Lebenswege – Profilkurs R10a – Hannah und Tabea Flucht aus

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Lebenswege – Profilkurs R10a – Hannah und Tabea Flucht aus
Lebenswege – Profilkurs R10a – Hannah und Tabea
Flucht aus Ostpreußen
Lebenslauf:
Brigitte Maria Magdalena Heitkamp geb. Marienfeld
Am 20.06.1935 geboren in Glottau (Ostpreußen)
Vater: Hugo Marienfeld (9 Geschwister)
Mutter: Luzia Maria Marienfeld (12 Geschwister
Geschwister: 2 Brüder
Biographie des Zeitzeugen:
1945
Die Russen marschierten in Ostpreußen ein, vergewaltigten die Frauen, luden diese auf
LKWs und verschleppten sie nach Serbien, Russland. Brigitte hat ihre Mutter seitdem nie
wieder gesehen. Nach 55 Jahren suchen bekam der Vater vom Roten Kreuz die Nachricht,
dass die Mutter im Jahre 1945 im Mai verstorben sei. Nachdem die Frauen verschleppt
wurden, mussten die Männer alleine für die Familien sorgen.
1947 und weitere Jahre
Nach 2 Jahren wurden sie von den Russen rausgeworfen, ohne irgendeine Vorwarnung. Sie
konnten keine Sachen mehr packen, wurden auf LKWs geladen und irgendwo abgeladen. Sie
gingen von einem Auffanglager zum anderen. Das letzte war in Rotenburg- Wümme. Von da
aus gingen sie durch einen Wald nach Leipzig. Sie hatten nur ein Stück Brot mit, deswegen
fingen sie Spatzen und kochten diese in Konservendosen. Brigitte fütterte ihren 8 Monate
alten Bruder mit Schnee. In Leipzig gab der Vater dann die mitgenommenen Cousinen in
einem Heim ab. Nach Leipzig lebten sie dann in Vissel Hövede. Dort lebten sie 2 Jahre in
einem 12 m² Zimmer, wo sie mit 4 Personen in einem Bett geschlafen haben. Der Vater war
Orthopädiemeister und mietete in Bremen- Hemeling einen Laden. Jeden Tag mussten sie
mit dem Zug von Vissel Hövede nach Bremen- Hemeling fahren, um zu arbeiten.
Eine Tante wurde wiedergefunden, sie besuchten sie in den Ferien. Dort lernte der Vater
dann eine Frau mit ihren 2 Töchtern kennen. Sie wollten heiraten, was aber nicht ging, da
der Vater noch verheiratet war. Erst nach der Bestätigung des Roten Kreuzes, dass die
Mutter verstorben sei, konnte der Vater seine neue Frau heiraten. Sie kauften in
Seebaldsbrück ein Reihenhaus, in dem Brigitte nicht mit leben durfte. Sie suchte sich eine
Lehrstelle, bei der sie ein mobilisiertes Zimmer bekam. Sie arbeitete von morgens um 5 Uhr
bis Abends um 10 Uhr. Sie lernte ihren jetzigen Mann Werner Heitkamp dort kennen.
1964
Ihr Vater verstarb. Er hatte eine Versicherung abgeschlossen. Die Frau freundete sich mit
dem Freund des Vaters an, der bei der Versicherung arbeitete. Bei der Testamentseröffnung
stellte sich heraus, dass die Frau alles ausgezahlt bekommen hatte. Mit dem Geld kleidete
sie sich neu ein. Brigitte müsste heute noch ihren Anteil bekommen.
Ostpreußen
Ostpreußen war eine Provinz des Königreiches Preußen. Durch Eroberung des Landes durch
den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert entstand ein Deutschordenstaat. Durch das
Potsdamer Abkommen kam das nördliche Ostpreußen 1945 unter Verwaltung UdSSR und
das südliche Ostpreußen unter Polnischer Verwaltung. Die Deutsche Bevölkerung, die nicht
schon bei Kriegsende geflohen war, wurde vertrieben. Die DDR erkannte die Grenze zu Polen
bereits 1950 an, die Bundesrepublik Deutschland zunächst 1972 indirekt. 1990 erklärten die
Vertragspartner die Außengrenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der
Bundesrepublik Deutschland als endgültig für das vereinte Deutschland. Somit gehört der
damals südliche Teil Ostpreußens heute zu Polen und der nördliche Teil Zu Russland
(damaliges UdSSR).
Karte
Auf dieser Karte sieht man den Weg zu den bekannten Orten, an denen Brigitte war. Sie
lebte in Glottau, heute als Głotowo in Polen bekannt. Von dort aus ging es nach Rotenburg
Wümme, dann nach Leipzig und zum Schluss nach Visselhövede, das in der Nähe von
Rotenburg Wümme liegt.
Transkription
Mein Name ist Brigitte Maria Magdalena Heitkamp geboren Marienfeld.
Wann sind sie geboren?
Am 20.06.1953
Wie viele Geschwister haben sie?
2 Brüder.
Wie heißen ihrer Eltern?
Mein Vater hieß Hugo und meine Mutter heiß Luzia Maria.
Und wo sind sie geboren?
In Glottau, im Kreis Heilsberg, Ostpreußen, Regierungsbezirk Königsberg.
Wie lange haben sie da gelebt?
Bis 1945, dann kamen die Russen und 1947 haben sie uns rausgeschmissen.
Sie sind nicht geflohen?
Nein, wir sind nicht geflohen, aber als die Russen 1945 eingezogen sind, waren wir bis 1947
in Ostpreußen. Und dann haben die uns auf einen Lkw geladen und haben uns einfach
Kilometer weit weg gefahren und irgendwo abgeladen und wir mussten und selber zu recht
finden.
Und wohin haben die euch abgeladen?
Das weiß ich nicht mehr, das schon so viele Jahre her. Doch dann sind wir von einem Lager
zum anderen.
Was für Lager?
Das waren so Auffanglager. Und sind dann zuletzt nach Rotenburg- Wümme in ein Lager
verteilt wurden. Uns sind dann nach Leipzig gekommen, von Leipzig sind wir dann schwarz
durch den Wald mit einem Wecker und ein Stück trocken Brot ist mein Vater mit uns durch
den Wald gegangen und haben und eine Unterkunft gesucht und wir hatten noch 2 Cousinen
dabei. Der Vater von ihnen ist im Krieg gefallen und die Mutter ist am Typhus gestorben.
Und als wir dann nach Leipzig kamen, hat mein Vater dann die beiden ins Waisenhaus
gegeben, weil er alleine nicht mit 5 Kindern zu Recht kommen konnte.
Und wir sind dann von Leipzig nachts durch die Wälder und wieder in Auffanglager. Und sind
dann von diesem Auffanglager nach Vissel Höfede gekommen. Und Vissel Höfede da
haben wir 2 Jahre gewohnt in einem 12 m² Zimmer gelebt. Mit drei Personen in einem Bett
geschlafen, 4 Personen praktisch mein Vater und wir Kinder. Mein Vater war
Orthopädiemeister und er hat sich dann eine Arbeit gesucht und hat auch in Bremen –
Hemelingen einen Laden gemietet und da sind wir fast drei Jahre jeden Tag hin gefahren um
zu arbeiten.
Und diese Auffanglager, was ist da genau passiert?
Da kamen wir in Hochbetten, drei Betten übereinander, manchmal auch zwei. Da konnten
wir dann übernachten. Und wir haben eigentlich von Wald und Wiese gelebt. Von Beeren
und alles was draußen gewachsen ist.
Und haben Sie ihre Cousinen irgendwann nochmal wieder gesehen?
Nein, nie wieder. Ich hab zwar noch Adressen von Dortmund gehabt wo sie während des
Krieges gelebt haben. Sie sind zwar nach Ostpreußen gekommen weil dort hatten wir ja kein
Krieg in dem Sinne gehabt keine Bomben Angriffe von Flugzeugen. Weil das in Dortmund
alles war, da sind die Flieger gekommen und haben alles weggebombt und kaputt
geschossen. In Ostpreußen war zwar Krieg, aber keine Bomben-Angriffe. Sie sind nur mit
Panzer gekommen und haben alles platt gefahren. Die ganzen Wälder, Scheunen und alles
was es gab.
Meine Mutter hatte 12 Geschwister und die hatten ein großes Gut mit Schweinen und
Hühner, Ziegen und alle wurden geschlachtet. Und es gab ja noch keine Kühlschränke und da
haben die alles in Holzfässer eingesalzen, die Bauern, oder in Gläser eingekocht. Und wie die
Russen dann kamen und die haben das alles mit den Panzern kaputt gefahren das wir nichts
mehr zu essen hatten. Und dann sind wie in die Wälder gegangen und haben Beeren
gepflückt und haben uns von Wald und Wiese ernährt. Wir haben uns Spatzen gefangen in
Mausefallen haben die Konservenbüchsen eingelegt und haben gegessen.
Deine Mutter hatte 12 Geschwister?
Ja und mein Vater hatte 9 Geschwister.
Und wie war das als die Russen dann gekommen sind, hatte sie dann auch keine Zeit mehr
irgendwas zu packen?
Nein, gar nichts.
Also sind sie in den Sachen, die sie hatten, weggegangen?
Nein, wir sind ja nicht weggegangen, wir sind ja zwei Jahre noch da geblieben. Und als die
Russen kamen, haben sie ja die Frauen verschleppt. Alle nach Sibirien, Russland. Und in dem
Dorf gab es dann gar keine Frauen mehr, das waren fast alles nur Männer oder die älteren
Menschen. Die Frauen wurden dann alle in den Keller geschleppt, vergewaltigt und dann
wurden sie danach weggebracht. Danach habe ich meine Mutter nie mehr gesehen. Nach 55
Jahren haben wir durchs rote Kreuz einen Brief bekommen, weil mein Vater hat sie ja die
ganze Zeit über gesucht, das sie schon im Mai 1945 gestorben ist. Sie hat also nicht lange
gelebt. Sie wurde dann ja verschleppt und anscheinend ist sie dann sofort gestorben.
Mein Bruder war ja erst 8 Monate alt als die Russen kamen, ich hab Schnee aufgetaut und
ihm das als trinken gegeben. Aber er ist mittlerweile gestorben. Und wo mein anderer
Bruder ist weiß ich nicht, ich habe ihm manchmal geschrieben. Ich hatte ja die Adresse übers
Internet rausgefunden, irgendwo in Bayern soll er leben. Ich habe ihm immer mal wieder
geschrieben, aber er hat sich nicht gemeldet. Ich weiß nicht ob er wirklich noch lebt.
Als ihr von einem Lager zum anderen Lager gegangen seid, war es dann noch Winter?
Ne es war nicht mehr ganz Winter, im Februar sind ja die Russen gekommen und im Juli
wurden wir ja rausgeschmissen. Das war also Winter und Sommer.
Die Russen waren dann bei euch im Dorf?
Nicht nur im Dorf, in der ganzen Region waren sie.
Wir wurden ja streng katholisch erzogen, aber nachdem meine Mutter weg war, und ich
mich um meine Brüder kümmern musste, mein Vater hatte ja ein kaputtes Bein, habe ich mir
gedacht, wenn es einen Gott geben würde, hätte er das nicht zugelassen. Dann bin ich aus
der katholischen Kirche ausgetreten.
Und dann hatte ja mein Vater das Schuhgeschäft in Bremen gehabt, da hatten wir einen
Auftrag von der Bundeswehr, da kam immer ein LKW mit Schuhen, und die hat er dann
repariert. Und seine Schwester, also meine Tante, haben wir dann später gefunden, sie ist ja
auch geflüchtet. In den Ferien sind wir dort immer hingefahren, und dann hat mein Vater
dort eine Frau mit zwei Kindern kennengelernt, wollte heiraten aber ging ja nicht, da er ja
noch verheiratet war. Dann hat sich eine Freundin meiner Mutter gemeldet, und sie hat
dann eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass meine Mutter schon gestorben sei.
Dann konnte mein Vater heiraten. Und dann kamen seine neue Frau und ihre Kinder mit uns,
und mein Vater kaufte ein Reihenhaus. Dann hat mein Vater meine Brüder ins Lehrlingsheim
in Hildesheim geschickt um Schuhmacher zu erlernen. Nur ich durfte nicht mit ins neue
Haus, ich musste mir eine Stelle suchen. In dem Reihenhaus lebten also nur mein Vater,
seine Frau und ihre beiden Töchter. In Hemelingen gab es dann eine nette Nachbarin, die
mir eine Stelle besorgte. Dort hatte ich dann ein mobilisiertes Zimmer, aber wir mussten ja
damals noch von morgens 5 Uhr, bis abends um 10 Uhr arbeiten. Dort habe ich dann meinen
Mann kennenlernen.
Zu der Zeit hatten sie bestimmt ziemlich Angst als die Russen kamen, oder?
Ja. Und mein Vater ist dann ja 64 verstorben. Er hatte ja eine Versicherung abgeschlossen.
Seine Frau hat sich dann mit dem Freund meines Vaters angefreundet, der sich um die
Versicherung gekümmert hat. Es dauerte dann auch nicht lange, dann wurde das Testament
eröffnet. Selbst meine Tante und mein Onkel aus Hamburg kamen. Doch es stellte sich
heraus, dass der Freund meines Vaters, der Frau das Geld schon ausgezahlt hatte. Und ich
wunderte mich schon, dass sie mit einem Pelzmantel rumlief, sie hatte sich nämlich schon
mit dem Erbe eingekleidet. Mein Erbe müsste ich heute noch bekommen.
Haben sie noch Kontakt mit ihren Geschwistern?
Ne, der eine ist ja verstorben und der eine müsste ja eigentlich noch leben, aber ich weiß es
ja nicht. Ich hatte ihm ja geschrieben, aber er meldete sich nicht. Einmal meinte meine
Nachbarin zu mir das mein Bruder im Fernsehen sei und im Rollstuhl sitz. Ich weiß ja nicht ob
er jetzt heute noch lebt, das war ja schon länger her. Seitdem ich wusste wo er wohnen soll,
hab ich ihm jedes Jahr zum Geburtstag geschrieben. Aber wenn er gestorben wäre, müsste
die Post ja zurückgeschickt werden.
Wie war das in den Auffanglagern, haben sie dort welche kennengelernt?
Ne, die waren alle mit sich selber beschäftigt.
Wie lange waren sie dort immer? Ein, zwei Tage?
Das weiß ich nicht, ich glaube es waren mehrere Wochen insgesamt.
Und auf dem Weg, von einem Lager ins andere, sind sie dann auch anderen begegnet
oder?
Ja, wir sind meistens in einer größeren Gruppe gegangen. Aber als wir dann später in Leipzig
gegangen, ist mein Vater mit uns drei Kindern alleine gegangen. Unsere Cousinen sind ja im
Heim dort geblieben. Kurz danach sind wir alleine gegangen. Es wurde dann die Mauer
gebaut und wir haben es noch grade geschafft. Als wenn er das geahnt hätte.
Seit ihr dann den Russen auch mal begegnet unterwegs?
Nein, nur als sie mit Panzern zu uns ins Dorf gekommen sind. Nachher kamen ja noch die
Polen, wir wussten damals gar nicht wer zu wem gehörte. Wer die Russen und wer die Polen
sind. 1947 war das ja als sie uns wirklich rausgeschmissen.
Besonderheiten:
Die negativen Ereignisse waren, als die Mutter vergewaltigt und verschleppt wurde.
Das ständige laufen ohne etwas zu essen und die Übernachtungen in den Auffanglagern
hinterlassen schlimme Erinnerungen.
Als ihr Vater verstarb, behielt die Frau den ganzen Anteil für sich und Brigitte bekam nichts.
Die positiven Ereignisse waren, als sie eine Lehrstelle bekommen hat und ihren Mann
kennen lernte.
Forschungsinteressen:
Neues Erfahren haben wir durch unsere Projektarbeit, dass es früher schreckliche Sachen
gab, die den Menschen angetan wurden. Uns ist unschlüssig, dass der Vater sich auf einmal
einen Laden gekauft hat. Sie haben aber vorher in einem 12 m² Zimmer gelebt, also woher
kam das Geld für den Laden?
Die Erklärung können wir nur vermuten. Wir glauben, als sie rausgeschmissen wurden, dass
der Vater noch schnell etwas Wertvolles mitgenommen hat oder dass sie Entschädigungen
bekommen haben.
Widersprüche:
Wenn wir unsere Informationen mit dem Interview vergleichen, gibt es viele Unterschiede.
Brigitte durfte noch 2 Jahre zuhause wohnen bleiben, andere mussten sofort ihre Häuser
verlassen.
Sie kam den Russen nur einmal in die Nähe, das war als ihre Mutter verschleppt wurde.
Als sie auf der Flucht waren, haben sie nie einen Anschlag miterlebt.