Entscheidung Europäischer Gerichtshof für

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Entscheidung Europäischer Gerichtshof für
Entscheidung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion
Anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
20/02/07 ENTSCHEIDUNG über die ZULÄSSIGKEIT der Individualbeschwerde Nr. 16013/04
H. K. gegen Deutschland
ENTSCHEIDUNG
ÜBER DIE ZULÄSSIGKEIT DER
Individualbeschwerde Nr. 16013/04
H. K.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung
am 20. Februar 2007 als Kammer mit den Richtern
Herrn P. LORENZEN, Präsident,
Herrn K. JUNGWIERT,
Herrn V. BUTKEVYCH,
Frau M. TSATSA-NIKOLOVSKA,
Herrn J. BORREGO BORREGO,
Frau R. Jaeger,
Herrn M. VILLIGER
und Frau C. W ESTERDIEK, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 30. April 2004 eingereicht wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
Der Beschwerdeführer, Herr H. K., ist deutscher Staatsangehöriger und in D. wohnhaft.
Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn Merker, Rechtsanwalt in Leipzig, vertreten.
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A. Der Hintergrund der Rechtssache
Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Der Beschwerdeführer, ein Zahnarzt, ist Vater einer 1998 nichtehelich geborenen Tochter.
Da der Beschwerdeführer und die Mutter, bei der das Kind lebt, keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hatten, erhielt die Mutter nach § 1626a Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB, siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht“) die alleinige Personensorge.
Der Beschwerdeführer hatte anfangs regelmäßigen Umgang mit dem Kind. Manchmal
übernachtete das Kind auch bei ihm. Der Beschwerdeführer oder seine Eltern kümmerten
sich auch an Wochentagen oft um das Kind, bis die Mutter von der Arbeit nach Hause kam.
Von 2001 bis 2003 hatte der Beschwerdeführer an einem Wochenende im Monat und in
manchen Urlaubszeiten Umgang mit dem Kind. Im September 2003 billigte das Amtsgericht
Eilenburg dem Beschwerdeführer ein Recht auf Umgang mit seinem Kind an jedem zweiten
Wochenende und in Ferienzeiten ein.
Ostern 2003 teilte die Mutter dem Beschwerdeführer mit, dass sie plane, im Juli 2003 mit
dem Kind nach Mallorca umzuziehen, und dort mit ihrem Lebensgefährten zu leben. Der
Beschwerdeführer strengte daraufhin ein Zivilverfahren an, um die alleinige Personensorge
zu erhalten oder, hilfsweise, die Mutter daran zu hindern, Deutschland mit dem Kind zu verlassen.
Am 30. Juli 2003 wies das Amtsgericht Eilenburg die Klage des Beschwerdeführers ab.
Das Gericht hörte den Beschwerdeführer, die Mutter und das Kind an und berücksichtigte
einen Bericht des Jugendamtes. Das Kind erklärte, es wolle mit der Mutter und dem Beschwerdeführer zusammen sein. Das Amtsgericht Eilenburg hielt den Beschwerdeführer für
grundsätzlich geeignet, die Personensorge für sein Kind zu übernehmen; die Entscheidung
stellte daher kein negatives Urteil über seine Eignung dar. Das Amtsgericht Eilenburg betonte jedoch, dass die Übertragung der elterlichen Sorge auf den Beschwerdeführer es erfordern würde, der Mutter, die nach § 1626a Abs. 2 BGB die alleinige Personensorge habe, das
Sorgerecht zu entziehen. Nach deutschem Recht könne der Mutter das Sorgerecht nur nach
§§ 1666 und 1666a BGB entzogen werden, nach denen das Familiengericht im Falle eines
Sorgerechtsmissbrauchs und einer sich daraus ergebenden Gefährdung des körperlichen,
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geistigen oder seelischen Wohls des Kindes geeignete Maßnahmen anordnen könne. Das
Amtsgericht Eilenburg stellte fest, dass die sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Das Gericht meinte, dass ein Umzug des Kindes mit seiner
Mutter nach Mallorca weder sein Wohlergehen noch sein Vermögen so stark gefährden würde, dass nur durch den Entzug des Sorgerechts der Mutter der Gefahr begegnet werden
könne. Zwar werde das Kind aus seinem gewohnten Umfeld herausgenommen, dies sei jedoch üblicherweise der Fall, wenn Eltern mit ihren Kindern umzögen. Daher sei es von entscheidender Bedeutung, dass das Kind die Kontakte zu ihm vertrauten Personen aufrechterhalten könne. Darüber hinaus bekomme das Kind die Möglichkeit, sich mit einer anderen
Kultur und einer anderen Sprache vertraut zu machen. Soweit der Beschwerdeführer rügte,
die Kindesmutter sei zur Ausübung des Sorgerechts ungeeignet, hielt das Amtsgericht Eilenburg seine Vorbringen für unbegründet. Außerdem sei die Entscheidung der Mutter, nach
Mallorca umzuziehen, um dort mit ihrem neuen Lebensgefährten zu leben, nach § 1684 BGB
nicht zu beanstanden, da sie triftige Gründe für den Umzug habe. Sie habe dem Beschwerdeführer für die Zeit nach dem Umzug nach Spanien jeden möglichen Umgang mit dem Kind
zugesichert, und der Beschwerdeführer verfüge über die finanziellen Mittel für regelmäßige
Besuche, so dass ihm die Ausübung seines Umgangsrechts nicht unmöglich gemacht werde.
Kurz nach der Entscheidung des Amtsgerichts Eilenburg zogen Mutter und Kind nach
Mallorca um.
Am 29. Oktober 2003 verwarf das Oberlandesgericht Dresden die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Eilenburg. Das Oberlandesgericht Dresden befragte das Kind, das erklärte, lieber in Deutschland bleiben zu wollen, wo
ihre Freunde und ihr Papa, den sie lieb habe, lebten. Das Gericht befand jedoch, dass das
Kind seinen neuen Wohnort in Spanien nicht auf Dauer ablehnen werde, weil es heranwachsen und sich weiterentwickeln werde. Für Maßnahmen nach § 1666 BGB reiche eine abstrakte Gefährdung des Kindeswohls nicht aus. Wegen der Kürze des Aufenthalts des Kindes
in Spanien habe es noch keine Beziehungen knüpfen können, die denen, die es in Deutschland gehabt habe, vergleichbar seien. Die offensichtlich schmerzhafte Trennung von dem
Beschwerdeführer, der sich in bemerkenswert großem Umfang um das Kind gekümmert habe, könne dadurch aufgefangen werden, dass der Beschwerdeführer gemäß dem Beschluss
des Amtsgerichts Eilenburg vom September 2003 ein Recht auf Umgang mit dem Kind habe,
das sich auf jedes zweite Wochenende sowie auf Ferienzeiten erstrecke. Die Ausübung dieses Umgangsrecht werde durch die räumliche Entfernung zwar erschwert, jedoch nicht in
einem unvertretbaren Maße eingeschränkt. Das Oberlandesgericht Dresden berücksichtigte
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auch, dass die Mutter triftige Gründe habe, nach Mallorca umzuziehen und dort mit ihrem
neuen Lebensgefährten zu leben.
Am 17. Februar 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis
I. Die einschlägigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs
Die Gesetzesbestimmungen über elterliche Sorge und Umgang finden sich im deutschen
Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Gemäß § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und
das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).
Ursprünglich standen nichteheliche Kinder laut § 1705 BGB automatisch unter der elterlichen Sorge der Mutter. Diese Bestimmung wurde jedoch 1996 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Am 1. Juli 1998 trat die Reform zum Kindschaftsrecht
(Bundesgesetzblatt 1997, S. 2942) zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1996 in Kraft. Die einschlägigen Bestimmungen im BGB wurden wie folgt geändert: Nach § 1626a Abs. 1 üben die Eltern eines nichtehelich geborenen minderjährigen Kindes die elterliche Sorge gemeinsam aus, wenn sie eine entsprechende Erklärung abgeben
(Sorgeerklärung) oder einander heiraten. Andernfalls sieht § 1626 a Abs. 2 vor, dass die
Mutter das alleinige Sorgerecht erhält.
Nach § 1666 BGB hat das Familiengericht die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,
wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt sind, diese Maßnahmen zu treffen. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden kann (§ 1666a BGB).
Nach § 1684 hat das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist
zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Außerdem haben die Eltern alles zu
unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt
oder die Erziehung erschwert.
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II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Am 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht, dass § 1626a BGB nicht mit
dem Grundgesetz vereinbar sei, da eine Übergangsregelung für unverheiratete Eltern fehle,
die 1996 zusammengelebt, sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt hätten (d.h. sie hätten die Möglichkeit zur Abgabe einer
gemeinsamen Sorgeerklärung haben können, wenn die Gesetzgebung zu diesem Zeitpunkt
verfassungsgemäß gewesen wäre). Um die oben genannte mangelnde Verfassungsmäßigkeit zu beheben, führte der deutsche Gesetzgeber am 31. Dezember 2003 Artikel 224 § 2a
des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch ein, wonach ein Gericht auf Antrag
eines Elternteils die Sorgeerklärung des anderen Elternteils ersetzen kann, wenn nicht miteinander verheiratete Eltern längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gemeinsam die elterliche
Verantwortung für ihr nichteheliches Kind getragen und sich vor dem 1. Juli 1998 getrennt
haben, vorausgesetzt die gemeinsame elterliche Sorge dient dem Kindeswohl.
In seinem Urteil vom 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht jedoch auch,
dass § 1626 a Abs. 2 BGB abgesehen von der fehlenden Übergangsregelung das Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes nicht verletze. Verheiratete Eltern hätten sich
mit dem Eheschluss dazu verpflichtet, füreinander und für ein gemeinsames Kind Verantwortung zu tragen. Im Gegensatz dazu könne der Gesetzgeber bei nicht miteinander verheirateten Eltern eines Kindes nicht davon ausgehen, dass diese in häuslicher Gemeinschaft lebten
und gemeinsam für das Kind Verantwortung übernehmen wollten. Auch fehlten hinreichende
tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Vater eines nichtehelichen Kindes in der Regel
zusammen mit der Mutter die Verantwortung für das Kind tragen wolle. Das Kindeswohl verlange daher, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person habe, die für das Kind rechtsverbindlich handeln könne. Angesichts der sehr unterschiedlichen Lebensverhältnisse, in die
diese Kinder hineingeboren würden, sei es gerechtfertigt, das Kind sorgerechtlich grundsätzlich der Mutter und nicht dem Vater oder beiden Elternteilen gemeinsam zuzuordnen. Diese
Regelung sei auch deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil der Gesetzgeber den Eltern nichtehelicher Kinder die Möglichkeit eingeräumt habe, durch übereinstimmende Sorgeerklärungen das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten.
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Anmerkung der Übersetzerin: Zutreffend muss es „Artikel 224 § 2 Abs. 3“ heißen.
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RÜGE
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass der Verfahrensausgang
sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt habe. Des Weiteren rügte er nach
Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, dass § 1626a Abs. 2 BGB eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Geschlechts darstelle.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass sein Recht auf Achtung
seines Familienlebens durch die Gerichtsentscheidungen verletzt worden sei und dass
§ 1626 a Abs. 2 BGB auf einem Ausgang mit ungerechtfertigter Diskriminierung wegen des
Geschlechts hinauslaufe (Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention).
Artikel 8 lautet wie folgt:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung
und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung,
zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der
Rechte und Freiheiten anderer.“
Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion,
der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu
gewährleisten.“
Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, dass Artikel 8 und 14 der Konvention Vorrang
vor den Bestimmungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs haben sollten. Er verweist
auf die rechtliche Situation in Frankreich, nach der die Eltern nichtehelich geborener Kinder
automatisch das gemeinsame Sorgerecht erhalten. Nach § 1626 a BGB sei die Mutter eines
nichtehelich geborenen Kindes im Wesentlichen in der Lage, die gemeinsame elterliche Sor-
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ge ohne irgendwelche Gründe abzulehnen, da sie sich sicher sein könne, die alleinige elterliche Sorge zu erhalten. Ein deutscher Vater eines nichtehelich geborenen Kindes könne gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht nur erhalten, wenn ihr das Sorgerecht nach
§ 1666 und § 1666a BGB entzogen werde, was der Mutter faktisch ein Vetorecht gegen die
elterliche Sorge des Vaters einräume.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein
einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt, selbst wenn die Beziehung
zwischen den Eltern zerbrochen ist, und innerstaatliche Maßnahmen, die die Betroffenen an
diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht darstellen (siehe u.a. Urteil Johansen ./. Norwegen vom 7. August 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-III, S. 1001-1002, Rdnr. 52, und Elsholz ./.
Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 43, EuGHMR 2000-VIII). Die in
dem vorliegenden Fall angegriffenen Maßnahmen, nämlich die Entscheidungen der deutschen Gerichte, durch welche die Übertragung des Sorgerechts auf den Beschwerdeführer
bzw. die Verhinderung des Umzugs von Mutter und Kind nach Mallorca abgelehnt wurde,
stellen einen Eingriff in das nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention garantierte Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens dar.
Der vorstehend erwähnte Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er
ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Abs. 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.
Die maßgeblichen Entscheidungen basierten auf Bestimmungen des innerstaatlichen
Rechts, nämlich auf §§ 1666, 1666a und 1684 BGB. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass die
vom Beschwerdeführer gerügten Gerichtsentscheidungen den Schutz des Kindeswohls zum
Ziel hatten und somit legitime Ziele im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 verfolgten.
Bei der Entscheidung darüber, ob die angefochtene Maßnahme „in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig“ war, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser
Maßnahmen angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von
Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren. Von entscheidender Bedeutung ist bei
jedem Fall dieser Art zweifellos die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient (siehe
Nekvedavicius ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99). Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Daraus folgt, dass die Aufgabe des Gerichtshofs
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nicht darin besteht, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorgeund Umgangsrechts wahrzunehmen, sondern im Lichte der Konvention die Entscheidungen
zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe
Görgülü ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01, Rdnr. 41, 26. Februar 2004;
Urteil Hokkanen ./. Finnland vom 23. September 1994, Serie A, Band 299-A, S. 20, Rdnr. 55;
und Urteil Bronda ./. Italien vom 9. Juni 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-IV,
Rdnr. 59; und, sinngemäß, Elsholz, a.a.O., Rdnr. 48). Welcher Ermessensspielraum den
zuständigen nationalen Behörden dabei einzuräumen ist, hängt von der Art der streitigen
Fragen und der Bedeutung der betroffenen Interessen ab. Insbesondere bei Sorgerechtsentscheidungen hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Behörden einen großen Ermessensspielraum haben (Elsholz, a.a.O., Rdnr. 49).
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 29. Januar 2003 hinsichtlich
des Konflikts zwischen § 1626a BGB und den Elternrechten von Vätern nichtehelicher Kinder
ausführliche Gründe vorgebracht. Das Bundesverfassungsgericht befand, das Kindeswohl
verlange, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person habe, die für das Kind rechtsverbindlich handeln könne. Angesichts der sehr unterschiedlichen Lebensverhältnisse, in die diese
Kinder hineingeboren würden, sei es gerechtfertigt, grundsätzlich der Mutter das alleinige
Sorgerecht zuzusprechen, und nicht dem Vater, der in jedem Fall die Möglichkeit habe, bei
Abgabe einer gemeinsamen Sorgeerklärung die elterliche Sorge zu erhalten.
In Rechtssachen, die sich aus Individualbeschwerden ergeben, ist es aber nicht Aufgabe
des Gerichtshofs, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften abstrakt zu prüfen; er muss vielmehr prüfen, in welcher Weise diese Rechtsvorschriften unter den jeweiligen Umständen auf
den Beschwerdeführer angewendet wurden (Sommerfeld ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 86, EuGHMR 2003-VIII [Auszüge]). Der Gerichtshof hält es
deshalb nicht für erforderlich zu prüfen, ob die deutschen Rechtsvorschriften als solche,
nämlich § 1626a Abs. 2 BGB, zwischen Vätern und Müttern nichtehelicher Kinder in einer
nicht zu rechtfertigenden Weise unterschieden haben.
Daher hat der Gerichtshof die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache geprüft. Er stellt fest, dass sowohl das Amtsgericht Eilenburg als auch das Oberlandesgericht
Dresden die Interessen des Beschwerdeführers und die der Mutter sorgfältig gegeneinander
abwogen haben. Das Amtsgericht Eilenburg hörte die Eltern an, berücksichtigte einen Bericht des Jugendamtes und hörte das Kind an, das auch später in dem Berufungsverfahren
vom Oberlandesgericht Dresden angehört wurde.
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Insgesamt befanden die deutschen Gerichte, dass es dem Kind unter der elterlichen Sorge der Mutter gut gehe. Sowohl das Amtsgericht Eilenburg als auch das Oberlandesgericht
Dresden stellten fest, die Mutter habe triftige Gründe, aus Deutschland wegzuziehen, und
habe dem Beschwerdeführer alle Möglichkeiten eingeräumt, mit seinem Kind Umgang zu
haben und es zu besuchen. Darüber hinaus verfüge der Beschwerdeführer über die finanziellen Mittel zur Ausübung seines Umgangsrechts. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Kind
vor dem Oberlandesgericht Dresden erklärt habe, es würde lieber in Deutschland bleiben
und vermisse seinen Vater. Die Argumente, mit denen das Oberlandesgericht auf diese Erklärung antwortete, und zwar, dass die Zeit, die das Kind in Spanien verbracht habe, noch zu
kurz für endgültige Schlussfolgerungen sei, man aber annehmen könne, dass sich das Kind
mit der Zeit besser eingewöhnen werde, erscheinen verständlich und überzeugend.
Im Hinblick darauf, dass die innerstaatlichen Gerichte besser als der Gerichtshof in der
Lage waren, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Kinder [sic], die in einem friedlichen Umfeld leben wollen, und den Interessen, die ihren Vater zu den von ihm
unternommenen Schritte veranlassten, herbeizuführen (siehe sinngemäß Urteil Söderbäck ./. Schweden vom 28. Oktober 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-VII,
S. 3095-96, Rdnr. 30-34), haben die Gerichte ihren Ermessensspielraum nach Artikel 8
Abs. 2 nicht überschritten.
Die Rechtssache wirft keine weitere Frage nach Artikel 14 der Konvention auf.
Daraus folgt, dass die Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention
als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Beschwerde einstimmig für unzulässig.
Claudia W ESTERDIEK
Kanzlerin
Peer LORENZEN
Präsident