüter, der prunkvoll in
Moctezumas Kleidung und Schmuck vor ihm stand. »Dein Diener ist der Herr der Herren!«
Und Sacusín kniete nieder und küsste die Füße des Dieners.
»O großer Zauberer, du Kluger!«, sprach Moctezuma. »Wer ist scharfsinnig wie du? Nun
aber sollst du mir sagen, was mir droht.«
Sacusín hockte wieder an der Mauer nieder. Mit dem menschlichen Unterarm als Schreibgriffel zog er Striche auf der Sandtafel und legte Maiskörner auf die Felder. Lange, allzu lange
währten seine Berechnungen, und seufzend sagte er endlich:
»O großer König, o Zorniger Herr! Die Körner liegen nicht günstig...«
»O Zauberer, du Kluger!«, sprach Moctezuma, »fürchte nicht zu sagen, was die Körner mir
drohen.«
Da sprach Sacusín: »O großer König! Die Körner warnen dich: Hüte dich vor Tlaxcala!«
*
In der Nacht nach diesem Gespräch verfiel Moctezuma in tiefe Schwermut. Die Warnung Sacusíns
vor Tlaxcala (was immer sich auch dahinter verbergen mochte), bereitete ihm Furcht. Und als die
Muscheltrompeten von der Schlangenberg-Pyramide herab die Mitternacht verkündeten, gab der
König den Befehl, vier Sklaven zu schlachten, ihnen die Haut abzuziehen und ihm die vier Menschenhäute sofort zu bringen. Der Befehl wurde rasch ausgeführt. Ein Priester, schwarz bemalt,
mit einer Knochenrassel im Gürtel, brachte die vier Menschenhäute, legte sie vor dem König nieder und entfernte sich stumm.
Und Moctezuma starrte lange auf die Häute; dann ließ er nach Sacusín rufen, man solle ihn
holen – jetzt, mitten in der Nacht. Als dem König der alte Zauberer gemeldet wurde, befahl Moctezuma, ihn hereinzuführen. Sacusín erkannte mit kundigem Auge, in welchem Zustand sich der
König befand. Er warf sich vor ihm zu Boden und küsste ihm die türkisenen Sandalen.
»O großer König, o Herrscher, was befiehlst du?«, fragte er.
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Und Moctezuma sprach: »Als meinen Boten sende ich dich in die Unterwelt zu König
Huhemac, und als ein Geschenk von mir wirst da ihm diese vier Menschenhäute überbringen. In
den unterirdischen Palast von Cincalco sollst du hinabsteigen, König Huhemac die Hände küssen
und ihm sagen: ›Moctezuma, dein Knecht, sendet dir diese Gewandungen.‹ Und dann komm zurück und berichte mir!«
Sacusín entfernte sich, ließ aber den Leibdienern ein schlafspendendes Heilkraut für den
König zurück. Als er im Morgengrauen zum Großen Palast zurückkehrte, wurde er nicht mehr vorgelassen, denn der Herr der Herren hatte das Schlafkraut zu sich genommen, um zu vergessen,
was ihn bedrohte. Da verlangte der Zauberer, bei seinem Freund Weißer Mondstein vorgelassen
zu werden. Trotz der frühen Stunde war der Annalenschreiber schon auf. Sein Gelehrtenzimmer,
in dem er den Wahrsager empfing, war angehäuft mit alten Chroniken, Sammlungen heiliger Gesänge, astronomischen Werken und farbigen Bilderhandschriften. Manche auf Hirschhautpergament, andere auf körniges, gelblich-weißes Agavefaserpapier gemalt. In einem offenen Wandregal
lagerten unschätzbar wertvolle, aus Ruinen von Gräberstädten stammende toltekische Altertümer.
Sacusín erzählte ihm, welchen unausführbaren Auftrag der angstbesessene König ihm gegeben hatte. Weißer Mondstein antwortete: »O Zauberer, sag mir: Warum kehrtest du in den Palast zurück? Wolltest du den großen Moctezuma belügen? Denn in die Höhle zum schon seit Jahrhunderten toten König von Tula stiegst du nicht hinab.«
»Alle Worte sind Bilder!«, entgegnete Sacusín. »Seit mir befohlen war, zu König Huhemac
hinabzusteigen, weilte ich bei König Huhemac!«
Der Annalenschreiber sann nach und sagte: »Wenn der Zornige Herr erwacht, weiß er vielleicht nicht mehr, was er befohlen hatte.«
Sacusín schüttelte den Kopf. »Der Tempelhüter wird ihn daran erinnern. Er war es, der ihm
dies eingeflüstert hat. Er war es, der Moctezuma zu mir führte. Der Listenreiche wird unser Volk
durch einen schwachen König an den Abgrund führen. Nicht die kleine Schar weißer Eindringlinge
ist das hereinbrechende Unglück, sondern die Unstetigkeit, das unheilvolle Schwanken
Moctezumas.« Vielleicht könne er dem schwächlichen König das Gewissen wecken. Darum werde
er vor nichts mehr zurückschrecken, werde vollführen, wozu er durch Götterspruch sich berufen
fühle.
Die Glut von Sacusíns Antwort versetzte den Annalenschreiber in Erstaunen. Wer war der
Alte? Niemand wusste, woher er stammte. Den Schleier, der seine Vergangenheit umhüllte, hatte
er nie gelüftet. Bei den Zusammenkünften mit dem Träumer hatte er mitunter ein kluges Wort ins
Gespräch fallen lassen, war aber nie aus seiner geheimnisvollen Zurückhaltung herausgetreten.
Und nun legte er rückhaltlos sein Herz offen, zeigte, dass er wegen der ungewissen Zukunft des
aztekischen Volkes litt. Weißer Mondstein dachte wie der Zauberer. Als Sacusín ihn beim Abschied um ein unschätzbar wertvolles alttoltekisches Gefäß im Regal bat, schlug er es ihm nicht
ab. Das Trinkglas war aus gehämmertem Gold und stammte aus einem Grabhügel bei Tula, der
sagenreichen Toltekenstadt.
Sacusín trug das Kleinod unter dem Mantel verborgen in seine armselige Wohnung. Mehrere
Tage wartete er, dass Moctezuma ihn holen lasse, um Auskunft über das Geschenk des Königs an
Huhemac zu verlangen. Doch in einer der folgenden Nächte meldete der blinde Knabe dem Wahrsager, dass die beiden vermummten Fremden wieder um Einlass bäten. Sacusín empfing Moctezuma im Lichthof, wo das nie verlöschende Feuer auf dem Hausherd rötlich flackerte. Der Tempelhüter, der mit dem König eingetreten war, verließ auf einen Wink des Königs den Lichthof.
Wieder warf Sacusín sich zu Boden und küsste die Türkissandalen des Königs, dann hieß er
mit einem Segensspruch den hohen Gast willkommen.
Moctezuma forschte ihn aus: »O kluger Zauberer, du Alter!«, sagte er, »bist du hinabgestiegen in die Höhle? Hast du dem König Huhemac die vier Menschenhäute von mir überbracht? Hast
du ihn gefragt, ob ich wohnen darf im Haus der Glückseligkeit, seinem unterirdischen Schloss?«
Und Sacusín berichtete, was er sich über seine Reise in die aztekische Mythen zurechtgelegt hatte: »O großer König, o Zorniger Herr! Ich stieg hinab in die Höhle von Cincalco, wie dein
Mund es mir befahl. Der Weg spaltete sich in vier Richtungen, und ich wählte den engsten Pfad,
der am steilsten hinabführt in die blaue Hölle. Tiefer und tiefer stieg ich hinab, da kam mir ein blinder Mann entgegen, auf einen Stab gestützt. Und der Mann nannte sich Felsengesicht. Und Felsengesicht fragte mich, wohin ich ginge. Als ich ihm gesagt, dass ich von Moctezuma ein Sendbo-
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te sei, unterwegs zum König der blauen Hölle, führte er mich durch einen Wald vor den König
Huhemac. Der saß auf einem Thron aus weiß gebleichtem Gebein und war in ein Gewand aus
Gras gekleidet; auch sein königliches Stirnband und sein Kopfputz waren aus Gräsern geflochten
– denn Gräser welken so schnell dahin wie die Menschen. Und Huhemac fragte mich: ›Von woher
kommst du, Mensch? Was begehrst du, Mensch?‹ Ich meldete ihm, dass du, o großer König, mir
aufgetragen habest, ihm die Hände und Füße zu küssen und ihm die vier Menschenhäute zu
überbringen als Geschenk von dir und ihn zu fragen, ob er dich im Haus der Glückseligkeit wohnen
lassen werde, seinem unterirdischen Schloss. Da rief Huhemac aus: ›Armer Moctezuma! Ist seine
Pein so groß? Sucht er Schutz im Haus des Vergessens? Glaubt er, bei mir Zuflucht zu finden –
er, der nie auf Warnungen hörte? Denkt Moctezuma, er könne hier herrschen wie in der oberen
Welt? Tanz und Gesang sind hier nicht wie droben! Moctezuma würde fliehen, blickte er in mein
Haus, und keinen Tag würde er hier verweilen. Doch wenn es sein heißer Wunsch ist, wenn sein
Herz ihn treibt, mag er kommen. Ich werde ihm zeigen, was ihm droht. Bring ihm diesen Trank,
dass er ihn trinke. Denn ohne ihn gelangt er nie zu mir.‹ Als Huhemac so gesprochen, reichte er
mir dieses Gefäß, auf dass ich es dir überbringe, o großer König, o Herrscher!«
Der Zauberer hatte nun seinen Bericht beendet. Moctezuma saß sinnend auf seinem Schemel und brachte lange Zeit kein Wort hervor. Dann fragte er nach dem Gefäß, ließ sich das Trinkglas aus gehämmertem Gold zeigen. Es war angefüllt mit einem duftenden Kräutertrank.
»Ich will hinab zu Huhemac!«, sprach Moctezuma. »Wann soll ich den Trank zu mir nehmen?«
»O großer König! Trinke, wenn die Stunde günstig ist.«
»Ist sie es jetzt?«
»Ob jetzt die Stunde günstig ist? Ich werde das Herdfeuer befragen, ›den Herrn mit dem gelben Gesicht‹!«
Im Herd lebte der alte Feuergott. Sacusín trat zum Hausherd, der würfelförmig, aus drei
Quadersteinen erbaut, in der Mitte des Hofes stand, und warf drei Kakaobohnen in das rote Herdfeuer. Bläulich flammten sie auf – »der alte Herr« bejahte die Frage.
Da trank Moctezuma den Kräutertrank des Königs der Toten.
*
Vor den Augen Moctezumas war schwarze Nacht; denn er war in die Höhle von Cincalco eingetreten. Und obgleich er nichts sah außer Finsternis, wusste er, dass der alte Zauberer neben ihm war
und ihn hinabführte. Der Weg spaltete sich in vier Richtungen, und der Zauberer schritt voraus und
wählte den engsten Pfad, der am steilsten abstürzte in die blaue Hölle. Tiefer und tiefer stiegen
sie, bis ihnen von unten ein bläulicher Lichtschein entgegendämmerte. Das Licht wurde heller und
blieb doch nur ein matter Schimmer, als sie im Land ohne Sonne angelangt waren. Es gab weder
Straßen noch Gassen, keine Fußpfade und Wegweiser, und Rosen blühten traurig-weiß wie Knochen. Moctezuma wollte zurückeilen und konnte es nicht. Er hörte die Stimme des Zauberers neben sich, der fragte: »Siehst du den Todesboten, o großer König, siehst du den Affen mit dem Totenkopf?« Voll Entsetzen wandte Moctezuma sich um, wollte wieder davonlaufen und konnte es
wieder nicht. Ein großer Affe mit weißgebleichtem Schädel anstelle eines Kopfes sprang auf ihn zu
und versperrte ihm den Rückweg. Der Zauberer drängte, weiter zu schreiten, immer weiter. Da
kam ihnen auf einen Stab gestützt jener blinde Mann entgegen, der sich Felsengesicht nannte. Der
Mann fragte, wohin sie gingen. Und als der Zauberer zur Antwort gab, sie suchten den König
Huhemac, führte der Blinde sie durch wogenden Nebel. Wieder hörte er die Stimme des Zauberers
neben sich, der fragte: »Erkennst du die acht stolzen Gestalten dort nicht? Die Könige! Deine Vorfahren sind es, die Mexico groß gemacht haben!« Und Moctezuma sah acht Gestalten schweben,
sie kamen näher und umringten ihn von allen Seiten. Moctezuma erkannte seinen Vorgänger König Molch, den Vater des Schlagenden Falkens. Und er sah seinen Vater König Wassergeist und
König Himmelspfeil und König Obsidianschlange und die früheren Könige alle. Einige hoben anklagend die Geisterhände und ballten die Fäuste gegen ihn. Und wieder wollte Moctezuma davonlaufen und konnte es wieder nicht. Die Geister seiner Ahnen schwebten um ihn her und riefen:
»Elender Moctezuma, warum vernichtest du unser Werk? Du bist der Tod, du bist der Moder, du
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bist der Verfall für die Mauern, die wir aufgerichtet haben, für die Tempel, die wir geschmückt haben, für die Herzen, die wir stark gemacht haben! Der schönen Blüte Anahuac waren wir wie
fruchtbarer Sommerwind, doch in deinem Herbststurm muss sie dahinwelken!«
Da schlug Moctezuma die Hände vor sein Antlitz. Und Felsengesicht, der blinde Totendiener,
nahm ihn bei der Hand, zog ihn fort und brachte ihn vor Huhemac, den König der Toten. Er saß auf
einem Thron aus weißgebleichtem Gebein und war in ein Gewand aus Gras gekleidet; auch sein
königliches Stirnband und sein Kopfputz waren aus Gräsern geflochten. Vor ihn hintretend, gewahrte Moctezuma, dass nicht König Huhemac dort saß; es war kein anderer als sein eigener toter
Bruder Prinz Grasstrick. Moctezuma stürzte nieder, küsste seinem unglücklichen Bruder, dem König der Toten, Hände und Füße, und sprach stammelnd: »Ich ließ dir vier Menschenhäute bringen
als kleines Geschenk. Lass mich wohnen in deinem Palast.« Der Schatten auf dem weißen Knochenthron rührte sich nicht. Doch neben ihm stand aufrecht der blinde Totendiener Felsengesicht
und gab die Antwort. Und als Moctezuma dem Totendiener ins augenlose Gesicht sah, erkannte er
den dahingeschiedenen König von Tezcoco, den Herrn des Fastens. Moctezuma zitterte vor
Furcht.
Der Herr des Fastens sprach: »Wer ist dieser Moctezuma? Ist er nicht der Schänder Mexicos? Watet er nicht durch Blut, seit er das blaue Stirnband trägt? Hat die Furcht ihn gepackt? Das
Verderben ist nicht mehr aufzuhalten – zu viel Blut hat er vergossen. Die Götter haben sich abgekehrt von Mexico, sie haben die Königin aller Städte verlassen! Wie will er sie zurückrufen? Durch
neue Verbrechen? Hat er nicht eben erst den Schlagenden Falken ausgeschickt, eine Ruhmestat
zu vollbringen? Wo weilt der Schlagende Falke jetzt, der Liebling Mexicos? Wenn der beste Sohn
Mexicos nicht zurückkehrt, kehren auch die Götter nie mehr zurück...«
Moctezuma schrie auf. Fast blieb ihm das Herz stehen. Er erstickte vor Grauen, erstickte im
Schleierdunst der Nebelwolken, die ihn dichter und dichter umhüllten, bis er nichts mehr sah. Er
rang nach Atem, sah den Thron nicht mehr.
Als es wieder licht wurde um ihn, als die Nebelwolken sich zerteilten, befand er sich im
Lichthof der Wohnung des Zauberers, und auf dem Hausherd qualmten und schwelten Weihrauchkörner. Kurz ließ der König den Blick schweifen. Dann verließ er finster das Haus, ohne noch
ein Wort zu sprechen, als könne er nicht schnell genug aus dem Bereich der Toten flüchten.
Kaum war er in seinen Großen Palast zurückgekehrt, befahl Moctezuma dem obersten Hofmeister, dem Vorsteher des Hauses der Teppiche: »Lass die Wohnung des Zauberers Sacusín
heimlich umstellen, sodass er nicht entkommen kann – falls er nicht wie eine Schlange in ein Erdloch kriecht oder wie ein Vogel zum Himmel auffliegt. Nimm ihn gefangen, ihn und seinen blinden
Diener. Sie sollen beide zu Tode gefoltert werden. Sein Haus aber lass niederreißen bis auf den
letzten Stein, sodass das Wasser des Sees dort flutet, wo die Grundmauern gestanden haben!«
Zwischen Furcht und Hoffnung erwartete er die Rückkunft des Haushofmeisters. Stunden
vergingen, ehe der Vorsteher des Hauses der Teppiche wieder vor ihn trat und meldete, das Haus
des Zauberers sei niedergerissen bis auf den letzten Stein, sodass nun das Wasser der Lagune
dort flutete, wo einst die Grundmauern gestanden haben. Doch den Zauberer und den blinden
Knabe hätten sie nicht mehr angetroffen.
*
Fünf Tage lang schloss der König sich ein, ließ niemanden vor, sprach selbst zu den Sklaven
nicht. Am fünften Tag wagte der Vorsteher des Hauses der Teppiche, ins Schlafgemach des Königs vorzudringen und ihm mitzuteilen, dass der Schlagende Falke in Tenochtitlán eingetroffen sei.
Der Grüne Stein selbst habe ihn aus totonakischer Gefangenschaft befreit. Moctezuma beschenkte den Vorsteher des Hauses der Teppiche mit einer goldenen Armspange für diese freudige
Nachricht und blickte wieder heiter. Die größte Last war ihm vom Herzen genommen. Er küsste
den Schlagenden Falken wie einen Sohn, der großen Gefahren entronnen war und belohnte ihn,
indem er ihn als »Jaguar-Arm« anredete und ihm damit den höchsten Titel verlieh. Zugleich ernannte er ihn zum Vorsteher des Hauses der Edelsteine und legte so die Bewachung der unermesslichen Schätze Mexicos wie auch des kürzlich herbeigeschafften Goldschatzes von Tezcoco
in seine Hand. Mit diesen hohen Auszeichnungen, die er seinem neidzerfressenen Herzen abrang,
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brachte Moctezuma zugleich ein Dankopfer an das Schicksal dar.
Doch die Harmonie war nicht von langer Dauer. Der Bericht des Schlagenden Falkens über
sein Gespräch mit dem Führer des fremden Heeres ließ Moctezumas Herz wieder schwer werden.
Der goldhaarige Fremde sei kein sanftmütiger Büßer wie Quetzalcoatl. Er habe das Herz eines
Helden und die Kraft eines Pumas. Diesen Mann nach Tenochtitlán hereinzulassen, hieße ihm
Mexico zu Füßen legen. Schon seien die Söhne der Sonne im Begriff, von Cempoala aufzubrechen und nach Tlaxcala zu ziehen, um von dort nach Tenochtitlán zu gelangen.
Der Zauberer hatte es vorausgesehen! Seine untrüglichen Maiskörner hatten gewarnt: »Hüte
dich vor Tlaxcala!«
Der Zornige Herr beriet sich mit dem einzigen Mann, der von dieser Warnung wusste, mit
dem Tempelhüter. Dass der ihm nach dem Munde sprach, fiel ihm nicht auf. Der Tempelhüter gab
den Rat, zwei Gesandtschaften loszuschicken. Eine an den Grünen Stein, um ihm seinen Dank für
die Errettung des königlichen Neffen zu überbringen und um ihm nahe zu legen, er möge, statt den
Weg über das felsige, unwirtliche, Fremden stets feindlich gesinnte Tlaxcala zu wählen, doch lieber den bequemen über Cholula vorziehen, die Stadt der großen Pyramide, die heilige Stadt, wo
einst sein Vorfahr Quetzalcoatl als Priesterkönig geherrscht hatte. Die andere Gesandtschaft aber
solle Moctezuma nach Cholula mit reichen Geschenken an die beiden Priesterkönige und den Hohen Rat entsenden und die Cholulteken als Vasallen und Freunde veranlassen, die teules in eine
Falle zu locken, sie freundlich in die heilige Stadt einzuladen, gastlich zu empfangen, dann aber zu
verabredeter Stunde innerhalb der Mauern Cholulas bis auf den letzten Mann niederzumachen.
Moctezuma gefiel der Plan; denn wieder wurde ihm eine Entscheidung abgenommen. Nicht
bei ihm, sondern beim Sohn der Sonne lag es nun, welchen Weg er wählte – und wählte er den
verderblichen, so beging nicht Mexico, sondern Cholula die Schandtat.
Die Großmut des Grünen Steins, den Schlagenden Falken freizugeben, musste mit königlichem Dank, königlichem Pomp und königlichen Geschenken erwidert werden. Zum Führer der
Gesandtschaft bestimmte Moctezuma seinen Freund, den Feldherrn Sengende Glut, und beauftragte ihn, Dank und Geschenke dem weißen Befehlshaber zu überbringen.
Zum Führer der Gesandtschaft nach Cholula wurde der Tempelhüter ernannt. Moctezuma
gab ihm zwei Trommeln aus schwerem Gold als Geschenke für die beiden Priesterkönige der heiligen Stadt mit.
*
Und wieder ritt Don Diego de Ordás dem kastilischen Heer voraus. Ross und Reiter trieften vor
Nässe. Es goss in Strömen. Durch Maispflanzungen, Wiesen und freundliche, rosengeschmückte
Ortschaften zog sich der Weg noch zwei Tage im Irdischen Paradies dahin bis zum Fuß der jäh
und unvermittelt aus der flachen Ebene aufragenden Schneeriesen. Der Himmel war bewölkt, die
Straße morastig. Die Regenperiode hatte eingesetzt. Tausend totonakische Lastträger, bereitwillig
vom dicken Kaziken zur Verfügung gestellt, schleppten, durch den Schlamm der Fußpfade watend,
das feuchte Gepäck der Soldaten. Sie spannten sich vor die Lastwagen des Trosses und vor die
schweren Geschütze; sie trugen die hellgrün lackierten und im Innern mit buntem Federmosaik
austapezierten Sänften der Dolmetscherin Marina, sämtlicher weißer Frauen und die der kürzlich
verheirateten totonakischen Edelfrauen, die es sich nicht nehmen lassen wollten, die Triumphe mit
ihren weißen Gatten, aber auch des Krieges Zufälle, Glücksfälle und Unglücksfälle zu teilen. Nur
Doña Catalina India war trauernd in Cempoala zurückgeblieben.
Am Abend des zweiten Marschtages wurde am Fuße der Kordilleren Rast gemacht. Da hielt
Rodrigo Rangel diese Ansprache an Cortés:
»So sind wir denn in die Regenzeit hineingeraten. Als Euer Liebden den Totonaken beim
Abschied innig ans Herz gelegt hat, der beschworenen Treue, Freundschaft und Schwagerschaft
stets eingedenk zu sein, begann der Himmel zu weinen, wie die Dichter sich ausdrücken. Und als
Euer Liebden so ergreifend ermahnten, mit den an der Küste zurückbleibenden siebzig Weißen,
meist Kranken, Verwundeten und Krüppeln, gute Nachbarschaft zu halten, da regnete es über die
Wangen der rothäutigen Christenpriester, denn sie gedachten vergangener kannibalischer Festtage. Und als Euer Liebden vorschlug, das Volk der Totonaken solle den Weißen behilflich sein, in
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der schönen Stadt Veracruz eine Kirche, ein Gefängnis und recht, recht dicke Festungsmauern zu
bauen, da weinte das Volk der Totonaken vor Rührung und Dankbarkeit. O wie hinreißend war es,
als Euer Liebden die Hand des alten Escalante ergriff und ausrief: ›Seht, dieser ist mein Bruder;
was er sagt, sage ich, was er tut, tue ich! Wenn er befiehlt, so gehorcht, wie wenn ich befehlen
würde; und sollten Mexica euch drangsalen‹ (denn wer sonst?), ›so wendet euch an ihn, dass er
euch beistehe!‹ Zwar sah der greise Escalante mit seinem schlohweißen Knebelbart Eurem Urgroßvater ähnlicher als Euch, doch da er nun mal Euer Bruder und ein so großer Kriegshäuptling
war, hat ihn der dicke Kazike so gründlich mit Kopal beweihräuchert, dass dem armen Escalante
die Augen trieften. Doch schweigen will ich (obgleich es zum Herzerbrechen war) von den Tränenbächen des Pagen Orteguilla, von den Tränenströmen des dicken Kaziken, vom Tränenmeer der
dicken Prinzessin. Um es kurz zu machen: Ihre Königliche Hoheit ist im Irdischen Paradies zurückgeblieben, um die Frucht auszutragen, die Ihr gepflanzt habt. Im Gebärzimmer des Königspalastes, von königlichen Ammen betreut, will sie durchaus mit einem wirklichen Gott niederkommen.
Dies wird das Denkmal sein, das sie Euch setzt.«
So sprach Rodrigo Rangel.
*
Einem Fabelungetüm, einem Lindwurm, einer endlosen Schlange ähnlich kroch am dritten Marschtag der lange Heerzug der Kastilier und ihrer Bundesgenossen in langsam sich schlängelnden
Windungen aufwärts. Durch das Eingangstor der Kordilleren ging es die felsige, wolkennahe, wild
schroffe Bergstraße hinauf. Eine via mala, wahrlich ein böser Weg! Das Paradies grenzte unmittelbar an die Hölle. Der Blick in die erste graue Schlucht war auch ein Blick in einen schwarz gähnenden Höllenrachen, der verschlingen wollte, was daherkommt. Der unablässig prasselnde Regen verdüsterte noch die Trostlosigkeit der steinigen Bergwüste. Senkrechte, himmelstrebende
Felswände standen so nah beieinander, dass sie sich zu berühren schienen und dass die tiefe
Kluft, in der das Heer sich bewegte, zu einer bloßen Spalte im Gestein wurde. Schmal klomm der
Pfad an den Wänden zu Wolkenhöhen empor, dass Adler und Geier tief unter ihm nisteten.
Die Trosswagen und die sechs schweren Geschütze über Geröll und Bergkuppen auf den
schmalen Pfaden voranzubringen, war schier unmöglich. Doch das Unvorstellbare wurde von den
totonakischen tlamamas vollbracht; die Lastträgern hoben und buckelten auf ihren
bürdegewohnten Schultern, was sich nicht mehr rollen ließ. Außer den tausend Trägern zogen
dreizehnhundert bewaffnete Totonaken, Hilfstruppen des dicken Kaziken, mit den Kastiliern nach
Mexico. Die Anführer dieser Schar, vierzig adlige Kriegshäuptlinge, hatte sich Cortés vom dicken
Kaziken als Ratgeber und Wegweiser ausgebeten, obgleich er sie in Wirklichkeit als Geiseln mitführen wollte. Unter ihnen befanden sich Mamexi, Tehuch, Tomali und des bleichwangigen
Hauptmanns Andrés de Tapia Schwiegervater Cuhextecatl.
Nach zweitägigem Klettern erreichte das Heer die kleine Ortschaft Xalapa. Die Wolken hatten sich verteilt und gaben den Blick frei auf die unübersteigbaren Kämme und Grate im Westen.
Rosa leuchtete in der Abendsonne das Schneekleid des Bergs der Sterne, des Vulkans
Citlaltepetl. Nach Osten erhaschte man noch einen Blick auf die Gefilde des Irdischen Paradieses
und gewahrte – ganz hinten am Horizont – eine letzte Ahnung vom Blau des Weltmeeres. Die Bevölkerung der spärlich verstreuten Dörfer war den Totonaken freundlich gesinnt, bewirtete hochherzig auch deren Freunde aus dem Land des Sonnenaufgangs.
Höher und höher klomm der Schlangendrachen, dem Pass eines erloschenen Vulkans entgegen, zwölftausend Fuß hoch. Wieder hatten sich Wolken zusammengeballt; nebelgleich wallten
sie unterhalb und oberhalb, neben und mit den Wandernden, waberten durch die lang gezogene
Kolonne. Es wurde kälter und kälter; der strömende Regen verwandelte sich mit zunehmender
Höhe in Schnee, wurde zum Schneesturm, raste und tobte schließlich als Blizzard. Die Schneeflocken peitschten herab, ritzten die Haut wie splitterscharfer Hagel. Die Kastilier litten unsäglich,
waren aber durch ihre Kleidung geschützt und von Europa her mit Eis und Kälte vertraut. Die Indianer jedoch, nur an die Wärme der tierra caliente gewöhnt, erlagen ihm schnell. Dreißig Totonaken
erfroren im Schneeorkan.
Doch jede Drangsal und Mühe findet ein Ende. Nach Überwindung der ersten Bergkette ka-
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men sie in ein langgestrecktes Hochtal, das zum äußersten Zipfel der mexicanischen Provinz gehörte. Die blaue Halbkugel des Himmels stützte sich auf die weißen Kuppen der Sierra Madre. Die
Luft war kühl und klar. Blaugraue Riesenagaven glichen Urwelttieren mit ausladenden, schwertscharfen Stachelpanzern, die großen Kakteen nahmen groteske Gestalten an, bewaffneten sich
gegen jedermann, und die meisten Sträucher trugen Dornen. Aber auch Nadelhölzer wuchsen
hier, Zedern und Pinien, und in gehegten, gut bewässerten Feldern war Mais gepflanzt.
Als die Kastilier von der Passhöhe herabstiegen und die Hochebene erreichten, sahen sie
eine größere, kalkweiß leuchtende Stadt vor sich. Cortés zog die totonakischen Heerführer zu Rate. Die mit starken Mauern, Türmen und Wällen umgürtete Stadt hieß der Rote Berg und war eine
mexicanische Festung, doch befand sich nur eine kleine Garnison in der Zitadelle. Zwei vorausgesandte Totonaken brachten weder die erbetene Zehrung noch eine Einladung an Cortés. Trotzdem
zog das Heer unbekümmert in die Stadt ein. Man traf auf keinen Widerstand, fand aber auch keine
sonderlich freundliche Aufnahme. Die Menschen blieben in den Häusern, und für Tauschware gab
es kaum anderes als Mais. Ungebeten und ungeladen richteten sich die erschöpften Soldaten und
ihr Anhang auf mehrere Erholungstage inmitten der Gärten, Türme und Paläste des Roten Berges
ein.
Dreizehn Tempel standen in der Stadt, und eine Schädelpyramide von ungeheurer Höhe.
Blank im Sonnenlicht, mit dunkel verschatteten Augen- und Mundhöhlen, waren die Schädel in
solchen Mengen übereinander geschichtet, dass selbst die Tempelpyramide daneben klein erschien. Bei einem Gang durch die Stadt besichtigten Cortés, Marina und Velásquez de León den
großen Tempel und den Schädelberg. Sie trafen auf den schönen Namenlosen, der die teils weiß
gebleichten, teils bräunlich vergilbten Schädel zählte.
»Wie viel habt Ihr gezählt, Señor?«, fragte Velásquez de León.
»Hunderttausend Schädel, Señor!«, erwiderte der Namenlose. »Alle sauber aufeinander geschichtet und gut erhalten in der ausdörrenden Sonne. Jeder gehörte einst einem Menschen, der
Hoffnungen hatte! Und alle die Geschicke, Freuden und Leiden, bösen und guten Taten hat die
Sonne gesehen – und nichts hat sie erhalten außer diesen Schädeln, diesen hunderttausend
Schädeln!«
»Ungezählten Tausenden, meint Ihr gewiss. Gezählt haben könnt Ihr sie doch nicht!«, sagte
Velásquez de León.
»Ihr habt Recht, Señor! Doch Geometrie und Arithmetik lehren uns, dies zu berechnen. Eher
habe ich die Zahl zu niedrig gegriffen.«
»Ihr seid ein kampferprobter Soldat«, sagte Cortés. »Aber mir scheint, Eure Stimme zittert.«
»Ich schäme mich dessen nicht, Euer Gnaden!«, sprach der Namenlose. »Aber das ist zu
Hause nicht viel anders, nur dass die Schädelberge Europas unsichtbar unter der Erde liegen.«
»Sie sind vielleicht höher als diese...«, bemerkte Velásquez de León.
Marina klammerte sich an den Arm ihres Herrn und Geliebten. »Heilbringer!«, flüsterte sie.
»Mein Heimatland sehnt dich herbei!«
*
Der Statthalter Moctezumas hieß Olintecl, der Mächtige Felsen. Olintecl war ein großer Herr. Zweitausend Sklaven dienten ihm in den weiten, von sprudelnden Wasserbecken geschmückten Sälen
seines prunkvollen Palasts. Außer hundert Nebenfrauen hatte er dreißig rechtmäßige Gattinnen.
Mehr als zwanzigtausend Kriegshäuptlinge waren ihm untertan. Aber er hatte Cortés weder begrüßt noch eingeladen, also lud Cortés sich selbst am zweiten Tag bei ihm ein.
Der kühle Wind, der meist im Hochtal wehte, zog auch durch den Palast: Die Kastilier wurden frostig empfangen. Doch mexicanischer Hochmut würde Cortés' Evangelisationseifer nicht
abschrecken – noch wirkten in ihm das Gespräch mit dem Namenlosen und die flehenden Worte
Marinas nach. In Begleitung seiner Feldobristen, Pater Olmedos, Marinas und einer Leibwache
betrat Cortés den Palast des Mächtigen Felsens. Nur Hauptmann Alonso de Avila hatte sich wegen Unwohlseins beurlauben lassen; tatsächlich aber konnte er den Anblick des strahlenden Alvarado und des bescheidenen Sandoval nicht ertragen. Denn aus dem gleichen Grund, aus dem er
seit langem Alvarado hasste, war ihm neuerdings auch Sandoval unsympathisch: Als Cortés mit
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Escalante den Krankentransport nach Veracruz geleitete und zu den Schiffen des Garay geritten
war, hatte er Avila übergangen und Alvarado und den jugendlichen Sandoval zu seinen Stellvertretern ernannt. Dem Dienstalter nach aber war Avila der älteste der Feldobristen.
Der Generalkapitän und seine Eskorte waren den Mexica an Zahl weit unterlegen. Alle, bis
auf Marina, trugen stahlblanke Panzer und Waffen, auch Pater Olmedo, und Hauptmann Francisco
de Lugo führte seine Dogge mit, den berühmten Becerrico, der auch hier als abgerichteter, unbesiegbarer Puma galt. So wurde der stolze Torhüter am Palasteingang durch das abgerichtete
Raubtier mehr eingeschüchtert als durch den Anblick der Weißen und ihrer schönen Begleiterin.
Eilig verschwand er, um sie anzumelden.
Im großen Saal der Botschaften, umgeben von den Großen seines Landes, empfing der hakennasige, ältliche Mächtige Felsen stehend die Gäste, ging aber doch aus Höflichkeit Cortés einige Schritte entgegen. Hoch und dürr, glich er durchaus nicht dem dicken Kaziken, ließ sich aber
trotzdem von zwei Sklaven unter den Armen stützen. Dies verlangte sein hoher Stand.
Mit lässiger Handbewegung wies er den Kastiliern niedrige Schemel zum Sitzen an, während
er selbst auf einem Thronsessel unter einem farbenleuchtenden Baldachin Platz nahm. Was er mit
kundigem Blick rasch erkannte, bestätigte ihm auch seine Nase: Die Fremden mochten glänzend
gekleidet und in Stahl gewappnet sein, doch aufs Waschen schienen sie nicht viel zu geben. Sie
stanken erbärmlich nach Dreck und Schweiß.
Wer sie seien? Was sie wollten?
Marina gab Auskunft auf ihre Weise: Diese großen Krieger seien Söhne aus dem Reich der
Morgensonne und in schwimmenden Häusern übers Meer zu den Völkern Anahuacs gelangt, um
ihnen Glück, Befreiung und Gerechtigkeit zu bringen.
Was bedeute ›Söhne aus dem Reich der Morgensonne‹? Er kenne nur Quetzalcoatl, den vor
vielen Menschenleben vertriebenen Gott der Weisheit, habe aber nie von seinen Söhnen gehört.
Marina übersetzte Cortés diese verblüffende Antwort. Jedes Kind in Mexico wusste von den
Söhnen aus dem Reich der Morgensonne, aber dieser Statthalter angeblich nicht. Und er blieb
dabei.
Lugo kniff Becerrico in den Schwanz. Der Hund knurrte. Der Mächtige Felsen musterte das
Tier mit gleichgültigem Blick. Glück und Gerechtigkeit bräuchte ihm niemand zu bringen; dem Meer
bringe man ja auch kein Wasser.
Ein großer Herr! dachten die Kastilier. Und Cortés ließ ihn durch Marina ausforschen: Ob
dieses reiche Land und die Stadt mit den prangenden Tempeln, Türmen und Palästen sein Eigen
seien? Ob er ein Bundesgenosse oder ein Lehnsfürst des Königs von Mexico sei?
Über das bartlose, gut geschnittene Gesicht des Statthalters glitt ein verächtliches Lächeln.
»Wer lebt auf der Erde, ohne Knecht des großen Moctezuma zu sein?«, fragte der Mächtige Felsen.
Cortés ließ Marina antworten, dass jenseits des Meeres ein weit größerer König wohne, dem
die Macht über alle Herrscher der Welt gegeben sei und dem Könige dienten, die gewaltiger seien
als Moctezuma. Umso mehr schulde er, der ja nur Statthalter einer kleinen Provinz sei, dem Herrn
jenseits des Meeres Gehorsam. Und diesen Gehorsam müsse er beweisen durch reiche Geschenke an Edelsteinen und Gold.
»Gold achte ich gering und besitze deshalb keines. Geschenke aber sollt ihr haben, wenn
Moctezuma mir befiehlt, euch zu beschenken!«, sagte der Mächtige Felsen mit hartem Blick.
Marina übersetzte, und Lugo bemerkte leise: »Der spricht von Geschenken, wie wenn er den
Tod auf einem seiner Bluttempel meinte!«
»Der ist kein Schwächling!«, murmelte Ordás mit unverhohlener Bewunderung. Und
Cristóbal de Olíd flüsterte Tapia ins Ohr: »Wir würden klüger daran tun, den Mann nicht zu reizen.
Die Leute hier sind keine Totonaken.«
Auch Cortés hielt es für ratsam, die Missachtung des Goldes nicht in Frage zu stellen. Gewandt wechselte er das Thema. Marina musste den Mexica bitten, ein Bild von der Macht
Moctezumas zu entwerfen. Hatte vordem Cortés die Weltherrschaft des römischen Kaisers Karl V.
allzu sehr übertrieben, so übertrumpfte ihn jetzt der Mächtige Felsen, indem er schlicht und wahrheitsgemäß die Gewalt Mexicos und des Moctezuma beschrieb. Er log nicht, wenn er sagte, dass
auf der Lagune und in den Kanälen Tenochtitláns viele Tausend Boote schwammen. Es war auch
keine Lüge, dass Moctezuma dreißig Vasallen hatte, von denen jeder hunderttausend gut ausge-
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rüstete Krieger ins Feld stellen konnte. Hinreißend und ohne Übertreibung malte er die unvergleichlich herrliche Lage Tenochtitláns mitten im Texcocosee, den Prunk seiner Paläste, den träumerischen Zauber seiner Wassergassen und Steinbrücken, die Haus mit Haus verbanden, das
Menschengewimmel, das Völkergemisch, den Farbentaumel seines großen Marktplatzes und die
Wolkenhöhe seiner edelsteinbeladenen Pyramiden. Uneinnehmbar sei die Stadt, da jedes Haus,
mit Zinnen gekrönt, in eine Festung verwandelt werden konnte. Nur drei Zugänge habe die Stadt,
drei breite Dämme, deren Steinmauerungen in Abständen unterbrochen, durch Holzbrückenteile
verbunden seien; und diese könnten entfernt werden, sollte Tenochtitlán je in Gefahr geraten.
Wenn dies notwendig würde, käme niemand nach Tenochtitlán hinein – aber auch niemand heraus!
Als Marina die Rede übersetzt hatte, saßen die Kastilier eine Weile schweigend.
»Eine Mausefalle!«, knurrte Olíd.
Cortés wollte keine gedrückte Stimmung aufkommen lassen. »Je größer das Wagnis, umso
ruhmreicher der Erfolg!«, sagte er. Seine Begleiter nickten zustimmend und schämten sich ihrer
Beklommenheit. Dem Statthalter aber ließ Cortés sagen:
»Eure Beschreibung von Mexico steigert unser Verlangen, die schöne Stadt zu sehen!«
Der Mächtige Felsen antwortete nicht. Er erhob sich von seinem Thron und ging mit festen
Schritten auf den Hund Becerrico zu. Furchtlos streichelte er dem Tier den Kopf, tätschelte ihm
den Rücken. Der sonst so bissige Becerrico ließ sich die Berührung gern gefallen und wedelte mit
dem Schwanz.
Die Kastilier sahen es mit stiller Bewunderung, doch der Mächtige Felsen sagte: »Ich besitze
einen abgerichteten Jaguar und weiß mit Raubtieren umzugehen. Soll ich den Jaguar bringen lassen, dass die beiden hier kämpfen und wir sehen können, wer stärker ist, der Zahn der weißen
Männer oder die Kralle des roten Kriegers?«
Die Spanier waren (mit Ausnahme des Ritters Ordás) gegen den Vorschlag. Das hieße, ein
unnötiges Risiko einzugehen; der Hund war unentbehrlich und unersetzlich. Cortés ließ durch Marina entgegnen: »Mit Zahn und Kralle messen sich nur Feinde. Wir aber sind Freunde
Moctezumas.«
Der Mächtige Felsen lächelte. »Hat der große Moctezuma euch, seine Freunde, eingeladen,
die Stadt im Schilfsee zu betreten?«, fragte er mit kaum verhohlenem Hohn.
»Nein!«, erhielt er zur Antwort. Cortés mochte den stolzen Mann nicht anlügen.
»Dann wird keiner von euch ankommen, wenn ihr ungebeten hinzieht!«, rief der Mächtige
Felsen. »Auch euer Hund nicht, denn hierzulande werden Hunde getötet und gegessen, auf dass
sie den Toten Begleiter seien im Wald der Nebelhölle!«
»Die Vorsehung hat uns hergeführt zu euren Schädelbergen«, rief Cortés, »und wird uns
weiterführen bis nach Mexico, um eure Menschenschlachtereien auszurotten und euch die neue
Lehre Xesu Quilistos zu bringen!«
Die mexicanischen Kriegshäuptlinge, die bisher regungslos den Thronsitz umstanden hatten,
verloren ihre steinerne Unbewegtheit und begannen unwillig zu murren. Der Mächtige Felsen gemahnte sie mit strengem Blick zur Ruhe. Er fragte Marina: »Was ist das – die neue Lehre von
Xesu Quilisto?«
Da predigte ihm Pater Olmedo das Evangelium. Marina übersetzte Satz für Satz, Wort für
Wort. Dem Mächtigen Felsen entging keine Silbe – aufmerksam und doch völlig gleichgültig hörte
er zu. Ein Weltmann, der das Gerede eines Schwachsinnigen aus Höflichkeit geduldig anhört; geringschätzig, doch nicht ohne Neugier. Ah, das also lehren diese armen Narren! Und er nickte teilnahmslos, als wäre ihm das alles nicht neu. Weltverbesserer gab es auch in Mexico. Als ob die
Welt ohne Kampf bestehen könnte! Moctezuma sollte keine Länder mehr erobern, keine Völker
mehr besiegen, keine Sklaven mehr opfern? Was dachen sich diese weltfremden Narren? Wovon
soll Mexico denn leben? Doch immer wieder nickte er stumm, lächelte verächtlich. Seine Götter
wurden beschimpft, doch es erboste ihn nicht einmal; er nahm den begeisterten Prediger und Götterfeind nicht ernst.
Als Pater Olmedo seine allzu feurige Bekehrungsrede schloss, merkte er, dass er seine Perlen vor die Säue geworfen hatte. Auf die Mexica hatte er keinen Eindruck gemacht. Der Mächtige
Felsen sagte zu Marina:
»O meine Tochter, siehe: Die weißen Männer wollen den Krieg durch den Krieg beseitigen,
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denn sie führen flammenspeiende Waffen, Hirschmenschen und abgerichtete Raubtiere mit sich.
Sie wollen unsere Götter durch ihre Götter ersetzen. Moctezuma soll keine Länder mehr erobern,
damit sie selbst diese Länder erobern können. Moctezuma soll keine Völker mehr knechten, damit
sie selbst diese Völker zu knechten vermögen. Sie bringen nicht den Krieg, der den Krieg ausrottet
– sie bringen einen neuen Krieg!«
Marina antwortete ihm, ohne auf Cortés Vorgabe zu warten: »Die weißen Männer des Sonnenaufgangs werden den Bewohnern Anahuacs Glück, Befreiung und Frieden bringen, die Tränen
der Witwen und Waisen trocknen und verhindern, dass die Schädelberge noch höher wachsen!«
»Die Fremden werden an die Stelle alter Schädelberge neue setzen. Der Krieg ist unausrottbar!« So sprach der Mächtige Felsen zu Marina. Dann bat er sie höflich, dem Cortés zu sagen,
dass er ihm für die Erklärung der neuen Lehre danke. Doch er und seine Vasallen würden nur von
den Menschenopfern lassen, wenn der große Moctezuma es befehle. Auch fürchte er, der große
Moctezuma werde ihm vielleicht zürnen, weil er die Fremden in seinem Palast geduldet und zugelassen habe, dass ihnen im Roten Berg Speise und Trank verabreicht wurden.
Cortés war wütend. Auf
Spanisch sagte er zu den
Hauptleuten: »Gutwillig
wollen diese Blutvergießer
das Heil nicht empfangen
– so sollen sie es denn mit
Gewalt erhalten! Da Worte
sie nicht bekehren, mag
das Schwert es tun!«
Die Religion der Azteken war
ein Sonnenkult. Sie glaubten,
dass die Sonne eines fernen
Tages nicht mehr aufgehen
würde. Um diesen Zeitpunkt
weit nach hinten zu verschieben, brachten sie Menschenopfer dar und rissen den Opfern die Herzen heraus. Damit
und dem Blut der Geopferten
glaubten sie, die Sonne am
Leben zu erhalten, damit sie
jeden Tag wieder aufgehe.
(Codex Mendoza.)
Da legte Pater Olmedo sich ins Mittel. Der hünengroße Mönch war ein streitbarer, schwerttragender Priester. Sein graugesprenkelter Bart reichte ihm bis auf die Brust und verhüllte nicht
den stählern funkelnden Panzer über der Kutte. Vom Bart kaum verdeckt, hing ein Silberkreuz an
silbernem Kettchen, und wenn Olmedo ausschritt, pendelte das Kreuz zwischen seiner rechten
und linken Schulter hin und her und klimperte auf dem Kürass. Er sah das große Ziel durch Übereifer gefährdet und hielt Cortés das Unvernünftige einer gewaltsamen Bekehrung vor, die hier
schwieriger als in Cempoala, vielleicht unausführbar sein werde, denn solche Kinder wie die
Totonaken seien die Mexica nicht. Selbst wenn es gelänge, würde Cortés das Kreuz, das heilige
Symbol, in einer nur äußerlich bekehrten Stadt zurücklassen; nach dem Abzug der Christen würde
es gestürzt und geschändet.
Die Mexica sahen dem Palaver der Weißen mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bereit, die
Waffen sprechen zu lassen. Während Pater Olmedo noch sprach, stürzte ein Sklave, der
Verwahrer der Wohlgerüche, in den Saal, warf sich vor dem Mächtigen Felsen zu Boden, küsste
ihm die Hände und flüsterte ihm hastig ins Ohr. Miene und Haltung des hochmütigen Mexicas verwandelten sich auf der Stelle. Freundlich betrachtete er nun die Kastilier. Leise erteilte er Befehle.
Der Verwahrer der Wohlgerüche und mehrere Würdenträger entfernten sich.
Der Pater hatte mit ernsten Worten erreicht, dass die Spanier sich zurückhielten. Da traten,
vom Vorsteher des Hauses der Teppiche und zwei anderen Hofbeamten hereingeführt, fünfzehn
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Diener und vier Sklavinnen in den Saal der Botschaften. Die Diener breiteten Cortés zu Füßen
reiche Geschenke auf dem steingetäfelten Boden aus: bunt gemusterte, mit Fransen versehene
Mäntel, schön gewebte Hemden aus feinstem Leinen, kunstvoll gearbeitete Federbandriemen,
Halbedelsteine und viel Goldschmuck, Goldstaub, Goldbarren und Goldbleche. Das höchste der
Wunder aber war, dass der Mächtige Felsen die Gäste als Söhne der Sonne bezeichnete und Marina ersuchte, den weißen Männern zu sagen, er lege keinen Wert auf Gold. Und da sich im Haus
der Edelsteine noch etwas Götterkot gefunden habe, gebe er es mit Freuden zum Geschenk. Auch
die vier Sklavinnen schenke er ihnen, damit diese Brot für sie backen sollen; überdies habe er angeordnet, dass dem Heer der Sonnensöhne reichlich Nahrungsmittel verabreicht würden. Sie
könnten baden und die frischen Hemden anziehen. Und wenn sie nach Westen zu ziehen wünschten, so wolle er ihnen gern Führer mitgeben. Doch rate er ihnen, den südlichen Weg über Cholula
zu wählen, die gastfreundliche, friedliche und heilige Stadt Quetzalcoatls. Keinesfalls sollten sie
durch Tlaxcala ziehen, denn die Tlatepoca seien die Feinde der Menschheit, blutrünstige Ungeheuer, deren schluchtenreiches Land wie geschaffen sei für Hinterhalte.
Erstaunt und mit höflichem Dank für die wertvolle Auskunft und die Geschenke verabschiedete sich Cortés. Er hinterließ etliche Glasperlen, kleine Spiegel und Taschenmesser als Gegengaben. Er fragte Marina, was dieser plötzliche Sinneswandel zu bedeuten habe, doch nicht einmal
ihre scharfen Ohren hatten die geflüsterten Worte des Verwahrers der Wohlgerüche verstehen
können. So blieb die Veränderung im Verhalten des Mächtigen Felsens vorerst im Dunkeln.
Das Rätsel löste sich, als Cortés mit seinem Stab zum kastilischen Heer zurückkehrte. Sie
lagerten unter freiem Himmel auf dem geräumigsten Platz des Roten Berges; das Feldlager der
totonakischen Bundesgenossen war außerhalb der Stadtmauern aufgeschlagen worden. Ein benachbarter, den Totonaken befreundeter Stamm hatte Boten und Ehrengaben geschickt, um den
Söhnen der Sonne seine Ehrfurcht zu bezeugen. Die Abgesandten Ixtacmaxtitláns, des Weißen
Mondgefildes, stellten außerdem Hilfstruppen und Unterstützung im Kampf gegen Moctezuma in
Aussicht. Die Hauptstadt des Weißen Mondgefildes lag eine Sonne westlich an der Straße nach
Mexico. Cortés wurde eingeladen, mit seinem Heer dort Aufenthalt zu nehmen. Kaum hatte er die
neuen Bundesgenossen begrüßt, traf auch eine Gesandtschaft von Moctezuma ein und ersuchte,
unverzüglich vorgelassen zu werden. Da wurde dem Generalkapitän das Verhalten des Mächtigen
Felsens blitzartig klar, und mit sicherem Instinkt demonstrierte er der aztekischen Delegation seine
Überlegenheit.
Zuerst ließ er die Abgesandten Moctezumas warten. In aller Ruhe besprach er mit den neuen Bundesgenossen, was zu besprechen war. Nachdem er sie entlassen hatte, legte er Panzer
und Helm ab, ließ sich vom Kämmerer Rodrigo Rangel in sein prunkvollstes Staatskleid helfen und
staffierte sich mit seinem Hahnenfederbarett aus; auch seinen Offizieren wurde »große Gala« befohlen. Er ließ Geschütze neben sein Zelt auffahren und das Innere des Zeltes in einen kleinen
Thronsaal verwandeln. Umgeben von seinen Heerführern war er nun für den Empfang bereit.
Die Gesandten Moctezumas wurden durch die Lagergassen geführt, und als sie sich dem
Zelte näherten, vor dem die schwarze Sammetfahne mit dem gestickten, von weißen und blauen
Flammen umloderten Goldkreuz wehte, trat Cortés – prunkend wie ein König und von den Offizieren flankiert – aus dem Zelt.
Anführer der aus angesehenen Mexica bestehenden Gesandtschaft war des Großkönigs
schweigsamer Freund Calpopoca, die Sengende Glut. Er war an Stelle des im Sterben liegenden
Silberpumas zum Statthalter des Ostens, zum Verweser der Provinz Huaxteca ernannt worden –
auf dem Weg zur Küste erschien er vor Cortés, um Moctezumas Dank für die Befreiung und Errettung des Schlagenden Falkens und Geschenke zu überbringen. In die huaxtekische Provinz – sie
grenzte nördlich an die Hafenstadt Veracruz und das Land Totonacapan – begleitete ihn sein einziger Sohn, der Glänzende Harnisch, ein zwanzigjähriger Jüngling mit ernstem, schön geformtem
Indianergesicht.
Wie damals in den moskitoverseuchten Sanddünen war auch jetzt das melancholische Gesicht der Sengenden Glut wieder mit blauen Streifen bemalt. Cortés entsann sich seines auffällig
kurzen Besuches gut, des Dünkels und der kränkenden Unnahbarkeit des Mexicas. Absichtlich
umarmte er ihn und wusste vorher, dass der Mexica vor der körperlichen Berührung zurückzucken
würde; doch die Sengende Glut musste es sich gefallen lassen. Cortés behandelte ihn wie einen
alten Bekannten und klopfte ihm herablassend-leutselig auf die Schulter. Die neuen Gaben
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Moctezumas, von fünfzig tlamamas herangeschleppt und auf Strohmatten ausgebreitet, glitzerten
im Sonnenlicht. Aber so überreich wie damals erschienen die Geschenke nicht, doch der Rechnungsführer Albornoz schätzte den Goldwert immerhin auf vierzigtausend Dublonen.
Außer Schulterdecken, Kolibrifedern, zwei jungen Jaguaren und Götterkot schickte Moctezuma diesmal auch Maiskuchen und fünf Sklaven. Feierlich sprach die Sengende Glut: »Malinche!
Die Herren des Drei-Städte-Bundes – euer Knecht Moctezuma, der sein Reich aus seinem Palast
inmitten des Wassers des Tezcocosees regiert, euer Knecht, der Edle Betrübte, der am Seeufer
wohnt, und euer Knecht, der Durch-Wohlgestalt-Glänzende, der am Fuß der Berge herrscht – befahlen mir, euch zu sagen: Vor Freude schwillt ihr Herz, weil ihr, o Söhne der Sonne, Anahuac
aufsuchen wollt, das Land, wo euer Ahnherr Quetzalcoatl geherrscht hat, dessen Thron von Moctezuma für euch bereitgehalten wird! Und vor Dank schwillt das Herz eures Knechts Moctezuma,
weil sein Verwandter, der Schlagende Falke, Sohn des Königs Molch, durch euch befreit wurde!
Euer Knecht Moctezuma bittet euch, diese geringwertigen Gegenstände als Dankesgaben anzunehmen. Und da euer Knecht Moctezuma aus der großherzigen Errettung des Schlagenden
Falkens ersehen hat, dass ihr wahrhaftig Söhne der Sonne seid, hat er den Gaben die Speise der
Götter beigefügt: Maiskuchen mit Menschenblut besprengt, und diese fünf Sklaven, auf dass ihr
euren Durst an Menschenblut löschen können!«
Die Sengende Glut wiederholte wörtlich, was Moctezuma ihm zu sagen aufgetragen hatte.
Die Mitglieder der Gesandtschaft waren angewiesen, genau Acht zu geben, wie die weißen Fremden die ihnen dargebrachten Opfergaben aufnehmen würden, ob sie die Blutkuchen essen, ob sie
das frische Menschenblut trinken würden. Denn daraus würde man schließen können, ob sie starke Herzen haben und wirklich Söhne der Sonne sind.
Die Mexica wurden enttäuscht. Mäntel, Federschmuck, ungeschliffene Edelsteine und Götterkot nahmen die Männer des Ostens an, sie verschmähten jedoch unter Gebärden des Ekels die
mit Menschenblut besprengten Kuchen, und den fünf Opfersklaven schenkten sie sofort die Freiheit. Nun war es erwiesen – sie hatten keine starken Herzen!
Beim Abschied erteilte die Sengende Glut Cortés den Rat, über das friedfertige Cholula zu
ziehen und das hinterhältige Tlaxcala zu meiden.
*
Wieder zog das Heer westwärts durch die Hochebene und durch ein Flusstal, dann den Fluss entlang und an zahlreichen wohlhabenden Dörfern vorbei. Das Angebot des Mächtigen Felsens, dem
Cortés Führer zur Verfügung zu stellen, war keine Höflichkeitsfloskel – er hatte den Kastiliern tatsächlich zwanzig Mann seiner Palastwache als Wegweiser für den Zug nach Anahuac mit auf den
Weg gegeben. Mittags wurde auf einer Wiese gerastet. Als das Heer sich wieder in Bewegung
setzte, entdeckte Jacobo Hurtado der Reiche, dass sein Graufohlen entlaufen war. Hurtados Stute
hatte vor einem halben Jahr gefohlt, gleich nach der Landung. Das war zu Ostern gewesen; seitdem war das Fohlen ein stattlicher kleiner Renner geworden – der nun das Weite gesucht hatte.
Für Hurtado und das gesamte Heer war dies ein schwerer Schlag; sie hatten nur noch siebzehn
Pferde. Alvarado, dem Hurtado das Missgeschick als Erstem mitgeteilt hatte, erkundigte sich.
»Wisst Ihr, Señor, in welche Richtung das Tier gelaufen sein könnte? Oder glaubt Ihr, dass
es von Indianern gestohlen wurde?«
»Nein, es wurde nicht gestohlen«, entgegnete Hurtado verwirrt. »Es ist entlaufen.«
»Also habt Ihr gesehen, wohin es lief!«
Hurtado zeigte auf einen benachbarten Wald. Alvarado winkte die Amazone María de Estrada und die Reiter Domínguez und Lares heran, und gemeinsam galoppierten sie in den Wald.
Nach einigem Suchen gelangten sie zu einer Lichtung, auf der ein Rudel Hirsche äste. Das Graufohlen stand zwischen den rötlich-grauen Hirschen, als gehörte es zu ihnen, und trank am Euter
einer Hirschkuh. Alvarado gab Zeichen, auszuschwärmen, die Herde zu umzingeln und den Tieren
die Flucht abzuschneiden. Doch die Tiere hatte sie schon gewittert und stoben plötzlich davon,
verschwanden im Unterholz. Auch das Fohlen. Die Verfolgung musste aufgegeben werden.
»Mir ist, als hätte ich eine Rothaut im Dickicht gesehen«, sagte María de Estrada.
»Kundschafter unseres Freundes Moctezuma«, meinte Alvarado achselzuckend.
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Nach zehnstündigem Marsch näherte sich das Heer der Stadt Ixtacmaxtitlán, Weißes Mondgefilde, deren Bewohner Freunde der Totonaken waren. Die mexicanischen Führer des Mächtigen
Felsens rieten Cortés, nicht durch das Weiße Mondgefilde zu ziehen, sondern einen südlicheren
Weg einzuschlagen. Die totonakischen Kriegshäuptlinge Mamexi, Tehuch, Tomali und Cuhextecatl
widersprachen und warnten vor den Ratschlägen der Bewohner des Roten Berges: Die südliche
Straße führe nach Cholula, der Vasallenstadt Mexicos; die nördliche Straße aber ginge nach
Tlaxcala, das seit sechzig Jahren Krieg mit dem Drei-Städte-Bund führte. Sollten die Tlaxcalteken
zu den Waffen greifen, so sei die ehrliche Feindschaft Tlaxcalas der falschen Freundschaft
Cholulas vorzuziehen. Cortés vertraute den Totonaken und war auf der Hut; die Ratschläge der
Mexica und Moctezumas hatten ihn misstrauisch gemacht. Allzu beflissen hatten sowohl der
Mächtige Felsen wie auch die Abgesandten Moctezumas Tlaxcala angeschwärzt und die Friedfertigkeit Cholulas hervorgehoben. Er berief seine Feldobristen zu einem kurzen Kriegsrat, und sie
entschieden sich endgültig für den Weg über Tlaxcala. Dann zog er seine Bussole aus der Tasche,
klappte den Deckel auf und schaute konzentriert hinein.
»Was tut Ihr da, capitán generál?«, fragte Alvarado.
»Mummenschanz treiben. Kürzlich erst habe ich eine magische Kraft des Kompasses entdeckt, die weit über seine magnetische hinausgeht. Doña Marina war sehr beeindruckt. Sie soll
herkommen.«
Er war gewitzt genug, La Lengua den Führern des Mächtigen Felsens die Bussole »erklären« zu lassen. Marina tat es im gewünschten Sinn:
»Mein Herr befragt seine Zauberbüchse, die ihm stets den richtigen Weg anzeigt. Darin ist
ein Spiegel, der ihn eure Gedanken lesen lässt. So weiß er, ob ihr ehrlich zu uns seid.«
Die Indianer starrten stumm und unterwürfig auf Malinche und seine mächtige Zauberbüchse. Bevor sie weiterzogen, beschloss Cortés, dem Rat der Alten in Tlaxcala Boten zu senden und
die Antwort im Weißen Mondgefilde abzuwarten.
Als Gesandte wählte er den Kriegshäuptling Tehuch, einen Vetter des dicken Kaziken, sowie
Cuhextecatl, Schwiegervater des Hauptmanns Andrés de Tapias; außerdem noch zwei zielsichere
totonakische Speerwerfer. Der Notar und kaiserliche Sekretarius Diego de Godoy musste einen
Brief an den Freistaat Tlaxcala aufsetzen, und Guillén de la Loa, den kleinen, aber geschickten
und pfiffigen Schreiber des Garay, beauftragte er, das Schriftstück in schöner, geschwungener
Zierschrift auf Pergament zu schnörkeln. Da anzunehmen war, dass der Rat der Alten den Brief
nicht werde entziffern können, wurden die Boten von Marina instruiert, den Inhalt des Schreibens
mündlich vorzutragen. Cortés gab ihnen außer diesem Brief auch noch eine venezianische Mütze
aus dunkelgrünem Seidensamt, einen Degen, eine lädierte Muskete und eine Armbrust mit erschlaffter Sehne als Ehrengeschenke an den Hohen Rat mit. Der Anblick der Waffen sollte dem
Rat der Alten die Überlegenheit und Unbesiegbarkeit der Söhne der Sonne zu bedenken geben.
Die vier Boten ritten eilig nach Tlaxcala ab. Dann ließ Cortés sein Heer zum Einzug ins Weiße Mondgefilde antreten. Der Anblick des auf steiler Kuppe ragenden Kastells weckte die Bewunderung der Kastilier. Die Nachricht vom Eintreffen der Sonnensöhne mit den abgerichteten Pumas
und den Hirschmenschen hatte sich schon in Windeseile in der Stadt herumgesprochen. Freundliche Bewohner des Weißen Mondgefildes empfingen an den Stadttoren die Einziehenden mit
Weihrauch und Blumengirlanden, hielten große Mengen delikater Erfrischungen und Maiskuchen
bereit, warnten vor Cholula und empfahlen den Weg über Tlaxcala.
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9. Goldmaske
»Wir überfielen zwei Dörfer, wo ich viele naturales tötete, und später noch ein drittes Dorf,
das, wie ich später erfuhr, mehrere tausend Einwohner hatte. Das Volk darin lief ohne Wehr
und Waffen aus den Häusern heraus, die Weiber und Kinder nackt, alles durcheinander. Anfangs machten wir viele nieder, doch als ich sah, dass sie keinen Widerstand leisteten, kamen schon einige der Ältesten des Dorfes zu mir und baten mich demütig, ich solle ihnen
keinen Schaden mehr antun. Sie wollen sich Eurer Majestät ergeben und meine guten
Freunde sein.«
(Hernán Cortés, 2. Brief an Karl V. vom 30. Oktober 1520)
Die Stimmung im Rat der Alten Tlaxcalas war in letzter Zeit spannungsgeladen, seit die beiden
einflussreichsten Stammesoberhäupter – Wollring und Wespenring – in Zwietracht geraten waren.
Die Ursache dieses Zerwürfnisses war höchst seltsam.
Die Söhne des hundertjährigen, blinden Xicotencatl hatte der Krieg dahingerafft. Nur noch
ein Enkel, der Sohn seines jüngsten Sohnes, war Wespenring geblieben. Er hieß Goldmaske, war
hochgewachsen, kaum dreißig Jahre alt, unbändig stolz, in seinen Leidenschaften ungezügelt, wild
und gutherzig, treulos und treu zugleich. Als Vorsteher des Hauses der Speere hatte er den Oberbefehl über die Hälfte der tlaxcaltekischen Truppen. Sein Steinpalast widerspiegelte seinen Reichtum und hohen Rang; schier unermesslich war die Zahl seiner Sklaven und ansehnlich die Größe
seines Frauenhauses: Er besaß fünfzig Gemahlinnen.
Vor drei Jahren war ihm in den Gassen Tlaxcalas ein ärmlich gekleidetes Mädchen von überirdischer Schönheit begegnet. In seinen Augen schien sie kein irdisches Wesen, sondern eine in
Lumpen gehüllte Göttin zu sein. Ohne zu zögern schickte er ihr einen seiner Sklaven nach, ließ
nach ihrem Namen und ihrer Herkunft forschen. Sie hieß Iztapapalotl, Weißer Sommervogel, und
war die Tochter eines Ledergerbers. Obwohl sie von niederem Stand war, erbat er sich die Vierzehnjährige von ihren Eltern und machte sie zu seiner rechtmäßigen Gattin. Er räumte ihr einen
Flügel seines Palastes ein, schenkte ihr Sklavinnen – Fächerträgerinnen, Sandalenbinderinnen,
Haarkämmerinnen, Girlandenflechterinnen – und behängte sie mit Juwelen und kostbarem Federschmuck. In ihrer schlanken, knabenhaften Anmut und dem stets schneeweiß geschminkten Gesicht dünkte sie ihm als unvergleichliche Schönheit, und seine Liebe zu ihr war ohne Maß. Doch
der Krieg zwang ihn, von Weißer Sommervogel Abschied zu nehmen und in den Kampf gegen die
Heerscharen Mexicos zu ziehen.
Ein Jahr lang kämpfte Prinz Goldmaske und verteidigte sein Land an der Großen Mauer. Als
er als Sieger nach Tlaxcala heimkehrte, voller Sehnsucht nach Weißer Sommervogel, entdeckte
er, dass zwei seiner Frauen schwanger waren. Ein unerhörter Schimpf, eine unglaubliche Beleidigung war Prinz Goldmaske angetan worden. Die Frauen hatten ihr Leben verwirkt; sie waren der
strafenden Lustgöttin verfallen, die als Frosch mit blutigem Maul verehrt wurde, »denn die Liebe
frisst und verschlingt alles!« Die Schwangeren wurden eingekerkert, Prinz Goldmaske ordnete eine
strenge Untersuchung an. Was die Frauen unter der Folter aussagten, wollte er zuerst nicht glauben, musste es schließlich aber doch als Tatsache akzeptieren. Es war so unvorstellbar wie außergewöhnlich: Es kam ans Licht, dass Weißer Sommervogel, seine Lieblingsgattin, ein Hermaphrodit war, ein Zwitter – halb Knabe, halb Mädchen! Im Frauenhaus lebend, hatte die Unselige die
zwei Frauen zum Beischlaf verleitet. Prinz Goldmaske fiel zuerst in tiefe Schwermut, dann erließ er
den Schwangeren die Todesstrafe, war er es doch selbst gewesen, der die Knäbin in ihre Mitte
gebracht hatte. Er verschenkte die Frauen und verheiratete sie an Untergebene. Den Hermaphro-
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diten jedoch erwartete eine grausame Strafe nach altem Gesetz. Nackt wurde Weißer Sommervogel durch die Straßen Tlaxcalas der höhnenden Volksmenge vorgeführt. Er kam auf den Opfertisch; öffentlich wurde ihm die linke Bauchseite aufgeschnitten, sodass die Eingeweide herausquollen. Dann musste das arme Wesen davonlaufen, wobei es die eigenen blutigen Gedärme mit der
Hand vor dem Herausfallen schützte, und musste versuchen, der verfolgenden Volksmenge zu
entkommen. Zwei Steinwürfe weit war der Vorsprung, den man dem Opfer gewährte, dann stürmte
der Pöbel hinterher. Gelang es dem Verurteilten, den Verfolgern zu entkommen, war er frei und
fortan unantastbar; so schrieb es das heilige Strafgesetz vor. Doch noch nie hatte sich ein Missetäter retten können, alle waren vorher zusammengebrochen, eingeholt, gesteinigt worden.
Auch Weißer Sommervogel wäre es beinahe so ergangen. In panischer Angst stürzte er davon, die Hände vor dem Bauch und in der Panik keine Schmerzen spürend. Hätte sich während
seines Todeslaufs nicht ein Palasttor geöffnet, in das er hineinflüchtete und das sofort hinter ihm
geschlossen wurde – Weißer Sommervogel wäre des Todes gewesen. Doch der Volksmenge
wurde der Eintritt verwehrt, Weißer Sommervogel war gerettet! Der Mann, der ihn rettete, war
Pimoti, der Lanzenträger, Oberfeldherr von gleichem Rang wie Prinz Goldmaske.
Seitdem waren die Familien Goldmaskes und Pimotis verfeindet. Der Lanzenträger verweigerte die Herausgabe des Hermaphroditen, doch Prinz Goldmaske ließ nicht ab, ihn zurückzufordern. Nicht, dass er ihn noch hätte töten oder sonst wie strafen wollen; nach der geglückten Flucht
war Weißer Sommervogel unantastbar. Aber Prinz Goldmaske wurde mehr denn je von Liebe,
Sehnsucht und Eifersucht verzehrt! Unerträglich war ihm der Gedanke, dass sein Rivale Lanzenträger das überirdisch schöne androgyne Wesen gesund pflegen und durch Geschenke an sich
fesseln konnte.
Der Streit der Familien spaltete bald das Land und beeinflusste die Entscheidungen im Rat
der Alten. Das Land war in zwei Parteien zerrissen, jeder Vorschlag der einen Partei wurde von
der anderen missbilligt und bekämpft.
*
Tehuch, Cuhextecatl und ihre beiden Begleiter hatten Gesandtenkleidung angelegt und waren von
weitem schon als Sendlinge erkennbar. An der Grenze Tlaxcalas wurden sie von den Grenzwächtern ehrerbietig behandelt, durch ein Tor der Großen Mauer eingelassen und in die Hauptstadt
eskortiert. Man führte die Delegation in das Regierungsgebäude, reichte ihnen Speise und Trank
und führte sie, nach kurzer Erholungspause, in den Beratungssaal, wo die Sitzungen des Hohen
Rates stattfanden. Der Rat der Alten war vollzählig versammelt, um die Botschaft der weißen
Fremdlinge entgegenzunehmen. Die Boten wurden hereingebeten und willkommen geheißen. Sie
übergaben das dunkelgrüne Samtbarett, den Degen, die Muskete und die Armbrust. Dann trat
Tehuch vor und begann, stehend vor der thronenden Ratsversammlung, zu reden:
»O ihr hochmächtigen Väter, mögen die Götter euch Sieg über eure Feinde verleihen! Die
Mexica sind seit Menschengedenken eure Feinde, und sie sind auch die Feinde und Bedrücker der
Totonaken. Darum gibt das Volk der Totonaken durch unseren Mund euch Kunde von den Enkeln
Unseres Herrn Quetzalcoatl, den weißen Söhnen der Sonne, die in großen Wasserhäusern über
das Meer des Himmels aus einem fernen östlichen Reich herübergekommen und an der Küste
unweit der Stadt Cempoala gelandet sind. Dort haben sie das Kreuz aufgerichtet, das Wahrzeichen Unseres Herrn Quetzalcoatl. Sie haben jenseits des Himmelswassers von der Unmenschlichkeit, der Länder- und Blutgier der Mexica erfahren. Darum hat ihr Fürst, der große König des
Ostens, sie ausgesandt, dass sie die Völker, auch die Tlaxcalteken, von der Gewaltherrschaft
Moctezumas und vom Blutdurst der falschen Götter Anahuacs befreien. Diese haben einst Unseren Herrn Quetzalcoatl übers Meer nach Osten fortgetrieben. Sie, seine Enkel, bitten um freien
Durchzug durch euer Land und senden euch diesen Brief, diesen Kopfschmuck und diese Waffen.
Mögt ihr daran erkennen, wie erfinderisch, mutig und unbesiegbar sie sind, und mögt ihr wie Brüder an ihrer Seite fechten gegen das mörderische, blutrünstige Mexico, bis sie euch erlösen, wie
sie uns von der Knechtschaft Moctezumas erlöst haben. Tut ihr das aber nicht, so wisst ihr selbst,
o ihr hochmächtigen Väter, ihr edlen Herren, dass Mexico nie ablassen wird, euch zu bedrohen
und zu knechten.«
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Stumm nahm die hundertköpfige Versammlung die Rede auf. Keine Äußerung wurde laut,
weder des Missfallens noch des Beifalls. Die Geschenke gingen von Hand zu Hand und wurden
mit Befremden betrachtet. Da erhob sich einer der vier Tetrarchen des Landes, Maxixcatzín, der
angesehene alte Wollring, und sprach:
»O ihr Götterboten, ihr tapferen Krieger! Wir haben gehört, wir haben vernommen, was euer
Mund verkündet hat vor dem Angesicht des Hohen Rates. Haben die Söhne der Sonne euch Beistand geleistet, haben sie euch befreit von der lastenden Hand Moctezumas? Wir freuen uns mit
euch und danken dem großen weißen Feldherrn für seine Gaben. Geht, ruht euch aus, denn weite
Wege seid ihr gegangen. Der Hohe Rat aber wird Entschluss fassen, welche Antwort er erteilen
will!«
Darauf wurden Tehuch, Cuhextecatl und ihre Begleiter aus dem Beratungssaal geführt.
In der Beratenden Versammlung ergriff zuerst Wollring das Wort. Die vielen Vorzeichen der
letzten Jahrzehnte machten es glaubhaft, dass die in alten Bilderschriften geweissagte Wiederkehr
bärtiger, weißhäutiger Sonnensöhne nach Anahuac eingetroffen und dass die Zeit der Befreiung
der Völker und des Strafgerichts über Moctezuma nahegerückt sei. Er, Wollring, erachte es für
ratsam, diese Fremden, da sie doch Beistand gegen Mexico anböten und, wie ihre Taten und Waffen zeigten, eher Götter als Menschen zu sein schienen, freundlich in Tlaxcala einzulassen und
nicht abzuwarten, dass sie sich den Zutritt erzwängen.
Nach dieser klug bedachten und schöngefügten Rede des Wollrings erhob sich der erblindete hundertjährige Führer der Gegenpartei, Wespenring, und widersprach leidenschaftlich. Dabei
brachte er höchst merkwürdige Vermutungen über die Herkunft der weißen Eindringlinge vor. Er
sagte:
»O ihr hochmächtigen Väter, o ihr edlen Herren, möge Huitzilopochtli, Er, durch den alles
geschieht, unsere Sinne erleuchten, unsere Sinne lenken, auf dass wir Tlaxcala, unserer alten
Mutter, nicht schlechte Söhne seien! Wer sind diese Fremden? Was werden sie uns bringen? Wir
wissen es nicht! Wir kennen die Zukunft nicht! Doch wir wissen, dass die Vergangenheit Tlaxcalas
ruhmvoll war. Deshalb erscheint es mir vorschnell und nicht würdig der großen Vergangenheit
Tlaxcalas, wenn wir allzu dienstbereit den Fremden die Tore öffnen. Von alten Weissagungen hat
man uns erzählt – doch Weissagungen haben schon oft getrogen. Sind die Berichte wahr, dass
diese Fremdlinge sich von Gold ernähren und mit großen Hirschen einherziehen, so scheinen sie
mir nicht Menschen zu sein, sondern Ungeheuer, vom Meer ausgespuckt, das sie in seinem Innern
nicht mehr beherbergen wollte. Darum hört meinen Rat: Lasst uns ihnen bewaffnet
entgegenziehen, eingedenk unserer Vergangenheit, unserer Götter, unserer Heimaterde, unserer
Weiber und Kinder. Nur wenn wir ihnen den Eintritt verwehren, können wir erfahren, ob sie Menschen sind! Besiegen sie uns, die wir bisher unbesiegbar waren, so sind sie die Nachkommen
Quetzalcoatls, die uns verkündet wurden. Gottgesandten kann man sich unterwerfen, ohne mit
Schande bedeckt zu werden. Dann bleibt uns immer noch Zeit, mit ihnen Freundschaft zu schließen und eine Bundesgenossenschaft gegen Moctezuma einzugehen!«
Auch die Rede Wespenrings machte tiefen Eindruck auf die Versammlung, überzeugte aber
die Gegenpartei nicht. Das Wort ergriffen noch der Blutige Schild, der Listige Marder und mehrere
Häuptlinge der Unterstämme. An diesem Tag jedoch führten die Beratungen zu keinem Ergebnis.
*
Cortés wartete mehrere Tage vergeblich auf Antwort aus Tlaxcala. Die erhoffte Einladung blieb
aus, und auch die totonakischen Boten kehrten nicht zurück. Am vierten Tag traf eine Gesandtschaft aus Cholula im Weißen Mondgefilde ein. Der Gewandtheit des Tempelhüters war es gelungen, die heilige Stadt für den Plan Moctezumas zu gewinnen. Mit Geschick hatte er seinen Auftrag
ausgeführt, hatte den Cholulteken vor Augen geführt, dass es ein verdienstvolles Werk sei, die
Fremdlinge in die Stadt zu locken und niederzumachen. Mit den zwei goldenen Trommeln hatte er
die beiden Priesterkönige bestochen, mit kostbarem Federschmuck den Hohen Rat. Und nun
sandte die Stadt den Federherrn, den neunzehnjährigen Sohn des verstorbenen Mitregenten, in
das Weiße Mondgefilde mit der Einladung, die Sonnensöhne in die heilige Stadt zu bitten.
Doch Cortés ließ den Cholulteken durch La Lengua auseinandersetzen, dass er in Tlaxcala
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erwartet werde und daher nicht den Weg über Cholula nehmen könne. Die Enttäuschung der Gesandten war unverkennbar und versetzte sie in aufrichtige Betrübnis. Sie baten, wenigstens einen
späteren Besuch der heiligen Stadt zu erwägen; Cortés stellte es ihnen zum Trost in Aussicht.
Dann lud er zu einem üppigen Mittagsmahl ein. Juan Varela, Oberkoch und Tafelmeister des Cortés, durfte mit seinen Künsten Staat machen; er solle nicht geizen, war ihm gesagt worden.
*
Die nach Tlaxcala entsandten Boten waren nicht ins Weiße Mondgefilde zurückgekehrt. Vier Tage
lang hatte man sie vergeblich erwartet; dann hatte Cortés den Befehl zum Aufbruch gegeben.
Tehuch und Cuhextecatl mussten auf ihrem Rückweg dem Heer begegnen. Doch ihr Ausbleiben
war rätselhaft und wurde als bedenkliches Zeichen gedeutet. Deshalb ordnete der Generalkapitän
wiederum an, dass die Soldaten nur bewaffnet schlafen dürften. Unterwegs funkelten bisweilen
schwarz glänzende Augen im Dickicht neben den Wegen. Solche Augen hatte ja schon die Amazone María de Estrada im Gebüsch gesehen, als sie das entlaufene Fohlen des reichen Hurtado
suchten. Dass sie sich mit ihrer Beobachtung nicht getäuscht hatte, wurde jetzt von vielen bestätigt. Auch andere seltsame Beobachtungen wurden gemacht: Dünne bunte Fäden spannten sich
über die Straße – manchmal fünf, zuweilen zehn, alle eigenartig verknotet; Sträucher am Wegrand
trugen kleine Papierstreifen und Papierfähnchen: die Zauberer Moctezumas beschworen die weißen teules, ihren Weg doch noch über Cholula zu nehmen.
An einem bleichen Herbsttag erblickte das Heer die Große Mauer. Vor den erstaunten
Kastiliern tauchte das Weltwunder als rötlich gelbes Band auf, angeschmiegt an Berg und Tal, an
Fluren und Hügel, Fels und Schluchten. Selbst über einem Fluss hing das Band als flache steinerne Brücke, dass kein Boot sie hätte unterfahren können. Die unvorstellbare Endlosigkeit der Mauer
offenbarte sich in seiner ganzen Größe erst, als das Heer nahe genug herangekommen war, sodass man die Einzelheiten des Baues unterscheiden konnte.
»Wie ist das möglich?«, fragte der belesene Cortés. »Sind die Bewohner Untertanen des
großen chinesischen Khan? Auch Marco Polo berichtet von einer ›Großen Mauer‹, die das östliche
Kaiserreich umschließt!«
Ein Zyklopenbau! Die Riesenquadern waren ohne Kalk und Mörtel an- und aufeinander gefügt. Zwanzig Fuß breit, zehn Fuß hoch und durchgehend mit einem Zinnenkranz überaus starker
Brustwehren bestückt. Der Bau schien nicht von Menschenhand gefügt zu sein.
Cortés wartete auf einige der Totonakenhäuptlinge, die hinter ihm schritten, und fragte sie
über den Ursprung der Mauer aus; was Tlaxcala wohl veranlasst haben mochte, eine solche
Schutzwehr zu errichten. Die Häuptlinge erzählten, dass Tlaxcala von Mexico umzingelt, von der
Außenwelt abgeschlossen, zur belagerten Festung gemacht wurde; wie Tlaxcala lernen musste,
auf Papageienfedern, Kakao, Baumwolle, sogar auf Salz zu verzichten; wie Tlaxcala, als der
Sechzigjährige Krieg begann, in der Not gezwungen war, die Große Mauer zu erbauen, und wie
der Ansturm der mexicanischen Heerscharen an dieser Mauer zerschellte. Manches, was die
Häuptlinge erzählten, wusste Cortés schon von Marina. Doch zum ersten Mal wurde ihm das
Schicksalhafte im lange währenden Krieg zwischen Tlaxcala und Mexico klar.
Der Anblick der gewaltigen Mauer stimmte ihn nachdenklich. »Die Mauer, die dieses Volk
beschirmt, ist nicht nur aus Stein, sie ist vor allem aus zähem Widerstandswillen erbaut!«
Marina sagte: »Auch hinter diese Mauer werden wir gelangen, wenn ihre Tore so unbewacht
sind wie die hier!« Und wunderbarerweise war das Tor, auf das sie zuritten, an diesem Tag nicht
bewacht.
Die Große Mauer hatte nur wenige Tore. Die Gassen dahinter waren so schmal, dass eindringende Feinde Mann für Mann gegen die Verteidiger kämpfen mussten. Außerhalb der Mauer
konnte man indes nicht wissen, ob Verteidiger sie erwarteten oder nicht. Die zwanzig Krieger des
Mächtigen Felsens warnten und erboten sich, einen um die Mauer führenden Weg zu suchen. Die
Totonaken, von Ordás unterstützt, rieten jedoch, den Durchgang durchs Tor zu wagen.
Cortés ließ sich von Pero del Corral, dem Fahnenträger, die schwarze Standarte mit dem
flammenumloderten Kreuz reichen. Hoch reckte er sie empor und rief dem Heer zu: »Vorwärts,
Soldaten! Das heilige Kreuz ist unser Banner! In diesem Zeichen werden wir siegen!« Er gab
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Romo die Sporen, galoppierte auf das Tor zu und durch den halbkreisförmig dunklen Gang – und
befand sich auf Tlaxcalas Boden. Hinter ihm stürmten die Soldaten und indianischen Krieger nach.
Kein Feind war zu sehen, sie hatte die Große Mauer spielend überwunden! Erst später sollte Cortés erfahren, welch unerhörtem Zufall er es zu verdanken hatte, dass das Tor offen und unbewacht
war. Sonst wäre Hernándo Cortés keine Notiz in den Annalen der Weltgeschichte wert gewesen,
doch das Glück wich ihm nicht von der Seite.
Sämtliche Berittene trabten jetzt mit Cortés dem Heerhaufen voraus. Dicht gestaffelt und in
strenger Ordnung, langsam und voller Vorsicht, jederzeit einen Angriff erwartend, drangen sie ins
Land vor. Pulver lag auf den Pfannen der Musketen, und die Sehnen der Armbrüste waren gespannt. Die Infanteristen, je drei nebeneinander, hielten die Schilde, Lanzen und Schwerter zur
Verteidigung bereit. Allen war eingeschärft worden, im Kampf mit den Lanzen nach den Gesichtern
der Gegner zu zielen und sich vorzusehen, dass die Lanzen beim Zustoßen vom Feind nicht mit
den Händen gepackt und ihnen entwunden würden.
Immer tiefer marschierten sie in tlaxcaltekisches Land ein; schon drei Meilen lag die Große
Mauer hinter dem Heer, und noch hatte sich kein Feind blicken lassen. Steiler und rauer wurde der
Weg. Die Flussebene, durch die man zog, wurde zusehends enger und mündete in ein Felsental.
Als die vordersten Reiter einen Hügel erklommen hatten, bemerkten sie im jenseitigen Tal einen
kleinen Trupp Indianer, zwanzig oder dreißig Mann. Die Totonaken erkannten sie als Otomis,
Grenzwächter des Freistaates Tlaxcala. Ihr Vorderhaupt war rasiert, und über den Rücken trugen
sie einen lang fallenden Haarschopf. In Kriegsrüstung standen sie da, mit grellbunten Federkronen
und Helmmasken, bunt verzierten Schilden aus Leder und Bambusrohr. Schwarze und weiße
Streifen zogen sich über die Gesichter. Ihre Bewaffnung bestand aus Steinbeilen, Bogen und Pfeilen mit Feuersteinspitzen, Speeren und schwarzlackierten Sägeschwertern.
Ordás, Alvarado und Lugo galoppierten auf sie zu. Die Otomis ergriffen die Flucht. Da Cortés
ein größeres Heer in der Nähe vermutete, ließ er rasch vorrücken.
»Bringt die Artillerie auf dem Hügel in Stellung!«, befahl er und ließ fünf weitere Reiter Ordás,
Alvarado und Lugo zu Hilfe eilen. Die Otomis erkannten, dass sie von den Hirschmenschen eingeholt würden, machten Halt und setzten sich zur Wehr. Im gleichen Augenblick brachen tausend
Otomis aus einem Seitental hervor. Ein Wolkenbruch aus Pfeilen und Speeren ging auf die
Kastilier und Totonaken nieder; die Feuerwaffen der Musketiere krachten, und Armbrustschützen
zielten auf die indianischen Anführer. Dann donnerte die Artillerie und brachte die Entscheidung.
Nach einstündigem Kampf zogen sich die Otomis zurück.
Seit der Landung war dies die erste wirkliche Feldschlacht gewesen. Die Überlegenheit der
Waffen hatte den conquistadores den Sieg beschert, und doch konnte Cortés sich seines Sieges
nicht freuen. Der Nimbus der Söhne der Sonne, der Glaube an ihre Unbesiegbarkeit, Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit musste nach einem solchen Kampf ins Wanken geraten. Denn keineswegs hatten nur die Stahlwaffen der Weißen Tod und Verderben verbreitet. Auch das sägeartig
gezahnte, messerscharfe Obsidianschwert der Indianer hatte mörderische Wunden geschlagen.
Dem Pferd des Reiters Manolo Huiguero schlug einer der Otomis mit einem einzigen Hieb den
Kopf ab, und der niederstürzende Huiguero trug eine schwere Verletzung davon. Auch Tapias
Pferd wurde niedergestochen und sein Reiter halb erdrückt. Tapia wäre dasselbe Schicksal widerfahren wie Huiguero, wäre ihm die conquistadora María de Estrada nicht zu Hilfe gekommen: Mit
der Lanze erstach sie den Otomi.
Keiner der Reiter war ohne Wunden davongekommen. Von den Otomis blieben siebzig tot
auf dem Schlachtfeld zurück.
*
Gegen Abend schleppte der verrückte Physikus und Apotheker Leonel de Cerro einen toten Otomi
ins kastilische Lager am Flussufer und hängte die Leiche mit dem Kopf nach unten über ein
Reisigfeuer. Er briet den Toten, bis diesem das Fett aus Mund und Nase floss. Süßlicher Gestank
breitete sich aus. Die Soldaten protestierten, strömten zusammen, umringten die makabre Szene.
Es war schon dunkel; rotgelb flackerte das Feuer, und grässlich verzerrt, krümmte sich der Körper
der geschmorten Leiche.
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»Aufhören!« – »Barbarisch!« – »Was soll das unchristliche Tun?« – »Der capitán generál soll
eingreifen!«
»Warum tut Ihr das, Señor?«, fragte der Namenlose.
»Mir fehlt es an Salben«, antwortete der Apotheker. »Wie soll ich Pferde- und Menschenwunden ohne Salben heilen? Man muss sich zu helfen wissen! Ich tue das nicht zum Vergnügen
und habe mich vorher mit dem Generalkapitän beraten. Er gab mir Recht und sagte: Im Krieg sind
auch solche Mittel erlaubt...«
»Wie wollt Ihr denn aus einer toten Rothaut Salbe herstellen?«, fragte Juan Álvarez der
Lahme.
»Ach, das ist nicht schwer! Heilende Öle, Salben und Tinkturen kann man mit einfachen Mitteln zubereiten. Außer verschiedenen Kräutern und etwas Bienenwachs, Weingeist, Spiritus und
Honig wird dazu nur Fett benötigt – Olivenöl, Butter, Schweineschmalz oder Talg. Und weil ich
weder das eine noch das andere habe, nehme ich halt Menschenfett!«
Der Narr Cervantes rief: »Und für welche Salbe soll der Indianer sein Fett hergeben?
Gerbfett für unsere Felle?«
Der Physikus taxierte die Leiche mit Kennerblick. »Nun, der da ist wohlgenährt und fest, er
gibt Fett für verschiedene Salben«, antwortete er ernsthaft. »In einem Heer wie dem unseren gibt's
verschiedene Gebresten, die alle behandelt sein wollen. Sehr hilfreich sind Salben, die jeder Heilungsbeflissene leicht herstellen kann: Klettenwurzelsalbe, Schafgarbensalbe, Breitwegerichsalbe,
Ringelblumensalbe, Odermennigsalbe, Linsensalbe oder Nusssalbe.«
»Macht Euch nicht wichtig, Señor de Cerro.« Der Narr schaute sich herausfordernd im Kreise um. »Mich nimmt Wunder, ob Ihr überhaupt eine Ahnung habt, welche Salben bei welchen
Übeln und Leiden helfen können. Aus welchem klugen Buch habt Ihr denn Euer Wissen?«
»Gottes Buch ist die Natur. Schaut Euch um, Cervantes«, sagte der Apotheker, »wie übermüdet viele von uns nach dem mühseligen Tag sind. Manchem würde eine Einreibung mit Dillsalbe gegen seine müden Glieder helfen. Klettenwurzelsalbe ist besonders als Brandsalbe wertvoll.
Ringelblumensalbe hilft vor allem bei fressenden, faulenden Wunden und bei Beinleiden. Schafgarbensalbe heilt Brandwunden, Geschwüre und Fisteln. Nur gegen Euren Buckel ist noch kein
Kraut gewachsen!«
Lachend gingen die Männer auseinander. Der Narr war nicht sonderlich beliebt, und die
Schlagfertigkeit des Apothekers gefiel ihnen.
Um ihn her saßen die drei Samariterinnen des Heeres: Isabel Rodríguez, eine Schwester
des Büchsenspanners und Trompeters Sebastian Rodríguez, Ines Florín und La Bailadora. Sie
halfen dem Physikus mit geschickten Händen, das Menschenfett in Salbenbüchsen zu sammeln,
und waren ihm auch behilflich, die Wunden der Pferde und Menschen zu versorgen und zu verbinden.
Auf Befehl von Cortés verscharrten Lares und Domínguez noch in der Nacht die beiden getöteten Pferde. Die Kadaver dieser Fabelwesen, der menschenfressenden Hirschungeheuer, durften die Indianer nicht zu Gesicht bekommen.
Kurz vor Mitternacht kam der Narr Cervantes an einem Zelt vorbei, in dem ein Kranker laut
stöhnte. Ines Florín trat aus diesem Zelt und bat: »Helft uns, Señor. Wir brauchen jemanden, der
ihn festhält. Er hat um sich geschlagen, die Wunde ist aufgegangen... Er verblutet!«
Cervantes trat ins Zelt. Ines Florín und Isabel Rodríguez mühten sich um den sterbenden
Huiguero. Kreideweiß, mit weit aufgerissenen Augen lag der Verwundete da. Isabel Rodríguez
beschwor die Wunde. Sie murmelte:
»Ich bitte den König Jesu Christ,
der jedes Menschen Rettung ist,
so mit Vertrauen an ihn glaubt,
weil er des Satans Macht geraubt.
In seinem Namen will ich’s sagen,
will ich den Abtrünnigen verjagen:
›Blut, lege dich, nimmer rege dich‹!«
Dann hauchte sie dreimal auf die Wunden und flüsterte:
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»Es wachsen drei Lilien auf unseres Heilands Grab,
die erste heißt mild,
die zweite heißt gut,
die dritte stillt dein Blut.«
Es ist Marías Wille: Blut, steh stille!
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«
Der Sterbende phantasierte: »Morgen bin ich in Mexico...! Wär's doch schon morgen! Dort ist
ein Fluss, draus fischt man Gold mit Netzen...! Ihr müsst mit anfassen... das Netz ist schwer...
schade... zu große Maschen... alles Gold sickert heraus!«
»Er hat das Wundfieber«, flüsterte Ines Florín.
»Nein, er hat das Goldfieber!«, höhnte der Narr.
»Ich will Pater Olmedo rufen, dass er ihm die letzte Ölung gibt«, sagte Ines Florín und verließ
das Zelt. Isabel Rodríguez murmelte wieder:
»Feuer, Wasser, Luft und Erde,
schwebet her, dass Heilung werde.
Lasst eure Körper sich vereinen,
und trennt sie wieder zu gleichen Teilen.
O glückselige Wunde,
glückselige Stunde,
glückselig ist der Tag,
da Jesus Christus geboren ward.
Es ist Marías Wille: Blut, steh stille!
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«
Huiguero starrte zur Zeltdecke: »Nun ziehe ich ins Goldland! Zu spät? Wer sagt das? Als ich
nach Kuba kam, hieß es: zu spät! Kein Gold, kein Ruhm, die sieben Schiffe sind fort... Und doch
war's nicht zu spät, ich holte die Schiffe ein! Der capitán generál hat mich aufgefordert...«
»Zum Totentanz hat Cortés Euch aufgefordert. Wisst Ihr, armes Bürschchen, wer der capitán
generál ist?«, fragte der Narr und reckte seine Hühnerbrust. »Der leibhaftige Tod ist der capitán
generál! Das ist er! Ihr, Señor, eröffnet den Reigen! «
»Welchen Reigen?«, fragte der Sterbende.
»Den Reigen der dürren Klappermänner. Wir alle, alle, alle folgen Euch bald. Gold suchen,
Ruhm suchen, ei ja, Köder für dumme Karpfen! Hei, das wird eine lustige, leichtfertige Tanzerei,
ein Knicksen und Schwingen gebleichter Gebeine! Ihr seid der Vortänzer. Ihr führt den Ringelreihen an! Galant und schön gewachsen seid Ihr ja, und Narr genug wart Ihr, Euch zur hüpfenden
Narretei heranzudrängen. Welch ein Obernarr aber mag ich sein, der ich unfreiwillig und bucklig
dabei sein muss bei diesem Veitstanz!«
Ein Fußtritt von Pater Olmedo beförderte den Narren vors Zelt. Eine Stunde später war Manolo Huiguero gestorben.
*
Am nächsten Morgen – der Grabhügel über Huiguero war schon aufgeschüttet, und Pater Olmedo
hatte eine kurze Messe gelesen – wurde der Weitermarsch befohlen. Nach einer Viertelmeile meldeten die vorausgehenden indianischen Späher zwei Männer. Tehuch und Cuhextecatl kamen
verstört und jämmerlich zugerichtet dem Heer entgegen. Sie waren kaum imstande, ein Wort hervorzubringen. Was sie dann aber erzählten, versetzte die Sonnensöhne in Erregung. Sie waren
von den Tlatepoca anfangs gut behandelt worden und hatten die Botschaft und Geschenke der
weißen Götter dem Rat der Alten überbracht. Dann hatte man sie höflich gebeten, als Gäste in der
Stadt zu verweilen und die Antwort abzuwarten. Drei Tage lang hätten sie warten müssen, weil
sich der Hohe Rat zu keinem Entschluss durchringen konnte. Schließlich hatte der Hundertjährige
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Wespenring die meisten Stimmen gewonnen, und die Kriegspartei hatte gesiegt. Die Totonaken,
obgleich unverletzliche Gesandte, wurden gefangen gesetzt und sollten heute früh dem Kriegsgott
der Tlatepoca geopfert werden, wie hernach alle Christen. Doch ein unaufmerksamer Wächter
habe das Tor offen gelassen, und sie hätten fliehen können. Die Tlaxcalteken träfen Kriegsvorbereitungen. Feuersignale hätten den Rat der Alten schon von der gestrigen Schlacht unterrichtet;
Prinz Goldmaske sei beauftragt worden, mit dreißigtausend Mann den weißen Eindringlingen
entgegenzuziehen. Ein noch größeres Heer, befehligt vom Rivalen des Prinzen Goldmaske, dem
Feldherrn Pimoti, wurde soeben in Tlaxcala aktiviert.
Tehuch und Cuhextecatl nahmen ihre Federkronen ab und zeigten ihre blutende Kopfhaut.
Wie allen zum Opfer bestimmten Gefangenen war auch ihnen das Kopfhaar büschelweise ausgerissen worden. Leonel de Cerro, dem verrückten Apotheker, war Gelegenheit gegeben, seine Fettsalbe anzuwenden.
Das Heer zog durch einen dichten Eichenwald. Die Spitze der Truppe hatte gerade sein Ende erreicht, als sie sich plötzlich einem tausendköpfigen Heer der Otomis gegenübersahen. Aufgereiht und bewegungslos standen die Krieger eine halbe Meile vor ihnen und hielten kampfbereit
Schilder und Speere in Händen; nur ihr Federschmuck wogte im Wind.
»Halt!«, befahl Cortés mit erhobenem Arm. Er ließ die Soldaten hinter sich Aufstellung nehmen und durch den Notar und kaiserlichen Sekretarius Godoy eine Aufforderung an die Otomis
verlesen, die Feindseligkeiten sofort einzustellen. Feierlich trat der Sekretarius in die Mitte zwischen beide Heere, und einen Augenblick lang verhielten sich auch die Indianer still, verwundert
über sein Gehabe und gespannt, was nun folgen mochte. Im Namen des Kaisers Don Carlos –
»und vor allen hier versammelten Zeugen« – forderte Godoy sie auf, Frieden zu halten. Die Indianer verstanden keine Silbe und hielten ihn für einen Zauberer. Um seine magischen Kräfte nicht
wirksam werden zu lassen, erhoben sie plötzlich wildes Geheul, stürmten vor und überschütteten
ihn und das kastilische Heer mit Pfeilen, Speeren und Steinwürfen. Der Sekretarius rannte um sein
Leben. Da gab Cortés die Losung aus: »Mit Gott und Santiago zum Sieg!«
Hell schmetterte der Trompeter Rodríguez auf seiner lilienförmigen Kupfertrompete das Angriffssignal. Die Kastilier stürmten heran. Die Front der Otomis geriet ins Wanken. Die Indianer
zogen sich in eine Schlucht zurück, verfolgt vom kastilischen Heer. Dort lauerten dreißigtausend
Otomis und Tlatepocas. Zu spät erkannte Cortés, dass sie in einen Hinterhalt geraten waren; weder Kavallerie noch Artillerie konnten eingesetzt werden. Verhängnisvoller als die Überzahl der
Feinde war die Enge des Geländes; hier musste Mann gegen Mann kämpfen, einer gegen zehn.
Auf die Dauer würden die Spanier ihren Gegnern unterliegen. Schon sanken Soldaten blutüberströmt zu Boden. Der Reiter und Musikus Rodrigo Morón wurde aus dem Sattel gerissen; sein
Pferd wurde getötet und von den Tlatepoca weggeschleppt. Im Triumph schleppten die Tlatepoca
das tote menschenfressende Hirschungeheuer aus dem Kampfbereich, und noch am selben
Abend wollten sie es zerhackten und die Gliedmaßen dieses Wundertieres an sämtliche Städte
des Landes schicken.
Die Lage wurde kritisch. Die Totonaken wichen immer mehr zurück; ihre Führer verzagten
und glaubten nicht mehr an den Sieg. Marina hielt ihnen die Allmacht des Christengottes vor, der
die Seinen nie im Stich ließ. Sie war überall, richtete den Mut der Zweifelnden auf, wagte sich ins
dichteste Schlachtgewühl, ermahnte und feuerte an. Und wie von höherer Macht beschützt, ritzte
kein Pfeil ihr die Haut.
Da ritt Diego de Ordás an Cortés heran und rief: »Gebt mir ein Fähnlein von fünfzig Mann,
ich will den Engpass durchbrechen!«
»Ihr wollt Euch opfern, Ordás!« Cortés winkte ab. »Ein nutzloses Opfer!«
Doch Ordás bestand darauf. Cortés spürte, dass der alte Ritter die vielleicht letzte Chance
wahrnehmen wollte.
»Gut!«, rief er. »In Gottes Namen, nehmt sie Euch!« Und nach rückwärts gewandt rief er:
»Freiwillige zu Ordás! Sechzig Mann! Pikeniere mit Langspießen und im Harnisch!«
Das Wunder geschah: Unter Führung des Ordás schritt der Pulk – gestaffelt, die Lanzen gefällt und von Schilden verdeckt – unaufhaltsam gegen die Verteidiger der Schlucht vor. In doppelter
Halbmondformation drangen sie vor den Bergeinschnitt, formierten sich dort gekonnt mit einer
Zangenbewegung zum pikenstacheligen Verteidigungskarree und drangen – furchterregend laut
stampfend – immer tiefer in die Schlucht und gegen die Verteidiger vor. Ein neuer Pfeilhagel der
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Tlatepoca und Otomis versuchte sie aufzuhalten. Einige der Vorwärtsdrängenden wurden an Arm
oder Bein getroffen und strauchelten, aber das laute Klirren der an Harnisch und Helm abprallenden Pfeile verunsicherten die Indianer. Der krachende Widerhall stampfender Gleichschritte versetzte die vordersten Gegner in Panik, und immer weiter marschierten die kampferprobten spanischen Soldaten vorwärts, erreichten bald die Verteidiger. Lanzen drangen in Fleisch; die Pikeniere
stießen dabei animalische Schreie aus; Gefallene sanken dahin, schrien, stöhnten, röchelten.
Wieder stießen die Lanzen zu, wieder und wieder. Da machte sich Mutlosigkeit unter den Indianern breit. Sie wichen, drängten zurück, flohen durch den Engpass.
Die Azteken griffen die Spanier immer wieder an. Angeführt von einem Offizier, der ein Schild mit dem roten
Kreuz des Ordens von Santiago de Compostela trägt – möglicherweise Cortés selber –, erkämpfen sich die erschöpften Conquistadoren ihren Weg aus einem Hinterhalt (American Heritage Publishing).
Der Durchbruch war gelungen! Die Tlatepoca und Otomis wurden von Ordás und seinen
Leuten unter Vivat- und Victoria-Rufen verfolgt. Das übrige Christenheer drängte nach in die Tiefe
der Schlucht, die sich schon nach kaum einer Meile zur trichterförmigen Öffnung weitete, und bald
lag eine ausgedehnte Ebene vor ihnen. Hier war die Artillerie nicht mehr zur Untätigkeit verdammt,
hier konnte die Kavallerie eine Attacke reiten, hier konnten die Fußsoldaten einen Wald von Hellebarden aufpflanzen. Schnell und mit Umsicht nutzte Cortés sämtliche Vorteile des Geländes, gruppierte seine kleine Armee neu und ließ den Trompeter Rodríguez sein lilienförmiges Kupferinstrument erschallen:
»Mit Gott und Santiago zum Sieg!«
Ein neuer Angriff begann. Das Kriegsgeschrei der Indianer wurde nun vom Donnern der Geschütze übertönt. Die Kugeln der Singenden Nachtigall mähten Hunderte von Tlaxcalteken nieder.
Als geschlossene Abteilung sprengten die Reiter mit angelegten Speeren ins Gewühl, überrannten, zerstampften, rissen Breschen in die feindlichen Reihen. Nach kurzem, wütendem Kampf war
die Schlacht entschieden. Trotz zehnfacher Übermacht brach der Widerstand des Feindes. Die
Indianer zogen sich eilig zurück. Cortés ließ zum Sieg blasen und untersagte die Verfolgung; seine
Leute hatten kaum noch Kraftreserven.
Der Jubel der Sieger war groß. In das freudige Geschmetter der Trompete (Sebastián
Rodríguez blies sich fast die Lunge aus) sowie der Muschelhörner und Holzpauken der Totonaken
mischten sich christliche Choräle und triumphierende Siegeslieder der rothäutigen Bundesgenossen. Die Soldaten umarmten sich, weinten und lachten vor Glück, noch einmal davongekommen
zu sein. Sie hoben Ordás auf ihre Schilde, denn seinem Wagemut war der Durchbruch und damit
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der Sieg zu verdanken. Dann trugen sie johlend Cortés durchs Lager. Auch die schöne Amazone
María de Estrada wurde gefeiert, weil sie so zielsicher ihre Lanze eingesetzt hatte. Ihr Gatte, der
Schönhändige, verging fast vor Stolz über solch ein Weib! Der Kriegshäuptling Tehuch schritt mit
verbundenem Schädel durch die Reihen der Totonaken und wusste nicht genug des Lobes über
Marina zu sagen, denn als alle zweifelten, hatte sie ihm geweissagt, dass der Christengott die Seinen nicht im Stich ließe. Auf Vorschlag der Totonaken wurde zu guter Letzt auch Doña Marina, La
Lengua, auf das Schilderdach gehoben und feierlich umhergetragen.
Unweit des Schlachtfeldes ragte aus der Ebene ein Hügel empor, der einen weiten Blick ins
Land gewährte und sich gut zur Verteidigung eignete. Dort, unterhalb des Hügels, ließ Cortés das
Nachtlager aufschlagen. Um seine Leute bei Stimmung zu halten, stiftete er das letzte Fass Alicante. Mundvorräte zu verteilen gab es nicht mehr; schon seit zwei Tagen hungerte das Heer.
Gegen Abend und trotz der Müdigkeit streiften Cortés, Alvarado, Luis Marín, Olíd,
Domínguez und Lares auf der Suche nach Proviant umher. Sie fanden nur ein leeres Dorf. Die
Reiter brachten nicht viel von ihrem Ausritt heim. Außer Maiskuchen und einer Anzahl Truthennen
nur noch einige essbare, gut gemästete Hunde. Wütend vor Enttäuschung ließ er mehrere Dörfer
niederbrennen. Cortés würde später seinem Schreiber Francisco López de Gómera für den Kaiser
diktieren:
»Wir überfielen zwei Dörfer, wo ich viele naturales tötete, und später noch ein drittes Dorf,
das, wie ich später erfuhr, mehrere tausend Einwohner hatte. Das Volk darin lief ohne Wehr und
Waffen aus den Häusern heraus, die Weiber und Kinder nackt, alles durcheinander. Anfangs
machten wir viele nieder, doch als ich sah, dass sie keinen Widerstand leisteten, kamen schon
einige der Ältesten des Dorfes zu mir und baten mich demütig, ich solle ihnen keinen Schaden
mehr antun. Sie wollen sich Eurer Majestät ergeben und meine guten Freunde sein...«
Im Lager waren inzwischen die Verwundeten versorgt worden. Ines Florín musste manchen
Verband anlegen, Isabel Rodríguez wurde nicht müde, Wundsegen zu sprechen, und La Bailadora
half beim Samariterdienst. Kaum ein Soldat, der ohne Pfeilwunde oder Speerstich davongekommen war. Schweißtriefend erklärte der verrückte Physikus, er wisse nicht, wo ihm der Kopf stehe,
er werde noch wahnsinnig, denn schon ginge ihm das Indianerschmalz aus! Doch von dem Apotheker abgesehen klagte niemand. Selbst die Schwerverwundeten bemühten sich, ihr Stöhnen zu
unterdrücken. Und die anderen, nachdem sie sich hatten verbinden lassen, sangen Seguidillas
und Cantarcillos oder würfelten am Wachtfeuer um ihr Glück. Die Kost war schmal; dafür gab es
Gesang und Tanz. Bis in die Morgenstunden wurde der Sieg gefeiert, und das Lärmen der Tamburine und Kastagnetten verstummte die ganze Nacht nicht. Der Bergmann und Tanzmeister Ortiz,
der Musikus Morón, dessen Pferd von den Tlatepoca zerstückelt worden war, und Meister Pedro
de la harpa, überboten einander auf ihren wimmernden Gitarren und erfüllten die Nacht mit heimatlichen Melodien. Flores, des rothaarigen Sängers Stimme rollte beschwörend. La Bailadora wurde
verlangt und erschien, mit Messingscheibchen behängt, in kurzem, kaum bis zu den Knien reichenden Flitterröckchen und einem unterhalb der Brüste straff geschnürten Mieder. Mit nackten
Schenkeln tanzte sie wie ein Engel Fra Angelicos. Der junge Fähnrich Antonio Villareal drehte sich
dazu zierlich mit der olivenbleichen Isabel de Ojeda im Kreise. Heute, endlich, war sie seine Braut!
Als nämlich Diego de Ordás von den Soldaten auf den Schild gehoben worden war, eilte sein
Mündel, Isabel de Ojeda, zu ihm und beglückwünschte ihn. Mit Wehmut sah er sie an und sagte:
»Den Engpass habe ich gewonnen, aber Euch verloren, Doña Isabel!«
»Wie meint Ihr das?«, fragte sie.
»Nun so. Als ich auf den Flaschenhals zustürmte, tat ich ein Gelübde. Wie Abraham, der
seinen Sohn opferte, wollte ich...« Ordás verstummte verlegen.
»Ihr wollt mich doch nicht opfern?«, fragte sie lächelnd. »Und wenn, so hoffe ich, dass Ihr mir
Zeit lassen werdet, mein Mädchentum zu beweinen.«
»Fragt Villareal, ob er Euch Zeit dazu lässt!«, sagte der alte Ritter grimmig und fügte hinzu:
»Wenn ich hier davonkomme, zahle ich Euch die Aussteuer, Isabel. Villareal ist ein eitler Mensch –
doch Ihr liebt ihn, das weiß ich!«
Und Ordás winkte Villareal heran, der sich wie meist in Isabels Nähe herumdrückte. Er legte
ihre Hände ineinander.
»Sie ist erst siebzehn, Fähnrich!«, sagte er mit knarrender Stimme. »Gebt ihr Zeit, ihr
Mädchentum zu beweinen!«
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*
Während das Heer seinen Sieg feierte, ließ Cortés mehrere tlaxcaltekische Gefangene verhören.
Doch die Krieger blieben stumm und starrten bei Marinas oder Jerónimo de Aguilárs Fragen in die
Ferne; einige spuckten sogar vor ihnen aus. Cortés befahl, sie zu foltern und ließ den Profos Pero
Osorio kommen. Der Stockmeister des Heeres war ein früherer Matrose mit buschigen, über der
Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen und breitem schwarzem Bart. Er hatte sich
seinerzeit freiwillig zu diesem Amt gemeldet. So wie es in jeder Armee strafbare Übertretungen
gibt, so notwendig ist der Vollzug der Urteile. Pero Osorio machte sich keine großen Gedanken
darüber. Er hatte im Lager von Veracruz dem Büttel Escudero und dem Steuermann Cermeño auf
den Galgen geholfen und dem Gonzalo de Umbría die Füße abgehauen. Und manchmal muss
man auch zur Folter greifen; schließlich braucht man die Informationen der Verbrecher. So fehlte
es ihm nicht an Folterwerkzeugen: Daumenschrauben, Pechlöffel, spanische Stiefel, Zungenreißer, Halseisen und Brandmaleisen, Ketten und Henkersstricke konnten auch in einem Heerzug
mitgeführt werden.
Während der Folterung standen Aguilár und Marina neben ihm. Marina war eine barmherzige Schwester, die einer Amputation beiwohnt. Sie hatte starke Nerven und litt nicht mit den Opfern, denn das Furchtbare, das sie mit ansah, geschah zum Segen ihres Volkes und auf Wunsch
ihres Gottes. Ihr Gott, der Heilbringer Cortés, wünschte Antworten auf die Fragen, die sie und
Aguilár an die Gefolterten stellten: Wie viele Otomis, wie viele Tlatepoca kämpften gegen die Spanier in dieser Schlacht? Wer sind ihre Anführer? Wie viel Mann kann Tlaxcala aufstellen? Warum
haben die Tlatepoca zwei seiner Sendboten auf dem Opfertisch geschlachtet? und dergleichen
Fragen mehr.
Zwei der Gefolterten starben mit Hohnworten auf den Lippen. Die anderen widerstanden
lange; doch als ihre Kraft und der Trotz erlahmten, redeten sie und verrieten ihre Heimat, um der
Qual endlich ein Ende zu machen.
Beglückt überbrachte Marina ihre Aussagen dem Cortés, während Aguilár ein Vaterunser
sprach und Osorio die Gefangenen erwürgte.
*
Die Prinzen des Königshauses hatten sich vor der Felsenskulptur in Chapultepec versammelt.
Auch Moctezuma wurde mit seinen Krüppeln, Narren und den Würdenträgern erwartet, war aber
noch nicht eingetroffen. Da trat Prinzessin Maisblume hinzu. Sie war in einen bis an die bloßen
Schenkel reichenden Lederpanzer gekleidet, und ihre Stirn schmückte eine Federkrone, wie sie
beim Ballspiel getragen wurde. Sie hatte geschmeidige Lederhandschuhe an, die auch den Unterarm bis an den Ellenbogen bedeckten. In den Händen hielt sie zwei Kautschukbälle und zwei polierte Gesichtsmasken aus schwarzem Lavagestein.
Heiter ging sie auf ihren Bruder zu, den Von-Göttern-Beschirmten, reichte ihm einen Ball und
eine Gesichtsmaske und forderte ihn auf, mit ihr Ball zu spielen. Er solle als Erster mit ihr spielen,
sagte sie, denn sie habe vor, mit allen Prinzen der Reihe nach zu spielen. Das war den jungen
Männern recht. Die Sänfte des Königs war noch nicht auf dem Lagunendamm zu sehen; also war
noch Zeit. Alle folgten der Prinzessin in das kleine Ballspielhaus auf der obersten Terrasse des
Felsengartens.
Der Schönling Xoctemecl-Purpurkranich, der diensteifrige, allzu gefällige Gefährte des VonGöttern-Beschirmten mit der abgeschnittenen Nase, war diesem behilflich, die Rüstung des Ballspieles anzulegen. Als der Prinz sich seiner Kleidungsstücke entledigt, den Lederpanzer aber noch
nicht angelegt hatte, stand plötzlich Maisblume bei ihm und fragte, um welchen Preis sie spielen
wollten. Und während sie dies fragte, entdeckte sie an seinem Schlüsselbein den gelbroten Abdruck von fünf Fingern.
Er war es! Ihr Bruder hatte sie vergewaltigt!
Der Erdboden schien unter ihr zu versinken. Sie glaubte zu taumeln. Doch sie behielt sich in
der Gewalt. Selbst ihre Augen verrieten nicht den Sturm, der in ihr tobte. Noch immer lächelnd,
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verließ sie das Ballspielhaus und sagte, sie ginge jetzt den Preis des Spieles holen und werde bald
zurück sein. Die Prinzen warteten und vertrieben sich mit Albereien und Scherzen die Zeit. Allmählich aber wunderten sie sich, dass die Prinzessin nicht zurückkehrte.
Für Maisblume war die Welt zusammengebrochen. Wie durch Nebel sah sie das kluge Antlitz des alten Zauberers und hörte seine Worte. Sein erster Rat hatte ihr zur Aufklärung des Rätsels verholfen. Nun wollte sie auch seinen zweiten Rat befolgen. »Vollbringe eine Schreckenstat,
um der Welt deine Unschuld zu zeigen!«, hatte er gesagt. Unerhörtes war ihr geschehen, nur Unerhörtes konnte sie reinwaschen.
In ihrem Schlafgemach entnahm sie einem Edelsteinkästchen sämtliche Kleinodien. Dann
wählte sie unter ihren Obsidianmessern das schärfste und öffnete das Lederwams. Mit sicherem
Griff hielt sie ihre linke Brust und schnitt sie mit einer schnellen Bewegung ab. Schnell legte sie
das weiße, blutige Fleisch in das Edelsteinkästchen und schloss den Deckel.
Blutbesudelt wankte sie zur Tür und rief ihre Frauen. Bevor ihr die Sinne schwanden, befahl
sie einer Sklavin, das Edelsteinkästchen ihrem Bruder zu bringen, dem Von-Göttern-Beschirmten.
»Sage ihm«, hauchte sie, »ich lasse ihm ausrichten: ›Da dir mein Leib so süß war, nimm
auch dies!‹«
*
In der Seele Moctezumas war die Sorge nicht verstummt. Ein Eilbote aus dem Roten Berg hatte
berichtet: »Der Grüne Stein besitzt eine magische Dose. Wenn er hineinsieht, sagt sie ihm, was
die Menschen denken und warnt ihn vor falschen Wegen nach Tenochtitlán!« Und auch vom Küstenland war eine Nachricht eingetroffen. Die Eroberer hätten in Cempoala Götterbildnisse und Opferblutschalen zertrümmert und von den Plattformen der Tempel hinuntergestürzt. Sind das die
Zeichen der Zeit? Inzwischen dringen die mächtigen Fremden gegen Tlaxcala vor! Wer sind sie?
Noch immer war es nicht sicher, ob sie Sterbliche oder Himmlische sind. Doch es hat Tote gegeben; die bärtigen Krieger sind offensichtlich nicht unsterblich. Und ihr Anführer? Götter können
auch in den Leib eines Menschen fahren und ihn beseelen. Der Grüne Stein berichte überall von
seinem Herrn, einem mächtigen Herrscher jenseits des Ostmeeres, dem alle Länder dort tributpflichtig seien. Was kann er, Moctezuma, tun? Soll er seine Heere gegen die Eindringlinge aufbieten? Noch ist vieles unklar, noch muss er abwarten.
Und damit nicht genug! Eine weitere, fast noch schlimmere Neuigkeit wartete auf den König.
Gleich nach seiner Ankunft auf dem Schloss von Chapultepec war sein Sohn, der Von-GötternBeschirmte, vor ihn hingetreten und hatte ihm weinend das Edelsteinkästchen hingehalten. Der
Prinz klagte sich an, erzählte, dass er seiner Schwester Gewalt angetan habe und öffnete das
Edelsteinkästchen. Und Moctezuma sah die blutige Brust seiner Tochter.
Nun erst begriff er alles. Die Götterbilder stürzten und rissen Mexico mit in die Tiefe. Mit beiden Händen bedeckte er sein Gesicht. Sein Zorn erlahmte an seinem Schmerz. Die Pfeile der
Himmlischen hatten sein Herz durchbohrt. Den schluchzenden Knaben, der um Sühne und Tod
winselte, ließ er am Leben. Aber er befahl den Priestern, die Ehe der Verführten und ihres Verführers zu heiligen, noch am selben Tag. Und er bestimmte, dass seine zweitälteste Tochter Königin
von Tezcoco werden solle. Nur einen Tag später heiratete der Edle Betrübte die Prinzessin Goldkolibri, doch der hatte den Hort von Tezcoco Maisblume zuliebe nach Mexico gebracht.
*
Cortés saß mit dem Astrologen Botello in seinem Zelt. Von draußen hörte man das Siegesfest der
Soldaten, doch die beiden Männer erörterten überirdische Dinge, redeten von Elongationen, Quadraturen, sphärischen Dreiecken und Himmelszeichen, von Konjunktionen, Oppositionen und
Ephemeriden. Als Marina eintrat, erhob sich der alte Italiener, setzte seinen schwarzen Spitzhut
auf und verließ mit bedächtigen Schritten das Zelt. Auf dem Tisch lagen Papiere mit geheimnisvollen Zeichen und Sternkonstellationen. Ein Öllämpchen schwelte und gab trüben Schein. Noch trüber, das spürte Marina, war die Stimmung des Geliebten. Sie erstattete Bericht über die Aussagen
der Gefolterten. Cortés nickte.
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»Das nächste Mal werden es also mehr als sechzigtausend sein!«, murmelte er.
»Und wieder wird der Christengott siegen!«, rief sie zuversichtlich. »Was hat der Sterndeuter
verkündet?«
»Gutes«, sagte Cortés einsilbig.
»Und dennoch...?«, fragte sie.
»Und dennoch erdrückt mich die Verantwortung. Aber das wissen nur du, ich und Gott«, sagte er und streichelte ihr über das blauschwarze Haar. Eine Weile schwiegen sie. Laut drang der
Lärm der Tanzenden von draußen herein.
»Die dort wissen nichts!«, fuhr er fort. »Sie mögen sorglos sein... sie können tanzen... sie
kreisen umher wie die unbeeindruckten Sterne, die mir Gutes, allzu Gutes wahrsagen.«
»Warum allzu Gutes?«, fragte Marina.
»Schlimmes kann man fürchten, Gutes erhoffen. Doch auf mein Gewissen:
An allzu Gutes wagt man nicht zu glauben. Ich bewundere diese tapferen
Tlatepoca, dass sie aber meine Freunde werden sollen, wie Botello sagt – das
kann ich nicht glauben.«
»O Don Hernándo, Ihr wisst selbst noch nicht, wer Ihr seid! Aber ich weiß
es«, sagte Marina und küsste ihm die Falten von der Stirn.
Botello Puerto de Plata,
Astrologe in Cortés' Heer
*
Zwei Tage später kam es zur Entscheidungsschlacht. Die Sterne hatten wahr gesprochen, Botello
hat sie richtig gedeutet. Unerhört war der Sieg, unerhört aber auch das Glück des großen Abenteurers. Die Niederlage Tlaxcalas wurde durch Weißer Sommervogel verursacht, die schöne Knäbin.
Und das kam so:
Die Heere des Feldherrn Lanzenträger und des Prinzen Goldmaske hatten sich zur Verteidigung des Reiches vereinigt. Im Krieg gegen die weißen Eindringlinge sollte aller Zwist zurückstehen. Aber Gefühle und Leidenschaften sind oft stärker als Vernunft. Goldmaske war zu Ohren gekommen, dass Pimoti den Hermaphroditen in seinem Zelte beherberge. Goldmaske forderte von
seinem Nebenbuhler, dass der ihm Weißer Sommervogel unverzüglich ausliefere. Der Lanzenträger verweigerte das höhnisch. Inzwischen hatten schon Geplänkel mit der Vorhut des Christenheers begonnen, und bald tobte die Schlacht. Pimoti befehligte seine Streitmacht an der Front. Da
ließ Prinz Goldmaske das Zelt Pimotis umstellen, Weißer Sommervogel herausholen und zu sich
in sein Zelt bringen. Pimoti wurde von seinen Wächtern unterrichtet, dass ihm Weißer Sommervogel geraubt wurde. Darauf verließ Pimoti mit seinen vierzigtausend Kriegern das Schlachtfeld. Der
Abzug des größeren Heeresteils entmutigte die Zurückbleibenden. Die Kartaunen und Falkonetten
rissen mörderische Lücken in ihre Reihen. Als Alvarado und Sandoval den linken Flügel der
Tlatepoca umgehen konnten und ihnen mit hundert Mann in den Rücken fielen, war kein Halten
mehr. Die Tlaxcalteken und Otomis flohen zurück in die Stadt.
Prinz Goldmaske musste sich vor dem Hohen Rat Tlaxcalas rechtfertigten, dabei schob er
alle Schuld auf die Verräterei des Lanzenträgers und erbot sich, die Scharte wieder auszuwetzen.
Doch der Rat der Alten hatte den Glauben an den Sieg und die Kriegskunst von Goldmaske und
Pimoti verloren. Er wollte das Orakel der Priester befragen, ob die Fremden vielleicht doch Götter
seien. Denn gegen Götter zu kämpfen wäre aussichtslos!
Die Priester zogen sich ins innere Heiligtum des großen Tempels zurück, um nach Stunden
zu verkünden:
»Die weißen Männer sind keine Götter! Doch sind sie Söhne der Sonne und schöpfen ihre
Kraft aus dem Sonnenlicht; daher lassen sie sich nur bei Mondlicht besiegen.«
Der Orakelspruch war voller Widersprüche. Denn Kämpfe bei Nacht waren bei den Völkern
Anahuacs seit alters her von den Göttern untersagt – und nun rieten sie dazu! Prinz Goldmaske
trat mit Leidenschaft dafür ein, den Rat zu befolgen. Auch sein hundertjähriger Großvater Wespenring und dessen Partei stimmten dafür, die Standarte des Freistaates, den goldenen Adler mit den
ausgebreiteten Flügeln, noch einmal zum Sieg zu tragen.
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Umsonst warnte Wollring:
»Noch mehr Blut wird fließen, und es wird uns nichts nützen. Wir alle werden an der Blutschuld tragen, gegen den Himmel kämpfen zu wollen. Wenn unsere Krieger, unsere tapferen Söhne und Enkel, wenn die Blüte Tlaxcalas dahingemäht ist, werdet ihr beklagen, dass ihr nicht schon
früher auf meine Worte gehört habt!«
Doch die Abstimmung zeigte, dass die Partei Wespenrings sich durchsetzen konnte.
Sofort nach der Sitzung verließ Prinz Goldmaske die Hauptstadt, um den nächtlichen Überfall vorzubereiten.
Auf diesem Stich in der phantastischen Manier
des ausgehenden 18. Jahrhunderts lauschen die
Kaziken von Tlascala den Kriegern, die Cortez
gefangengenommen, aber wieder freigelassen
hatte, damit sie seineFriedensvorschläge in die
Stadt brächten.
*
In der Politik zählt nicht der Plan, sondern nur das
Ergebnis! Schon am nächsten Tag bekam Wollring
die Genugtuung, dass Wespenring und seine Anhänger ihren Beschluss umstoßen mussten. Ein unerwarteter Gast war in Tlaxcala eingetroffen. Was er
zu sagen hatte, war Grund genug, mit den Söhnen
der Sonne Frieden zu schließen. Der große
Otomiheld, der Geschliffene Obsidian, der dem Tod
geweihte Kriegsgefangene der Mexica, war von
Moctezuma in seine Berge und Täler mit dem Auftrag heimgeschickt worden, Tlaxcala zum Kampf gegen die weißen Götter aufzustacheln.
Vollzählig saß der Rat der Alten auf den Staatssesseln, um den berühmten, betrauerten und
geschmähten großen Sohn Tlaxcalas anzuhören, der nun als Führer einer Gesandtschaft
Moctezumas in die Stadt gekommen war. Als er mit seinem stolzen mexicanischen Gefolge in den
Saal trat, wurde er kühl begrüßt. Man wusste nur zu gut, dass er als Vorsteher des Hauses der
Speere in Guatemala, Nicaragua und Yucatán mexicanische Truppen befehligt hatte, wusste auch,
dass er ein Günstling des Zornigen Herrn war. Der Geschliffene Obsidian war ein Landesverräter,
der sich beim Erzfeind eingeschmeichelt, dabei Feldherrnrang und Reichtümer errungen hatte.
Seine Worte gaben seinen Verächtern Recht. Gekleidet als Mexica, sprach er als Mexica
und zeigte kein Schuldbewusstsein. Wörtlich wiederholte der Geschliffene Obsidian die Rede des
Zornigen Herrn und erzählte schlicht, wie Moctezuma, besorgt nach den drei Niederlagen der
Tlaxcalteken, ihm befohlen habe, den Hohen Rat zu ermahnen, im Kampfe gegen die weißen
Männer nicht nachzulassen. Als Belohnung stellte Moctezuma die Beendigung des Sechzigjährigen Krieges in Aussicht.
Einige schleuderten ihm das Wort »Verräter« entgegen. Der Geschliffene Obsidian blieb unbeeindruckt. Er sagte, das seien Moctezumas Worte. Er aber, der Geschliffene Obsidian, warne
den Hohen Rat, dem Willen des Erzfeindes nachzugeben. »Die Füchse sind klüger als der Wolf«,
rief er, »sie erkennen am Wunsch des Wolfs, was gut für sie ist!«
»Hört nicht auf den Knecht Moctezumas!«, rief ein Anhänger der Kriegspartei.
»Man kann das Gesicht eines Menschen kennen, aber seine Gedanken nicht! Ich bin kein
Knecht Moctezumas, ich bin sein Gefangener! Wenn ich für ihn Krieg in den Ländern des Südens
führte, dann auch, um sein Vertrauen zu gewinnen.«
»Und warum bist du jetzt hier? Um uns Moctezumas Willen aufzuzwingen und sein Reich auf
Tlaxcala auszudehnen?«
»Niemand liebt sein Vaterland, weil es groß ist, sondern weil es das Seine ist. Nur wenn ich
Moctezumas Vertrauen genieße, kann ich für Euch eintreten. Hört auf mich!« Und er richtete sich
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empor und fuhr fort: »Verräter nennt ihr mich, weil ich Moctezuma verrate und mein Volk zu retten
trachte? O ihr mächtigen Väter, ihr edlen Herren, nie wieder werdet ihr Freunde finden wie die
weißen Krieger, nie wieder solche Bundesgenossen, vor denen der König Mexicos zittert. Mit ihnen werdet ihr unbesiegbar sein, mit ihnen könnt ihr die Stadt inmitten des Sees in Trümmer sinken lassen!«
Jäh trat ein Umschwung ein. Er riss die Versammlung mit. Die Wirkung dieser Worte war unbeschreiblich. Alle gegnerischen Stimmen verstummten. Der Geschliffene Obsidian wurde vom
Rat der Alten mit dem Ehrentitel Retter Tlaxcalas bedacht. Die mexicanischen Begleiter des Scharfen Obsidians verließen daraufhin finsteren Gesichts den Saal.
Zwei Abgesandte des Hohen Rates von Tlaxcala wurden ins Feldlager des Prinzen Goldmaske geschickt, mit dem Befehl, den Überfall zu unterlassen. Sie unterrichteten ihn vom Verlauf
der Sitzung, vom überwältigenden Eindruck der Rede des Scharfen Obsidians und vom Beschluss
des Rats, Frieden und Bundesgenossenschaft mit den Söhnen der Sonne zu schließen. Man wolle
sie in der Hauptstadt festlich empfangen und ihnen adelige Töchter des Landes zu Gemahlinnen
geben.
Prinz Goldmaske lachte wild. »Muss auch meine schöne Schwester eine Hündin der Weißen
werden?«
Die Abgesandten erwiderten verlegen, der Rat der Alten werde gewiss Sorge dafür tragen,
dass Prinzessin Rabenblume den vornehmsten der Sonnensöhne zum Gemahl erhalte. Da schlug
die unbändige Heiterkeit des Prinzen in Raserei um. Er ließ die beiden Boten des Hohen Rates
gefangen nehmen und betrieb eifriger als zuvor die Vorbereitungen für den nächtlichen Überfall.
*
In den Tropen haben Tag und Nacht nahezu zwölf Stunden; nach Sonnenuntergang sank rasch
die Nacht herein. Gegen neun Uhr abends schwamm die rotgelbe Kugel des aufsteigenden Vollmonds über der Gletscherkuppe des großen Vulkans von Tlaxcala. Die Ebene lag weiß im Bodennebel. Noch immer befand sich das Christenlager unterhalb des Opfertempels. Cortés hatte die
Wachen verdoppelt.
Einer der Posten, der Armbrustschütze Juan Soares, das Auge des Heeres genannt, bemerkte im reflektierenden Nebelgrau einen Schatten. Soares kniff die Augen zusammen und kauerte unbewegt. Dann erkannte er einen heranschleichenden Indianer. Er ließ ihn auf Schussweite
herankommen und legte die Muskete an. Aber auch die Rothaut hatte gute Augen und machte ihm
Zeichen. Gleich darauf erkannte Soares, dass es eine Indianerin war. Sie war aufgestanden und
kam auf ihn zu. Willig ließ sie sich von ihm gefangen nehmen; Waffen hatte sie keine.
Sie mochte dreißig Jahre alt sein und trug die Haartracht und Kleidung der Süßduftenden,
der indianischen Huren.
»Führt mich zu Eurem General«, stammelte sie auf Spanisch.
Soares starrte sie an. »Ihr redet Spanisch, Señora?«, fragte er.
»Ja. Schnell... zum General!... Wichtig!... Sehr wichtig!«, stammelte sie.
Soares führte sie durch das Lager. Soldaten, die in Gruppen herumlungerten, stellten obszöne Betrachtungen über das Indianerweib an und riefen ihr Anzüglichkeiten nach. Doch einer, der
alte Domenico Mejía Hinojora, der Enkel der Räuberin Mejía, stieß einen Schrei des Erkennens
aus:
»Doña Elvira! Madre de Dio! Ihr?«
Sie blieb stehen, starrte ihm ins Gesicht. Plötzlich erkannte sie ihn. »Hinojora!«, flüsterte sie
und klammerte sich an seinen Arm.
Nahebei saß der Büchsenspanner Santisteban und versah Pfeilschäfte mit Flugfedern.
Hinojora rief: »Santisteban! Schaut her, Doña Elvira ist wieder da!«
Kaum hatte Santisteban sie erblickt, stürzte er auf sie zu, küsste ihre Hände und schluchzte.
Sie war ja eine der wenigen Überlebenden des Blutbades von Matanzas auf Kuba.
»Mein Gott«, rief er aus, »zehn Jahre ist es her! Wir hielten Euch für tot.«
Damals war ein Sklavensegler gestrandet. Indianer, vom Unglück angelockt, wollten die
dreißig weißen Schiffbrüchigen über den Fluss setzen, machten die Wehrlosen jedoch nieder und
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ließen nur zwei Frauen und drei Männer am Leben – Hinojora, Santisteban und Lope Cano. Doña
Elvira, des Schönhändigen Gattin, lebte ein Jahr lang als Nebenfrau bei einem Karaibenhäuptling
und wurde dann aufs Festland verkauft.
»Lebt Cano?«, fragte sie weinend.
Der alte Santisteban wurde verlegen; er stand dem Konflikt hilflos gegenüber. Hinojora war
weniger zartfühlend: »Ja, Señora, Cano lebt. Er ist hier. Ich will Euch zu ihm führen!«
Ein Zittern ging durch ihren Körper. Sie nahm seinen Arm, war von der guten Nachricht erschreckt; sie hatte eine andere Antwort erwartet und rief nun ängstlich: »Nein! Später!« Und zu
Soares gewandt, sagte sie: »Zum caudillo!... Schnell!... Wichtiges...!«
Soares führte sie zu Cortés.
Der Generalkapitän litt seit zwei Tagen an Fieber. Die Malaria hatte ihn gepackt. Die Mittel
des verrückten Apothekers Leonel de Cerro brachten nicht viel Erleichterung; mit eisernem Willen
zwang Cortés seinen kranken Leib zum Gehorsam. Seit dem Sieg hatte er schon mehrere Rekognoszierungsritte unternommen, hatte Boten abgefertigt und Boten empfangen, hatte sogar den
erneuten Versuch einer Meuterei in seinem Heer durch kluge Vorkehrungen im Keim erstickt –
kurz, es fehlte ihm an der Zeit, krank zu sein. Auch war ihm nicht verborgen geblieben, dass sich
das zersprengte Tlaxcaltekenheer wieder sammelte und näherrückte. Daraufhin hatte Cortés einen
Boten mit Friedensvorschlägen (einen vom Sekretarius Godoy geschriebenen Brief) an Prinz
Goldmaske gesandt und war bald in Begleitung einer Gesandtschaft des Prinzen zurückgekehrt.
Statt auf das Friedensangebot einzugehen, hatten die Gesandten dreihundert Truthühner und
zweihundert Körbe mit Maiskuchen gebracht. Sie ließen über Marina ausrichten, dies sei kein
Friedensgeschenk. Und auf die Gegenfrage hatten sie geantwortet: »Prinz Goldmaske weiß, dass
die Söhne der Sonne hungern. Sein Herz wünscht, dass sie gut genährt auf den Tempelhöfen
Tlaxcalas tanzen sollen, bevor wir ihre Edelsteine Huitzilopochtli opfern. Darum schickt er diese
Speisen.« Da sie Hunger litten, wurden die Truthühner rasch gegessen. Mit vollem Bauch sah die
Welt schon wieder besser aus, und viele Soldaten waren der Meinung, dass sie es den Rothäuten
schon noch zeigen würden.
Das Geschenk aber hatte die Mutlosen unter ihnen noch mutloser, die Aufsässigen noch
aufsässiger gemacht. Schon länger waren viele der Soldaten verunsichert. Als Abenteurer hatten
sie davon geträumt, das Eldorado zu finden, das Goldland; mit Schätzen beladen wollten sie heim
nach Andalusien, Kastilien, Navarra, vielleicht auch nach Kuba oder in eine der neuen hispanischen Kolonien ziehen. Von einer Hazienda hatten sie geträumt, mit Sklaven und Dienerschaft,
und von schönen Frauen (denen sie reichen Schmuck zu Füßen legen konnten und die dafür ihnen zu Füßen liegen würden!). Und was hatten sie gefunden? Steine, Hunger und Elend! Krieg
und eine unübersehbare Übermacht feindlicher naturales bedrohte sie. Seit Pedro de la harpa, als
er mit den Leuten des Garay gefangen worden war, die Nachricht von den dreizehnhundert Mann
und den achtzehn Schiffen des Statthalters von Kuba, Don Diego de Velásquez, verbreitet hatte,
die ihnen unter dem Oberbefehl seines Neffen Pánfilo de Narváez in den Rücken fallen sollten, seit
der stolze Fürst des Roten Berges, der Mächtige Felsen, ein überwältigendes Bild vom Reichtum
und der märchenhaften Macht Moctezumas entworfen und die Uneinnehmbarkeit der Stadt Tenochtitlán-Mexico geschildert hatte, vor allem auch, seit die drei siegreichen Gefechte gezeigt hatten, wie schwer Siege über diese Völker zu erringen waren – hob die Rebellion wieder ihr Haupt.
Abenteuerliches war geglückt, doch eine Fortsetzung des Abenteuers erschien vielen wie eine
frevelhafte Herausforderung des Schicksals. Die heimlichen Gegner des Generalkapitäns machten
ihrem Unmut Luft; nicht nur im Flüsterton. Der bucklige Narr Cervantes fand willige Zuhörer, wenn
er groteske Tänze vollführte und vom liebreizenden Reigen sang, den alle (ja, sie alle!) auf den
Plattformen der Opfertempel bald würden singen und tanzen müssen.
Cortés war kaum überrascht, als ein großer Teil des Heeres den sofortigen Rückzug an die
Küste verlangte. Er beriet sich mit Velásquez de León und Alvarado, den treusten seiner Mitstreiter.
»Ich glaube es nicht«, rief Cortés erregt.
»Don Hernándo, einst stand ich gegen Euch«, sagte Velásquez de León. »Von damals kenne ich Eure Gegner!«
»Ja, ja, Flores, Tirado, Cervantes und ein paar andere.«
»Auch! Doch der Schwätzer Tarifa de los servicios, der Hausierer Tirado, der Sänger Flores,
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der Narr Cervantes – alles sind kleine Leute, jeder vielleicht als Aufwiegler gefährlich, aber nicht
als Renegat und Führer dieser Armee. Sie werden von Höherstehenden ermutigt...«
»Ihr meint Olíd?«, fragte Cortés fiebergerötet.
»Olíd und Avila!«, ergänzte Velásquez de León.
»Ich kann es nicht glauben!«, rief Cortés wieder.
»Avila ist nicht mein Freund, das wisst Ihr. Aber sollte ich schweigen, nur weil wir verfeindet
sind?«, fragte Alvarado. »Doch wenn Ihr Euch sträubt, mir zu glauben, Don Hernándo, so hört auf
Velásquez de León. Ich habe Avila im Gespräch mit dem Lizentiaten Díaz belauscht und Worte
vernommen, die keine Zweifel lassen.«
»Genug! Keine Silbe mehr! Ich will es nicht wissen! Nein, und ich will es nicht glauben!«, rief
Cortés. »Und brächtet Ihr mir den schriftlichen Beweis...«
Er unterbrach sich, blickte unwillig zum Eingang. Soares war eingetreten. Mit militärischer
Kürze erstattete er Meldung, dass ihm eine Indianerin zugelaufen sei, und um wen es handle.
Cortés hatte wahrlich keine Zeit, krank zu sein. Er hatte aber auch keine Zeit für menschliche
Anteilnahme an einem Einzelschicksal. »Wartet draußen, Soares, aber schickt Doña Elvira herein«, befahl er. Doña Elvira war ihm bekannt. Vor Jahren war sie eine der gefeierten Schönheiten
Kubas. Vage erinnerte er sich. Aber ihm fehlte die Zeit, sich weiterer Sentimentalitäten hinzugeben. Ohne Umschweife fragte er, was sie ihm brächte?
In abgehackten Sätzen, kaum noch der Muttersprache mächtig, teilte sie mit, was sie im
Tlaxcaltekenlager erfahren hatte. Heute gegen Mitternacht – im Mondlicht, weil die Söhne der
Sonne am Tage unbesiegbar wären – werde ein neuer Überfall stattfinden. Und sie erzählte von
den Vorbereitungen und Aufstellung der feindlichen Kräfte.
Cortés überlegte kurz und erteilte Befehle. Alvarado und Velásquez de León stürmten hinaus. Dann rief er Soares zu sich. »Steckt sie in ein Bad«, sagte er und entließ Doña Elvira mit einem Kopfnicken. Er hatte ihr spontan die Hand geben wollen, sie dann aber zurückgezogen, denn
erst da hatte er bemerkt, wie schmutzstarrend Doña Elvira war.
»Wir werden es Euch nicht vergessen«, sagte er steif und entließ sie mit einer Handbewegung, die besagte, sie könne nun gehen.
»Nicht vergessen...«, wiederholte sie leise und schlich mit Soares davon.
*
Im Zelt des Lope Cano spielte sich bald eine Tragikomödie ab. Der frühere Sklavenhändler war ein
Bigamist! Ohne sicher zu sein, dass seine in die Sklaverei verschleppte Gattin Elvira tot sei, hatte
er die reiche Amazone María de Estrada geheiratet, die er vor dem Alligator gerettet hatte. Seit
drei Tagen feierte er mit seinen Freunden Mansilla dem Durstigen, Vendella dem Dicken und
Márquez dem Spieler seine unvergleichliche Frau und den letzten entscheidenden Sieg über die
Tlatepoca. Denn wieder hatte sich die schöne Amazone hervorgetan, hatte unermüdlich naturales
mit ihrer Lanze durchbohrt. Mit Ruhm und Blut bedeckt, ließ sie sich von ihrem Mann und seinen
Kumpanen feiern.
Hinojora, der Enkel der Räuberin, und der alte Santisteban kamen in Begleitung Doña Elviras herein. Sie hatte noch die Indianerkleidung an. Unsicher und mit niedergeschlagenen Augen
blieb sie am Zelteingang stehen.
»Was bringt Ihr uns da? Habt Ihr eine Sklavin zu verkaufen?«, fragte Vendella der Dicke lachend
»Soll Cano sie schätzen? Er versteht sich ja darauf!« Der Spieler Márquez kicherte. Zum
Schönhändigen gewandt, sagte er:
»Bestimmt den Preis, Cano! Ich möchte wissen, was sie wert ist.« Und nach einem abschätzigen Blick auf die Frau fügte er hinzu: »Viel kann es nicht sein.«
Cano sah kurz auf das Indianerweib. »Keine zehn Kupferstücke – ich kenne mich aus mit
solcher Ware!«, rief er lachend und angetrunken.
»Ihr setzt den Preis nur so niedrig an, Cano, um sie billig kaufen zu können!«, gab der dicke
Vendella zu bedenken.
»Ich habe das Sklavengeschäft aufgegeben. Aber die würde ich nicht einmal umsonst neh-
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men. Wäre sie ein Gaul, würde ich sagen, dass sie reif für den Schindanger ist, ohne ihr ins Maul
zu sehen!«, erklärte Lope Cano.
Die Indianerin schaute fassungslos und begann zu schluchzen. Hilfe suchend sah sie den alten Santisteban an.
»Ja!«, sagte der verlegen. »Es ist so...« Mehr brachte er nicht über die Lippen.
Da griff Domenico Mejía Hinojora ein, der Enkel der Räuberin. »Wir bringen Euch Euer Weib,
Señor!«, meinte er lässig und mit ungeschminkter Schadenfreude.
Lope Cano verfärbte sich. »Meine Frau sitzt hier!«, sagte er und zeigte auf María de Estrada.
»Richtig, Euer zweites Weib, ob sie aber überhaupt Euer Weib noch ist, muss Pater Olmedo
entscheiden!«, rief Hinojora. »Doch Euer erstes Weib...«
»... ist tot!«, sagte Cano erschreckt.
»Nein, sie lebt, und Ihr wisst, dass Ihr lügt!«, schrie Hinojora ihn a. »Hier steht sie! Sie lebt!«
Nun verlor auch der alte Santisteban seine Verlegenheit. »Dies ist Doña Elvira«, sagte er
vorwurfsvoll. »Wollt Ihr sie nicht begrüßen, Señor?«
»Sánchez!«, flehte die Indianerin.
Cano begann zu zittern. »Ich kenne dieses Weib... diese Frau nicht!«, stammelte er.
María de Estrada hatte bisher still die Szene beobachtet. Jetzt brach sie in krampfhaftes Lachen aus und rief: »Sei verständig, Lope! Zahle die zehn Kupferstücke und behalte sie! Mich hast
du jedenfalls verloren!«
Doch Cano wiederholte: »Ich kenne sie nicht!«
María de Estrada erhob sich und ging auf die Fremde zu, die noch immer verschüchtert am
Zelteingang stand. »Wisst Ihr mit Pferden umzugehen, Señora?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Doña Elvira schluchzend.
»Ich werde es Euch beibringen! Und jetzt heult nicht – es gibt Schlimmeres, als einen Mann
zu verlieren«, sagte María mit barscher Güte. »Kommt nur herein! Ihr sollt in meinem Zelt bleiben!
Ich will es so. Und ihn fragen wir überhaupt nicht! Auf ihn brauchen wir auch nicht eifersüchtig zu
sein.«
Seit diesem Tag lebte der Schönhändige mit zwei Frauen. Doch wurde er von seinen Kameraden nicht beneidet. Das Pferd der Amazone hatte es hinfort besser als er.
*
Das kleine Christenheer schwebte noch nie in so großer Gefahr. Zwei kastilische Meilen westlich,
verborgen hinter Felsen und dichtem Gehölz, lag das Feldlager der Tlatepoca. Mit ihrer Ortskenntnis und im Schutz der Nebelschwaden wäre es ihnen leicht möglich gewesen, unbemerkt die Ebene zu durchqueren, die Christen zu umzingeln und anzugreifen. Aber Doña Elvira hatte Cortés
gewarnt, und nun wurde der Nebel sein Bundesgenosse. Vorsichtig schlichen die Spanier voran,
nahmen Deckung hinter hohen Kaktushecken und brachten die Geschütze in Stellung. Cortés hatte den Hauptleuten eingeschärft, die Männer zu zwingen, lautlos hinter den Deckungen zu verweilen, bis er das Kommando zum Angriff gäbe.
Von den Bergen begann eine kühle Brise zu wehen und vertrieb nach und nach den Nebel.
Sie mussten nicht lange warten. Nach kaum einer Stunde näherten sich schemenhafte Schatten:
Die Tlatepoca stiegen in die Ebene herab. Aufrecht, aber geräuschlos – um von den Söhnen der
Sonne, die sie weiter im Osten gelagert glaubten, nicht gehört zu werden – kamen sie heran. Im
Mondlicht funkelten die Rüstungen, Waffen und Standarten; schattenhafter Federkopfschmuck
bewegte sich wippend vorwärts; wilde Helmmasken ragten auf, Schilde und Lanzen, Steinbeile,
Speerbündel und kurze Bogen mit den gewundenen Sehnen wurden vorgetragen. Die Krieger trugen Wattepanzer, die der Häuptlinge aber waren aus Gold oder Silberplatten geschmiedet und
überhängt mit Kolibrifedern. Der Aufmarsch der Krieger nahm kein Ende!
Manchem aus dem Häufchen der wenigen Spanier, auch den Tapferen, wurde bang beim
Anblick dieser gewaltigen Armee. Herzen klopften laut unter den Rüstungen, und manches Stoßgebet stieg zum Himmel empor. Da endlich kam der erlösende Befehl:
»Mit Gott und Santiago zum Sieg!«, rief Cortés, und der Trompeter Rodríguez entlockte der
lilienförmigen Kupfertrompete ein schmetterndes Signal.
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Der Kampf war kurz. Die Tlatepoca waren überrascht und wussten nicht, wo der Feind sich
befand. Blitze zuckten auf, und unsichtbare Mächte mähten sie nieder. Sie konnten sich nicht wehren, da sie niemanden sahen, gegen den sie hätten kämpfen können. Links und rechts öffneten
sich die Feuerschlünde, donnerten die Geschütze. Die Mondnacht, von der sich Prinz Goldmaske
den Sieg erhofft hatte, wurde ihm und seinen Kriegern zum Verderben. Sie wollten Mann gegen
Mann kämpfen, doch als sie endlich den Feind erblickten, war er schon mitten unter ihnen. Die
entsetzten Tlatepoca flüchteten, und die Christen verfolgten die Fliehenden und metzelten nieder,
bis sie vom Morden müde waren.
Der Sieg hatte nur wenige Verwundete und keinen Toten gekostet. Mit dem Sieg starb auch
die Rebellion. Und nur der Narr Cervantes betrauerte sie.
Am Morgen des folgenden Tages erschienen fünfzig Abgesandte des Prinzen Goldmaske
vor Cortés. Sie überbrachten ein Friedensangebot. Cortés befahl, jedem der fünfzig Gesandten die
rechte Hand abzuhacken und schickte die Verstümmelten an Goldmaske zurück. Er ließ ausrichten: »Bringt eurem Häuptling in Erinnerung, dass der Sieger bestimmt, wann Frieden sein soll!«
Der Apotheker Leonel de Cerro musste dem Scharfrichter Osorio einen Stärkungstrank
brauen, so erschöpft war er.
*
Gegen Mittag trafen hohe Würdenträger im Feldlager ein, Abgesandte des Rates der Alten von
Tlaxcala. Sie schwenkten kleine Fahnen als Zeichen des Friedens. Prinz Goldmaske führte sie an,
im opalisierend schimmernden Türkis-Federschmuck des Vorstehers des Hauses der Speere: Gesicht und Körper violett bemalt und begleitet von seinen vornehmsten Kriegshäuptlingen, Adlern,
Jaguaren und Räucherpriestern, war er als Sprecher der Gesandtschaft ausersehen. Er kniete vor
dem weißen Heerführer nieder, küsste ihm Hände und Füße und bat ihn im Namen Tlaxcalas um
Frieden und Bundesgenossenschaft. Er nahm alle Schuld für vergangene Feindschaften auf sich –
habe er die Fremden für Freunde Moctezumas gehalten. Er bat, an seine künftige Treue zu glauben, und bot sich selbst und seine Begleiter als Geiseln an. Cortés und die anderen weißen Männer mögen nun in der Stadt Tlaxcala Quartier nehmen. Goldmaske ließ Nahrungsmittel und Goldgeschenke überreichen (selbst für die Pferde, die Hirschungeheuer, hatte er Truthähne, Fleisch
und Brot mitgebracht). Zum Schluss ließ er fünf Sklaven heranführen und sprach zu Cortés:
»O Sohn der Sonne, du Schwert der Götter! Wenn du ein stürmischer Gott bist, so empfange
die fünf Sklaven und verzehre sie! Wenn du ein stiller Gott bist, so gestatte, dass wir dich mit Kopal
beräuchern und mit Quetzalfedern behängen! Bist du aber ein Mensch, so nimm diese Wachteln,
Maiskuchen und Honigäpfel an als Nahrung für dich und die deinen!«
Cortés umarmte den Prinzen und versicherte ihm, dass er keine Menschen esse. Die Frage,
ob er ein Gott sei, ließ er offen. Dann ließ er einen vom Sekretarius Godoy aufgestellten Friedensund Bundesvertrag verlesen und beschwören. Die Einladung, in die Stadt Tlaxcala einzuziehen,
wurde angenommen. Cortés sagte zu Prinz Goldmaske: »Ich verließ das Reich des Sonnenaufgangs und zog über das Meer aus Mitleid mit den armen, von Moctezuma unterjochten Völkern!
Ich bin gekommen, die Tyrannei auszurotten und dem blutigen Gemetzel der Menschenopferung
ein Ende zu machen!«
Der abenteuerliche Ausgang und Erfolg berauschte und blendete ihn. Der Weg zur Wasserstadt Tenochtitlán und ins Land seiner Sehnsucht – das Land des Goldes und der Schrecken – lag
nun offen vor ihm.
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Tlamamas
10. Tlaxcala
»In der Stadt Tlaxcala gibt es einen großen Markt, auf dem täglich mehr als 30 000 Menschen zusammenkommen, die da kaufen und verkaufen, und wo man allerlei Arten von
Stoffen feilhält, Kleinodien aus Gold, Silber und Edelsteinen, vor allem aber feine Federstickereien, wie man sie in der ganzen Welt zierlicher und feiner nicht finden kann.«
(Hernán Cortés, 2. Brief an Kaiser Karl V. vom 30. Oktober 1520)
Am Tag des Friedensschlusses leuchtete die Sonne in die Täler Tlaxcalas, licht und hell wie jeden
Tag zuvor – und doch vergoldeten ihre Strahlen eine Sterbende. Es erging Tlaxcala, wie es einst
dem blühenden Garten Anahuac ergangen war.
Viele Generationen zuvor hatte sich ein wunderschöner Vogel mit blauer Brust und zwei geschweiften Schwanzfedern am Schilfsee gezeigt. Und der König ließ durch Ausrufer verkünden,
dass das Volk dem Wundervogel – dem Götterspecht, wie er ihn nannte – Nester bauen und ihn
füttern müsse; und wer ihn töte, sei mit der Todesstrafe bedroht. Da hegte und pflegte das Volk
den herrlichen Vogel, bis Frauen, Kinder und Greise durch Hungersnot hingerafft wurden – denn
der Vogel nährte sich von Mais, und weil er unersättlich war, hatte er bald alle Maispflanzungen
vernichtet.
Ebenso hegte und pflegte Tlaxcala den weißen Mann, den unbesiegbaren Kampfgenossen
gegen den Feind im Westen. Dass die Stadt den Tod zu Tisch geladen hatte, ahnte sie nicht.
*
Tlaxcala rüstete sich, die Fremden zu empfangen. Sechs Tage vergingen, und die ersehnten Gäste trafen nicht ein. Zwar waren täglich Boten ins Feldlager geschickt worden, freundliche Mahner,
Überbringer dringender Einladungen. Auch Prinz Goldmaske und andere Große des Freistaats
gingen mehrmals den Weg zum Tempelhügel, begleitet von Sklaven mit Körben voll Wildbret, Tomaten, Kakaoschoten, Kaktusfeigen und Agavesirup. Sie beschenkten auch die Hirschungeheuer
mit Truthähnen, Fleisch und Brot. Doch stets wurden sie vertröstet, immer wieder aufs Neue, während die Stadt voller Ungeduld wartete.
Die Sonnensöhne verstanden es, sich bitten zu lassen! Schon welkten die Girlanden in den
blumengeschmückten Straßen. Da machten sich der Hohe Rat und die vier Könige Tlaxcalas –
Wespenring, Wollring, der Listige Marder und der Blutige Schild – auf den Weg. In Sänften die
einen, auf dem Rücken von Lastträgern die anderen, nahten sie dem Lager, ein Haufen greiser
Bittsteller.
Schon von weitem wurden sie erblickt. Wie eine farbenschillernde Raupe kroch die Prozession heran. Oben auf dem Hügel, dessen kleinen Opfertempel die Kastilier den Turm des Sieges
getauft hatten, la torre de la victoria, erwartete Cortés mit seinen Feldobristen und den Vornehmsten der totonakischen Heerführer - Mamexi, Tehuch und Cuhextecatl - die Ankunft der Besucher.
Der Zug machte am Fuß des Hügels Halt. Die Alten stiegen aus den Sänften, glitten von den
Schultern der Träger, ordneten sich zu Zweien und erklommen gemächlich den kleinen Hügel. Sie
trugen schwarze Stäbe und Fächer zum Zeichen der Unterwerfung. Eine der Sänften aber wurde
vorangetragen. In ihr saß Wespenring, der blinde Hundertjährige. Vor Cortés angelangt, musste er
aus der Sänfte gehoben werden. Verglichen mit dem Prunk, den die Abgesandten Moctezuma
entfalteten, war Wespenring bescheiden gewandet. Sein geierhafter Kopf bedurfte keines silbernen Stirnbands, um alle Blicke auf sich zu lenken. Eine Aura von Größe und Erhabenheit umgab
die gebrechliche Gestalt.
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»Wer ist das?«, fragte Cortés.
Als Tehuch und Cuhextecatl vor Wochen mit dem schriftlichen Friedensangebot das dunkelgrüne Samtbarett, den Degen, die Muskete und die Armbrust dem Senat Tlaxcalas als Geschenk
der weißen Götter überbracht hatten, war es Wespenring gewesen, der am eifrigsten gegen die
fremden, goldfressenden Ungeheuer gewettert und erreicht hatte, dass der Freistaat blutige Abwehr beschloss. Tehuch und Cuhextecatl wussten aber auch von der Sinnesänderung zu berichten, die in der entscheidenden Ratsversammlung durch die mutige Rede des Scharfen Obsidians
bewirkt worden war.
Die vier Könige Tlaxcalas verbrannten Kopalkugeln und begrüßten Cortés auf indianische
Weise. Auch der Hundertjährige beugte sich, von zwei Unterhäuptlingen gestützt, bis zur Erde,
berührte den Boden mit seiner zittrigen Hand und führte sie dann zum Kuss an die dünnen Lippen.
Cortés eilte zu ihm, half ihm auf und umarmte ihn.
Da sprach der Hundertjährige: »O Sohn der Sonne! Das Opfer, das ich dir bringe, ist mein
Herz! Seit ich ein Kind war, wusste mein Herz, dass aus dem Land des Sonnenaufgangs die Enkel
unseres Herrn Quetzalcoatl, der als Morgenstern am Himmel leuchtet, wiederkehren würden, dass
sie zurückkommen würden in unser Land, und dass sie herrschen würden auf dem Goldthron ihrer
Ahnen. Und doch hat mein Herz es nicht fassen können, hat sich gesträubt zu glauben, dass du
der Wunderbare seiest, der Verkündete! Jetzt aber weiß ich es, denn du hast dein Volk gezüchtigt
wie ein Gott und bist unser Beschützer und Wohltäter! Und ich segne, dass mir gegönnt ist, diesen
Tag zu erleben! Nun aber will ich dich sehen, o weißer tlatoani!«
Er trat ganz nah an Cortés heran und tastete mit seinen zitterigen Fingern langsam über
Stirn, Augen, Nase, Mund und Kinn des Generalkapitäns. Cortés hielt still wie eine Bildsäule, während der Alte sich das Ertastete einzuprägen versuchte. Hunderte schauten zu und waren vom
Ernst der Stunde ergriffen.
Der Alte lächelte freudig: »Jetzt erblicke ich dich, jetzt kenne ich dich, jetzt habe ich dich in
meinem Herzen, o Sohn der Sonne!«
Dann beklagte er die Verzögerung des zugesagten Besuchs und beschwor die Sehnsucht
der Bevölkerung Tlaxcalas nach den Söhnen Quetzalcoatls. Der Blutige Schild äußerte die Befürchtung, dass die mexicanische Gesandtschaft das Gift des Misstrauens gegen Tlaxcala in die
Seelen der weißen Männer gepflanzt haben könnte, doch Cortés winkte ab:
»Es ist wahr, Boten Moctezumas haben uns vor Tlaxcala gewarnt, wie es vordem schon der
Mächtige Felsen und die Sengende Glut getan haben. Aber wir sind auf der Hut und leihen den
mexicanischen Verdächtigungen und Zuflüsterungen kein Ohr.«
»So bleibt nur die Erklärung«, meinte Wollring, »dass die Männer aus dem Land des Sonnenaufgangs immer noch grollen, weil die Grenzwacht der Otomis ihnen den Eintritt in das Land
verwehrt und das tlaxcaltekische Heer Waffenhilfe geleistet hat. O ihr Unbesiegbaren, das dürft ihr
ihnen nicht nachtragen, denn sie glaubten, Freunden Moctezumas gegenüberzustehen, als sie zu
den Waffen griffen.«
Cortés versicherte: »Wir hegen keinen Groll. Im Gegenteil sind wir von Bewunderung für euer Volk erfüllt, das so kühn für seine Freiheit kämpfte.« Und eine Niederlage nach so tapferer Gegenwehr, fuhr er fort, sei so bewunderungswürdig wie ein Sieg. Wenn er und seine Soldaten bisher
verhindert gewesen seien, in die Stadt einzuziehen, habe dies einen einfachen Grund: Es fehle
ihnen an tlamamas – Lastträgern und Zugsklaven –, um den Tross mit der Bagage und den
schweren Geschützen fortzuschaffen.
Die Mienen der Indianer hellten sich auf, und man sah ihnen die Erleichterung an. Diesem
Problem wäre abzuhelfen! Eine große Anzahl Träger war ja schon hier und wartete unten bei den
Sänften; weitere konnten ohne Verzug aus Tlaxcala herbefohlen werden.
Cortés dankte; aber so schnell ließen sich die Vorbereitungen für den Aufbruch nicht treffen.
»Stellt uns für morgen früh ein halbes Tausend Träger bereit«, bat er.
»Es soll geschehen, wie du es befiehlst, großer Herr. Tlaxcala wird dich und die Deinen im
Triumph empfangen«, sicherte Wespenring ihm zu.
Da rief Olíd: »Schaut! Dort hinten! Sollten dies etwa schon die Lastträger sein?« Er hatte
noch nie großen Scharfsinn bewiesen.
Ein langer Zug bunt gewandeter Menschen näherte sich von Ferne dem Turm des Sieges.
Er war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu lassen, doch aus der Staubwolke war
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zu schließen, dass dort eine große Gruppe zu Fuß herankam.
»Macht die Musketen bereit«, sagte Cortés. »Wer weiß, ob diese Halunken es ehrlich mit
uns meinen.«
»Wartet noch, Herr«, bat Marina und wandte sich an Wollring: »Wer sind die, die dort kommen?«, fragte sie.
»O Malintzín!«, sagte Wollring. »Du bist die Göttin unter den Göttern, die Kolibrifeder zwischen den Adlerfedern! Die Götter brachten uns den Krieg, und du brachtest uns den Frieden.
Tlaxcala will sich erkenntlich erweisen und schenkt dir dreihundert Mädchen!«
Marina blickte erstaunt, dann erschrocken, und lächelte schließlich verlegen. Cortés musste
mehrmals fragen, ehe sie sich überwand, zu übersetzen.
»Beschämt es dich, dass sie dich wie eine Fürstin ehren? Freue dich doch!«, sagte er voll
Stolz. Doch tief, ganz tief in seiner Seele und noch kaum spürbar machte sich ein Stachel bemerkbar.
»Ich bin deine Sklavin!«, antwortete sie gesenkten Blickes.
»Dann nimm das Geschenk an und bedanke dich!«
Die Mädchen waren bald heran und stiegen zum Turm des Sieges hinauf. Alle waren
jung und traurig, und viele von ihnen weinten,
weil man ihnen gesagt hatte, sie würden einer
Göttin zum Geschenk gebracht. Es waren
Kriegsgefangene aus dem letzten Feldzug gegen Cholula. Man hatte sie aufgespart, um am
Fest der Göttin der Lust – der Froschgöttin mit
dem blutigen Maul – geschlachtet zu werden.
Doch der Rat der Alten hatte sich anders besonnen und befohlen, sie aus den Holzkäfigen
zu holen, zu baden, zu kämmen und sauber zu
kleiden. Nun waren sie angekommen. Tlaxcala
schenkte sie der Göttin Malintzín! Die Kinder
fürchteten um ihr Schicksal.
Plan der Stadt Tlaxcala, zirka 50 Jahre nach der
Eroberung, mit ihren Hütten und den schon
errichteten christlichen Kirchen.
Marina fühlte die Blicke der Männer auf
sich. Obgleich sie eine Sklavin war, nannten die
Soldaten sie Doña Marina; sie gönnten ihr die
außergewöhnliche Ehrung. Doch sie wären
keine Männer, würde nicht manch lüsterner
Blick auf den Mädchen ruhen. Aber Missgunst
gegen Marina hegte keiner. Nur Cortés spürte, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, wieder
den Stachel des Neides. Er redete sich ein, dass die Ehrung Marinas indirekt auch ihm gelte, wird
doch der Fürst an seinem Hofstaat gemessen. Doch Marina war der leichte Anflug von Eifersucht
nicht entgangen. Sie fürchtete den Neid des Schicksals, das sie über Gebühr verhätschelte und
verwöhnte. Schon vor Cempoala hatte ihr Cortés zwei Negersklaven geschenkt und ihr den reichen, nicht mehr jungen Juan Pérez Arteaga als Hofmeister gegeben. Orteguilla war ihr Page gewesen; als er beim dicken Kaziken zurückgelassen wurde, war er durch den Knaben Pero de Santa Clara aus Havanna ersetzt worden. Auch vom dicken Kaziken waren ihr Sandalenbinderinnen
und Haarkämmerinnen zum Geschenk gemacht worden. Sie besaß bereits einen Hofstaat. Und sie
dachte an Josef in Ägypten, der von seinen Brüdern verkauft wurde und ihnen dann Böses mit
Gutem lohnte. Das war das Ziel – alles andere war nur Weg. Sie durfte nicht abirren, und noch lag
Mexico hinter Bergen und Wolken. Sie würde sich der allzu reichen Gabe bei Gelegenheit entledigen.
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Nachdem sich der Rat der Alten Tlaxcalas verabschiedet hatte und sie wieder allein waren,
sagte sie es ihm. Zuerst verschloss er sich ihren Argumenten, aber schließlich gab er nach; eigentlich kam es seinen uneingestandenen Gefühlen entgegen. Um die Form zu wahren, bestand er
darauf, dass sie mindestens dreißig Sklavinnen behielte. Marina ließ daraufhin durch Arteaga dreißig Mädchen auswählen, wobei er weniger auf das Äußere als auf Handfertigkeit und Bescheidenheit Gewicht legen sollte. Die anderen zweihundertundsiebzig Mädchen schenkte Marina dem kastilischen Heer.
*
Schon senkten sich lange Schatten über die Ebene; feurig glomm das Abendrot hinter den schroffen Zacken hervor, die Gestirne machten sich blinzelnd bemerkbar. Der schöne Namenlose stieg
mit einer halbwüchsigen Cholultekin an der Hand die abgetretenen Stufen des torre de la victoria
empor. Das Kind folgte gehorsam, konnte mit seinen kurzen Beinen kaum Schritt halten und
schaute immer wieder zwischen Bangen und Hoffen zu ihrem neuen Herrn auf. Doch der schöne
Namenlose bemerkte es nicht; wie stets umwölkte ihn die Einsamkeit.
Eigentlich hatte er nur zusehen wollen, doch bei der Verteilung der Sklavinnen war ihm das
abgemagerte kleine Ding seine herben Anmut und schwermütigen Schüchternheit wegen aufgefallen. Der Rohling Goya des Montes strich mit lüsternen Blicken um sie herum wie der fette Lizentiat
Juan Díaz um eine Ketzerseele. Da beeilte sich der Namenlose und machte laut seinen Anspruch
auf die kleine Sklavin geltend – er wusste selber nicht warum, vermutlich, um sie vor dem Los zu
bewahren, dass sie dem Goya zufiel.
Was sollte er nun mit ihr anfangen? Er wollte sie nicht zur Geliebten, sie schien ihm zu jung
dafür. Zwar war er kein keuscher Mensch im eigentlichen Sinne – dafür hatte der einhändige Soldat (die andere, sündige Hand hatte man ihm abgehackt!) schon zu viel erlebt und erfahren, und
seine Seele war mit schwerer, geheimnisvoller Schuld beladen. Doch Unschuld und Jungfräulichkeit waren ihm trotzdem heilig. Zuneigung und Mitgefühl bedarf der Worte nicht. Das Mädchen
sollte bald begreifen, dass er eine Schwester in ihr sah.
Die Septembernacht war lau, und wieder senkten sich dünne Nebelschleier über die Ebene.
Zikaden zirpten, Nachtvögel gaben einander Antwort. Von unten aus dem Lager stieg der Rauch
fast senkrecht empor, und es war das Gesumme und Geklapper der abendlichen Tätigkeiten zu
hören, die auf übliche Handreichungen schließen ließen – Holz spalten, Kessel zum Kochen vorbereiten, Geschirre waschen, Pferde füttern. Man hörte auch schon feurig-glutvolles Geklapper der
Kastagnetten und Tamburine, in das sich klagende Melodien der mexicanischen Flöten mischten.
La Bailadora tanzte dort unten und zeigte ihren in engem Mieder geschnürten Busen und ihre weißen Schenkel; doch sie fand keinen Bewunderer heute Abend – außer dem Knaben Pancho, ihrem erblindeten Schützling.
An die Brüstung gelehnt, blickte der Namenlose auf das abendliche Land und auf Schneekuppen und Gestirne. Er zog das Mädchen näher an sich und legte den Arm um ihren Nacken.
Dann hob er den Kopf und sah auf die Sichel des schwindenden Mondes.
»Das ist der Mond!«, sagte er. »Der Mond!«
Sie schaute zu ihm auf, folgte dann mit den Augen seinem Blick. »Mooond?«
»Ja, der Mond!«
»Mooond!«, wiederholte sie das fremde Wort. »Metztlit« sagte sie dann. Es war ihr Name
des Mondes.
Seine Augen schweiften nach Norden, wo sechs Meilen entfernt die Stadt Tlaxcala lag – ein
Steinhaufen unter ragenden Felsen, in der dunstigen Luft eben noch zu ahnen. Dahinter erhob
sich schwarz und steil die Passhöhe, die nach Cholula und Huexotzinco führte. Dort reckten
Iztaccihuatl, die Weiße Frau, und Popocatepetl, der Rauchende Berg, ihre ungefügen Flanken empor. Der Feuerschein des Popocatepetl-Kraters war in der schwindenden Abendröte deutlich zu
sehen: Seit einer Woche war der Vulkan aktiv, doch in keiner der vorangegangenen Nächte war
sein Schein so hell sichtbar gewesen.
»Tlatla!«, sagte die kleine Indianerin. Das hieß: »Er brennt!« Der Namenlose nickte, als hätte
er verstanden. Man muss ja auch nicht verstehen, was die Vögel singen. Er setzte sich auf den
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obersten Treppenabsatz, und das Mädchen tat es ihm nach. So schauten sie ins Land hinaus.
Tiefer und tiefer senkte sich die Nacht herab. Plötzlich legte sie scheu den Kopf an seine Schulter.
Er rührte sich nicht, ließ es geschehen.
»Du bist wie eine, die einst mir lieb war!«, murmelte er.
»Tlein titlatalhuia, nopiltzine?«, fragte sie. (Was sagst du, Herr?)
Er sann ihren Worten nach. Nach einer Weile fuhr er fort: »Meine Liebe war ungestümes
Feuer. Meine Sehnsucht verbrannte ihr Herz zu Asche. Giftiger Schierling war mein Kuss. Du bist
sanft, wie sie es war.« Wieder schwieg er, grübelte einer fernen Vergangenheit nach, sagte dann:
»Lippen, die den Becher der Schuld geleert haben, schaudern, einen reinen Becher zu entweihen,
mein Kind...«
Er verstummte. Jemand kam eilig die Tempeltreppe heraufgehinkt. Es war der Narr Cervantes.
»Ei, Gevatter, schäkert Ihr an heiliger Stätte?«, rief er lachend. »Lest Ihr eine Schwarze
Messe mit der kleinen Jungfrau?«
»Geh zum Teufel und pack dich, Narr!«
»Wohin, Señor? Zurück in den wimmelnden Haufen dort unten? Von dort bin ich ja voller
Ekel geflüchtet. Euch freilich hielt ich für eine Ausnahme, für einen ehrlichen Weiberfeind. Ihr habt
mich enttäuscht, seid auch nicht besser als die anderen. Es scheint, dass ich der einzige Gescheite unter lauter Narren bin, der einzige Gerade unter lauter Buckligen!«
Der Namenlose würdigte ihn keiner Antwort, doch der Narr ließ sich nicht beirren: »Ich weiß,
was Ihr denkt! Ich hätte kein Weibsstück erhalten? Doch, ein fettes, schön gemästetes! Der Seemann Alvaro aus Palos hat sie mir abgekauft – er liebt die runden, prallen Weiber, und wie Ihr
wisst, hat er auf Kuba im Lauf von drei Jahren dreißig Kinder mit Indianerinnen gezeugt. Es wundert mich nicht, dass er auch anderen heute Abend weitere Mädchen abkaufte. Er hat mit Alkohol
nachgeholfen!«
»Alkohol? Soviel ich weiß, ist der Wein zur Neige gegangen.«
»Der Wein, aber nicht der Pulque. Die Rothäute haben genug davon, sprechen ihm selber
gern zu und liefern jeden Bedarf! Aber es gibt noch andere, die ebensolchen Tauschhandel treiben
wie Alvaro. Von wüstem Taumel sind Männlein und Weiblein dort unten ergriffen – sie tanzen einen Totentanz und merken es nicht. Der klapperdürre Tod geigt voran, und alle folgen ihm tanzend, lachend und girrend auf die Blutaltäre Mexicos, wo das Hüpfen enden wird! Das halst und
kichert, umschlingt und vermischt sich, wie die Blutegel in einem Glas, wie die Glühwürmer der
Johannisnacht auf einer Wiese. Ekelhaft! Menschen können nur zeugen und sterben – ficken und
töten! Alles andere, das Fressen, Saufen, Scheißen und Rülpsen ist nichts als Mittel und Weg!
Wollüstig und grausam, so tanzen wir bis nach Mexico, morden die Männer, küssen die Frauen,
schlachten Kinder und umarmen Greise, waten durch Blut und kopulieren, blumenbekränzt und
weintrunken, stolz wie die Götter... und liederlich wie die Götter...«
Der Narr machte sich Luft, während der Namenlose ihn anstarrte. Da wurde es plötzlich lichter Tag, und gleich darauf grollte Donner. Sie sprangen auf und starrten nach Westen. Die Sterne
waren fortgefegt; karminrot zuckte es in den Himmel; Erde, Bäume, Steine und Menschen wurden
von roter Glut angestrahlt. Der Popocatepetl war explodiert! Urweltlich schossen Feuer und Wasser, Gestein und Dampf meilenweit hoch, der Kratermund zerriss, und frei geworden begann geschmolzene weiße Glut fächerförmig die Abhänge des Vulkans hinunter zu fließen.
»Weltuntergang!«, flüsterte der Narr. »Wäre es schade um solch eine Welt?«
»Ja!«, sagte der Namenlose und eilte mit der kleinen Sklavin die Treppe hinunter.
Der Narr lief ihm nach. »Nennt mir ein Wesen, nennt mir ein Ding, um das es schade wäre.«
»Das Leben!«, antwortete der Namenlose. »Denn es ist einmalig! Doch für dich, Narr, mag
das nicht gelten!«
*
Noch ein anderer hatte in dieser Nacht seine Menschenkenntnis bereichert. Nicht verbittert, wie
der Narr Cervantes, sondern mit schmunzelndem Behagen. José Solér, der seltsame Kauz, den
seine Kameraden »hinter der Tür«, detrás de la puerta, nannten, belächelte die Schwächen seiner
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Mitmenschen. Er sah die Fliegen ins Netz gehen, doch er half nicht, warnte nicht – er lächelte!
Nichts wunderte ihn! Wenn der Genueser Amadori die alte Portugiesin Samano betrog; wenn der
Spieler Lope Márquez einfältige Tölpel zum Würfel- und Kartenspiel verleitete, wenn der flegelhafte Paredes, der große Spuckkünstler, sogar vor den Edeldamen Pilar de Elgueta und Dolores de
Cuenca sich den Spaß machte, dicht an ihren geschminkten Gesichtern vorbeizuspucken, oder
wenn die Lagerdirne, die man die hagere Rosario nannte, von ihrem Zuhälter, dem wilden Ignacio
Morena, lammfromm Prügel und Stockschläge hinnahm und ihm alle ihre Ersparnisse aushändigte
– José Solér konnte nichts erschüttern. Nichts wunderte ihn. Nichts bewunderte er. Er registrierte
nur.
In dieser Nacht hatte er viel zu registrieren. Marinas Geschenk hatte nicht nur die Beschenkten in einen Liebestaumel versetzt, die Hitze der Sinne wirkte auch auf die Frauen. José Solér
konnte beobachten, dass die Goldhyazinte, Marketenderin und Gattin des Schmiedes Martín, sich
heimlich mit Mansilla dem Durstigen aus dem Lager entfernte; dass die hübsche rundliche Rosita
Muños – vor kurzem erst in Cempoala dem ledernen Gesellen Tarifa de los servicios, dem Dienstbeflissenen, angetraut – mit Juan García dem Aufgeblasenen davonschlich; dass Dolores de
Cuenca der Lust des sechzehnjährigen Maldonato verfiel; dass selbst die rührende, tapfere,
prachtvolle Samariterin Ines Florín, die Tochter des Seeräubers, sich an Alfonso de Escobar verschenkte, den einstigen Pagen des Diego Velásquez, einen leidenschaftlichen und zügellosen
Menschen.
José Solér sah noch mehr. Als La Bailadora Hand in Hand mit ihrem Schützling, ohne für ihren heutigen Tanz Beifall und Kupfermünzen geerntet zu haben, zu ihrer Schlafstätte zurückkehrte,
wurde sie vom reichen Jacobo Hurtado überfallen. So oft er ihr schon nachgestellt hatte, so oft er
abgewiesen wurde, heute wollte er sein Ziel erreichen. Er zerrte sie hinter einen Busch und fiel
über sie her. Der blinde Knabe schrie um Hilfe, das Mädchen wehrte sich und kreischte wie ein
gebissener Schakal – doch wer achtete in dieser Nacht auf kreischende Mädchen? José Solér
hörte und sah, doch er rührte sich nicht! Ramón Vallesocco, ein blutjunger Soldat, kam zufällig des
Weges, rettete La Bailadora und verscheuchte den reichen Lüstling.
*
Cortés war es recht, dass seine Soldaten zwischen überstandenen Mühen und anderen, die ihrer
noch harrten, sich nach Herzenslust des Lebens freuten. Morgen wollten sie in die Stadt Tlaxcala
einziehen; wie schon zu Cempoala gedachte er wieder seiner Vorsicht, dass naturales auch naturales bleiben, selbst wenn sie Freunde sind. Es war seine Absicht, die Gastfreundschaft anzunehmen, das Pulver jedoch trocken zu halten. In der fremden Stadt würde er auf strenge Manneszucht
sehen müssen; sollen sie sich heute noch einmal austoben!
Cortés war mit Marina allein. Den Pagen Juan de Salazar und den Kämmerer Rodrigo Rangel hatte er hinausgeschickt, mochten sie zur langen Elvira gehen oder zu anderen. Leuchter mit
gelben Wachslichtern erhellten das Zelt nur matt, und auf dem Tisch standen halb gefüllte Gläser.
Sie tranken die letzte Flasche Pedro Ximenes und brachten dem Glück einen stillen Dank dar.
Wenn Cortés eine eitle Regung von Missgunst gespürt hatte, jetzt war alles verflogen.
Seine Gedanken irrten ab nach Kuba, zu Catalina Suárez, seiner schwindsüchtigen Frau.
Diego Velásquez hatte ihn gezwungen, sie zu ehelichen. An Papageien und Katzen hatte sie
Freude, rauchte Zigarillos und schaukelte in der Hängematte. Eine Puppe war sie ihm, die er mit
Edelsteinen behängte. Doch sie war seine Frau, todkrank, und musste jung sterben. Wann? Vielleicht erst nach Jahren. Vielleicht war sie schon tot...? Er sträubte sich, ihren Tod herbeizusehnen;
und doch konnte er nicht anders. Je tiefer seine Liebe zu Marina wurde, umso häufiger stellten
sich derartige Wünsche ein.
Marina sah die Wolke über sein Gesicht ziehen. »Woran denkst du?«, fragte sie.
»An Don Diego!«, gab er ausweichend zur Antwort.
Sie lächelte traurig. »Heute darfst du nur an uns denken!«, sagte sie. Dass sie sich Mutter
fühlte, behielt sie für sich.
Da brach urplötzlich der Vulkan aus. Der Popocatepetl ließ sein Donnern vernehmen. Hellrot
loderten die Flammen der eruptierenden Lava, dass das Innere des Zelts erglühte. Sie stürzten
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aus dem Zelt und sahen das überwältigende Schauspiel. Vögel flogen in Panik davon, und in der
Hürde wieherten aufgeschreckt die Pferde. In den Pausen zwischen dem Tosen und Brüllen hörten
Marina und Cortés die Rufe besorgter Menschen. Soldaten und Dirnen gestikulierten, standen erstarrt, bekreuzigten sich, murmelten Gebete. Diego de Ordás kam mit langen Schritten auf Cortés
zu.
»Man müsste dort hinaufsteigen!«, sagte er mit bebenden Lippen zu Cortés.
»Ich verstehe Euch nicht, Ordás. Wo hinauf?«
»Auf den Berg, zum Krater!«
»Auf mein Gewissen, Ihr seid nicht bei Verstand!«, rief Cortés. »Habt Ihr Heimweh nach der
Hölle?«
Ordás zuckte mit der Schulter. »Himmel oder Hölle, wo ist der Unterschied?«
»Wir werden sehen«, sagte der Generalkapitän. Im Südwesten, einige Tagesreisen hinter
der Stadt Tlaxcala und noch vor dem gewaltigen Bergmassiv des Popocatepetl lag Cholula, die
heilige Stadt der Cholulteken. Cortés wollte Cholula besuchen, und von dort aus führte der Weg
nach Mexico dicht am Popocatepetl vorbei. »Den Aufstieg auf den Feuerberg kann ich Euch nicht
versprechen, Ordás. Bis wir dort vorbeikommen, wird Eure Glut – oder ist es Wut? – verraucht
sein!«
Diego de Ordás nickte, ohne den Doppelsinn zu bemerken.
*
Pater Olmedo war der Abendmahlwein ausgegangen. In der Nacht vor der siegreichen
Tlaxcaltekenschlacht hatten alle im christlichen Heer gebeichtet, die Kommunion empfangen und
dabei den Wein verbraucht. Nun lag Pater Olmedo dem Cortés in den Ohren. Alle Kämpfer des
Heeres (für Pater Olmedo waren die Frauen ebenfalls Kämpfer) hätten Anspruch auf Trost und
Stärkung durch die heilige Kirche; egal, ob vor einer Schlacht oder im Sterben danach. Cortés versprach ihm Abhilfe. Ihm lag daran, die Nachricht von seinem Triumph möglichst schnell den Verbündeten mitzuteilen, um so sein Ansehen und ihre Erwartungen zu rechtfertigen. Er beauftragte
Enrico Lares, eilig nach Veracruz zu reiten, um einige Flaschen Malvasier zu holen. Unterwegs
solle er den Mächtigen Felsen im Roten Berg, den dicken Kaziken in Cempoala und die Sengende
Glut an der huaxtekischen Küste vom siegreichen Heer der Sonnensöhne unterrichten. Escalante
und die zurückgebliebenen Kranken, Verwundeten und alten Soldaten aber hätten die erfolgreichen Gefechte und das Friedensangebot Tlaxcalas mit einem Bankett, Vivatrufen und Freudenschüssen zu feiern und mit festlicher Beflaggung der Stadt Veracruz den benachbarten Indianervölkern vor Augen zu führen, wie sehr das Kriegsglück die Kastilier begünstige.
Zwei indianische Begleiter, ein Totonake und einer der zwanzig Palastwächter des Mächtigen Felsens, wurden Lares als Wegweiser mitgegeben; es waren zwei Schnellläufer, die mit dem
Pferd Schritt halten konnten, ohne zu ermüden. Der Totonake hatte sich etliche spanische Brocken
angeeignet, sodass eine Verständigung möglich war.
Enrico Lares machte sich auf den Weg und ritt jene Strecke zurück, die das Heer mühsam
heraufgezogen war. Er erkannte die Berge, Täler, Bäche, Felder und Bäume wieder, wenn auch
die Einsamkeit die Landschaft verwandelt hatte. Der Weg war nicht mehr leichenübersät, die Indianer hatten ihre Toten begraben. Gräser, die La Bailadoras tanzender Fuß geknickt hatte, waren
wieder aufgerichtet, kaum eine Spur mehr war von den Heldentaten und Gräueln der Kastilier und
Tlaxcalteken zu sehen.
Die große Mauer war diesmal nicht unbewacht, doch die Grenzwächter ließen ihren Verbündeten anstandslos ein. Lares ritt durch das turmartig aufragende Tor und befand sich auf
mexicanischem Boden. Er trabte am Weißen Mondgefilde vorbei, näherte sich dem Roten Berg.
Fern am Waldsaum erblickte er ein Rudel Hirsche und glaubte, Hurtados entlaufenes Graufohlen
zu erkennen. Es trank nicht mehr am Euter der Hirschkuh, sondern äste bereits mit den anderen.
Lares ritt auch am Roten Berg vorbei, ohne die Stadt zu betreten. Angesichts der Türme und
Wälle sandte er den Palastwächter zum Mächtigen Felsen, er solle seinen Herrn vom großen Sieg
in Tlaxcala unterrichten.
Gegen Abend – der Rote Berg lag schon weit zurück – machte ihn sein totonakischer Beglei-
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ter auf eine Staubwolke aufmerksam. Lares saß ab, und sie versteckten sich abseits des Weges
im Gebüsch. Ein Trupp mexicanischer Speerträger näherte sich mit zwei gefesselten Männern.
Erst als sie fast herangekommen waren, erkannte Lares diese Männer: Zu seinem Erstaunen musste er Melchorejo und Julianillo wiedersehen!
Lares lockerte den Degen und ritt den Indianern entgegen. Die mexicanischen Krieger griffen
zu den Waffen, erschrocken über sein plötzliches Auftauchen, erkannten dann aber den Hirschmenschen und machten untertänige Friedensgebärden. Doch eine Verständigung war unmöglich.
»Wohin führt man euch?«, rief er die Gefangenen auf Spanisch an.
»Nach Mexico, Señor, zum König Moctezuma!«, antwortete Melchorejo voller Selbstmitleid.
Lares ließ dem Anführer der Mexica durch den Totonaken sagen: Diese Opfersklaven seien
Eigentum der Sonnensöhne und er verbiete, sie nach Mexico zu Moctezuma zu bringen. Der Anführer ließ daraufhin den Sohn der Sonne fragen, was mit den Sklaven geschehen solle, und ob er
Anspruch auf sie erhebe.
Lares sah ein, dass er nicht imstande war, die beiden Ausreißer an erneuter Flucht zu hindern. Er ließ antworten, die Sklaven müssten nach Tlaxcala geschafft werden, wo sich das Feldlager der Kastilier befinde. Der Häuptling versprach es, und alle setzten ihren Weg fort. Doch die
kühl lächelnden Gesichter der Mexica entgingen Lares nicht. Einen Augenblick schwankte er, ob er
ihnen nicht nachreiten und sich die Sklaven ausliefern lassen solle. Melchorejo und Julianillo hatten mancherlei gesehen und beobachtet; ihre Aussagen wären in Mexico willkommen. Doch Lares
war an den Auftrag gebunden, Wein aus Veracruz zu holen. So ritt er weiter ostwärts in die herabsinkende Nacht.
Nach kurzer Rast brachen die beiden schon vor dem Morgengrauen wieder auf und erreichten schließlich Cempoala. Lares trabte zwischen den weißgetünchten Mauerwänden – den Silberhäusern des Ritters Ordás – den Palasthügel hinauf, wurde sofort beim dicken Kaziken vorgelassen und von Dienern beweihräuchert. Den christlichen König der christlichen Stadt hatte in der
Zwischenzeit oft die Sorge geplagt, die alten misshandelten Götter könnten eines Tages wieder die
Tempelstufen erklimmen über ihn zu Gericht sitzen, da er dem Gott Dios und der Göttin Santa
Malía diente. Auch wegen seiner Enthaltsamkeit – er aß kein Menschenfleisch mehr – hatte er ein
schlechtes Gewissen. Die Siegesnachricht, die Lares ihm überbrachte, befreite ihn zu seiner Erleichterung von seinen Zweifeln. Denn endgültig war damit klargelegt, dass die alten Götter tot
blieben. Ihre einstigen, nunmehr getauften, geschorenen und mit Tonsuren versehen Priester
mussten auf königlichen Befehl in einer großen Prozession durch die Stadt schreiten und dem Gott
Dios und seiner Göttin Santa Malía mit Kopalrauch und Gedröhn der Muscheltrompeten für den
Sieg danken. Mit Enrico Lares, dem phantastisch geschmückten Pagen Orteguilla und einer Schar
von Würdenträgern begab sich el Gordo, wie stets von zwei kräftigen Sklaven gestützt, über den
Rasenplatz zum Haupttempel. Dort traf auch die aus der Stadt zurückkehrende Prozession ein.
Gemeinsam stieg man die Pyramidentreppe empor, wobei die beiden Sklaven des dicken Kaziken
heftig ins Schwitzen kamen. Oben im dunklen, von wenigen Kerzen und einem ewigen Licht trüb
beleuchteten Heiligtum, wo an Stelle der zerstörten Steingötzen das rosenumrankte Ölbild der heiligen Jungfrau aufgestellt war, schlachteten sie der christlichen Göttin dreihundert Hunde. Eigentlich sollten es fünfhundert, besser noch tausend Hunde sein, doch mehr waren in der Stadt nicht
aufzutreiben. Das Ersatzopfer war gut gemeint. Enrico Lares grinste in sich hinein, der alte Invalide
Juan Torrés jedoch schüttelte ablehnend den Kopf, denn er war allen Tieren zugetan, fügte sich
aber und sprach eine Litanei. Seine Wachskerzen flackerten wie missbilligend im finsteren Sanktuarium. Nach der heiligen Handlung wurde das Hundefleisch von Küchensklaven in Maiskuchen
gebacken und mit dem Segen der Priester an das Volk verteilt.
Die dicke Prinzessin nahm die Botschaft vom Sieg mit einer Würde entgegen, wie man die
von der Gemahlin des größten der Sonnensöhne erwarten durfte. Sie erklärte, sie habe von den
Söhnen der Sonne nie anderes als Siege erwartet; und der kleine weiße Sonnensohn, den sie unter dem Herzen trage, werde ebensolche Siege vollbringen. Da Doña Catalina India sich ihrer
Schwangerschaft wegen schonen musste, war sie nicht bei der Pyramide erschienen, ließ es sich
aber nicht nehmen, vor einem Messingkreuz eine Opferhandlung vorzunehmen. Sie riss ihrem
liebsten Blaufinken den Kopf ab und strich mit den Händen das Vogelblut aufs Kreuz.
Nach dem Gottesdienst bat Lares den dicken Kaziken für sich und seinen Läufer um Bad
und Bett. Er wollte sich nach kurzer Rast wieder in den Sattel schwingen und das letzte Wegstück
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nach Veracruz ohne Unterbrechung zurückzulegen. Doch der dicke Kazike ließ dies nicht zu und
überredete ihn (der Page Orteguilla leistete Dolmetscherdienste), die Abreise um einen Tag zu
verschieben: Gegen Abend werde er ein Festmahl geben, und da dürfe er nicht fehlen. Orteguilla
war nach wie vor der Liebling des dicken Kaziken. Die Wangen geschminkt, an sämtlichen Gliedmaßen mit Zierrat behängt und in wallender Perücke aus bunten Tukanfedern, glich er mehr einer
bengalischen Bajadere als einem Jungen.
*
Am nächsten Morgen ritt Lares nach Veracruz. Schon von weitem wurde er von einem Turmwächter bemerkt und alsbald erkannt. Man geleitete ihn zum Stadthaus, das auch »Kommandantenpalast« genannt wurde. Hier wurde Lares von Escalante, dem Richter Moreno Madrano, dem Vielschreiber und Schönredner Alonso de Grado, dem Schwätzer Pedro Baracoa und dem auf zwei
Stelzfüßen gehenden Steuermann Gonzalo de Umbría empfangen. Sie begrüßten ihn freudig,
Lares wurde mit einen Becher roten Alcantaraweins bewillkommnet, den ihm die Mulattin Beatriz
de Acevedo kredenzte. Ihre angeschlagene Schädeldecke war zwar geheilt, ihr Geist jedoch blieb
krank.
»Trinke auf unseren Sieg und auf das Gedeihen der Stadt, mein Bruder!«, sagte sie, denn
sie redete alle Männer seither mit ›Bruder‹ an. »Die Stadt ist mit Blut erbaut. Nur was mit Blut erbaut ist, hat Dauer. Unter dem Stadttor liegen vier Leichen begraben: ein toter Hahn, ein toter Affe,
eine tote Viper, ein toter Mensch... Darum ist die Stadt so schön geworden, wie alles, was fluchbeladen ist!« Sie spielte auf den alten Suárez an, den die Soldaten in der Tonne ertränkt hatten.
Lares antwortete nichts und trat mit Escalante ins Stadthaus. Er hatte schon auf dem Ritt
durch die Straßen bemerkt, dass Veracruz eine schöne Stadt geworden war. Das Gefängnisgebäude, die kleine Kirche, die dicken Festungsmauern standen fest und dauerhaft; keine Kalkgruben und Mörtelkellen waren mehr zu sehen, kein Schutt, keine gähnenden Fundamente oder unfertigen Mauern. Die Arbeit war binnen kurzer Zeit getan, wenn auch die siebzig zurückgelassenen
Invaliden wenig Verdienst daran hatten. Doch was Beatriz de Acevedo gesagt hatte, dass sie mit
Blut erbaut war, erkannte er bald als Wahrheit. Denn da der dicke Kazike über zu wenig Arbeiter
verfügen konnte – die meisten Handwerker taten Kriegsdienste und waren mit Cortés nach
Tlaxcala gezogen –, holten sich die Kastilier aus der huaxtekischen Nachbarschaft Arbeiter und
Arbeiterinnen. Sie hatten Raubzüge auf das rote Wild veranstalteten. Dabei floss immer wieder
Blut, denn die naturales ließen sich nicht freiwillig in die Knechtschaft führen! Die Sengende Glut,
Statthalter der huaxtekischen Provinz, erhob Klage und drohte mit Gegenmaßnahmen. Escalante
beschwichtigte und machte Versprechen, die zu halten er nicht imstande war.
Cortés hatte fast nur Krüppel, Verwundete und Kranke als Besatzung zurückgelassen. Und
manche, deren Wunden geheilt waren, blieben weiterhin arbeitsscheu und untätig. Zwar waren
einige am vómito negro erkrankt, dem schwarzen Erbrechen oder gelben Fieber, doch fast alle
Weißen litten an krankhafter Faulheit. Um die halb fertige Seefestung zu vollenden, holten sie sich
Arbeitskräfte, wo sie welche fanden.
Jetzt, da die Stadt erbaut war, bedurften die Kastilier keiner Indianer mehr, wollten auf hübsche Indianerinnen aber nicht verzichten. Sich »Rote Ware« aus der Umgegend zu holen, war
ihnen zur Gewohnheit geworden. Müßiggang tat sein übriges: Indianische Kuppler verrieten, wo es
schöne Mädchen zu erbeuten gab. Anführer war der schönrednerische Querulant Alonso de
Grado. Vor zwei Monaten hatte er Cortés beweisen wollen – erst mündlich und dann in einer kalligraphisch verschnörkelten Bittschrift –, dass er sich besser als Escalante zum Kommandanten von
Veracruz eignete; doch Cortés hatte diesen Zungendrescher richtig eingeschätzt und Grado musste mit dem Heer mitziehen. Bei der Zerstörung der Götzenbilder in Cempoala war er verwundet
und mit den anderen Verletzten an die Küste zurückgebracht worden. Da er der Hafenstadt nicht
als Alcalde vorstehen konnte, suchte er sich eine andere Beschäftigung.
Er hatte passende Genossen gefunden: Pedro Baracoa, der einstige Reitknecht des Grafen
de Urueña, und der Steuermann Gonzalo de Umbría, dem Cortés die Füße hatte abhacken lassen.
Auch als Krüppel hatte er nichts von seiner Wildheit eingebüßt; so flink wie einst lief er nun auf
kurzen Stelzen umher und wurde an Freibeuterzügen umso weniger gehindert, als er sich – wie
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auch de Grado und Baracoa – von indianischen Sänftenträgern an den jeweiligen Ort ihrer Untaten
tragen ließ.
»Wenn Ihr die Rückreise antretet«, sagte Escalante mit besorgter Miene, »werde ich Euch
bis Cempoala begleiten, um dort nach dem Rechten zu sehen. Cortés, der sich viel von den Dolmetscherdiensten Orteguillas verspricht, würde es mir nie verzeihen, wollte ich die Dinge laufen
lassen. Aber ich verlasse Veracruz nur ungern.«
»Droht Gefahr von der Küstenbevölkerung?«, fragte Lares.
»Nein. Nur von Weißen! Sie treiben's hier schlimm! Die Rothäute greifen verständlicherweise
zur Waffe, wenn Schwester, Weib oder Tochter angetastet wird. Bisher konnte ich das Schlimmste
immer noch abwenden und den mexicanischen Statthalter beschwichtigen. Aber das hat sich vor
ein paar Tagen geändert.«
»Was ist geschehen?«
»Ich erfuhr, dass Melchorejo und Julianillo aufgegriffen wurden und sich im Gewahrsam des
Statthalters befänden. Daraufhin ließ ich ihn auffordern, mir die beiden entlaufenen Sklaven auszuhändigen. Doch er lehnte mit höflichem Bedauern ab und schützte vor, er habe die beiden bereits an Moctezuma nach Mexico gesandt.«
»Ja, das stimmt!«, rief Lares und erzählte, dass er dem Trupp unterwegs begegnet sei und
dem Anführer befohlen habe, die Gefangenen nach Tlaxcala zu Cortés zu bringen.
Escalantes Finger zupften missmutig am weißen Knebelbart. »Ich bezweifle, dass die
Mexica sich um die Wünsche eines weißen Mannes kümmern, Señor!«
»Ich hätte sie nicht in meinen Besitz bringen können«, sagte Lares kleinlaut, »sie befanden
sich in der Überzahl. Außerdem wären sie mir vielleicht wieder ausgerissen.«
»Weder Euch noch mich trifft Schuld, höchstens das Schicksal, das diesem König Moctezuma Kundschafter in die Hände spielt!«
Wie Cortés angeordnet hatte, wurde in Veracruz der Friedensschluss mit Tlaxcala durch
Freudenschüsse, Beflaggung der Stadt und einem Dankgottesdienst gefeiert. Am Abend versammelten die Spanier sich im großen Sitzungssaal des Magistratsgebäudes zu einem Bankett. Es
war bereits bekannt geworden, dass Escalante tags darauf nach Cempoala reiten würde und von
Richter Moreno Madrano vertreten werden sollte. Die Abwesenheit des Kommandanten beschäftigte die Gemüter und allerlei Hoffnungen machten sich im Festsaal breit.
»Wisst Ihr, wen wir hier feiern?«, fragte Baracoa seinen stelzfüßigen Nachbarn.
»Die Dummheit der Tlaxcalteken und unsere Gottähnlichkeit!«, antwortete der Steuermann.
»Nein, die anbrechende Freiheit!«
»Sagt lieber die ausbrechende... oder einbrechende!«, verbesserte ihn Gonzalo de Umbría.
Lares wurde mit Beifall empfangen, als er in Begleitung Escalantes den Saal betrat. Escalante forderte ihn auf, den versammelten Bürgern der Stadt die Begebenheiten zu schildern. Während
er berichtete, wurde Grado aus dem Saal gerufen. Er blieb lange draußen, und als er zurückkehrte, hatte Lares seine Erzählung beendet. Jetzt wurde geschlemmt, gezecht und gelacht. Im Stimmengewirr musste Grado nicht befürchten, von unbefugten Lauschern verstanden zu werden.
»Was gab es draußen?«, fragte Baracoa.
»Mein blau gestreifter Totonake will sich Glaskorallen verdienen!«
»Und? Verdient er sie?«
»Mehr als das! So einen Kuppler gibt's auf der Welt nicht wieder!«
»Was wusste er denn Neues?«
»Glänzender Harnisch, der junge Kazike und Sohn des mexicanischen Statthalters Sengende Glut, geht morgen mit seinen Leuten ins Gebirge auf die Pumajagd. Sein kleines Bergschloss
bleibt so gut wie unbewacht...«
»Oho!«
»Der junge Kazike hat ein schönes Weib. Ihr habt sie neulich gesehen, wie sie zur Sänfte
hinausblickte. Dass Escalante uns morgen keinen Strich durch die Rechnung machen kann,
kommt zur rechten Zeit.«
»Hm. Ist das nicht leichtsinnig?«, meinte der Prahlhans.
»Bleibt daheim, Baracoa, wenn Ihr Angst habt, weil es eine Vornehme ist. Ich habe die Bauernmädchen satt!«
»Ja«, bemerkte Gonzalo de Umbría. »Füße habe ich nicht mehr, aber Augen habe ich noch
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im Kopf. Und um für Euch eine indianische Prinzessin zu ergattern, sollen wir unsere Haut riskieren?«
»Ihr werdet nicht leer ausgehen, Gonzalo. Der junge Kazike hat drei allerliebste Nebenfrauen, eine bezaubernder als die andere! Das Risiko ist klein! Das Bergschloss liegt abseits, die Männer gehen mit ihrem Herrn auf die Jagd. Wir pirschen uns vom höher gelegenen Hang heran, so
dass das Schloss unter uns liegt. Mit den Musketen machen wir die Dienerschaft nieder. Die Frau
des jungen Kaziken und seine drei Nebenfrauen werden natürlich geschont.«
»Bis auf weiteres.« Baracoa lachte. »Bis wir sie hier in unseren Häusern haben!«
*
Am anderen Morgen machten sich Escalante und Lares reisefertig. Die Sonne stand schon hoch,
als sie sich nach dem Frühstück zu den Pferden begeben wollten. Da fiel Lares noch etwas ein.
»Halt, Señor! Fast hätte ich die Hauptsache vergessen!«
Gestern musste er auf tausend Fragen antworten, sodass er noch keine Gelegenheit gehabt
hatte, die Flaschen Malvasier zu erwähnen.
»Kommt in den Keller, wir holen sie«, sagte Escalante.
Sie stiegen die steile Treppe hinunter, fanden Keller und Regale jedoch leer vor! Zu ebener
Erde, in Höhe der Gasse draußen, konnte man durch ein fensterähnliches Lüftungsloch die Füße
der Vorübergehenden sehen.
»Räuber«, sagte Escalante niedergeschlagen. »Aber vielleicht ist es gut so. Cortés wird daran ersehen, wie treu bewacht die Festung ist, und was er an meiner Aufsicht hat.«
»Cortés wird darüber lachen«, meinte Lares.
»Hoffentlich nicht. Es wäre besser, er nähme es ernst! Ich bin der Aufgabe nicht gewachsen!
Sagt ihm das! Sagt ihm, dass er mich abberufen soll, dass er einen eisernen Besen hersenden
soll, einen wie Alonso de Avila, um diesem Diebesgesindel Einhalt zu gebieten!«
»Wie konnten Diebe hier eindringen?«, fragte Lares. »Die Kellertür war verschlossen!«
Vom Fenster her ertönte das helle Gekicher der Mulattin. »Die Tür war verschlossen, das
Fenster aber nicht vergittert«, rief sie. »Suchst du die Flaschen, mein Bruder?«
»Was wisst Ihr von den Flaschen, Señora?«, fragte Escalante.
»Drei Männer waren verliebt in sie und wagten die Entführung. Der eine hat keine Treue, der
andere hat keine Ehre, der dritte hat keine Füße. Mehr weiß ich nicht. Flaschen sind wie Frauen,
man darf sie nicht verstecken. Wer sie versteckt, lockt Liebhaber an«, rief Beatriz de Acevedo,
lachte und lief davon.
So ritten Escalante und Lares ohne Malvasier nach Cempoala. Eine Stunde später verließ
auch Alonso de Grado mit seiner Bande Veracruz und schlug den südwestlichen Weg in die
huaxtekischen Berge ein. Sie bemerkten den jungen Indianer nicht, der auf flinken Füßen ebenfalls
nach Südwesten davoneilte und sie auf seitlichem Weg schon bald überholt hatte.
*
Der Gefleckte Berglöwe, der rotbärtige und rothaarige Sklave Gonzalo Guerrero, liebte es, in der
armseligsten Gegend der Stadt umherzuschlendern, das Treiben des arbeitenden Volkes zu beobachten und sich mit Mantelwebern, Seifensiedern, Blumenhändlern, Lackarbeitern und Korbflechtern in Gespräche einzulassen. Sein Ohr, an indianische Laute gewöhnt, hatte sich rasch in
der mexicanischen Umgangssprache zurechtgefunden. Der Schlagende Falke, dessen Eigentum
er war, hatte den gefangenen Weißen nicht zum Fächerhalter, Axtträger oder Sandalenbinder bestimmt. Nein, Auskünfte und Ratschläge erwartete er von ihm; doch um zu erhalten, was er
brauchte, musste er ihm Zeit und Gelegenheit geben, seine Zunge zu üben. Darum hatte er dem
Sklaven erlaubt, im Meer der Gassen unterzutauchen, ja sogar auf einem Einbaum über den
Schilfsee zu rudern und die benachbarten Orte zu besuchen. Jeder Fluchtversuch wäre unsinnig
und dumm, denn ein rothaariger Sklave wäre rasch wieder eingefangen.
Eines Tages erblickte der Gefleckte Berglöwe einen jungen Mann im Menschengewühl. Er
ging in der Tracht eines huaxtekischen Tonwarenhändlers und trug eine zuckerhutähnliche, spitze
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Kopfbedeckung aus Kaninchenhaarfilz. Der Gefleckte Berglöwe entsann sich, wie sein Herr, der
Schlagende Falke, auf der Lagune vor Chapultepec mit ihm zusammengetroffen war. Sie hatten in
einem Kanu gesessen und eine Nacht hindurch leise und eindringlich geredet. Gonzalo folgte dem
jungen Menschen durch das Labyrinth der Gassen, schließlich verschwand er im ärmlichen Haus
eines Obsidianmessermachers. Gonzalo ging ihm nach, doch in der staubgrauen, mit Steinsplittern
übersäten Werkstatt traf er nur auf einen alten mürrischen Mann. Der am Boden hockende Alte
sah kaum von seiner Arbeit auf und erwiderte den Gruß des Sklaven nur mit flüchtigem Nicken.
Der Gefleckte Berglöwe schaute eine Weile interessiert zu, wie der alte Mexica kunstfertig Feuersteinmesser herstellte. Die Gewandtheit des Alten war staunenswert; im Nu waren vor den Augen
des Gefleckten Berglöwen ein Dutzend Klingen entstanden, alle genau gleich in Größe und Gestalt.
»Ich möchte solch ein Messer kaufen«, sagte er zu dem Alten, »genauer gesagt, ich möchte
es gegen eine Hand voll Kakaobohnen tauschen.«
Jetzt hob der alte Arbeiter den Kopf. Staubgrau wie seine Werkstatt waren seine tief gefurchten Wangen. Er hüstelte. Misstrauisch schielte er zu dem Mann mit dem Sklavenhalsband hinauf.
»Wozu brauchst du ein Messer?«
»Ein Messer kann vielen Zwecken dienen!«
»Welchen?«
»Man kann damit Maiskuchen schneiden und Rohr und Blumen und Wildbret. Es gibt auch
Messer, die sich nach Herzen sehnen...«
Der Alte nickte nur.
»Das sind nicht die schlechtesten meiner Messer. Doch keinem sieht man an, wonach es
sich sehnt.«
»Ja, sie schauen alle gleich aus. Das ist der Vorteil bei Messern.«
Der Alte blickte ihm forschend ins Gesicht. »Denken alle Sklaven so?«
»Wenn alle Sklaven so dächten, gäbe es keine Sklaven und keine Herren mehr!«, erwiderte
der Gefleckte Berglöwe.
Im Gesicht des Alten zuckte es wie Wetterleuchten. Für einen kurzen Augenblick waren sie
Freunde. Er wies die Kakaobohnen zurück und schenkte ihm drei Messer.
»Die Armen sind Bilder der Götter!«, zitierte er ein mexicanisches Sprichwort. »Scharf sind
meine Messer«, fuhr er fort, »du kannst dir damit Bart und Haare scheren, wenn du dessen bedarfst. Die Geister der Nacht verraten dich nicht – und auch ich bin verschwiegen. Aber deine Augen werden dich verraten.«
»Meine Augen? Wieso?«
»Sie fragen und reden zuviel! Du musst gleichmütiger werden, damit man dich nicht durchschaut! Das kann dein Leben verlängern.«
Der Sklave wurde verlegen; er würde sich den Rat zu Herzen nehmen müssen.
»Wo ist der Jüngling, der vor mir dein Haus betrat?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Doch da hatte der Alte die Arbeit schon wieder aufgenommen und war wortkarg und mürrisch wie
zuvor. Er wisse nichts von einem jungen Mann in huaxtekischer Tracht, der ins Haus gekommen
sei. Oder sähe er hier jemanden?
Der Gefleckte Berglöwe sah ein, dass weitere Fragen zwecklos waren. Er verließ die Werkstatt, merkte sich aber Haus und Gasse.
Am nächsten Tag kehrte der Gefleckte Berglöwe in die Gasse zurück. Das Emblem einer
Federverarbeiterin zierte das Nachbarhaus des Messermachers. Der Gefleckte Berglöwe betrat
die Werkstatt unter dem Vorwand, sich das Federknüpfen anschauen zu wollen. Er wusste, dass
reiche Kaufleute geschickt gefertigte Federarbeiten sammelten. Mit Kunstfertigkeit bildeten die
Federmacher die Buntheit des Himmels und der Erde nach: Landschaften, Tiere und Dämonen,
Menschen und Götter. Große Federdecken dienten als Wandbekleidung; in lodernden Farben
tanzten Prinzessinnen, spielten Flöte oder schmückten sich mit Edelsteinketten und großen Blumen, und man sah vornehme Prinzen mit Räucherlöffeln oder Bällen. Für kleinere Geldbeutel gab
es auch weniger anspruchsvolle Waren: billige Fächer, Schilde, kleine Handfahnen mit einfachen
geometrischen Mustern, Mondsicheln oder Muscheln als Schmuck.
Es war ein Manufakturbetrieb, den er da betreten hatte. Die Federverarbeiterin beschäftigte
viele Frauen; an großen Tischen stellten die Arbeiterinnen die aus vielen Einzelteilen bestehenden
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Kunstwerke her. Gonzalo bewunderte die phantasievolle Vielfalt der Arbeiten, ließ sich deren Herstellung erklären und schaute in der stickigen, mit Daunenflaum geschwängerten Luft den geschickten Arbeiterinnen zu. Sie verarbeiteten die wertvollen Gefieder des gelben Reihers, des
Orangefinken, der Blauflügelente, des blauen Arara, des rosa Cocopapageien, der Purpurtangare,
des dunkelroten Chamolli, des weißen Sichlers, des schwarzen und gelben Trupials, des goldgrünen Quetzals, des schwarzblauen oder schwarzgrünen Türkisvogels, der Tukane und der metallisch glühenden Kolibris.
Immer wieder erschien der Gefleckte Berglöwe in der Werkstatt und war dort bald eine bekannte Erscheinung. Er hatte fremde, ferne Länder gesehen und konnte, wenn auch in fehlerhaftem Idiom, fesselnde Dinge erzählen. Und da er nun oft Gast im Hause war, blieb er manchmal
auch abends, wenn sich noch andere Besucher einfanden. Es waren meist Arbeiter und Arbeiterinnen, die in derselben Gasse tätig waren, aber auch ein Entenjäger, der tagsüber bis an den Hals
in der Lagune stand, den Kopf mit Schilfblättern verdeckt, um Wasservögel mit den Händen zu
fangen, weil Pfeilwunden das Gefieder der Löffelreiher und Ibisse entwertete. Außer ihm erschien
meist auch eine Wasserträgerin, die Trinkwasser in einem Bottich auf dem Rücken umhertrug und
der ärmeren Bevölkerung feilbot – denn das süße Wasser aus Chapultepec wurde vom großen
Aquädukt nur in die Paläste der Reichen geleitet.
Müde gearbeitet hockten dann alle am Boden der beengten Werkstatt, redeten nur wenig,
widersprachen aber auch nur wenig, wenn der Gefleckte Berglöwe aufreizende Worte von Geknechteten sprach, die ihre Fesseln zerreißen sollten. Verdrossen schüttelten sie nur den Kopf.
Für das Land jenseits des Ostmeers, wo die Sonne sich hebt, mochte das wohl stimmen. Aber in
Mexico waren die Herren zu mächtig. Der geweissagte Weltumschwung werde nichts daran ändern. Ob der Wandel kam oder nicht – was ging es sie an? Auch unter anderen Herren hätten sie
keine Verbesserung ihrer Lage zu erwarten. Die Reichen müssten den Untergang Mexicos fürchten. Sie aber, die Armen, hatten nichts zu fürchten – und nichts zu erhoffen.
Nach einigen Tagen brachte der Gefleckte Berglöwe das Gespräch auf den Nachbarn.
»Ein merkwürdig mürrischer Mann, aber ein guter Handwerker«, sagte er zur Besitzerin und
zog eines der Messer hervor. »Ich habe dies hier bei ihm gekauft; es schneidet vortrefflich!«
»Er heißt Steinerner Busch, und des Broterwerbs wegen müsste er nicht mehr arbeiten«, erhielt er zur Antwort.
»Nun, besonders wohlhabend erschien er mir nicht.«
»Und doch ist es so! Sein Sohn führt seit einigen Jahren Karawanen in die Nordprovinzen,
hat selber zu handeln begonnen und ist vom Herrn der Nase, vom Händlergott, begünstigt worden.
Nun ist er selbst ein reicher Kaufmann; der Steinerne Busch müsste nicht mehr arbeiten.«
»Warum tut er's dann?«
»Er kann vom altgewohnten Gewerbe nicht lassen, das ist es!«
»Vor einigen Tagen sah ich einen jungen Mann dort eingehen. Er war wie ein Huaxteke gekleidet. War es sein Sohn?«, fragte der Gefleckte Berglöwe.
»Nein, nein«, wehrte die Frau ab. »Der Sohn kommt prächtiger daher! Seit kurzem beherbergt er einen huaxtekischen Tonwarenhändler, einen jungen Menschen, der kommt und geht,
aber wir kennen ihn nicht näher.«
Mit Genugtuung stellte der Gefleckten Berglöwen fest, dass sein Auge ihn nicht getäuscht
und Prinz Felsenschlange erkannt hatte. Er teilte seinem Herrn diese Beobachtung mit. Der Schlagenden Falken sandte unauffällig einen Sklaven, der den Huaxteken um eine weitere geheime
Zusammenkunft bat.
*
Wenige Stunden vor dem Ausbruch des Popocatepetl ließ sich der Vorsteher des Hauses der
Edelsteine – dieser Rang war Cuauhtémoc, dem Schlagenden Falken, nach seiner Rückkehr aus
Cempoala von Moctezuma verliehen worden – von seinem rothaarigen Sklaven im Schutze einer
Gewitternacht durch die finsteren Kanäle des Stadtviertels Cuepopan rudern und betrat, bei einer
der ärmlichen der Gassen landend, das Haus des Obsidianarbeiters. Prinz Felsenschlange erwartete den Schlagenden Falken an der Tür und führte ihn aufs Hausdach, wo sie reden konnten, oh-
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ne belauscht zu werden.
Der Gewitterregen hatte sich ausgetobt und zog jetzt zum nordwestlichen Ufer des Schilfsees ab, doch noch immer zuckte Blitz auf Blitz über Mexico. Seit Tagen schon hatte sich der
Rauchfaden über dem Vulkan verdichtet und war zur schlanken Rauchsäule geworden. Aber die
blitzgeschwängerten Wolken behinderten jede Fernsicht und verdeckten die Vorgänge auf dem
Rauchenden Berg.
Doch andere Wolken verdüsterten die Herzen der beiden Freunde. Seit ihrer Begegnung vor
Chapultepec hatten sie verschiedene Ereignisse nachdenklich gestimmt. Verkleidet und unerkannt
war Prinz Felsenschlange in seiner Vaterstadt Tezcoco gewesen. Was er dort angetroffen hatte,
ließ Schlimmes erahnen. Durch den Friedensschluss zwischen dem Edlen Betrübten und der
Blauen Feder war die Stadt an den Schwiegersohn Moctezumas gefallen. Der aber war ein Mexica
geworden, ein Trabant des Zornigen Herrn. Das Volk verdammte diesen Verrat. Der Edle Betrübte
zerriss das Land in zwei Teile; Prinz Felsenschlange vernahm in den Straßen der Stadt auf Schritt
und Tritt Todesdrohungen gegen den Edlen Betrübten und sämtliche Freunde des Zornigen Herrn.
Felsenschlange machte ihm Vorwürfe. Das Amt des Vorstehers des Hauses der Edelsteine
hätte der Schlagende Falke um ihrer Freundschaft willen nicht antreten dürfen! Denn als Reichsschatzverweser sei ihm auch die Obhut über den Goldhort von Tezcoco anvertraut, den Cacama
nach Tenochtitlán gebracht hatte. Der Schlagende Falke mache sich mitschuldig, wenn er das
gestohlene Gut verwalte.
»Nein«, sagte der Schlagende Falke, »wir sind eines Herzens! Solange das himmlische Licht
auf Tenochtitlán scheint, gehört der Goldhort Tezcoco, mag er heute auch in Mexico verwahrt sein.
Nie werde ich zugeben, dass er zu einem anderen Zweck verwendet wird, als zum Wohle
Tezcocos.«
»Den Schatz des Herrn des Fastens wird Moctezuma für sich verwenden. Und wer dürfte es
wagen, ihm entgegenzutreten?«
»Ich!«, antwortete Cuauhtémoc. »Himmel und Erde vernehmen meine Worte! Ich will die Wut
des Zornigen Herrn nicht scheuen, sollte er einen solchen Frevel wagen!«
Prinz Felsenschlange ließ sich beschwichtigen. Besorgt erkundigte er sich nach der Herrin
von Tula und Prinzessin Perlendiadem. Sie waren vor einiger Zeit vom Zornigen Herrn »eingeladen« worden, in Tenochtitlán Wohnsitz zu nehmen, was einer Geiselhaft gleich kam. Der Schlagende Falke berichtete, dass er bei einem Fest Mutter und Tochter gesehen habe, ohne Gelegenheit zu finden, mit ihnen zu sprechen. Doch wurde bei Hof erzählt, dass die Herrin von Tula den
Prinzen Felsenschlange, ihren Sohn, beweine und für ein Opfer der Rachsucht Moctezumas halte.
Ungeachtet der Gefahr, der sie sich aussetzten, erhoben die Herrin von Tula und Prinzessin Perlendiadem laut ihre Anklagen. Und als jüngst die Gattin Moctezumas, die Königin Acatlan, sie in
ihrem Palast besuchen kam, ließen sie ihr nicht die übliche Schale Kakaosaft reichen, wie Sitte
und Anstand es verlangten. Höflich lächelnd hatte Acatlan sich verabschiedet, aber dann – beinahe von Sinnen vor Wut – bei Moctezuma Genugtuung für die Kränkung gefordert. Doch Moctezuma hatte wenig Neigung, sich in einen Frauenstreit zu mischen.
Der Schlagende Falke wollte der Herrin von Tula die Nachricht bringen, dass ihr Sohn am
Leben sei. Prinz Felsenschlange aber bat, das Geheimnis nicht zu lüften. Solange nämlich seine
Mutter und Schwester um ihn trauerten, werde auch der Zornige Herr an seinen Tod glauben.
Denn Tote können nicht mehr.
Das Rollen und Grollen des Rauchenden Berges hatte sich von Stunde zu Stunde gesteigert. Jetzt setzte mit Gewalt die Eruption ein. Noch immer verwehrte eine Wolkenwand den Blick
auf den Vulkan, die Atmosphäre zitterte und bebte, doch noch immer blieben die Flammen unsichtbar. Plötzlich schwankten die Mauern; knisternd zeigten sich klaffende Risse im Flachdach
des Hauses. Ein Erdbebenstoß erschütterte ganz Tenochtitlán. Der Obsidianarbeiter stürzte aufs
Dach, beschwor die Prinzen, sein baufälliges Haus zu verlassen. Doch sie blieben und setzten ihr
Gespräch fort. Unten in der Gasse liefen aufgeschreckte Bewohner umher, kämpften an den Landungsstellen um Kanus. Auf den finsteren, nur von Blitzen erleuchteten Kanälen wimmelte es von
überfüllten Booten, die alle der Lagune zustrebten.
Nach einer Stunde verzog sich das Gewölk und gab den Blick auf den flammenspeienden
Berg frei. Jetzt stiegen auch die beiden Freunde die steile Treppe zur Gasse hinunter. Im Getümmel der ängstlich flüchtenden Menge kamen sie nur mühsam voran. Die Riesenfackel des bren-
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nenden Berges erhellte die Stadt, als wäre es lichter Tag; die Gestirne verblichen, und die heiligen
Feuer auf den Tempelpyramiden schienen gelöscht.
*
Die erbetenen fünfhundert Lastträger waren bei Sonnenaufgang zur Stelle. Die Zelte wurden abgebrochen und auf Tragbahren verpackt. Auf der Plattform des ehemaligen Heidentempels, der
torre de la victoria, war ein hölzernes Kreuz aufgerichtet; dort oben hielt der Dominikaner Juan
Díaz einen Dankgottesdienst (Pater Olmedo war an Fieber erkrankt), und der alte Soldat Alonso
Durán amtierte in weißem Spitzenröckchen als Ministrant.
Der Popocatepetl hatte sich ausgetobt. Die weiße Schneekappe des Vulkans war abgeschmolzen, gläsern leuchtend und glitzernd hoben sich rote Adern frischer Lava von schwarzem
Gestein ab.
Nach der Messe rührte Benito Bejel die Trommel, und Rodríguez blies in seine lilienförmige
Kupfertrompete. Der Heerzug setzte sich in Bewegung, kriegsmäßig, in strenger Ordnung, als ginge es zur Schlacht. Den Scharfschützen voraus zogen die Kavalleristen, angeführt von Diego de
Ordás.
Die Luft war voller Aschenstaub; fein schwebte er herab und verschleierte die Sonne, dass
sie eher dem Mond glich – eine strahlenlose runde Scheibe. Aschenstaub senkte sich auf die
Schreitenden, auf die Geschützrohre und den gesamten Tross, auf Steine, Gräser und Helme.
Der Weg führte an einem indianischen Kloster vorbei. Der Orden der Quaquiles lehrte die
Rückkehr des Heilbringers Quetzalcoatl und war Menschenopfern abhold. Zypressen überragten
das kleine flache Gebäude mit seinen zehn Insassen. In langen, bis auf die Füße reichenden Mänteln traten die Mönche aus dem Tor, das Haar zu Knoten gebunden. Eine vornehm gekleidete Indianerin sowie drei Knaben im Alter von neun bis dreizehn Jahren warteten neben dem Vorsteher
des Klosters, einem hageren, ernsten Mann. Zwei der Mönche schleppten eine hölzerne Leiter; ein
Dritter hielt eine bunte Agavepapierkrone in der Hand, ein Vierter einen Napf mit Wachtelblut, und
die übrigen trugen Räucherwerk in Händen. Sie fragten einen der Totonakenhäuptlinge, wo der
oberste Sohn der Sonne sei, worauf der Totonake auf den stolz dahintrabenden Hirschmenschen
mit dem blonden Vollbart, dem grünblau blinkenden Stahlhelm und dem Stahlharnisch zeigte.
Cortés, hoch zu Ross, nickte herablassend. Auf seinen Wink trug man die Sänften Marinas
und des kranken Paters Olmedo herbei; das Heer machte Halt. Auch der weiter hinten
daherstapfende, schnaufende und schwitzende Lizentiat Juan Díaz kam nach vorn.
Der Vorsteher des Klosters redete ihn als »Stern des Morgens« an, den Erwarteten, den seit
Jahrhunderten Herbeigesehnten, der vom Ostmeer gekommen sei, den Völkern den Frieden zu
bringen, die Tränen der Witwen und Waisen zu trocknen und die Zahl der Toten zu verringern,
nachdem er – selbst ein Toter – zu den Toten hinabgestiegen und vier Tage lang ein Knochen
gewesen sei.
Cortés fiel die Ähnlichkeit mit dem christlichen Bekenntnis auf. Er fragte den Lizentiaten Juan
Díaz, wie das möglich sei, und der hatte nur eine Erklärung: Es war eine Machenschaft des Teufels! »Er hält Euch für die Inkarnation dieses Quetzalcoatl. In den verführten Seelen dieser armen
Heiden verzerrt Satan unseren Glauben wie in einem Hohlspiegel!«, rief er aus.
Der Quaquilen-Abt bat um die Vergünstigung, den Sohn der Sonne ehren zu dürfen, wie
man Götter ehrte. Cortés hatte nichts einzuwenden, doch Fray Juan Díaz protestierte. »Nein!« rief
er in leidenschaftlichem Eifer. »Wenn Ihr Euch diesen heidnischen Mythos zunutze macht, begebt
Ihr Euch in die Nähe der Ketzerei! Das Sanctum Offizium...«
Cortés unterbrach: »Ihr seid nicht bei Trost, Padre. Die Mexica glauben, ihre Zukunft sei in
der Vergangenheit festgelegt. Ich aber sage: Ihre Vorstellung, wer wir sein könnten, bestärkt sie
wegen der scheinbaren Realität in ihren Legenden. Nicht umgekehrt! Die Heilige Inquisition wird
sicher einverstanden sein, wenn wir die Völker Mexicos dem rechten Glauben zuführen. Dazu
braucht es zuerst das Vertrauen der armen Heiden. Aber das ist Politik, und davon versteht Ihr
nichts!« Und an Marina gewandt, fügte er hinzu: »Sag ihnen, sie dürften mich ehren.«
Marina übersetzte auf ihre Weise. »Mein Herr, den Fürsten des Sonnenaufgangs, ist gerührt
über die Treue, die ihm über die Jahrhunderte von Euch bewahrt wurde, und freut sich über die
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Ehrung. Er wird Euch vor Verfolgung schützen und mit Frieden belohnen.«
Da stellten die Mönche die Leiter an Romos Flanke. Der Klostervorsteher stieg hinauf, und
durch Marinas Vermittlung bat er Cortés, den Helm abzunehmen. Cortés kam dem Wunsch nach
und ließ sich geduldig die Papierkrone aufs Haupt stülpen. Einer der Mönche reichte den Napf
empor. Cortés wurde stutzig und fragte, was damit geschehen solle. Blut werde ihm übers Haupt
gegossen, lautete die Antwort. Doch Cortés hatte sich mit Sorgfalt gekleidet, um beim Einzug in
Tlaxcala als Held und höheres Wesen bewundert zu werden. Es war kaum möglich, dass er sich
vor der Stadt umkleiden und säubern konnte. Also beriet er sich mit Velásquez de León und Alvarado.
»Wer ein Götze sein will, muss sich Salböl gefallen lassen!« Alvarado grinste. »Die in
Tlaxcala werden Euch umso höher schätzen, wenn Ihr als Gesalbter des Herrn durch ihre Gassen
reitet.«
León und Olmedo pflichteten bei. So fügte sich Cortés. Der Napf wurde über ihm ausgeleert,
und wie roter Lack lief das Blut über sein dunkelblondes Haar, floss über Stirn, Wangen und Kinn
und tropfte auf die Rüstung.
In tiefem Bass stimmten die Mönche ein Lied an; der Text hörte sich klagend an, doch die
Spanier verstanden kein Wort. Cortés ließ Marina übersetzen:
»Und siehe, so lehrten unsere Väter, unsere Ahnen,
Und sie sagten: Uns machte, uns erschuf, uns richtete auf
Unser Schöpfer Quetzalcoatl, unser Prinz,
Und er erschuf Himmel, Sonne und den Erdkreis.«
Nachdem das Lied verhallt war, winkte der Abt die Frau und die drei Knaben heran. Sie näherten sich schüchtern, doch in vornehmer Haltung, und grüßten nach Indianerweise. Wer die Frau
sei und was sie begehre?
Der Klostervorsteher erklärte Marina, die Frau hieße Xoantzín, die Windende Schlange, und
sei eine Beschützerin des Quaquile-Ordens; sie entstamme dem Fürstengeschlecht Derer-imRegenland und war die Gattin eines der ersten Feldherrn Tlaxcalas, des Fürsten von Atlihuetza,
mit Namen Kiefernzweig und Freund des Prinzen Goldmaske. Windende Schlange sei voller
Sehnsucht nach der Wiederkunft ihres Gottes und hätte keinen größeren Wunsch, als dem Kreuzträger ihr Herz und die Herzen ihrer drei Söhne darzubringen. Im Durcheinander der vor Erwartung
fiebernden Stadt seien sie unbemerkt hergekommen, um als Erste der Tlaxcalteken Christen zu
werden, denn sie hätten erfahren, dass die Söhne der Sonne die Totonaken durch schlichtes
Wasser zu ihresgleichen gemacht hatten.
»Sie will sich taufen lassen!«, rief der fette Lizentiat Juan Díaz triumphierend. Cortés hätte
den Wunsch gern erfüllt, doch Pater Olmedo lehnte ab. Man hatte in Cempoala schlechte Erfahrungen mit übereilten Taufen gemacht. Marina musste der Frau mitteilen, sie sollten sich gedulden;
in Tlaxcala würden sie getauft.
Die Mönche und die Frau sahen sich an.
»In der Stadt kann es nicht geschehen!«, sagte die Windende Schlange mit schmerzlichem
Lächeln.
»Warum nicht?«, fragte Marina.
Weil ihr Gatte Kiefernzweig es dort verhindern werde, sagte sie. Eher werde er sie und ihre
Söhne umbringen, als zuzulassen, dass sie Christen würden. Nichts auf der Welt verabscheue
Kiefernzweig so sehr wie das Kreuz und die Diener des Kreuzes.
»Sagtest du nicht, dass er ein Freund des Prinzen Goldmaske sei?«, erkundigte sich Cortés.
»O Sohn der Sonne, o unser Herr! Dich hasst Prinz Goldmaske ebenso. Doch sein Gesicht
verbirgt, was sein Herz denkt.«
»Prinz Goldmaske war bis vor kurzem unser Feind. Aber er hat Frieden mit uns geschlossen
und uns gehuldigt.«
Windende Schlange blickte zu Cortés auf und sprach dabei zu Marina: »Ja, und gleich darauf ging er zu Kiefernzweig. Und ich sah, wie sie am Herdfeuer dem Türkisherrn Maiskörner
streuten. Sie saßen viele Stunden beisammen und verwünschten den Frieden!«
Marina übersetzte, und Cortés antwortete:
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»Warum sollten er und Kiefernzweig mich hassen? Unser Friedensbündnis birgt doch für die
Tlaxcalteken auch Vorteile. Gemeinsam werden wir Moctezuma entmachten.«
»Aber du hast ihm Schmach angetan!«
»Schmach? Ich? Wir waren Gegner, ja, aber nun herrscht Frieden. Seither habe ich ihm den
Respekt gezollt, der einem großen Heerführer zusteht.«
»Und du glaubst, damit sei aus der Welt geschafft, was zwischen euch stand?«, gab Windende Schlange zu bedenken. »Goldmaske hat nicht vergessen, dass du seinen fünfzig Abgesandten die rechte Hand abhauen ließest und die Verstümmelten an ihn zurückgeschickt hast. Die
eigentliche Demütigung aber war deine Botschaft: ›Bringt Eurem Häuptling in Erinnerung, dass der
Sieger bestimmt, wann Frieden sein soll!‹«
Cortés blickte zu León und Alvarado hinüber. »Wir müssen ihre Worte im Gedächtnis behalten, meine Herren!«, sagte er. Dann wandte er sich zur Tlaxcaltekin:
»Geh nach Hause, Frau, und sei ohne Furcht. Wir werden dich und deine Söhne taufen, ob
es Kiefernzweig recht ist oder nicht!«
*
Es war der 18. September 1519. Durch den Schleier des feinen Aschenschnees hindurch konnte
man die mächtige Staubwolke, die das Christenheer aufwirbelte, schon von weitem sehen. Zu
Hunderten strömten die Bewohner Tlaxcalas aus dem Tor in der Umfassungsmauer den Ankömmlingen entgegen. Diego de Ordás musste seiner Grauschimmelstute mehr als einmal mit der Kandare das Maul kitzeln und ihr die Weichen mit den spannenlangen Rittersporen ritzen, um als Erster ins Ziel zu reiten. Silberne Häuser wie in Cempoala fand er nicht, denn alle Gebäude waren mit
bunt gemusterten Baumwolldecken, teppichähnlichen Matten und Blumengewinden behängt. Girlanden überspannten die Straßen, sodass Ordás sich ducken musste, um darunter hindurchreiten
zu können. Als in einer der Gassen eine Girlande noch tiefer hing und ihm bis zum Sattel reichte,
blieb sein Ross stehen und beschnupperte die Blumen, als wären sie Heu. Doch Ordás ließ sich
nicht aufhalten. Mit angelegtem Speer ritt er eine Attacke gegen die Girlande, die der Wucht seines
Angriffs nicht standhalten konnten und zerfetzt und zertrampelt am Boden lag.
Das Volk hatte nicht gleich begriffen, dass der Angriff den Blumen galt; es stob auseinander
und kreischte. Doch schnell sammelte es sich wieder, um den entsetzlichen Hirschmenschen voller Neugier und Grauen anzustarren. Was mochte ihn bewogen haben, gegen Blumen zu fechten?
Was bezweckte er damit, was plante er? Weshalb drückte er sich selbst so wütend die Flanken?
Einer der Umstehenden fand des Rätsels Lösung: Das Maul des armen Tieres schäumte vor
Anstrengung und war rot von Blutstropfen, weil die Kandare es misshandelt hatte. Sie aber glaubten, der Hirschmensch habe einen Menschen gefressen – darum war er blutig am Maul! Rührte er
sich nicht vom Fleck, weil er wieder Hunger nach Menschenfleisch hatte? Musste man ihn besänftigen, sättigen und verhindern, dass er seine Gier an den Bewohnern Tlaxcalas ausließ?
Binnen kurzer Zeit war ein Opfersklave zur Stelle. Er wurde dem Hirschmenschen zum Fraß
vorgelegt, aber der machte keine Anstalten, die Speise zu verschlingen. Da fragten sie ihn demütig, ob man ihm den Sklaven schlachten und zerlegen solle. Ordás verstand nicht, was die Leute
wollten. Unwirsch rief er auf Spanisch, sein widerspenstiges Pferd nicht noch scheu zu machen.
Zum Glück hatte ihn jetzt die Vorhut des Heeres eingeholt, und mit den Kavalleristen kam auch
Enrico Lares heran, der genug von der Landessprache verstand, um zu erkennen, wie besorgt die
Bewohner der Stadt um das leibliche Wohl ihrer Gäste waren.
Die Reiter lachten ausgelassen, nur Ordás empfand es als schamlos, die gut gemeinte Absicht der Leute zu verlachen. So wies er Lares an, den Tlaxcalteken für ihre Freundlichkeit zu danken.
*
Tlaxcala hatte zehntausend Feuerherde – was einer Bevölkerungszahl von ungefähr hunderttausend Einwohnern entspricht. Cempoala, die erst vor kurzem so bestaunte Stadt, erschien ihnen im
Vergleich zu Tlaxcala wie ein Dorf. Aber Tlaxcala war nicht reich. Seit mehr als einem halben
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Jahrhundert von Mexico bedrängt, war die Stadt verarmt. Die Häuser waren meist aus Lehmziegeln erbaut, nur vereinzelt sah man einen behäbig daliegenden Steinpalast, und mit Ausnahme
weniger Kriegshäuptlinge trugen die Tlaxcalteken und Tlaxcaltekinnen bescheidenen Schmuck. Es
war ein schlichtes, kriegsgewohntes Bergvolk. Bunt war das Bild, das sich den Einziehenden bot.
Noch kannten die Kastilier die Zentren der toltekischen Kultur nicht: Cholula, Tezcoco, und Tenochtitlán. Sie bestaunten Tlaxcala mit seinen großen und kleinen Marktplätzen, Töpfereien, Barbierstuben und Badehäusern als das größte der bisher erlebten Wunder und glaubten sich mehr
denn je in einer Märchenwelt.
Die Stadt war durch den Zusammenschluss von vier alten Orten entstanden, deren Bewohner je einem der vier Hauptstämme des Landes angehörten. Auf einem steilen Felshügel stand der
festungsartige Palast des Wollrings; hoch erhob er sich übers Ufer des die Stadt durchströmenden
Flusses Zahuapan. Mauern und Tore grenzten die Stadtviertel voneinander ab. Am ersten der inneren Stadttore wartete König Listiger Marder, umgeben von allen Häuptlingen Derer-imRegenland, und überreichte dem vorbeireitenden Cortés mit überschwänglichen Begrüßungsworten einen Strauß Kienfackelblumen. Am nächsten Tor erwartete Wollring, der König Derer-auf-denBergen, das Christenheer; seine Gabe an Cortés war ein Strauß Maiskolbenblüten. Am dritten Tor,
wo Die-unter-den-Pinien wohnten, stand der Blutige Schild und beschenkte Cortés mit einem
Strauß maulbeerfarbenen Ohrenblumen. Das letzte Tor war leer; das Oberhaupt Der-auf-derKalkerde, der hundertjährige König Wespenring, harrte seines hohen Alters wegen an den niederen Treppenstufen vor seinem Palast, wo er einen Strauß Rabenblumen übergab und Cortés einlud, mit seinem Heer im Tecpan Quartier zu nehmen.
Cortés verbeugte sich tief vom Sattel herab, zwang sein Pferd Romo, vor dem Greis niederzuknien, und nahm mit höflichen Worten die Gastfreundschaft an.
*
Das Heer hatte in den fürstlichen Sälen Quartier bezogen. Cortés ließ den Tecpan sofort in eine
Festung verwandeln. Die Singende Nachtigall wurde am Haupteingang postiert, und die Kartaunen, Feldschlangen und Falkonette bewachten die seitlichen und hinteren Palasttore, sodass die
angrenzenden Gassen unter Feuer genommen werden konnten. Schildwachen wurden aufgestellt
und den Soldaten untersagt, das Quartier zu verlassen. Innerhalb der Mauern jedoch war es ihnen
gestattet, sich die Freizeit nach Belieben mit Würfelspiel, Tanz und Gesang oder mit den Mädchen
zu vertreiben, die ihnen von Marina geschenkt worden waren. Auch für leibliche Genüsse – Wildbret, Obst und Pulque – war gesorgt. Im geräumigen Tecpan und seinen Nebengebäuden und
Gartenhäusern fanden alle Christen, Dirnen und totonakischen Bundesgenossen - an die dreitausend Menschen – reichlich Platz.
Marina hielt Cortés zaghaft vor, dass er das Volk durch seine Vorsichtsmaßregeln kränke.
Cortés hielt sich mit der Antwort zurück, die er dem Alvarado gab: dass Indianer Indianer blieben.
Er rief Marina die Aussagen der Windenden Schlangen ins Gedächtnis, dass Prinz Goldmaske und
dessen Freund Kiefernzweig untreu sein könnten. Marina schüttelte den Kopf; sie vermochte nicht
an die Untreue der beiden Männer zu glauben. Das seien bloß zwei Hitzköpfe, sagte sie, die den
Rat der Alten nicht dazu bewegen könnten, eine Treulosigkeit zu begehen oder gutzuheißen. Sie
kenne sich besser aus in den Seelen der Indianer und könne dafür einstehen, dass es keine verlässlicheren Feinde, aber auch keine verlässlicheren Freunde gebe als die Tlaxcalteken. Die vier
Könige, der Senat und der Adel Tlaxcalas würden Seite an Seite mit den Christen siegen oder
sterben. Dies gelte auch für das Volk; Feindseligkeiten seien von ihm nicht zu erwarten, nachdem
es dank der Märchen der Totonaken mit Ehrfurcht vor den Weißen erfüllt sei.
»Was für Märchen?«, fragte Cortés.
»Die Totonaken glauben, dass sich bei unserem Einzug heute Spione Moctezuma in der
Menge befunden haben, wie auch andernorts. Daher erzählten sie auf Fragen, die über euch gestellt wurden, viel mehr, als sich mit der Wahrheit verträgt.«
»Spann mich nicht auf die Folter, Marina! Was haben die Leute erzählt?«
»Sie sagten, damit es weit und breit, auch jenseits der Großen Mauer nachgeplappert werde,
die weißen Männer seien unverwundbar und unsterblich.«
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»Ja, anfangs glaubten das alle naturales – die in Veracruz und Cempoala. Aber ich kann mir
nicht vorstellen, dass inzwischen nicht längst durchgesickert ist, dass wir bei den Gefechten Verwundete zu beklagen hatten.«
Marina schüttelte den Kopf. »Die Totonaken haben solche Berichte als Geschwätz abgetan.
Alle Fabeln über die menschenfressenden Hirschungeheuer wurden von ihnen bestätigt und ins
Maßlose übertrieben. Den Hund Becerrico bezeichneten sie als den Gott der Raubtiere, und seine
lange, aus dem offenen Rachen hängende Zunge beschrieben sie als rote Giftschlange. Die weißen Frauen aber seien menschengesichtige Vögel. Sie flögen nachts im Lande umher, um die
Männer ihrer Augen und Herzen zu berauben.«
»Gut!«, sagte Cortés. »Wenn es uns nützt, wollen wir sie in dem Glauben lassen.«
*
Am Abend erschien eine Abordnung des Hohen Rates vor Cortés, um die Kastilier zu einem großen Fest einzuladen. Fünftausend Tänzer in farbenprächtigen Trachten sollten ein gewaltiges Gepränge darbieten. Dem Befehlshaber war klar, dass er die Einladung nicht ausschlagen durfte,
wollte er die Tlaxcalteken als Verbündete dauerhaft an sich binden. Doch die Soldaten müssten
einsatzbereit in den Quartieren verbleiben. Der caudillo bedankte sich mit gesetzten Worten und
gab seine Zusage, mit einigen Hauptleuten und der Malintzín zum Fest zu erscheinen.
Es mochte nicht ohne Risiko sein, doch Cortés glaubte, es verantworten zu können. So erteilte er seine Befehle, übertrug Sandoval das Kommando im Tecpan und gab ihm die notwendigen Anweisungen, sollte es zu einem Zwischenfall kommen. Er würde sich von Velásquez de
León, Alvarado, Ordás, Olíd und Tapia begleiten lassen.
Cortés und die Feldobristen ritten im Schritt neben der Sänfte Marinas und ihrem kleinen
Hofstaat. Die Gassen waren kaum belebt; alles Volk war beim großen Marktplatz versammelt. Die
Stadtteile, durch die sie kamen, waren wie ausgestorben. Häuser und Paläste waren von den Bewohnern verlassen; offene Tore ohne Wächter zeugten von der Sorglosigkeit der Bewohner. Kaum
jemand war zu sehen, nur hier und da schaute ein altes Gesicht der Kavalkade nach.
11. Weißer Sommervogel
»Unsere christliche Religion entspricht allen Völkern der Welt in gleichem Maße und empfängt alle in gleicher Weise, sie nimmt keinem seine Freiheit oder sein Land und zwingt
auch keinen in die Knechtschaft.«
(Bartolomé de las Casas, Historia 2)
Ein streng gehüteter Gefangener – oder war es eine Gefangene? – nutzte die Gelegenheit zur
Flucht. Weißer Sommervogel, der schöne Hermaphrodit, konnte die Bewacher überlisten.
Prinz Goldmaske hatte die Entscheidungsschlacht gegen Cortés verloren, weil er das Zelt
seines Mitfeldherrn Pimoti, des Lanzenträgers, umstellen und Weißer Sommervogel daraus rauben
ließ. Goldmaske war der zauberhaften Knäbin so verfallen, dass ihm die verlorene Schlacht durch
diesen Besitz aufgewogen schien. Er hielt Weißer Sommervogel in seinem Palast als das wunderbarste, einmaligste Wesen gefangen. Das frühere Vergehen hatte er dem Hermaphroditen verziehen; der Todesstrafe war er durch den geglückten Todeslauf entkommen – nun war er unantastbar!
Goldmaske war verliebt und dachte nicht an Vergeltung. Er verwöhnte Weißer Sommervogel
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wie zuvor, behängte ihn mit Juwelen, gab ihm Fächerträgerinnen, Sandalenbinderinnen, Haarkämmerinnen, Girlandenflechterinnen und schenkte ihm einen überaus kostbaren Handspiegel aus
schwarzem Obsidian, damit auch er sich an seiner einzigartigen Schönheit erfreuen könne. Fünf
alte Frauen hatten den Auftrag, das Zwitterwesen nie aus den Augen zu lassen. Nur in wenigen,
von Fontänen gekühlten Räumen durfte Weißer Sommervogel sich aufhalten; nur in einem kleinen
Teil des Gartens durfte er lustwandeln.
Als Feldherr konnte Goldmaske beim Fest nicht fehlen. Es war vorauszusehen, dass er erst
zur Nachtzeit zurückkehrte, und so erlaubte er auch seinen Haupt- und Nebenfrauen in Begleitung
ihrer Sklavinnen dem Spektakel auf dem großen Marktplatz beizuwohnen. Mit und ohne Erlaubnis
entfernten sich die meisten der Palastdiener; dann schlichen sich mehrere der alten Wächterinnen
Weißer Sommervogels von Neugier getrieben davon. Schließlich waren außer dem Hermaphroditen nur noch zwei Wächterinnen und einige unmündige Kinder des Prinzen im Palast.
In einem kleinen Saal, der nur einen Zugang besaß, spielte Weißer Sommervogel mit einem
der kleinen Prinzen, einem vierjährigen Knaben. Vor der offenen Tür hatten die zwei Wächterinnen
Platz genommen und tratschten über wahren, vermuteten und erfundenen Palastklatsch. Weißer
Sommervogel wusste, dass der Palast leer war. Heute konnte er entkommen – oder nie! Mit einer
List gedachte er, die Aufmerksamkeit der Weiber abzulenken.
Prinz Goldmaske hatte ihm vor einiger Zeit einen schön geflochtenen bunten Gurt geschenkt. Weißer Sommervogel nahm den Gurt ab, löste die Schnalle und begann, die dünnen
Schnüre aufzuflechten. Dann fertigte er ein feines Seil daraus und knüpfte an das Ende eine
Schlinge, dessen Knoten sich bei Belastung immer straffer zusammenziehen, aber nicht lockern
würde. Er hörte das Plappern seiner Wächterinnen vor der Tür und vernahm das Ächzen der Stühle, wenn die Frauen sich bewegten. Mit berechnender Kaltblütigkeit machte er beim Spiel kleine
Späße, lachte und kicherte wie ein Mädchen. Inzwischen war das Werkzeug seiner Schläue gediehen. Er legte die Schlinge dem Knaben um den Hals und band das Ende des dünnen Seils an
einen Fackelhalter der Saalwand. Weißer Sommervogel entfernte sich vom Kind, streckte die Arme aus, lockte es zu sich. Das Kind sprang auf, wollte sich spielend und lachend in seine Arme
werfen, doch die Schlinge zog sich zu und schnürte dem Knaben die Luft ab. Das Kind, das eben
noch ausgelassen lachte, röchelte laut, begann um sich zu schlagen, versuchte sich zu befreien,
doch die Schlinge zog sich immer mehr zu, raubte ihm Atem und Besinnung.
Von den Geräuschen aufgeschreckt, schauten die beiden Wärterinnen durch die Tür. Sie
sahen den Knabe zusammengesunken liegen, mit aus den Höhlen getretenen Augen und hervorquellender Zunge. Der Knabe war der Lieblingssohn des Prinzen Goldmaske; geschah ihm ein
Leid, war ihnen der Tod gewiss. Sie eilten herbei, um das Kind zu befreien, bemerkten, dass die
Schlinge sich nicht mit den Fingern öffnen ließ und mussten vorsichtig, um das Kind nicht zu verletzen, die Schnur am Hals durchschneiden. Darüber verging kurze Zeit, und Weißer Sommervogel konnte entwischen.
Er rannte durch den langen Gang davon. Doch während die eine der Frauen das Kind betreute, sprang die andere zu einem der Fenster und alarmierte Vorübergehende. Neugierige blieben stehen, und als Weißer Sommervogel herausgestürzt kam, verfolgten sie ihn. Und mit jeder
Gasse, durch die er kam, wuchs die Zahl seiner Verfolger.
*
Die geländerlose Holzbrücke über den Zahuapan-Fluß war breit genug für drei nebeneinander
trabende Reiter. Wegen der Regenzeit führte der Fluss viel Wasser. Hinter der Häuserreihe der
jenseitigen Uferstraße musste sich der Festplatz befinden; schon waren Gesänge und Musik zu
hören. Marinas Sänfte hatten die tlamamas bereits über die Brücke getragen; Cortés und seine
Begleiter wollten gerade folgen, als eine lärmende Volksmenge nahte, die ein flüchtendes Wesen
verfolgte, offenbar eine junge Frau. Weißer Sommervogel sah sich in die Enge getrieben: vor sich
die von Hirschungeheuern benutzte Brücke, hinter sich der johlende Pöbel. Da warf die Knäbin
sich in die Wellen. Wenn sie den Wassergeistern entkam und das andere Ufer erreichte, war sie
gerettet!
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Doch die Strömung war zu stark, der Kampf gegen die Wellen aussichtslos. Ordás konnte
keine Frau in Not sehen. Er trieb seine Graustute ins Wasser. Olíd und Tapia folgten seinem Beispiel, aber die Ertrinkende wurde von der Strömung fortgerissen. Geistesgegenwärtig galoppierte
Alvarado am Ufer stromabwärts, sprang ab und konnte Weißer Sommervogel gerade noch zur
rechten Zeit packen und ans Ufer ziehen. Da bemerkte er die fast überirdische Schönheit der Geretteten. Weißer Sommervogel war ohnmächtig und schlug nach einer Weile die Augen auf.
Nun erlebten die Spanier, dass das Informationssystem ihrer Gastgeber funktionierte. Prinz
Goldmaske hatte bereits von dem Vorfall gehört, eilte herbei und beanspruchte Weißer Sommervogel als seinen Besitz. Cortés sah kein Hindernis, ihm das Mädchen auszuliefern, an dem er sehr
zu hängen schien. Die Dankbarkeit des Prinzen war nicht geheuchelt; besonders für Alvarado hegte er seit diesem Tag freundliche Zuneigung.
Auch sein Rivale Pimoti, der Lanzenträger, erschien und machte aufgeregt seine Rechte geltend. Cortés konnte und wollte nicht Schiedsrichter im Streit der beiden Heerführer sein. Und da er
den Hermaphroditen bereits Prinz Goldmaske ausgeliefert hatte, ließ er es dabei.
Als Cortés und seine Begleiter auf dem großen Platz eintrafen, hatten die Vorführungen
schon begonnen. Auch Ordás und Alvarado ließen es sich trotz nasser Kleidung nicht nehmen,
das Volksfest zu besuchen. Was sie zu sehen bekamen, schlug sie rasch in Bann. Hunderte von
Tänzern füllten den großen Platz dicht an dicht, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, die Köpfe
mit riesigen Federbüschen geschmückt. Zehntausende von Kranichen, Flamingos, Paradiesvögeln, Kolibris, Adlern, Geiern, Bussarden, Falken, Fasanen, Tauben, Käuzen und Eulen, Tukanen
und Papageien hatten dafür ihre Federn lassen müssen. Die Tänzer summten zu rhythmischem
Trommelschlag und den dumpfen Klängen der lurenartigen Trompeten; ein lang gezogenes, eigenartig nasales »Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh«, gaben sie von sich, immer und immer wieder –
»Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh!« Dabei bewegten sie sich in lang gezogenen Kreisbögen mit
rhythmischen kurzen Schritten um einen zentralen Punkt; eine sich drehende Scheibe aus fünftausend Menschen. »Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh!« Feierlich langsam erst, dann rascher und rascher. Kreisende Kopfbewegungen der Tänzer ließen die Federkronen wogen. Der Gesang
schwoll an, wurde immer lauter und verwandelte sich plötzlich zu ein Stakkato: »Au wa, auwa he!
Au wa, auwa he, au wa, auwa he!« Die Schritte wurden schneller, wirbelnd zuletzt wie eine buntfarbige Sonne.
Da brachen plötzlich mit einem dröhnenden Paukenschlag Musik und Tanz ab; fünftausend
Tänzer senkten die Köpfe, gingen blitzartig in die Hocke, verschwanden unter ihrem Kopfputz! Ein
wogendes Meer von Federbüschen bot sich den Augen der Spanier dar.
Cortés – zuerst von der farbenprächtigen Exotik der Tanzenden gefangen – wurde nachdenklich. Er begriff: Musik, Gesang und Tanz waren mehr als nur eine folkloristische Darstellung,
mehr als eine vorgetragene Schau. Die meisterliche Choreographie und die perfekte Aufführung
sollte die Macht der Tlaxcalteken demonstrieren. Wollte Wespenring ihm drohen? Sein Verhalten
bei ihrer ersten Begegnung am torre de la victoria ließ das eigentlich nicht befürchten. Was war es
dann? Sollte Cortés begreifen, dass die Tlaxcalteken treue Verbündete waren? Wie auch immer,
er würde Augen und Ohren offen halten. Naturales bleiben naturales!
Die Tänzer gaben die Platzmitte frei, drängten sich an den Rand und setzten sich – ein
menschlicher Ring – um ein leeres Zentrum.
Dem Tanz der Fünftausend folgten alte Gesänge. Mit tiefer Bassstimme sang ein gefeierter
Rhapsode, begleitet von leisen Hohltönen exotischer Trommeln, eine schwermütige Melodie; ein
kleiner Chor wiederholte den Refrain.
»Was erzählt er in diesem Lied?«, fragte Cortés.
»Er singt von der Unterwelt«, antwortete Marina, »dem Ort des Hinabsteigens. Er mahnt die
Zuhörer, die flüchtigen und vergänglichen Freuden des Daseins zu genießen, denn die Toten wären der Freude bar.«
»Erkläre mir den Text, Marina!«
»Ich gedenke, heißt es in einem der Lieder, der jungen Helden, die gebrochen und zersplittert im Lande des Hinabsteigens weilen. Sie waren Edle, sie waren Herren auf der Erde. Sie sind
welk gewordene Schmuckfedern, sie sind geborstene Steine, sie, die doch vordem die Erde sahen
und schauten...«, übersetzte Marina die Strophe.
»Glauben die Indianer an eine Hölle?«, fragte Cortés.
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»Hölle? Nein! Es ist die Unterwelt«, antwortete Marina. »Die Völker glauben, dass die Unterwelt diejenigen aufnimmt, die an Krankheit und Alter starben. Die in der Schlacht Gefallenen
aber werden ins Land der Sonne eingehen. Zur Mittagszeit, wenn die Sonne den Zenit erreicht,
kommen sie als Kolibris auf die Erde herab. Sie glauben, dass die Seelen der Adligen sich in Nebel, in Wolken, in bunt gefiederte Vögel oder Edelsteine verwandeln, die Seelen des übrigen Volkes aber in Gewürm, Käfer und Ratten!«
Olíd brach in Gelächter aus. »Bei uns in Kastilien«, sagte er, »sorgen wir Hidalgos doch besser für das Volk und sein jenseitiges Wohlbefinden! Bei Gott, wir maßen uns nicht so unverschämte Vorrechte an!«
Eine weitere Vorführung erregte die Kastilier. Ein Sklave betrat das Rund und setzte in seiner Mitte eine quadratische Schachtel ab. Sie war oben offen, und etwas Schwarzes war darin,
das die Zuschauern aber nicht zu erkennen vermochten. Wieder begann der Schlag von Trommeln, langsam zuerst, fast behutsam, bald aber schneller und mit anschwellendem wildem Gedröhn. Dann wirbelte ein nackter, schwarz angemalter Solotänzer herein, sprang mit wilden Schritten um das Behältnis, umschmeichelte es gestenreich, floh davor, und näherte sich dann wieder
mit hektischen Bewegungen und pantomimischen Gebärden der Furcht.
Cortés wandte sich an Marina. »Und was zeigt der da?«
»Er tanzt den Totentanz. Ein Sterblicher...«
Weiter kam sie nicht. Der Tänzer hatte blitzschnell in den Kasten gegriffen und hob nun triumphierend ein abgeschnittenes menschliches Haupt empor. Die Menge brach in frenetischen
Beifall aus, während der schwarze Tänzer den Kopf rhythmisch emporhob, wieder herabsenkte,
dem Volk das ausdruckslose Gesicht mit den toten Augen hinhielt und in weiten Sprüngen am äußeren Kreis der Arena entlangjagte.
Cortés und seine Begleiter erkannten, dass er mit dem abgeschnittenen Kopfe eines
Totonaken tanzte. Während der letzten Schlacht musste der den Tlaxcalteken in die Hände gefallen sein; gestern erst war er geopfert worden, wie Marina erfuhr.
Ohne das Ende des Festes abzuwarten, ritten sie schweigsam heim.
»Es hätte auch einer von uns sein können!«, bemerkte Velásquez de León schaudernd.
»Und sie hätten uns ebenso freundlich als Zuschauer geladen.«
»Haltet Ihr diese gutherzigen Menschen noch immer für Blumenkinder?«, fragte Cortés spöttisch.
León wusste keine Antwort. Stumm, in Gedanken, ritten sie eine Weile dahin. Als sie zur
Brücke kamen, sagte Cortés zu den Hauptleuten:
»Dieser Totentanz darf in Tlaxcala nicht mehr getanzt werden, Señores! Wir werden diese
Leute morgen taufen!«
»Womit?«, fragte Avila. »Mit Wasser?«
»Womit sonst? Wie Johannes der Täufer.«
»Und wenn es mit Wasser nicht geht? Man kann auch mit Feuer und mit rotem Saft taufen...
Und das gibt erst Recht einen Totentanz!«
»Ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird«, murmelte Cortés verstimmt.
*
Schon am nächsten Morgen fand Cortés Gelegenheit, seinem Bekehrungseifer nachzukommen.
Bei Sonnenaufgang ergingen Einladungen an die Tetrarchen. In einem der Palastsäle war eine
Kapelle hergerichtet worden: Pater Olmedo und der Lizentiat Juan Díaz hatten einen Altar aufgestellt, mit Palmenwedeln verziert und hinten an die Wand – mitten zwischen die dort gemeißelten
heidnischen Götterfratzen – ein Muttergottesbild gehängt. Pater Olmedo zelebrierte für die Kastilier
und Totonaken die Messe. Und wie damals am Rio Tabasco schauten die Stammesoberhäupter
Tlaxcalas der heiligen Handlung schüchtern und voll Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen zu. Die
schmeichelnde Mystik des katholischen Ritus fand Eingang in ihre Seelen.
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Das Nahuatl-Piktogramm (
hier im aktuellen Wappen von Tlaxcala)
bedeutet »Ort der Tortillas«
Nach der Messe begaben sich Cortés und die Feldobristen in einen
anderen Saal, wo sie die vier Könige empfingen. Wollring bat, die
Söhne der Sonne beschenken zu dürfen. Auf eine vor Co
rtés ausgebreitete Matte wurden sechs Stückchen Gold, einige
Topase und grüne und weiße Nephrite sowie etliche Hanfgewänder
gelegt. Mit verlegenem Lächeln sagte Wollring:
»O Sohn der Sonne, o weiser und mächtiger Herr! Wir sind ein armes Volk! Reicher sind die
Goldgeschenke Moctezumas, der uns ausgeraubt hat. Aber arm ist sein Herz. Und reicher ist die
Liebe und Treue, mit der wir dir unsere armseligen Gaben darbringen!«
Cortés umarmte Wollring, und danach auch Wespenring, den Blutigen Schild und den Listigen Marder. Er war gerührt und bedankte sich mit artigen Worten:
»O ihr weisen, tapferen Männer! Wir kamen in unseren großen Wasserhäusern mit den weißen Flügeln über das große Meer aus dem Land der Morgensonne, aus dem unser Herrscher, der
mächtigste Kaiser der Welt, uns ausgesandt hat, von seiner Macht zu künden und viele der tapferen roten Völker als Freunde zu gewinnen. Von den vielen Ehrungen, die uns seit unserer Ankunft
zuteil wurden, hat mir keine so innige Freude bereitet wie diejenigen, die ich von Euch empfangen
habe. Freundschaft und Brüderlichkeit sind in der Welt kostbare Güter! Darum seid versichert,
dass wir diese Gaben höher schätzen als einen großen Haufen Goldkörner.«
Der Listige Marder sagte: »O großer, mächtiger Herr! Wir hören deine Worte, und sie erfreuen unser Herz. Das Volk der Tlaxcalteken ist nicht nur tapfer, wie du selber hast erleben müssen,
es wird auch unüberwindlich sein mit deiner Freundschaft.«
Und der Mächtige Felsen fügte hinzu: »Moctezuma bedrängt die Tlaxcalteken. So wie er zuvor schon die Tolteken unterjocht und abhängig gemacht hat, wird er bei Gelegenheit versuchen,
auch Tlaxcala zu seinem Vasallen zu machen.«
Nun ergriff der Hundertjährige, Wespenring, das Wort.
»O Sohn der Sonne, du herrlicher! Wir haben dir bei deiner Ankunft Widerstand geleistet, wir
haben dir Unrecht getan! Doch du hast uns deine Macht bewiesen, und wir erkennen sie gerne an!
Mit einem würdigen Dankgeschenk möchten wir dir die Ergebenheit und das Frohgefühl unserer
Herzen dartun. Mit Götterkot, dem ihr zugetan seid, sind wir nicht reich gesegnet. Da es uns an
Gold fehlt, habe ich mit den anderen Königen beratschlagt, ob wir euch nicht durch eine bessere
Gabe, durch ein würdigeres Opfer unser Vertrauen beweisen könnten. Und so haben wir den Entschluss gefasst, unser Teuerstes herzugeben, unsere Töchter! Ihr Liebreiz stellt alle Kleinodien
Moctezumas in den Schatten; und wenn ihr, o weiße Herren, mit den Fürstenkindern Tlaxcalas
Ehen schließen würdet, ist das Bündnis unzerreißbar, die Verbrüderung unvergänglich. Ich selbst
besitze eine Enkelin, ein noch ungeküsstes Mädchen, die Schönste der Schönen, die auch eine
der reichsten Erbinnen des Landes ist, und ich biete sie dem Obersten der Sonnensöhne an.«
Olíd stieß den neben ihm stehenden Alonso de Avila an. »Was müssen wir für tolle Mannsbilder sein! Überall, wohin wir auch kommen, dienen die Kaziken uns ihre Töchter an!«
»Wir könnten uns mit der Zeit einen Harem zulegen«, flüsterte Avila zurück, »wie alle Häuptlinge hier – und wie unser verehrter Generalkapitän!«
Lugo, der zugehört hatte, kicherte vernehmlich, doch ein Blick von Cortés ließ ihn verstummen.
Im Pulk der hinter ihm wartenden Indianer tat sich eine Gasse auf, und indianische Herolde
begleiteten fünf Prinzessinnen in den Saal, die jede von mehreren Sklavinnen begleitet wurde. Die
Prinzessinnen waren jung, anmutig, graziös und mit auserlesenem Geschmack gekleidet. Eine war
die Erbtochter des Blutigen Schilds, zwei andere die Enkelinnen des Wollrings sowie die jüngste
Tochter des Listigen Marders. Die zauberhafteste unter ihnen aber war Prinzessin Rabenblume,
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die Enkelin Wespenrings und Schwester des Prinzen Goldmaske. Verwirrt lächelnd und verschämt, weil sie sich den vielen Männerblicken ausgesetzt fühlte, hielt sie den Kopf gesenkt; und
als ihr Großvater sie heranrief, eilte sie so rasch herbei, dass sich eine über die Stirn gespannte
Amethystperlenkette löste, klirrend zu Boden fiel und Alvarado vor die Füße rollte. Er hob sie auf
und, ritterlich ein Knie senkend, reichte er sie ihr zurück. Sie nahm die Kette mit verlegenem Lächeln entgegen. Dabei berührten sich ihre Hände, und sie sahen einander in die Augen. Zum Dank
reichte sie Alvarado eine Orchidee und ließ nicht ab, den vor ihr Knienden scheu und neugierig
zugleich anzublicken, während Sklavinnen die Perlenkette an ihrer Stirn befestigten. Die Verlegenheit währte nur einen Augenblick, kam beiden aber sehr lang vor. Der Hundertjährige machte dem
ein Ende, indem er das Mädchen bei der Hand nahm und vor Cortés führte, der gerade leise mit
Marina sprach. Alvarado jedoch, der schon so manche Liebschaft hatte, fühlte sich wie in Ketten
gelegt.
»Ihr seid schon verheiratet, Don Hernándo!«, flüsterte er Cortés zu. »Überlasst mir das Mädchen!«
Cortés schaute ihn erstaunt an, denn er wusste, wie abfällig Alvarado sich über
Totonakinnen geäußert hatte.
»Ist Euch das ernst?«, fragte Cortés.
»Sehr ernst. Gebt sie mir!«
»Erst wenn sie Christin geworden ist. So lange werdet Ihr Euch schon gedulden müssen,
Don Pedro!«
Und durch Marina, die ihre Sicherheit nicht verloren hatte, ließ Cortés den vier Königen auseinandersetzen, dass die Männer aus dem Land des Sonnenaufgangs - wenn auch mit Rührung
und Dank erfüllt, da sie dieses großmütige Geschenk vollauf zu würdigen wüssten – heute noch
nicht sagen könnten, ob eine Heirat mit den Fürstentöchtern möglich sei. Und bis dies entschieden
sei, wäre angeraten, die Mädchen in der Obhut der Eltern zu lassen.
Niedergeschlagenheit spiegelte sich auf die Gesichter der Tlaxcalteken. Sie fragten, warum
ihr Geschenk zurückgewiesen werde. Marina beteuerte, man hätte die großmütigen Gastgeber
keineswegs kränken wollen. Aber noch dienten sie ihren blutrünstigen Göttern, schlachteten Menschen und äßen Menschenfleisch. Erst müssten sie alle Christen werden!
Wollring antwortete: »O Malintzín, der Sohn der Sonne fordert Unmögliches! Erst einen Tag
bist du in der Stadt und willst schon, dass wir leugnen, woran unsere Väter und Ahnen glaubten!
Dass wir leugnen, was sie seit Vorzeiten verehrt haben! Dein Gott und seine Mutter mögen gütig
und erbarmungsvoll sein. Aber auch unsere Götter sind gut zu uns, denn ihnen danken wir, dass
der Mais auf unseren Feldern gedeiht! Ihnen danken wir die Geburten unserer Kinder und die Siege in unseren Schlachten. Befolgten wir deinen Rat – was wäre die Folge? Das Volk und unsere
eigenen Kinder würden sich gegen uns erheben, aufgehetzt durch Priester, die euch längst mit
Argwohn betrachten. Nicht zur Verbrüderung würde es führen, sondern zur Verfeindung, und der
Friedensbund würde in neuen Kämpfen enden.«
Cortés glaubte eine Drohung herauszuhören. »Das hat mich in Cempoala nicht abgehalten...«, begann er. Doch sofort legten sich Velásquez de León, Tapia und Pater Olmedo ins Mittel
und beschworen ihn, es dabei bewenden zu lassen.
»Don Hernándo, wir haben in Cempoala schon viel erreicht!«, sagte Pater Olmedo. »Man
zertrümmert den Leuten hier einen Götzen, und sie laufen dort zu einem anderen; und wenn sie
keinen anderen finden, so machen sie sich einen. Wir haben's erlebt! Das Christentum, das wir in
Cempoala hinterlassen haben, ist nur eine Fratze des christlichen Glaubens! Kardinal Fonseca
würde uns der Blasphemie zeihen, wüsste er davon. Wir sollten aus Fehlern lernen. Nein, nein,
wenn wir's vermögen, lasst uns die Sklaven Moctezumas, die Menschenopfer befreien – das hat
Eile. Aber wir wollen es der Zeit überlassen, Götzen zu zerschlagen!«
Die Hauptleute stimmten ihm zu. Auch Cortés sah ein, dass der Pater Recht hatte.
Während Olmedo und die Offiziere auf Cortés einredeten, hatte der blinde Wespenring mit
Prinzessin Rabenblume geflüstert und sich sodann erregt mit den anderen drei Königen beraten.
Jetzt sagte er laut:
»O Sohn der Sonne, du Siegreicher! Seit meine Hände und Finger dich geschaut, weiß ich,
dass du der Erwartete bist, der Herbeigesehnte! Noch ehe du aus dem Lande des Sonnenaufgangs kamst, haben kluge Männer vorausgesehen und verkündet, dass du kommen werdest, dem
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blumigen Tod Einhalt zu gebieten, dem Herausreißen der Herzen. Und ich preise, dass ich so lange gelebt habe, deine Kühnheit zu sehen. Lass uns Zeit, gewähre uns eine Frist. Mein Enkel, die
Goldmaske, soll entscheiden, ob Prinzessin Rabenblume und Tlaxcala euren Glauben annehmen
dürfen!«
*
Tags darauf gab Prinz Goldmaske die Einwilligung für die Taufe seiner Schwester Rabenblume
und der anderen Bräute. Doch behielt er sich vor, über die Bekehrung des Landes Tlaxcala erst zu
entscheiden, nachdem er den Rat der Priester eingeholt habe. Den von Cortés geäußerten
Wunsch, wenigstens eine der vielen Tempelpyramiden – eine der kleineren – mit dem Kreuz geschmückt als christliche Stätte zu weihen, versprach Goldmaske zu erfüllen.
Es wurde beschlossen, die Taufhandlung in zehn Tagen vorzunehmen. Bis dahin sollte Pater
Olmedo mit Hilfe Marinas den Täuflingen täglich Religionsunterricht erteilen. Der Zahuapan-Fluß,
der die Stadt durchströmte, nahm viele Abfälle auf. Marina hatte gehört, dass im Volke die Ansicht
verbreitet war, baden sei im Zahuapan der vielen Wassergeister wegen nicht ungefährlich; sie bestraften Eindringlinge in ihr nasses Reich mit der Krätze. Deshalb wurde von der Taufe im Fluss
abgesehen, und indianische Steinmetzen meißelten nach Angaben des Hieronymiten ein Taufbecken.
Auch die Windende Schlange nahm mit ihren drei Kindern am Religionsunterricht der Bräute
teil. Dank der Legende von Quetzalcoatl, der als Erretter zurückerwartet wurde, waren die Frau
und ihre Kinder die aufmerksamsten Lauscher und verständnisvollsten Schüler zu Füßen des Paters. Besonders der älteste der Knaben, Mito, der Kleine Pfeil, erstaunte trotz seiner Jugend – er
war dreizehn Jahre alt – den Pater und Marina durch seine Antworten und schürfenden Fragen.
Kiefernzweig, der Gatte der Windenden Schlangen, wusste nichts davon, dass sein Weib
und seine Söhne sich heimlich für die Taufe vorbereiteten. Fürst Kiefernzweig war ein einflussreicher Herr und besaß sechzig Gemahlinnen. Seinem Rat zufolge hatte Goldmaske den Christen
einen hinauszögernden und damit abweisenden Bescheid erteilt.
*
In der regnerischen und stürmischen Nacht waren die Gassen menschenleer und lichtlos. Matter
als sonst flackerte auf der Spitze des höchsten Stufentempels das ewige Feuer, drohte im peitschenden Regen jedoch zu erlöschen. Nach Mitternacht verließ Cortés mit einem Trupp von
zwanzig bewaffneten Kastiliern den Tecpan Wespenrings und marschierte auf den nahen Tempel
Unseres Herrn des Geschundenen zu. Außer den Feldobristen – León, Olíd, Alvarado, Lugo, Avila
– sowie einigen der unerschrockensten Soldaten war auch der Trompeter Rodríguez dabei, um bei
Gefahr ein Signal zu geben. Im Palast stand das Heer zur Schlacht bereit. Cortés war entschlossen, keine Verhandlungen mit den Priestern zu führen: In dieser Nacht sollte das Schwert sprechen.
Zwei Soldaten des Stoßtrupps trugen brennende Fackeln – mehr Licht hätte vielleicht Aufsehen erweckt. Die Flammen flackerten im Sturm, erloschen beinahe, und schützend hielten die
Grenadiere die freie Hand um die Feuer. Vor dem Hauptportal des Tempels wurden weitere Fackeln entzündet; dann drangen die Kastilier ein und befanden sich damit hinter der Ringmauer des
Tempelgeländes, die die Pyramide umgab. Labyrinthisch lag das scheinbar planlose Wirrwarr der
verstreut hingebauten Häuschen und das Gewirr der mauerumragten Tempelhöfe vor ihnen. Cortés und seine Begleiter fanden sich bald zurecht, hatten sie doch in Cempoala, im Roten Berg und
im Weißen Mondgefilde ähnliche Tempelanlagen gesehen. Sie wussten, wo sich die Priesterwohnungen befanden, die Badeplätze für die Priester, das Priesterballspielhaus, die Schädelgerüste
und die Holzkäfige standen, hinter deren Gittern arme Opfer gemästet wurden.
Bei den Käfigen scholl ihnen Gebrüll entgegen. Die Priester mit helmartigen Tiermasken ver-
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sperrten ihnen den Weg. Doch ihre Zaubersprüche ernteten nur Hohngelächter, und sie wurden
beiseite geschoben.
Dann sahen sie die Gefangenen. Das Licht der zwanzig Pechfackeln waberte über die Kalkwände kleiner Gebäude und Pavillons, tanzte wie trunken in der brandschwarzen Nacht und beleuchtete das Schreckensbild. Käfig reihte sich an Käfig. Die Insassen, nackt und den Unbilden
des Wetters ausgesetzt, saßen im eigenen Kot. Der Regen säuberte den Boden nicht, sondern
weichte die Erde zu übel riechendem Schlamm auf. Es waren fast nur Männer hier; erst vor wenigen Tagen hatte man dreihundert eingekerkerte Mädchen Marina geschenkt.
»Eins begreife ich nicht«, sagte León, »dass diese Menschen nicht wahnsinnig werden!«
Olíd, der einst Galeerensklave war, sagte: »So leicht wird sich's nicht wahnsinnig!«
»Sie verweigern nicht einmal Speise und Trank«, bemerkte Alvarado, »sie streiten gewiss
um jedes Stückchen Brot, werden dick und fett... So hängen wir am Leben!«
»Wir? Ich möchte lieber tot sein!«, rief León.
»Wartet's ab!«, sagte Lugo. »Noch hat keiner von uns die Erfahrung gemacht, was vorzuziehen ist.«
»Ein Blick in die Hölle!«, knurrte Avila. »Wer weiß, vielleicht machen wir in Mexico die Erfahrung?«
»Wenn Ihr nach Veracruz zurück wollt, Señor«, sagte Cortés mit höflichem, doch ungutem
Lächeln, »der Weg steht Euch offen! Aber sollte einer von uns die Erfahrung machen – was Gott
verhüte! –, wird das Bewusstsein ihn stärken, dass er ein Märtyrer des Glaubens ist!«
»Ein Märtyrer des Goldes!«, murmelte Sandoval, doch niemand hörte es.
Sie öffneten die Käfige und gingen mit den Opfersklaven den Weg aus dem Tempelbereich
zurück. Die Befreiten waren halb betäubt vom Schreck über die metallklirrenden Wesen, die sie für
Dämonen hielten. Sie glaubten zur Opferung, zum Tod geführt zu werden. Nur allmählich begriffen
sie, dass sie frei wären. Scheu schlichen einige fort, und da niemand sie zurückholte, folgten andere, und dann, mit plötzlichem Freudengeheul, stoben alle davon. Rasch verschwanden die nackten
Gestalten im schwarzen Regen.
*
Auf dem Markt prangten die Stände der Kaufleute mit Wildbret und Fellen, Kleidung und Waffen.
Der verrückte Apotheker – von des Samariterinnen Ines Florín und La Bailadora begleitet – schritt
über den Markt und strebte den Kräuterfrauen zu, die an den Rändern des Platzes ihre Waren auf
dem gepflasterten Boden ausgebreitet hatten: Früchte und Blumen, Kräuter, Öle und Pflanzenwurzeln. Leonel de Cerro wählte, vor sich hin grummelnd, mit Bedacht und tat seine Erwerbungen in
die Körbe, die seine Begleiterinnen schleppten. Bezahlung wollten die Marktweiber nicht; sie wehrten seine Versuche ab, mit spanischen Maravedis zu bezahlen, und lächelten nur hintergründig.
Was wusste der bärtige Fremde schon vom Wert der Kakaobohnen, die bei ihnen als Währung
galten?
In den Tecpan zurückgekehrt machte der Physicus sich sofort daran, seine Blätter, Kräuter
und Wurzeln zu Essenzen zu verarbeiten. Neugierig schauten die Soldaten ihm zu. Was er da mache? fragte der Armbrustschütze Juan Soares.
»Welch ein Glück für mich, und welch ein Glück fürs Heer! Auf dem Markt fand ich Dinge, die
ich hier nicht zu finden hoffte: Arnika, Melisse, Engelskraut, Blutwurzel, Farnkraut, Schöllkraut,
Alant und andere Gewächse, die Gott uns zur Erhaltung der Gesundheit schenkte. Auch die naturales wissen sie zu schätzen! Dazu Bibernelle, Wermut, Rosmarin, Weinraute, gelben Enzian, Kalmus und Knoblauch. Dies alles ist in seiner Heilwirkung unübertroffen, und Tinkturen davon sind
uns als Hausmittel willkommen.«
»Kennt Ihr denn alle diese Pflanzen und Kräuter?«, wollte José Morientes wissen, ein Soldat
der Fußtruppen.
Der Physicus warf sich in die Brust. »Gott hat für jede Krankheit ein Heilmittel in dieser von
ihm geschaffenen Welt zur Verfügung der leidenden Menschheit gestellt!«
»Aber einige davon sind doch ungenießbar oder giftig«, beharrte José.
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»Alle diese Dinge sind pharmaka, denn Gott hat die Giftstoffe nicht in den Pflanzen geschaffen, dass sie zur Schädigung seiner Geschöpfe führen! Schon der heilige Ambrosius hat in diesem
Zusammenhang betont: ›Es liegt in den Giftpflanzen nicht bloß kein Grund zum Tadel des Schöpfers vor, sondern vielmehr ein Anlass zu erhöhtem Dank, da das Erzeugnis, in welchem du Gefahr
vermutest, ein wirksames Heilmittel für deine Gesundheit ist.‹ Aber für dich, José Morientes, hat er
hinzugefügt: ›Dem Gefährlichen lässt sich durch Vorsicht aus dem Wege gehen, des Heilsamen
geht man bei Achtsamkeit nicht verlustig.‹«
»Und Ihr lasst diese Vorsicht walten? Kennt Ihr Euch überhaupt aus?«, warf Francisco de
Salcedo ein, den man el pulido nannte, den Hübschen.
»Gibt's auch ein Kraut gegen Habsucht, Unersättlichkeit, Raffgier?«, rief der bucklige Narr
Cervantes. »Habt Ihr ein Elixier gegen Gewinnsucht, Geldgier, Besitzgier? Kennt Ihr ein Mittel gegen die Tanzwut um das Goldene Kalb? Dann bereitet es zu und mischt es uns unter den Wein!«
Álvarez Chico gab ihm einen Fußtritt. »Scher dich zum Teufel, du Missgeburt!«
»Kennt Ihr Euch aus?«, beharrte Francisco el pulido auf seine Frage. »Ihr seid doch nur ein
verkrachter Student, wie man weiß.«
»Pah, was wisst Ihr schon von mir«, antwortete der Apotheker verächtlich.
»Dann gebt ein Beispiel Eures Wissens.«
Leonel de Cerro kämpfte mit sich, ob er die unwissende Meute an seinem Wissensschatz
teilhaben lassen sollte oder nicht. Aber dann gab er sich einen Ruck; schließlich war es auch seine
Aufgabe, Vertrauen zu schaffen. »Also gut!«, sagte er. »Der Schöpfer gab uns nicht nur die Pflanzen, er setzte auch ein geheimes Zeichen in sie hinein, das der Kundige erkennen und deuten
kann. Aus Form und Farbe einer Pflanze kann auf ihre Wirkungen geschlossen werden. Die Oberfläche der Walnuss gleicht den Hirnwindungen, und tatsächlich kann man sie als Heilmittel gegen
Kopfschmerz preisen. Schachtelhalm ist wegen der Ähnlichkeit der Stängel mit der menschlichen
Luftröhre als hustenstillendes Mittel und als wertvolle Droge gegen die Schwindsucht einzusetzen.« Voller Stolz schaute er in die Runde. »Doch gegen viele Leiden helfen vor allem die Öle!
Dillöl zum Beispiel kann innerlich oder äußerlich angewandt werden und wirkt sehr vielseitig.
Schon ein eingenommener Teelöffel hilft gegen Bauchgrimmen im Darm, bei Leibweh und Magenschmerzen, bei fiebrigen Erkrankungen, Ohrenschmerzen, geschwollenen Mandeln, bei Leberstauung und Erkrankungen der Harnorgane. Als Einreibemittel verschafft es Erleichterungen bei
Schwellungen, Beulen, Bluterguss und Entzündungen, beruhigt bei Schlaflosigkeit und lindert
Kopfweh, wenn man Schläfen, Nasenlöcher und Pulse einreibt. Auch bessert es Nieren- und Blasenbeschwerden.«
»Mir tun jetzt noch alle Knochen weh von den Anstrengungen nach Tlaxcala«, rief Juan
Jamarillo.
»Johanniskrautöl hilft besonders bei rheumatischen Leiden und – warm eingerieben und in
wärmende Wolltücher gehüllt – bei Bandscheibenschäden und allen Gliederschmerzen. Ein aus
Baumwolle gerolltes Zäpfchen, mit Johanniskrautöl getränkt und in den After gesteckt, hilft schnell
bei schmerzhaften, juckenden oder brennenden Hämorrhoiden.« Der Apotheker kam in Fahrt.
»Lilienöl kann zur Heilung wie zur Hautpflege dienen. Reibt man die Hände damit ein, erweicht es
allerlei Verhärtungen der Sehnen und Spasmen, wie sie oft die Finger bis zur Handwurzel ziehen.
Ebenso hilft es gegen Falten und Runzeln im Gesicht. Man muss Lilienöl mit Zwiebelsaft, Honig
und Eiweiß unter stetem Rühren auf kleiner Flamme zur Salbe eindicken lassen, abends auftragen
und morgens lauwarm abwaschen; ebenso kann man damit rote Nasen behandeln.«
»Das muss man mal bei Mansilla dem Durstigen probieren!«, tönte es aus dem Kreis der
Umstehenden. »Wie stellt man es her?«
»Frisch aufgeblühte weiße Lilienblüten zerschneiden, drei Hand voll mit einer großen Tasse
Olivenöl übergießen, vierzehn Tage an die Sonne stellen, im Wasserbad zum Kochen bringen,
dann auspressen und bis zum Gebrauch kühl aufbewahren. Auf die gleiche Art stellt man Lavendelöl her; es stärkt die Nerven, erfrischt den Kopf und nimmt Kopfschmerzen weg. Außerdem wirkt
es beruhigend, appetitanregend und verdauungsfördernd.«
»Das wäre für Amadori den Genuesen von Nutzen, den jungen Gatten der alten Samano. Er
wäre ihr dann vielleicht eher treu.«
In das aufbrandende Gelächter rief Cristoforo de Olea, der als Spaßvogel bekannt war: »Ich
habe Würmer!«
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»Gegen Wurmbefall empfiehlt sich eine Mischung aus Begonie, Wegerich und Kuckucksampfer. Allerdings musste man das an einem Donnerstag sammeln, und zwar bei Monduntergang.
Sodann ist das Ganze in einem Mörser zu zerstampfen, mit Wasser zu mischen und anschließend
durch ein Leinentuch zu pressen. Mehrmals hintereinander auf nüchternen Magen trinken – und
schon sind die Würmer weg.«
»Bei Gott, ist das verwirrend! Warum gibt es nicht ein Mittel gegen alles?«
»Universell wirkt gar nichts. Doch vielseitig anwendbar ist die folgende Mischung: eine Unze
und sechs Skrupel Pfeffer, sechs Unzen Baldrian, ebenso viel Haselwurz und Betonie, fünf Unzen
Steinbrech, drei Unzen Röhrenkassie und zwei Drachmen Steckenwurzharz. Das alles mischt man
mit zwei Schoppen leicht abgeschäumten besten Honigs. Das Gebräu hat nicht nur den Vorteil,
dass es Fieber und Schmerzen aller Art im Nu vertreibt, die Sehkraft stärkt und gegen Schlaflosigkeit hilft, es löscht obendrein den Durst und führt überflüssigen Rotz durch den Darm ab.«
Der Feldhauptmann Cristóbal de Olíd trat hinzu und teilte die Schildwachen ein. Während die
anderen auseinander gingen, wandten sich der Physikus und die Samariterinnen wieder ihrer Arbeit zu.
*
Mehr als sonst hatten die Besucher des Marktes neuerdings Anlass zu erregten Erörterungen. Alte
und Junge, Edle und Einfache steckten mit den Händlern und Weibern des Volkes die Köpfe zusammen. Die Freilassung der Opfersklaven durch die weißen Männer hatten Schadenfreude und
Ärger ausgelöst und eine Woge seltsamer Gerüchte zur Folge. Obgleich seither drei Tage vergangen waren, vermehrten sich noch immer die Gerüchte.
Die Priester selbst hatten die Nachricht verbreitet, dass in dem Augenblick, als die
Teponaztlitrommel auf dem Haupttempel erscholl – um Mitternacht also –, die Regenwolkendecke
des Himmels zerriss. Ein weißlich flimmerndes Flammenkreuz habe sich am östlichen Sternenhimmel gezeigt, und laut winselnde Stimmen wären auf der Spitze der Pyramide zu hören gewesen, als wäre der Turm des Heiligtums von jammernden Geistern umflattert. Durch den Oberpriester, den Herrn des Schwarzen Hauses, nach dem Grund ihres Leidens gefragt, hätten die Stimmen
keine Auskunft gegeben, wohl aber befohlen, die Söhne der Sonne gewähren zu lassen. Die Priester hatten das Öffnen der Käfige nicht verhindern können, nun mussten sie irgendwie ihre Zaubersprüche und Machtlosigkeit verschleiern.
Auch die Errettung des Zwitters und seine Rückgabe an Goldmaske wurde diskutiert. Niemand konnte glauben, dass der Fürst den Hermaphroditen für den Tötungsversuch an seinem
Lieblingssohn ungestraft ließ. Goldmaske tat nie etwas Überstürztes.
Heute Morgen nun, als die Händler mit Ballen, Säcken und geflochtenen Weidenkörben beladen ihre Waren zum Marktplatz schleppten, konnte von vielen beobachtet werden, dass sich auf
dem Palast des Prinzen Goldmaske ein kleiner schwarzer Geier mit weißer Halskrause plusternd
niederließ. Es war ein Ocatli-Vogel, der als Heil- und Unheilbringer galt; seine Anwesenheit hatte
eine Vorbedeutung: Eine gute, wenn er seinen kreischenden Schrei Ah – ah – ah ausstieß; eine
schlechte, wenn er Yeccan rief.
Heute rief er: »Yeccan, yeccan!«, und das Volk wusste, dass im Tecpan der Lieblingssohn
des Prinzen krank darniederlag.
*
Als Letzter einer langen Reihe von Prachträumen lag im hintersten, abgelegenen, von den Akazien
des Schlossgartens umschatteten Teil des Tecpans ein weiter und tiefer Saal, an dessen Längswänden sich oben, unterhalb der Zederbalkendecke, quadratische Lichtöffnungen befanden. An
der hinteren Querwand führten drei Türen in geräumige, mit schönem Hausgerät versehene
Schlafkammern. Eine von diesen war das Krankenzimmer des kleinen Prinzen. Dort brannten im
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Kerzenhalter auf der niedrigen, mit Silberblech beschlagenen Truhe aus weißem Zapoteholz drei
fingerdünne und etwa ellenhohe Kienspäne, als wären es Wachslichter. Darunter stand eine Phiole; und dort lag auch ein alter, schwarz angefressener Zinnlöffel. Die Wände waren mit
mattfarbenen Tapeten aus Agavepapier verziert, auf die stilisierte Raubtierkämpfe gemalt waren.
Auf einem Lager aus übereinander gehäuften, ockergelben, mit Daunen gestopften Baumwollkissen lag das Kind, eingehüllt in Decken aus weichstem Kaninchenhaar. Maulbeerfarbene,
duftlose Ohrenblumen waren übers Krankenbett gestreut wie vom Himmel gefallene Sterne. Hinter
dem Kopfende des Lagers knieten zwei ältliche Sklavinnen und scheuchten mit großen kreisrunden Fächern die Fliegen von der feuchten Stirn des Knaben. Neben dem Bett saß die Samariterin
Isabel Rodríguez. Schon seit einigen Tagen lösten sie und Ines Florín, die Tochter des Seeräubers, sich als Pflegerinnen ab; der verrückte Physikus hatte sie hergebracht. Als die Künste der
heimischen Wundärzte zu versagen schienen, hatte sich Prinz Goldmaske von Cortés den großen
Arzt erbeten, »der die Krankheit aus dem Leibe zieht.« Die Menschenfettsalbe Leonel de Cerros,
von der er noch ein halbes Büchschen besaß, tat dem kleinen Prinzen gut. Die Entzündungen und
Schwellungen am Hals gingen zurück, das Fieber ließ nach. Seitdem wurden im Tecpan die Wünsche des Physikus ungefragt erfüllt, und ohne auf Widerspruch zu stoßen setzte er durch, dass
Medizinmänner und Hexen vom Krankenbett fernblieben und durch die beiden weißen Frauen ersetzt wurden.
Isabel Rodríguez nähte am Brautkleid für Prinzessin Rabenblume, die Schwester des Prinzen Goldmaske. Die fließenden Stoffe der tlaxcaltekischen Frauentracht waren kleidsamer als die
geschnürten Mieder und steif gefalteten Frauenröcke der Damen Italiens und Spaniens, doch Alvarado legte Wert darauf, dass seine künftige Gattin auch äußerlich als Christin und Frau von edlem
Geblüt – eine hildalga de sangre – mit ihm vor den Altar trete. Er hatte der reichen Amazone María
de Estrada lavendelfarbene Seide und einige Fetzen Brokat abgekauft, und Isabel Rodríguez zauberte daraus ein europäisches Brautkleid. Von Zeit zu Zeit ließ Isabel ihre bauschige Arbeit zur
Erde fallen, träufelte einige Tropfen aus der grünlich blauen Phiole auf den Zinnlöffel, und flößte
den Trank dem schlummernden Kind ein.
Schritte näherten sich. Man hörte das Klirren metallener Glöckchen, wie die Vornehmen sie
auf ihren Sandalenriemen zu tragen pflegten. Goldmaske trat mit seiner Schwester Rabenblume
ein. Die Begleiterinnen der Prinzessin blieben im großen Saal zurück. Rabenblume wohnte im
Tecpan ihres Großvaters Wespenring und war mit einigen Silberreiherblumen in den Palast ihres
Bruders gekommen, um sich nach dem Wohlbefinden des kleinen Neffen zu erkundigen. Sie wäre
keine Frau gewesen, hätte sie nicht insgeheim gewünscht, ein Blick auf ihr Brautkleid zu werfen.
Goldmaske hätte ihr Vater sein können, so groß war der Altersunterschied der Geschwister,
und doch beherrschte sie ihren starrköpfigen und unbändigen Bruder, ohne sich ihrer Macht bewusst zu sein. Rabenblume war kaum erwachsen. Mädchenhaft und zierlich schritt sie graziös
neben ihrem Bruder her. Ihr etwas breiter, doch schön geschnittener Mund ließ rasche Entflammbarkeit ahnen - wie auch die im Schimmer der drei Kienspanfackeln wie Kristalle glänzenden Augen. Sie war nach Art der Tlaxcalteken hellgelb geschminkt und trug ihr Haar als langen Zopf, der
von zwei phantastisch emporragenden Schleifen eines mit Blumenwasser parfümierten Zopfbandes durchflochten war.
Isabel Rodríguez hatte sich respektvoll vom Sessel erhoben. Den eleganten Gruß der Prinzessin, die ihre rechte Hand zur Erde und dann zum Herzen führte, erwiderte sie mit einem unbeholfenen Knicks. Isabel war – wie wir wissen - dreiundzwanzig Jahre alt, bleichsüchtig, sommersprossig und hatte rötliches Strohhaar. Ihr schmallippiger Mund konnte madonnenhaft lächeln.
Doch ohne Dolmetscher war ein Gespräch unmöglich, und so gab sie den Eintretenden durch Zeichen zu verstehen, dass das Kind schlafe und dass es ihm besser gehe. Die beiden jungen Frauen lächelten einander zaghaft an. Durch ihr Verlöbnis mit Alvarado und die täglichen
Katechismusstunden bei Pater Olmedo dem neuen Glauben mit Eifer zugetan, sah die indianische
Fürstentochter in jeder Christin eine Schwester. Sie trat auf Isabel Rodríguez zu, legte ihr die Silberreiherblüten in die Hände und küsste sie auf die Wange.
Isabel war die Tochter eines armen Schuhmachers in Toledo. Hochachtung vor der Aristokratie war ihr anerzogen. Blut schoss ihr in die Wangen, und wieder machte sie verlegen einen
Knicks. Goldmaske stand mit höflichem Lächeln daneben, doch Rabenblume wusste ohne hinzusehen, dass er an ihrer Vertraulichkeit Anstoß nahm. Sie glaubte sich für die Glaubensgenossin
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einsetzen zu müssen.
»Auch mein Bruder soll die Jungfrau küssen!«, sagte Rabenblume.
»Warum?«, fragte der Prinz.
»Weil die Jungfrau am Bett des Kindes gewacht und den Teufel vertrieben hat!«, entgegnete
die angehende Christin. Dass es böse Teufel gab – demonios –, war ihr von Pater Olmedo bestätigt worden. Für Goldmaske waren ihre Worte eine Zumutung. Er konnte sehr großherzig sein,
liebte die Pfleger seines aber Kindes nicht. Doch er fügte sich dem romantischen Wunsch der
Schwester. Vielleicht war es ihm auch recht, so leichten Kaufes einer Dankesschuld ledig zu werden. Hastig erfasste er die Hände des blonden Mädchens und beugte sich zum Kuss nieder. Doch
Isabel Rodríguez, die den Dialog zwischen den Geschwistern nicht verstanden hatte, entriss ihm,
von reflexartigem Schreck erfüllt die Hände, noch ehe er Zeit gehabt hatte, sie mit seinen Lippen
zu berühren. Im selben Augenblick traten Marina, ihr Haushofmeister Arteaga und der Apotheker
Leonel de Cerro ins Krankenzimmer.
Goldmaske war verstimmt, dass die Eintretenden seine vermeintliche Erniedrigung gesehen
hatten. Er gab sich nicht einmal Mühe, seine schlechte Laune zu verhehlen. Steif und feierlich begrüßte er den Arzt, die Dolmetscherin und ihren Beschützer. Verbissen lächelnd sah er zu, wie
Marina und Rabenblume Begrüßungsküsse austauschten. Dann starrte er unverrückt auf den kobaltblauen Lichtfleck in der kugeligen grünblauen Phiole. Wie er so dastand, keimte ein ungutes
Gefühl in ihm auf – zuerst Zorn auf die Zeugen seiner Demütigung, der sich jedoch bald in Wut auf
sich selbst wandelte, da er sich dem Wunsch der Schwester gebeugt hatte. Und von einem Extrem
ins andere geworfen, hasste er seine Schwester mit einem Mal, nur weil er ihren Rat befolgt hatte!
Er nahm sich vor, nie mehr auf sie zu hören. Und nicht minder hasste er plötzlich die rotblonde
Christenjungfrau, war sie doch der (unschuldige) Anlass seiner Demütigung.
Der Physikus hatte sich bereits bei seinen früheren Besuchen die Begleitung Marinas ausgebeten, um ärztliche Vorschriften erteilen zu können; diese wiederum betrat – auf ausdrücklichen
Wunsch von Cortés – kein tlaxcaltekisches Haus, ohne ihren bis an die Zähne bewaffneten
majordomo zur Seite zu haben. Der stolze, graubärtige Juan Pérez de Arteaga war ihr Schatten,
taktvoll und dienstbeflissen.
Leonel de Cerro hatte ein riesenhaftes, mit lauem Kräuterwasser gefülltes Klistier mitgebracht. Ein Monstrum von einem Klistier! Für die Bewohner Tlaxcalas jedoch ein zur Neugier reizendes Zauberwerkzeug unbekannter Funktion. Da erwachte das Kind und begann zu weinen, wie
bisher jedes Mal beim Anblick des verrückten Apothekers, an dessen struppigen,
schmutzigbraunen Räuberbart es sich nicht gewöhnen konnte. Nachdem de Cerro den Puls gefühlt und zufrieden genickt hatte, legte er den kleinen kupferroten Körper bäuchlings auf die Kissen
und bohrte das Instrument in den Darmausgang des Kindes. Der Apotheker war ein Pedant; und
was er tat, das tat er feierlich und gründlich.
Da eilte mit leisen katzenhaften Schritten Prinz Goldmaske hinzu und befreite das Kind blitzschnell. De Cerro fühlte die eiserne Hand des Prinzen auf der Schulter. Mit wütend verzerrtem
Gesicht stand Goldmaske vor ihm und hielt ihm das Klistier vor die Augen.
»Wehe dir, weißer Teufel!«, brüllte er.
Weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen, geriet auch der Apotheker in Zorn. In seiner Welt war es klug und vernünftig, heilsam und alltäglich, was er hatte tun wollen. In der Welt der
Völker Anahuacs aber war es eine Schändung, ein unerhörter Verstoß gegen die Sittsamkeit. So
prallten zwei Welten aufeinander, was zu einer grotesken Situation führte, deren Komik durch die
gegenseitige überhebliche Verachtung noch gesteigert wurde. Goldmaske verteidigte sein Kind,
und der Physikus verteidigte seine Wissenschaft, die ihm nicht weniger heilig war und auf die er
nichts kommen ließ. Er sprudelte eine Flut von Schimpfworten hervor. Als der steifbeinige Pérez
de Arteaga sich veranlasst sah, ihn zu ermahnen, dass sie hier Gäste im Hause seien, verwandelte seine Wut sich in Sarkasmus. Zu Marina gewendet, die verlegen mit Rabenblume abseits stand
(gleich zu Beginn des Streits hatte sie die Beleidigungen zu übersetzen sich geweigert), gab er das
heilige Versprechen, sich hinfort zu zügeln und bat Marina, wieder Dolmetscherin zu sein.
Nun behandelte der Physikus den Prinzen Goldmaske mitleidsvoll und herablassend als
Schwachkopf, der einer Belehrung bedürfe, und erklärte ihm die Bedienung des Instruments, in
dem sich weder Blitzfeuer noch Todesgift noch Dämonen befänden, sondern ein unschuldiges
lauwarmes Seifen- und Kräuterwassergemisch, das keinen anderen Zweck hätte, als die zum Er-
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liegen gekommene Darmtätigkeit des kleinen Prinzen wieder zu erwecken. Als Antwort darauf
spritzte Goldmaske ihm den Inhalt des Klistiers ins Gesicht und brach in ein böses, kaltes Gelächter aus.
Für den Apotheker schien der Auftritt damit vergessen, nicht so aber für Prinz Goldmaske,
dessen Gereiztheit einer lauernden Mordlust gewichen war. Marina warf Rabenblume einen angstvollen Blick zu, denn sie begriff, in welcher Gefahr der ahnungslose Quacksalber schwebte.
Da raschelte es am Korallenvorhang; scheu und angstvoll schob sich die berückende Gestalt
Weißer Sommervogels herein und stürzte vor dem Prinzen zu Boden. Goldmaske hatte den Hermaphroditen einsperren lassen, nachdem er ihm von Cortés nach der Errettung zugesprochen
worden war. Er wollte abwarten, welche Entwicklung das Leiden seines Sohnes nahm und dann
auf eine Strafe für Weißer Sommervogel sinnen. Doch irgendwie war es der Listenreichen erneut
gelungen, aus dem verschlossenen Gemach herauszukommen; nun wollte sie bei seinem Herrn
um Verzeihung bitten. Zerrissen die kostbaren Mädchenkleider, verwahrlost, zerzaust das Haar,
ungeschminkt das Gesicht, ungewaschen und mit Schmutzkrusten bedeckt, erschien Goldmaske
das reizvolle Wesen in seiner Verwilderung schöner denn je. Im selben Augenblick war der Apotheker vergessen. Goldmaskes Groll hatte ein neues und würdigeres Ziel gefunden.
Weißer Sommervogel zog es vor, freiwillig vor ihren Richter zu treten, um ihre Strafe zu empfangen. War es auch ein Wagnis, so war doch die Rettung gewiss, wenn es glückte. Weinend lag
sie jetzt zu Füßen ihres Peinigers, besudelt und beschmutzt wie ein pfeildurchbohrter, blutender
Vogel. Ihr Mund bebte und zuckte, und die hellbraunen, vor Angst weit aufgerissenen Augen hingen unverrückbar am starren Antlitz des Prinzen.
»Töte mich... Ich habe es verdient«, hauchte der Hermaphrodit.
»Ja«, sagte Goldmaske tonlos. Nichts regte sich im steinernen Gesicht. Wohl aber tastete
die Rechte des Prinzen langsam am Gurt entlang und zog einen nadelspitzen Knochendolch heraus. Es wurde still im Zimmer.
Da legte sich eine zarte Hand auf den Arm des Prinzen. Rabenblume war an ihn herangetreten und flüsterte, mit dem Kopf zum Krankenlager weisend:
»Das Kind!«
Mit schmeichelndem Augenaufschlag nahm sie ihm den Dolch aus der Hand. Goldmaske
ließ es geschehen; er überließ ihr den Dolch, als sei es ein Spielzeug. Er hatte sich anders besonnen und nickte zerstreut.
»Ja, nicht hier«, sagte er. »Nicht hier und nicht jetzt. – Kommt!«
Er ging voraus in den angrenzenden Saal. Rabenblume, Marina, de Cerro und Arteaga folgten ihm beklommen. Wie betäubt blieb Weißer Sommervogel liegen. Als sie von den Torhütern
barsch ermahnt wurde, erhob sie sich und wankte hinterdrein. Nur Isabel Rodríguez und die alten
Fächerträgerinnen blieben am Bett des Kindes.
Im Saal winkte Goldmaske die beiden Torwächter heran und befahl ihnen, die Gäste aus
dem Palast zu geleiten. Dann erteilte er ihnen mit flüsternder Stimme noch einen anderen Befehl.
»Bringt die grüne Schlange!«, sagte er.
Die Torhüter entfernten sich mit den Christen. Goldmaske erwiderte ihre Abschiedsverbeugungen höflich, aber gleichgültig. Den heimlichen Befehl hatte niemand außer den beiden Beauftragten vernommen.
Weißer Sommervogel lehnte an der Wand, die Arme weit zu den Seiten gestreckt, als hoffte
sie, vom Gemäuer verschlungen und dem starren Blick des Prinzen entgehen zu können. Doch die
Augen gaben ihn nicht frei; näher und näher kam das steinerne Gesicht, und ein Entkommen war
unmöglich. Prinzessin Rabenblume stand mit gerunzelter Stirn dicht hinter ihrem Bruder.
Im Krankenzimmer hatte Weißer Sommervogel erkannt, dass das Kind außer Gefahr war.
Das schürte ein klein wenig Hoffnung. Weinend und die Tränen mit dem langen zerzausten Haar
von den Wangen wischend, begann sie sich zu rechtfertigen. Mit glockenhafter Mädchenstimme
erzählte sie eine Phantasiegeschichte, um sich als schuldloses Opfer unglücklicher Zufälle hinzustellen. Ja, sie habe den Gurt entflochten, aber die dünnen Schnüre hätten einem Spiel dienen
sollen. Sie habe die Schnur an den Fackelhalter gebunden, um ein Ballspiel vorzubereiten. Doch
als am anderen Ende die Schlinge schon geknüpft war, sei ihr eingefallen, dass sie die gefiederten
Bälle und die Schläger noch holen müsse. Oh, hätte sie doch erst das andere Ende der Schnur
befestigt! Kaum habe sie den Rücken gekehrt, hätte das Kind sich in der Schlinge verfangen. Wei-
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ßer Sommervogel sei vor Todesschreck wie gelähmt gewesen, denn sie habe sofort vorausgesehen, dass man ihrer Unschuld nicht glauben werde, und darum, ja, bloß darum sei sie geflohen
und habe die alte Wärterin niedergeschlagen, um von ihr nicht zu Boden geschlagen zu werden.
So erlogen die Darstellung auch war – sie konnte doch glaubhaft erscheinen. An einem anderen Tag und unter anderen Umständen hätte Goldmaske vielleicht verziehen. Aber seit dem
demütigenden Handkuss war er gereizt und verbittert, und jetzt verlangte sein Zorn ein Opfer.
Die beiden Torwächter waren zurückgekehrt. Einer trug einen fußhohen Holzkasten mit kleinen Luftlöchern; an einer Schmalseite war eine kleine Schiebetür angebracht. Der Wächter setzte
den Kasten zwischen Goldmaske und den Zwitter behutsam auf den Fußboden. Der andere
sprach mit tiefer Verbeugung:
»O mein Herr, hier ist die grüne Schlange!«
Kaum waren diese Worte gesprochen, schrie Weißer Sommervogel auf; auch Rabenblume
stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus.
»Tu das nicht, Bruder!«, rief sie. Der Biss der grünen Schlange tötete binnen weniger Augenblicke! Doch heute versagte die Macht Rabenblumes; ihre Worte stachelten den Trotz ihres
Bruder eher noch an, nun erst recht zu zeigen, dass er nicht mehr auf sie hörte. Er griff nach der
kleinen Schiebetür. Da sprang Isabel Rodríguez mit ausgebreiteten Armen vor Weißer Sommervogel hin. Vom schrillen Angstschrei der Knäbin aufmerksam gemacht, war sie unbemerkt aus dem
Krankenzimmer in den Saal geeilt. Ohne gänzlich zu begreifen, was geschah, ahnte sie das
Furchtbare. Vielleicht hoffte sie, ihre Gegenwart werde Goldmaske abhalten. Doch der Prinz ließ
sich nicht mehr beirren, nicht von Isabel und nicht von Rabenblume, die ihren Bruder von hinten
ansprang und seinen Rücken mit beiden Fäusten traktierte. Er schüttelte die Schwester ab, dass
sie niedersank. Dann öffnete er entschlossen die Tür des Schlangenkäfigs.
Der Kopf der grünen Schlange schob sich zuerst langsam, ruckweise aus dem Gehäuse.
Rabenblume stöhnte, schluchzte und verstummte dann jäh. Lautlos glitt der mattgetigerte hellschuppige Leib aus dem Käfig. Die Schlange bäumte sich kerzengerade auf, züngelte, riss den
Rachen auf, dass die zwei langen geschweiften Giftzähne elfenbeinern schimmerten. Isabel
Rodríguez stand noch immer bewegungslos vor Weißer Sommervogel, den starren Blick auf das
Reptil gerichtet. Die Schlange züngelte vor ihr, wiegte sich von links nach rechts, bewegte dabei
witternd den Kopf und verharrte dann, da sie keine Bewegung und somit auch kein Opfer erkannte.
Starr und atemlos standen die anderen und beobachteten.
Da versagten Weißer Sommervogels Nerven. Sie wollte leben, wollte entkommen! Noch immer von Isabel Rodríguez verdeckt, versuchte sie, mit einem Sprung seitwärts zu entschlüpfen. Da
schoss die grüne Schlange blitzartig vor und schlug die Zähne in Isabels Oberarm!
*
Seit dem Tag nach der Öffnung der Menschenkäfige weilte die Blaue Feder, der König des Berglandes Tezcoco, in der Stadt Tlaxcala. Otomis der westlichen Grenzwacht hatten zuvor die Mitteilung überbracht, dass Blaue Feder mit einem kleinen Gefolge an der Großen Mauer eingetroffen
sei und vom Hohen Rat die Genehmigung erbitte, in der Hauptstadt Tlaxcala den weißen Sonnensöhnen seine Huldigung darzubringen. Vor Wochen schon hatte Cortés über den dicken Kaziken
ein Bündnisangebot erhalten für den Fall, dass es den Männern des Sonnenaufgangs gelinge,
Tlaxcalas Freundschaft und Beistand zu gewinnen; aber die Ankunft des Königs war dennoch eine
unerhörte Überraschung. Der Rat der Alten traf Anstalten, ihn als Ehrengast zu empfangen und
schickte ihm ein würdiges Geleit entgegen.
Er wurde von der misstrauischen Volksmenge neugierig angestarrt und von den Stammesfürsten höflich, doch zurückhaltend willkommen geheißen. Er übersah den frostigen Empfang,
zeigte sich ernst, freundlich und ritterlich, ohne nach Gunst zu haschen – und eben damit erwarb
er sich die Gunst der Tlaxcalteken.
Ganz anders verlief das Treffen mit Cortés; er verblüffte die Kastilier durch die temperamentvolle Herzlichkeit, wie sie noch keiner der Indianer gezeigt hatte. In der Erwartung, Quetzalcoatls
Rückkehr erleben zu dürfen und als dessen Verbündeter gegen Anahuac zu marschieren, zeigte
Blaue Feder eine ungeahnte Begeisterung für das Kreuz und die Kreuzträger. Quetzalcoatl, der
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Gott, der auch ein Kreuzessymbol trug und vor Urzeiten über das große Wasser nach Westen gefahren war, sollte dereinst aus dem Osten wiederkehren. Cortés hatte der Blauen Feder bei der
Begrüßung ein silbernes Kruzifix geschenkt, und der König von Tezcoco warf sich vor diesem
Kreuz auf die Knie und bedeckte es mit Küssen. Und kaum hatte er erfahren, dass die Fürstentöchter getauft werden sollten, bestand er schon darauf, zusammen mit ihnen getauft zu werden.
Auch äußerlich hob er sich ab: wie zum Trotz gegen die alten Götter war er ohne Gesichtsbemalung vor Cortés hin getreten, und hinter fein geschliffenen Redewendungen verbarg sich mitreißende Leidenschaftlichkeit.
Am Morgen dieses Tages wollte die Blaue Feder mit einem kleinen Gefolge dem Prinzen
Goldmaske einen Höflichkeitsbesuch abstatten; Cortés, Alvarado und Jerónimo de Aguilár (als
Dolmetscher an Stelle der abwesenden Marina) begleiteten ihn. Unweit vom Palasteingang waren
ihnen Marina, Arteaga und der Physikus aufgeregt und mit verstörten Mienen entgegengekommen.
Marina hatte Cortés eilig mitgeteilt, dass Weißer Sommervogel in Lebensgefahr schwebe.
Die Prunkhalle, in der Goldmaske Gäste zu empfangen pflegte, lag im vorderen Palastteil
nahe beim Haupttor. Um ein Unglück zu verhindern, ließ Cortés sich mit Alvarado, Leonel de
Cerro, Marina und der Blauen Feder – das Gefolge am Eingang des Tecpans zurücklassend – ins
Palastinnere führen.
Isabel Rodríguez lag bleich auf den Marmorfliesen, und über sie hingestreckt schluchzte Rabenblume. Sie waren zu spät gekommen. Der Apotheker konnte nur noch den Tod Isabels feststellen.
Cortés musste seiner Bestürzung Herr werden und kühl überlegen. Die Begleitumstände des
Geschehenen schienen unentwirrbar – kein Europäer war Zeuge gewesen. Die Tote, eine
Schwester des Scharfschützen und Trompeters Sebastián Rodríguez, war der Liebling des ganzen
Heeres. Ihrem Zauberspruch
Es ist Marías Wille!
Blut, steh stille!
glaubte mancher Kastilier seine Heilung zu verdanken. Es war zu befürchten, dass die Nachricht
ihres rätselhaften Todes die Soldaten zu unbedachten Taten hinreißen könnte. Die wichtige
Freundschaft mit Tlaxcala aber durfte unter keinen Umständen aufs Spiel gesetzt werden. So galt
es vor allem, das Heer zu beschwichtigen. Wenn sich ein Ziel mit anderen Zielen vereinbaren
lässt, umso besser. Eine gewisse Summe könnte die Trauer des Heeres um die Tote vielleicht
mildern.
Marina musste fragen, wie das Unglück geschehen sei. Der Prinz schien wie aus tiefem
Schlaf zu erwachen. Den beiden Torwächtern – denen es eben erst gelungen war, die Schlange
wieder einzufangen und in den Käfig zu sperren – hauchte er, ohne die Lippen zu bewegen, einige
kaum vernehmliche Worte zu. Die Blaue Feder stand zu weit entfernt, um zu verstehen, doch Marinas scharfes Gehör hatte die Worte aufgefangen.
»Er will Bewaffnete rufen lassen! Haltet die Wächter auf«, sagte sie auf Spanisch.
Alvarado hinderte die beiden Torhüter, den Saal zu verlassen, und flüsterte dann mit
Arteaga, der eilig davonlief.
Stolz schwieg Goldmaske auf Cortés Frage nach dem Hergang des Unglücks. Auch die
Blaue Feder empfand die Situation für Goldmaske als demütigend. Zwar mochten sie einander
nicht – Blaue Feder spürte die Doppelzüngigkeit des Tlaxcalteken, und Goldmaske witterte in ihm
den Verräter –, doch der mit List gepaarten Ritterlichkeit des Königs widerstrebte es, untätiger Zuschauer einer Demütigung zu sein. Ohne sich weiter um Cortés' Anwesenheit zu kümmern,
tauschte er die üblichen höflichen Begrüßungsfloskeln mit Goldmaske und bat um die Erlaubnis,
an die Bettstatt des kranken Kindes treten zu dürfen. Mit Aguilár, der ihm den Weg zeigte, entfernte er sich.
Cortés ließ durch Marina seine Frage nochmals wiederholen. Aber Goldmaske gab keine
Antwort. Da redete Rabenblume und gab eine Beschreibung des tragischen Vorganges. Während
der Erzählung hatte Goldmaske mehrmals genickt und gemurmelt: »So geschah es, ja, so geschah es!« Und als Rabenblume geendet hatte, wiederholte er: »So geschah es! Unser Herr
Tezcatlipoca ist der Beschirmer der Wahrheit!«
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Goldmaske war ein Gedanke gekommen, der mächtigen Leuten häufig einfällt, wenn sie in
der Klemme sind.
»Ich will den Tod der weißen Sonnentochter bezahlen«, erklärte er.
Das Wort war gefallen, auf welches Cortés gewartet hatte, und er war erleichtert, daß es
der andere zuerst ausgesprochen hatte. Mit seiner beringten Hand strich er sich sinnend über den
Bart.
»Bist du reich genug, eine Christin zu bezahlen?« fragte er ernst und höflich.
Die Frage verscheuchte den Ausdruck gewitzter Schläue aus dem Gesicht des Prinzen. Er
richtete sich auf und erwiderte in überheblichem Ton:
»So reich wie der große Moctezuma bin ich nicht, Sohn der Sonne! Den Tlaxcalteken fehlt es
an Gold, Edelsteinen und Edelfedern. Doch ich besitze Paläste in der Stadt, und auch Häuser. Mir
gehört das Herz des Volkes. Was ich beschlossen habe, das hat auch der Rat der Alten von
Tlaxcala beschlossen.«
»Auf mein Gewissen, daran zweifle ich nicht«, sagte Cortés, noch immer höflich lächelnd.
»Darum sollen auch das Volk und der Hohe Rat von Tlaxcala mit dir gemeinsam die Wiedergutmachung bezahlen.«
»Was wollt Ihr denn fordern?«, fragte Alvarado unruhig, denn er wollte mit seinem künftigen
Schwager nicht brechen. »Seht ihn an, Don Hernándo. Der Mann ist reuig und zur Buße bereit.
Doch ich bitte Euch, überspannt den Bogen nicht und zertretet nicht seinen Stolz.«
Cortés wollte ihm antworten, doch Rabenblume kam ihm zuvor.
»Alle sollen an Xesu Quilisto glauben«, rief sie. »Alle, alle, alle! Mein Bruder kann das Volk
und den Hohen Rat überreden. Nur er hat diese Macht.«
Rabenblume triumphierte im Stillen. Sie wusste, dass sie ihren Bruder mitten ins Herz getroffen hatte. Goldmaske machte eine Bewegung, als wollte er sich auf sie stürzen, doch er bezwang
sich.
»So soll es sein«, sagte Cortés. »Aber da ist noch etwas. Nicht nur die Bekehrung des Volkes sollst du erwirken, denn du willst doch, dass dir der göttliche und die menschlichen Richter
verzeihen. Du wirst uns auch einen deiner Paläste
überlassen, damit wir hier in Tlaxcala ein Kloster
gründen können, in dem die Söhne des Adels und
des Volkes eine zivilisiertere Erziehung erhalten,
als sie ihnen bisher zuteil geworden ist. Und dein
kleiner Sohn soll, wenn er genesen ist, als einer
der ersten Zöglinge im Kloster wohnen.«
Auf dem Bild aus dem
16. Jahrhundert schießen ganz links Soldaten
ihre unhandlichen Hakenbüchsen ab, während der Kanonier im Begriff ist, die Lunte anzulegen, um mit dem Geschütz gleichfalls zu feuern.
Nachdem Marina dies übersetzt hatte, starrte Goldmaske sie ratlos an, schüttelte den Kopf
und sagte leise, er habe nichts verstanden. Sie
musste es ihm nochmals übersetzen. Da brach er
in hysterisches Gelächter aus. »Ist das euer Ernst?« fragte er nach einer Weile, noch immer voller
ungläubigen Erstaunens.
»Ja, unser tiefer Ernst!«
Da nestelte er an seinem am linken Handgelenk hängenden Weihrauchbeutel herum und
zog eine irdene Trillerpfeife hervor, führte sie an den Mund und ließ einen scharfen Pfiff ertönen.
Sofort füllte sich der Saal mit bewaffneten indianischen Kriegern. Augenscheinlich hatten sie in
einem angrenzenden Raum auf das Zeichen gewartet.
Cortés und Alvarado zogen blank, und vom Gang her näherte sich klirrender Lärm. Gleich
darauf stürmte die kastilische Leibwache, angeführt von Arteaga, durch eine andere Saaltür herein. Arteaga hatte auch schon Velásquez de León, Olíd und Sandoval benachrichtigt; der Tecpan
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war bereits besetzt, die Artillerie in Stellung.
Goldmaske war klug und erkannte sofort diese weitere Niederlage. Finster befahl er den Adlern und Jaguaren, sich aus dem Saal zurückzuziehen. Doch Cortés sagte, die Anwesenheit der
Adler und Jaguare sei ihm erwünscht, denn sie könnten so Zeugen des Eides werden, den der
Prinz jetzt schwören werde.
Goldmaske nickte und leistete den Schwur, indem er mit dem Zeigefinger die Erde und dann
die Lippen berührte. Als Buße für den Tod Isabels verpflichtete er sich, seines Volkes Glauben,
einen Palast und seinen Sohn darzubringen. Die Eidesformel schloss mit den Worten:
»Unser Vater, die Sonne, sieht es und hört es!«
*
Alvarado hatte die traurige Mission übernommen, den Bruder der toten Isabel, den Trompeter
Rodríguez, zu benachrichtigen. Soldaten trugen die Leiche des Mädchens mit entblößten Häuptern
ins kastilische Quartier. Cortés empfing derweil Gesandte benachbarter Völker, die sich jetzt täglich einfanden, um dem Grünen Stein Huldigungen und Gaben zu bringen. Eine der Gesandtschaften brachte neben Geschenken auch Nachrichten mit, die bisher nicht ins von der Welt abgeschlossene Tlaxcala gedrungen waren. Von den beiden Priesterkönigen Cholulas war einer vor
wenigen Tagen gestorben; sein Sohn Federherr war zum Nachfolger bestimmt, doch sollte seine
Krönung erst nach längerer Trauerzeit erfolgen. In Cholula herrschte jetzt nur ein Priesterkönig,
dessen Name Tlalchiac lautete, das Herrschende Raubtier – ein treffender Name! Er habe den Rat
der Alten in Cholula gegen Tlaxcala und die Christen aufgehetzt; wahrscheinlich stecke Moctezuma dahinter. Und er habe drei Gesandte Tlaxcalas gefangen gesetzt.
Cortés, Marina und die Blaue Feder besprachen im Adlersaal die beunruhigenden Ereignisse. Im Palastgarten draußen lärmten die Soldaten, hantierten klirrend an Gewehren und Geschützen. Tanzmeister Ortiz klimperte auf seiner Gitarre, und La Bailadora sang mit glockenreiner
Stimme ein Lied dazu:
Gönnt es mir doch, dass ich's erträume,
Wie mein Herz ein Herz gewann!
Nur das Glück, das es ersann,
Welkt nicht wie das Laub der Bäume.
Die Blaue Feder erzählte von seiner Schwester Perlendiadem. Sie lebe als Geisel in Tenochtitlán, sagte er, doch Tag für Tag erflehe sie die Ankunft des Befreiers, des Heilbringers, des
Bestrafers mexicanischer Untaten. Und unvermittelt bot er seine Schwester dem Cortés als Gemahlin an.
»Noch nie wurde ein Mann von einem Weib so ersehnt wie du! Wenn du sie erblickst, wirst
du sie lieben. Sie ist schön wie die Totenbeinblume, und ihr Haar ist schwarz und lang und so
glänzend, dass du dich darin spiegeln kannst.«
Während Marina seine Worte übersetzte, überkam sie Furcht. Sie fürchtete, dass nicht
Schönheit mit Schönheit ringen werde, sondern Leid mit Leid. Doch ein Blick auf Cortés gab ihr die
Zuversicht zurück. Er lächelte sie an.
»Du hast nichts zu fürchten, Marina! Sage ihm, auf einer der Inseln des Ostmeeres lebt meine Frau.«
Marina übersetzte.
Mutlos schüttelte Blaue Feder den Kopf. »Mein Herz mag es nicht glauben«, sagte er. »Gilt
der König der Totonaken denn mehr als ich? Seine Tochter hast du nicht ausgeschlagen!«
Cortés wusste, dass er in Cempoala Unrecht gegen sich selbst und Marina begangen hatte.
Auch wenn er es damals so hingestellt hatte, dass die dicke Prinzessin Freundliches Wasser nur
seine Konkubine und nicht seine Gemahlin sei, erinnerte er sich doch voller Missbehagen, wie die
Feldobristen ihn mit peinlicher Heiterkeit zum Brautstand beglückwünscht hatten. Reiche Indianer
hatten mehrere Frauen, und die weitere Brautwerbung der Blauen Feder verstärkte in Cortés das
Gefühl, sich im eigenen Netz verfangen zu haben.
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»Du stehst höher als der Totonakenkönig«, sagte er und ärgerte sich sogleich, dass er keine
bessere Antwort wusste. Sie sollte eine Ausflucht sein, hörte sich aber fast wie ein Versprechen
an.
Das Gespräch wurde von einem Boten unterbrochen. Der Rat der Alten von Tlaxcala ersuchte Cortés, gemeinsam mit seinen Offizieren und der Blauen Feder die Sitzung das Senats durch
seine Gegenwart zu ehren. Es würden Beschlüsse von größter Wichtigkeit gefasst.
*
Wie die Kastilier waren auch die tlaxcaltekischen Senatoren eben erst durch König Listiger Marder
zur Beratung geladen worden und fast vollzählig erschienen. Nur zwei fehlten: Goldmaske und der
Feldherr Kiefernzweig, der Freund des Prinzen; beide hatten sich wegen Krankheit entschuldigen
lassen. Dafür war unerwartet Pimoti anwesend, der Neffe Wollrings. Das Schicksal von Weißer
Sommervogel trieb ihn aus seinem Bergschloss her.
Außer den vier Stadtkönigen, dem Hohen Rat und den Ehrengästen befanden sich auch die
Gesandten im Saal, die König Listiger Marder über die Vorgänge in Cholula berichtet hatten.
Als die Kastilier erschienen, wurde bereits verhandelt. König Listiger Marder hatte die widerrechtliche Einkerkerung der tlaxcaltekischen Boten bekannt gegeben, und mit feierlichen Eiden
hatten die Gesandten die Einzelheiten bestätigt.
Der blinde Hundertjährige reckte seinen Greisenkörper und forderte zum Krieg gegen das
Herrschende Raubtier auf. Nach Wespenring sprach Wollring und erklärte, ebenso wie die
Tlaxcalteken hätten die Söhne der Sonne Grund, auf Rache zu sinnen; denn ihretwegen, um ihren
Besuch in der heiligen Stadt anzukündigen, seien die Boten entsandt worden. Die unerhörte
Schmach ihrer Gefangennahme bedeute den Krieg.
»Dies ist Feldbrand und Götterwasser«, rief er mit kräftiger Stimme. Die versammelten Räte
sprangen von ihren Sitzen auf und wiederholten: »Dies ist Feldbrand und Götterwasser!«
Dies ist Krieg!
Cortés beriet sich eilig mit seinem Stab. Er brauchte die Tlaxcalteken in seinen Plänen gegen Moctezuma. Daher erklärten die Christen sich bereit, mit ins Feld zu ziehen, falls es zum
Kampf kommen sollte.
Einstimmig beschloss der Hohe Rat, dem Herrschenden Raubtier als Zeichen der Kriegserklärung eine Büchse mit weißer Schminke zu senden. Doch dem Priesterkönig die weiße Schminke zu überbringen konnte nur jemand wagen, der mit dem Leben abgeschlossen hatte und jede
Folterqual zu ertragen gewillt war. Tlaxcala mochte keinem seiner tapferen Söhne den Auftrag
erteilen; seine Ausführung konnte nur mit einem entsetzlichen Tod erkauft werden. Und wieder
sprach Wespenring:
»O ihr Tlaxcalteken, meine Brüder und Söhne! Wenn Tlaxcala, unser aller Mutter, euch dies
befehlen würde – keiner der Tapferen würde zurückschrecken, daran zweifle ich nicht. Doch noch
befiehlt Tlaxcala nicht, sondern wartet lieber, dass einer von euch sich freiwillig anbietet. Diesen
Helden wird Tlaxcala nimmer vergessen, es wird sein Herz aufbewahren auf der Opferschale des
Ruhmes und es in Liedern lebendig erhalten! Auch die Witwe und die ihres Vaters beraubten Waisen wird Tlaxcala nicht vergessen, wird für sie sorgen, sie ernähren, kleiden und ausstatten.«
Schweigen lastete über den Versammelten. Aber dann stand einer auf, und aller Blicke wendeten sich ihm zu. Es war Lanzenträger, der Fürst und Feldherr Pimoti! Weißer Sommervogel war
ihm verloren – was war ihm sein Leben da noch wert? Er würde die Büchse mit der weißen
Schminke dem Herrschenden Raubtier überbringen. Das hatte niemand erwartet! Mit Respekt und
Ehrfurcht dankte Wespenring dem Lanzenträger.
Doch auch aus den Reihen der Kastilier fasste einer einen heldenhaften Entschluss. Während Marina dem Generalkapitän die Bereitschaft Pimotis übersetzte, bemerkte sie, dass der Franziskaner Aguilár sie unverwandt anstarrte. Weil er sie immer wieder bedrängt hat, mochte sie ihn
nicht; mitten im Satz brach sie ab und stellte, an Aguilár gewendet, die Frage:
»Wolltet Ihr etwas sagen, Fraile?«
»Nein, nachher... es ist nichts Wichtiges...«, stammelte Aguilár, wandte sich ab und ging gesenkten Hauptes zu den vier Königen auf die Estrade an der einen Schmalseite des Saales. Dort
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sprach er leise mit den Königen. Kurz darauf teilte Wollring den Versammelten mit, dass der Priester der Sonnensöhne entschlossen sei, mit Fürst Pimoti in die heilige Stadt zu ziehen.
Vergebens bestürmten ihn die Feldobristen, sein Wort zurückzunehmen. »Ihr hättet erst
meine Einwilligung einholen müssen!«, warf Cortés ihm vor.
»Euer Gnaden hätte mir die Einwilligung verweigert. Vielleicht vermag ich dort den Krieg zu
verhindern«, erwiderte der Priester schwermütig lächelnd, als wäre ihm eine List geglückt. »Nun
könnt Ihr es nicht mehr rückgängig machen!«
Das wusste auch Cortés; sein Einspruch hätte dem Ruf und Ansehen der Christen geschadet. Und Marina wusste, warum Aguilár so handelte, und fühlte sich schuldig an seinem freiwilligen
Tod – weil zwischen ihr und ihm ein Geheimnis war.
Der Rat der Alten ließ dem Fürsten Pimoti und Aguilár außer einer Büchse mit weißer
Schminke auch weiße Daunenfedern, weißes Rindenpapier, einen Schild, eine Handfahne und
eine Federkrone als Geschenke für das Herrschende Raubtier übergeben.
*
Weißer Sommervogel schlief. Das androgyne Wesen lag nackt auf einer großen seidigen Decke
aus weißem Kaninchenhaar. Sie lag auf der Seite; die Brüste berührten einander und wurden von
zwei dicken Zöpfen wie von schwarzen Nattern umringelt. Goldmaske saß neben dem Lager, und
seine Blicke saugten die berückende Herrlichkeit des knabenhaft-mädchenhaften Körpers auf. Die
Gedanken, die ihn erfüllten, hätte er mit Worten nicht beschreiben können. Was ihn bewegte, waren mehr Gefühle als Betrachtungen, mehr Empfindungen als Aussagen.
Was bist du? fragte es in ihm, unerfüllbare, nie erreichbare Sehnsucht! Fleisch bist du, aber
auch Seele! Nichts ist sich so nah und doch so unendlich fern wie du und ich! Das Mädchen strebt
zum Knaben, der Knabe zum Mädchen – an dir zerbricht mein Streben, weil es in dir ein Ende ohne Erfüllung fand...
Goldmaske weinte lautlos. Tränen rollten ihm über die von Narben zerfurchten Wangen. Leise beugte er sich über Weißer Sommervogel und küsste den grünlich bemalten Mund.
Weißer Sommervogel erwachte und schlug die langbewimperten Augen auf.
»Herr, du weinst? Warum weinst du?«
Goldmaske schluckte und gab keine Antwort. Er fürchtete, dem Zwitter in die Augen zu blicken, weil er wusste, dass diese Augen ihm das Herz erweichen und seinen Willen lähmen würden.
»Dreh dich zur Wand«, befahl er.
Weißer Sommervogel wendete nichtsahnend den Kopf.
»Was warst du, bevor du geboren wurdest? Ein Knabe oder ein
Mädchen?«
»O mein Herr, ich war auch damals beides«, kicherte Weißer Sommervogel. »Ich bin einmalig auf dieser Blumenwelt!«
»Ja, du bist einzigartig«, sagte Goldmaske, »und du gehörst mir.«
»O mein Herr, warum bist du so seltsam? Natürlich gehöre ich dir.«
»Du sollst auch mein bleiben«, flüsterte Goldmaske. Er umkrallte
von hinten Weißer Sommervogels Hals. Die Arme des Zwitters schnellten
mit geballten Fäusten hoch, der schlanke Körper zuckte eine Weile unter
den kräftigen Fäusten und erschlaffte plötzlich.
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Fortsetzung in der »kompassrose« am 1. Juli 2011
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