SP 2-08_S_28-29 Sellmann - DER ZAHNMANN | Dr. Hans Sellmann

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SP 2-08_S_28-29 Sellmann - DER ZAHNMANN | Dr. Hans Sellmann
SP 2-08_S_28-29 Sellmann
18.04.2008
11:22 Uhr
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Normalerweise findet im menschlichen Mund eine ausgezeichnete und schnelle Wundheilung nach
Verletzungen, seien sie mit oder ohne Absicht verursacht, statt. Es kommt jedoch vor, dass zum
Beispiel nach Extraktionen eine verzögerte Wundheilung erfolgt.
Eine medikamentöse
Einlage lindert schnell den
heftigen Schmerz
L
eider müssen wir Zahnärzte immer
noch viele absichtliche Verletzungen,
bei denen uns bekanntlich ja nur die
Einwilligung unserer Patienten vor
dem Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung schützt, durchführen. Auch im Zeitalter
der Aufklärung und Prophylaxe extrahieren
wir Zähne, meist komplikationslos. Aber
auch eine „normale“ X1 oder X2 (bei der X3
oder der Ost geschieht so etwas schon eher)
kann, selbst wenn sie komplikationslos vonstatten ging, Probleme bereiten – nämlich
später.
Zwar nur etwa ein Prozent unserer Patienten
erleidet nach einer Zahnextraktion eine
Wundheilungsstörung. Die aber tut heftig weh.
Eine solche Wundheilungsstörung bezeichnen wir im zahnärztlichen Sprachgebrauch
als Dolor post extractionem, kurz „Dolor
post“, „Osteitis alveolaris“, „Alveolitis sicca“
oder trockene Alveole. In der englischsprachigen Literatur lautet der Begriff Dry socket.
Ein Tipp: Geben Sie einmal das Stichwort „Alveolitis sicca“ in eine der großen Suchmaschinen ein. In der Internet-Enzyklopädie Wikipedia finden Sie einen ausgezeichneten Aufsatz zu diesem Problem. Auch das Präparat
Socketol von lege artis pharma (Dettenhausen) wird darin als effektive Therapie erwähnt.
Das „sicca“, „trocken“ oder „dry“ bezeichnet sehr genau das, was wir manchmal bei
unseren schmerzgepeinigten Patienten
schon relativ kurz nach der Extraktion eines
Zahns vorfinden. Bei dem Dolor post handelt
es sich zwar um eine Entzündung, diese aber
geht normalerweise ohne eine Vereiterung
oder Abszessbildung vor sich. Der Schmerz
ist praktisch das einzige Entzündungszeichen. Dieser Schmerz jedoch ist äußerst heftig. Mit normalen Analgetika kommt man da
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WENN DIE EXTRAKTIONSWUNDE NICHT HEILEN WILL
auch zumeist nicht weiter, das haben die
Patienten bereits vergeblich die ganze Nacht
hindurch probiert.
Die Wundheilung nach einer Zahnextraktion
erfolgt normalerweise im Rahmen der Sekundärheilung. Darunter verstehen wir eine Spontanheilung mit „breiter“ Narbenbildung. Die
Alveole blutet voll, und es bildet sich ein
Koagulum in der Alveole, das nach einigen
Tagen von einwachsenden kleinen Blutgefäßchen (Kapillaren) durchzogen wird. Später wandelt es sich über das Zwischenstadium Granulationsgewebe in ein Narbengewebe um.
Manchmal aber bildet sich kein stabiles Koagulum in der Alveole, das heißt, es zerfällt
wieder. Dafür gibt es mehrere Gründe.
• Der Blutpfropf schrumpft nach einigen
Stunden grundsätzlich etwas. Ist die ursprüngliche Wunde groß (keine Naht beziehungsweise digitale Kompression der
Alveole), so kann dadurch im Randbereich
ein Spalt entstehen. In diesen dringen Bakterien ein und zersetzten das Blutgerinnsel.
• Das Koagulum wird durch starke
chemische oder mechanische Reize
angegriffen und zerfällt.
• Manchmal denken unsere Patienten, die
gelbliche Fibrinschicht, welche sich als
erstes Zeichen der Reorganisation des
Wundgewebes bildet, sei Eiter und entfernen sie.
• Auch kann das Koagulum mit dem
Aufbisstupfer, den wir dem Patienten ja
als Drucktamponade nach der Extraktion
„eingliedern“, aus der Wunde gerissen
werden, zum Beispiel, wenn wir nicht,
wie das empfohlen wird, eine „Isolierschicht (Perubalsam, jedoch Cave:
Allergiegefahr in der Anamnese abklären!) auf ihn aufgebracht haben.
• Der wesentlichste Grund aber für das
Entstehen eines Dolor Post ist ein
„Nichtbefolgen“ unserer Verhaltensmaßregeln für die Zeit nach der
Extraktion (vor allem das Rauchverbot).
• Auch eine fehlende orale Antisepsis
(Chlorhexidinspülung und mechanische
Entfernung möglichst vieler bakterieller
Beläge vor der Extraktion) begünstigen
Wundheilungsstörungen.
• Nicht zuletzt ist die geschwächte
Abwehrlage unseres Patienten ein
weiterer wesentlicher Grund für diese
Komplikation.
Moderne Hygienestandards, vor allem nach
der Einführung der neuen Richtlinien des RKI
für die Aufbereitung unserer Instrumente, lassen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dolor
post aus der Anwendung „schmutziger“ Instrumente (Zangen) resultiert, gegen Null tendieren.
Doch was auch immer die Ursache für die
trockene Alveole sein mag, selbst wenn wir
wissen, dass der Patient selbst schuld ist
(Rauchen!); es ist falsch, ihn auszuschimpfen, wir müssen zunächst helfen. Wenn er
später schmerzfrei ist, dann dürfen wir ihm,
selbstverständlich ohne dass er sein Gesicht
verliert, die Gründe für diese Wundheilungsstörung erläutern. Die Schmerzen eines Dolor post sind sehr heftig. So heftig, dass ein
Krankschreiben für ein bis zwei Tage, so lange bis unsere Therapie wirkt, durchaus gängige Praxis ist.
Über die Effektivität eines Antibiotikums zur
Therapie eines Dolor post gehen die Meinungen weit auseinander. Selbst wenn wir
es (adjuvant) einsetzen (Breitspektrumantibiose?), so dauert es doch einige Zeit, bis es
wirkt. Ich persönlich setze zur Therapie des
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Spezial 2/08
Dolor post erfolgreich auf die Kombination
einer Langzeitanästhesie zur Schmerzausschaltung. Wenn es erforderlich ist, und die Wunde „verjaucht“ ist, zusätzlich auf eine chirurgische Revision (XN). Und auf jeden Fall auf
eine medikamentöse Einlage. Ich habe vor
Jahren Socketol kennengelernt und wende es
in den Fällen einer Wundheilungsstörung,
wie sie oben beschrieben ist, an.
Socketol ist ein pastöses, schmerzlinderndes
und antiseptisches Arzneimittel zum Einbringen in die (trockene) Alveole. Es enthält Lidocain, Phenoxyethanol, Thymol und Perubalsam. Die Anwendung ist ganz einfach, die
Alveole wird zur Hälfte mit der Paste unter
Gebrauch einer der Packung beigefügten
Einwegkanülen gefüllt. Danach werden die
Wundränder aneinandergedrückt (komprimiert). Gegebenenfalls lasse ich den Patienten an den nächsten Tagen so lange wiederkommen (und fülle die Alveole nach vorsichtiger Reinigung und Spülung mit Wasserstoffperoxid erneut auf), bis der akute Schmerz
nachlässt und die Wundheilung von selbst
vonstatten geht. Alternativ können Sie Socketol auch auf einem Gazestreifen aufgebracht
in die Alveole einbringen. Wenn Sie an wissenschaftlichen Studien interessiert sind,
dann empfehle ich Ihnen die von Rainer S. R.
Buch et al. mit dem Titel „Dolor post extractionem“. Sie stellt einen Konzeptvorschlag
zur Behandlung der Alveolitis vor. Diese Studie ist im Internet unter ZM-online im Archiv
der Ausgabe 20/2005 zu finden. Diejenigen
unter Ihnen, die lieber die Papierform haben,
können sich einen Sonderdruck bei lege artis, eventuell zusammen mit weiteren Informationen zu Socketol, anfordern.
Abb. 4: So wird sichergestellt, dass Socketol auch
tatsächlich dort ankommt, wo es gebraucht wird.
Abb. 5: Socketol, auf einen Streifen aufgebracht,
wird direkt in die Alveole eingebracht.
Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung
Abb. 1: Verlust des Koagulums einer
Extraktionsalveole im IV. Quadranten
Insgesamt kann sich die Wundheilung nach
einer Alveolitis sicca über mehrere Wochen
hinziehen, bis der gesamte Knochen von „innen“ her wieder mit Schleimhaut überwachsen ist (sekundäre Granulation). Die akuten
Beschwerden klingen allerdings bereits nach
ein bis zwei medikamentösen Einlagen deutlich ab. Mit der Anwendung von Socketol
vermeiden wir darüber hinaus den „üblen“
Geschmack martialischer Einlagen. Auch Folgeproblemen, wie dem Auftreten einer Jodallergie beim Einsatz einer „Jodoformtamponade“, gehen wir mit Socketol aus dem Weg.
Abzuklären ist allerdings eine eventuelle allergische Reaktion gegen den im Präparat
enthaltenen Perubalsam.
Abb. 2: Das Granulom verhindert eine primäre
Wundheilung und muss, wenn es zerfällt,
entfernt werden.
Abb. 3: Hygienisch einwandfrei und vor
Kreuzkontaminationen geschützt, kommt Socketol
mit sterilen Einwegkanülen zur Anwendung.
Differenzialdiagnose
Der Name Alveolitis sicca bezeichnet den Ort
(Alveole) und die Art der Erkrankung (Entzündung -itis). Die Bezeichnung „trocken“
(sicca) deutet auf die leere Alveole (ohne
Koagulum) hin. Die Krankheitsbezeichnung
Dolor post extraktionem bezeichnet hingegen das Hauptsymptom – den Schmerz. Vielleicht sollten wir aber sowieso besser vom
Postextrakionssyndrom sprechen. Wir gebrauchen diesen Begriff dann, wenn eine
begleitende Neuritis, eine Entzündung eines
(peripheren) Nervs, hinzukommt. Differenzialdiagnostisch zum Dolor post müssen wir auch
an eine Osteomyelitis denken. Sie kommt allerdings nur selten in Zusammenhang mit
Quelle: DZW Spezial · Ausgabe 2/08 vom 16.4.2008
der MKG-Praxis Dr. Dr. Olivier und Dr. Wienhöfer
Fortbildungsinstitut Implantologie Rhein/Ruhr
einer Zahnextraktion vor. Die Osteomyelitis
tritt typischerweise als multipler Abszess mit
multiplen Fisteln auf.
Auch an eine Eröffnung der Kieferhöhle
(Mund-Antrum-Verbindung) während der
Extraktion ist zu denken. Wenn diese, zum
Beispiel nach der Extraktion eines oberen Seitenzahns, unentdeckt bleibt, weil kein NBE
(Nasen-Blas-Versuch, empfehlenswerter ist
das vorsichtige Sondieren mit der Kleeblattsonde) durchgeführt wurde, dann kann es zu
einer Entzündung der Kieferhöhle kommen.
Allerdings sind die dabei auftretenden
Schmerzen normalerweise nicht so stark.
Die schwierigste differenzialdiagnostische
Abgrenzung ergibt sich aus gewöhnlichen
postoperativen Schmerzen nach der Zahnextraktion. Besonders bei empfindlichen oder
wehleidigen Patienten ist die sichere Abgrenzung oft unmöglich. Wenn der Behandler das oben Gesagte beherzigt, wird er keine Fehldiagnose stellen und mit anästhesiologischen und chirurgischen Maßnahmen
dem schmerzgeplagten Patienten schnell Linderung verschaffen.
Dr. Hans H. Sellmann,
Marl
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