pdf

Transcrição

pdf
Januar 2016, Nr. 1/16
Wirtschaftskrise, umstrittene Privatisierung und Proteste zu Jahresbeginn
Von Stephan Suhner
Wirtschaftlich begann das neue Jahr in Kolumbien unter keinem guten Stern. Die tiefen
Rohstoffpreise – darunter Erdöl als eines der wichtigsten Exportgüter - führten zu einer
Verschlechterung der wirtschaftlichen Kennzahlen und einer starken Abwertung des Pesos.
Das Jahr 2016 droht in wirtschaftlicher Hinsicht noch schwieriger zu werden als des eben
vergangene. Verschiedene Massnahmen der Regierung Santos haben zudem Ende Jahr und
in den ersten Januartagen für zusätzlichen Unmut gesorgt: die Erhöhung des Mindestlohnes
viel sehr gering aus, es drohen verschiedene Steuererhöhungen und zu allen hinzu kam der
Verkauf des Elektrizitätsunternehmens Isagen. Dieser rentable Staatskonzern wurde zu
schlechten Konditionen gegen die Opposition der meisten sozialen Bewegungen und vieler
politischer Sektoren verkauft. Alle drei Gewerkschaftszentralen, die indigenen und
kleinbäuerlichen Bewegungen und viele weitere soziale und politische Sektoren planen
deshalb einen zeitlich unbefristeten nationalen Streik.
Ein weiteres Jahr der Proteste zeichnet sich ab
Die Sozialbewegungen kritisieren die
verschärften Privatisierungswellen unter der
Regierung Santos, sowie die fortdauernde
Nichteinhaltung von Abkommen mit den
Bauernbewegungen wie der Cumbre Agraria.
Ein weiteres Motiv für neue Proteste sind die
zunehmende Repression und gewaltsame
Übergriffe auf Sozialbewegungen und
Führungspersonen. Aussergewöhnlich an
den laufenden Vorbereitungen für einen
Nationalstreik ist die Breite der Mobilisierung:
so rufen alle drei Gewerkschaftszentralen in
einer historischen Einmütigkeit zum Streik
auf, wie auch unzählige soziale Bewegungen
und Plattformen. Auch mehrere Abgeordnete der Oppositionspartei Polo Democrático
Alternativo unterstützen den Protestaufruf, und heben insbesondere die absolute Weigerung
der Regierung hervor, auf die zahlreichen Proteststimmen zu hören, z.B. bezüglich des
Verkaufs von Isagen.
Die allgemeine Unzufriedenheit geht soweit, dass selbst rechte politische Sektoren zu
Protesten aufrufen, so das Centro Democrático von Ex-Präsident Alvaro Uribe, der auf
zynische Art und Weise den Verkauf von Isagen und weitere Politiken von Santos ablehnt, um
die wirtschaftliche Unzufriedenheit nutzen zu können, um gegen den Friedenprozess zu
schiessen. Dabei war es Uribe in seiner Präsidentschaft, der verschiedene
Staatsunternehmen wie Telecom und grosse Teile des Bildungs- und Gesundheitsbereiches
privatisierte.1 Auch war es die Regierung von Uribe, die die ersten 20% der Aktien von Isagen
an Private veräusserte.
1
La progresiva configuración de un gran paro nacional, 13. Januar 2016, in:
http://colombiainforma.info/politica/seccion-politica/2997-la-progresiva-configuracion-de-un-gran-paro-nacional
Am Sonntag 24. Januar gingen in verschiedenen Städten und Regionen mehrere Tausend
Personen auf die Strasse, um gegen die bescheidene Erhöhung des Mindestlohnes, gegen
den Verkauf von Isagen und gegen weitere geplante Privatisierungen zu protestieren.
Protestiert wurde auch gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19%. Aufgerufen
hatten Gewerkschaften, Studenten und soziale Organisationen, vielerorts waren ganze
Familien an den Protesten beteiligt. Dies war aber erst ein Vorspiel, ein Datum für den
geplanten nationalen Streik wurde noch nicht bekannt gegeben.2
Verkauf des Elektrizitätskonzerns Isagen zum Schnäppchenpreis
Trotz der Mobilisierungen breiter Volksschichten, der ablehnenden Konzepte von Ökonomen
und der parlamentarischen Opposition, wurde am 13. Januar 2016 um 9 Uhr morgens das
Stromproduktionsunternehmen ISAGEN an die kanadische Brookfield Asset Management
verkauft. Brookfield bezahlte in einer „öffentlichen“ Versteigerung als einziger Bieter 6,49
Billionen Pesos für 57% der Aktien. Gemäss der kolumbianischen Börse bezahlte Brookfield
für die 1,5 Mia. Aktien nur den Mindestpreis von 4130 Pesos pro Aktie. Dafür entgehen der
Nation jedes Jahr 300 Mia. Pesos aus den Gewinnen von Isagen. Senator Jorge Enrique
Robledo befürchtet Folgen für das Portemonnaie der Bürger, da nun Isagen nicht mehr im
Staatsbesitz sei und höhere Preise für den Strom bezahlt werden müssten. Ivan Cepeda sagt,
der Finanzminister Mauricio Cárdenas müsse die Verantwortung für die irreguläre
Versteigerung von Isagen tragen. Umstritten ist die Versteigerung von ISAGEN v.a. deshalb,
weil nur ein Bieter vorhanden war. Nach Ansicht der Regierung erlaubt die kolumbianische
Gesetzgebung einen Verkauf unter diesen Umständen, wenn die vorher bestimmten
Bedingungen und Regeln eingehalten werden.
Die Regierung begründet den
Verkauf mit der Notwendigkeit,
mehr Kapital in das Projekt der 4.
Generation
von
Strassenkonzessionen investieren
zu können. Dieses Projekt sieht den
Bau von mehr als 8‘000 km
Strassen vor, darunter 1370 km
vierspurig.
So
sollen
die
Transportzeiten
und
-kosten
gesenkt
und
Kolumbien
wettbewerbsfähiger
gemacht
werden. Isagen ist das zweitgrösste
Unternehmen zur Stromproduktion
in Kolumbien und für die Stromversorgung sehr wichtig. Viele Kolumbianer befürchten nun
Tarifspekulationen und die Abholzung von Tausenden Hektaren Wald durch das kanadische
Unternehmen, da die Konzession grosse Waldgebiete umfasst, die genutzt werden dürfen. Für
Pablo Andrés Celis, Mitglied der Vereinigung der Dienstleistungsnutzer von Antioquia ist
Isagen strategisch wichtig für die Energiesouveränität des Landes; auch er befürchtet mit dem
Verkauf steigende Preise. Gewisse Befürchtungen w erden auch durch negative Erfahrungen
mit anderen ausländischen Multis im Energiebereich verstärkt, z.B. durch Endesa-ENEL, die
38% am Staudamm El Quimbo besitzt. Juan Pablo Soler, Mitglied der Kolumbianischen
Bewegung zur Verteidigung der Territorien und der Staudammbetroffenen „Ríos Vivos“ sagt,
dass es einen grossen Unterschied ausmache, ob man gegen ein staatliches Unternehmen
protestiere, oder gegen einen multinationalen Konzern.3
2
El Espectador, Concentraciones en diferentes partes del país contra decisiones del Gobierno, 24. Januar 2016,
in: http://www.elespectador.com/noticias/nacional/concentraciones-diferentes-partes-del-pais-contra-decisarticulo-612476
3 Polémica venta de Isagen provoca incertidumbre y rechazo nacional, 13. Januar 2016, in:
http://colombiainforma.info/politica/seccion-politica/2998-polemica-venta-de-isagen-provoca-incertidumbre-yrechazo-nacional
Ein Fragezeichen muss auch gesetzt werden, ob der Verkauf von Isagen mitten in einer
Energiekrise sinnvoll war. Die Flüsse und Stauseen führen wegen des El Niño Effekts sehr
wenig Wasser, was die Stromproduktion beeinträchtigt und schon zu Tariferhöhungen führte.
Kolumbien muss angesichts der sich häufenden Klimaphänomene bei wachsendem
Stromverbrauch dringend seine Stromquellen diversifizieren. Isagen spielte da eine tragende
Rolle mit ihren Investitionen in Geothermie und Windenergie. Angesichts der Energiekrise
greift diesmal auch das Argument zu kurz, dass ein ineffizientes Staatsunternehmen
privatisiert werden müsse, da Isagen effizient arbeitete und gut geführt war. Nicht nur Linke
Meinungsführer und Experten bezweifeln, dass es sinnvoll ist, einen rentablen und strategisch
wichtigen Staatsbetrieb zu privatisieren, um damit Infrastrukturprojekte zu finanzieren, wie das
Vorzeigeprojekt der Administration Santos, die Autobahnen der vierten Generation. Für Diego
Otero, Energieexperte der Universidad de los Andes handelt es sich im vorliegenden Fall um
eine unreflektierte Anwendung neoliberaler Rezepte, ohne zu berücksichtigen ob der zu
privatisierende Staatsbetrieb effizient sei oder nicht.4 Isagen war eines der letzten
Unternehmen, das noch privatisiert werden konnte. Heute befinden sich 80% der
kolumbianischen Wirtschaft in den Händen von Multis. Beispielsweise verlor Kolumbien durch
die Gesetzesänderungen während der Regierungen von Pastrana und Uribe 60% Anteil am
Erdölgeschäft.
Gegen den Verkauf von Isagen sind mehrere Klagen hängig, darunter auch eine
Grundrechtsklage – Tutela - , die von mehreren linken Parlamentariern, dem Netzwerk für
Steuergerechtigkeit und der Gewerkschaft Sintraisagén eingereicht wurde. Begründet wurde
die Klage damit, dass Brookfield den Kaufbetrag noch nicht überwiesen habe, der Verkauf also
noch nicht abgeschlossen und Rechtsmittel daher zulässig seien, dass eine Versteigerung mit
nur einem Bieter nicht verfassungskonform sei und gegen den freien Wettbewerb verstosse,
und dass die Regierung Isagen unterbewertet habe.5
Scharfe Wirtschaftskrise wegen Rohstoffabhängigkeit
Das Jahr 2015 schloss in wirtschaftlicher Hinsicht schlecht ab. Das Wirtschaftswachstum und
das Prokopfeinkommen gingen zurück, im Staatshaushalt fehlen Milliarden (Fiskaldefizit von
3,6%), das Zahlungsbilanzdefizit steigt auf 7%. Für 2016 ist keine wirtschaftliche Erholung in
Sicht, das zu erwartende Wirtschaftswachstum wird auf 3% geschätzt. Die wirtschaftlichen
Perspektiven stehen in scharfem Gegensatz zu den Friedens- und Postkonfliktszenarien,
deren Finanzierung so ungewiss wird. Das Hauptproblem ist der drastische Fall der
Rohstoffpreise, v.a. des Erdöls. Für den Entwicklungsplan 2014-2018 ging die Regierung von
einem Erdölpreis von 82 Dollar pro Fass aus, aktuell liegt er bei knapp 30 Dollar. Das einseitig
auf Rohstoffförderung setzen führt nun zu massiven Einbrüchen bei den Staatseinnahmen und
macht eine Neuverschuldung von 13 Mia. Dollar nötig.
Die kolumbianische Regierung befolgt in der gegenwärtigen schwierigen Wirtschaftslage die
regressiven Vorgaben der OECD, was die Krise weiter verschärfen dürfte. U.a. soll die
Mehrwertsteuer von 16% auf 19% angehoben werden. Erschwerend kommt für die
Bevölkerung die Abwertung des Pesos hinzu: für jeden Dollar müssen mehr Pesos bezahlt
werden, was über steigende Preise für Importgüter zu stärkerer Inflation führt. Da Kolumbien
immer mehr Güter des täglichen Bedarfs einführen muss – selbst Nahrungsmittel – sind
einkommensschwache Bevölkerungsschichten von Inflation und Erhöhung der
Mehrwertsteuer besonders betroffen. Die Wirtschaftsverbände zeigten sich bei der Erhöhung
des Mindestlohnes trotzdem knausrig: lediglich 7% beträgt die Erhöhung, was nur gerade dem
Anstieg des Konsumentenpreisindexes entspricht, aber keine Reallohnerhöhung bedeutet.
Die Gewerkschaftszentralen hatten einen Anstieg des Mindestlohnes zwischen 8,5 und 11%
gefordert.
4
Crisis energética, agravada por decisión de Santos de mantener venta de Isagen, 22. September 2015,
in: http://colombiainforma.info/politica/seccion-politica/2761-crisis-energetica-agravada-por-decision-de-santosde-mantener-venta-de-isagen
5 Enrique Daza, Justicia Tributaria, “Todavía podemos parar la venta de ISAGEN”, 20. Januar 2016, in:
http://www.contagioradio.com/todavia-podemos-parar-la-venta-de-isagen-articulo-19367/
Die einseitige Strategie, auf Rohstoffförderung zu setzen, hat der Wirtschaft auch Flexibilität
geraubt und erschwert heute das Entstehen von Alternativen. So sollte die Abwertung
eigentlich die Wettbewerbsfähigkeit der kolumbianischen Wirtschaft und den Export von
kolumbianischen Produkten fördern, aber das Gegenteil passierte: von Januar bis Oktober
2015 sind die Exporte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 35% gefallen. Der Ökonom
Andrés Fuerte meint dazu, dass die wirtschaftliche Öffnung, die immer noch weiter vertieft
wird, ein Wiederauferstehen der kolumbianischen Industrie schon in den Ansätzen verhindert.
Eine diversifizierte Exportstruktur existiert nicht und lässt sich auch nicht auf die Schnelle
aufbauen. Dementsprechend sieht Fuerte die Perspektiven für 2016 düster: steigende
Arbeitslosigkeit, steigende Lebenshaltungskosten, weniger Mittel für soziale Programme. Die
Regierung war schon während des Booms der Rohstoffpreise mit den Forderungen der
Sozialbewegungen nicht sehr grosszügig umgegangen, und noch weniger wird sie es in den
nun folgenden mageren Jahren sein.6
Soziale Organisationen sehen für die Krise folgende Gründe: die Einnahmen des Erdölbooms
der vergangenen Jahre wurden vergeudet, nicht für produktive Investitionen verwendet, und
nun fliessen die Einnahmen auf längere Zeit spärlich. Die Abwertung des Peso gegenüber
dem Dollar sehen sie als von den USA politisch gewollt; dadurch steigt aber die Belastung
durch die in Dollar gehaltenen Auslandsschulden. Die Vorschläge der Regierung verschärfen
die Krise, so z.B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die den Konsum reduzieren. Betroffen
sind insbesondere die acht Millionen Kolumbianer, die einen Mindestlohn verdienen. Bei einem
durchschnittlichen Anstieg des Konsumentenpreisindexes von 7% stiegen die Nahrungsmittel
aber mit 10% am stärksten, was wiederum die ärmsten Schichten, wie bei der Mehrwertsteuer,
am meisten trifft. Ausgehend von dieser Analyse schlagen die sozialen Bewegungen eine
Kontrolle des Dollar-Wechselkurses vor, sowie eine Verlangsamung der Freihandelspolitik und
die Neuverhandlung gewisser Freihandelsabkommen, eine Erhöhung der direkten Steuern
und die Schliessung der vielen Steuerschlupflöcher, z.B. im Rohstoffsektor. Zudem schlagen
sie eine Anpassung der Zolltarife und Steuer für ausländische Direktinvestitionen vor, da viele
Investitionen aus Steuerparadiesen getätigt werden, die Gelder aber kolumbianischen
Unternehmern gehören.7
Ein Aspekt der Wirtschaftskrise ist der Einbruch der Börsenkurse. Die Kolumbianische Börse
hatte 2015 Buchverluste von 25% zu verzeichnen, wobei die Hälfte allein auf den Kurssturz
von Ecopetrol fällt. In US-Dollar sieht der Kursverlust noch schlimmer aus: die
Börsenkapitalisierung der kolumbianischen Unternehmen sank von 143 Mia. USD auf 82 Mia.,
61 Mia. USD lösten sich in einem Jahr in Luft auf. 2015 verzeichnete die kolumbianische Börse
das viertschlechteste Ergebnis weltweit. Der Hauptgrund für die schlechte Performance ist
nicht der kleine Markt Kolumbiens oder ein schlechtes Ergebnis der Unternehmen, sondern
die Abwertung des Pesos, der von August 2014 bis Dezember 2015 um 75% an Wert verlor.
Für Kolumbianer ist es deshalb rentabler, im Ausland in Dollars zu investieren, und auch
ausländische Investoren warten mit dem Kauf kolumbianischer Titel zu. Da das Angebot an
Aktien wesentlich grösser ist als die Nachfrage, stürzten die Kurse ab. Durch die Abwertung
des Pesos sinkt auch das Prokopfeinkommen Kolumbiens von 8000 auf unter 6000 Dollar.8
6
El año económico que se viene: recesión, aumentos y más crisis, 29. Dezember 2015, in:
http://colombiainforma.info/politica/seccion-politica/2995-el-ano-economico-que-se-viene-recesion-aumentos-ymas-crisis
7
Enrique Daza, 4 propuestas para enfrentar la crisis económica y asegurar la paz en Colombia, 20. Januar 2016,
in: http://www.contagioradio.com/4-propuestas-para-enfrentar-la-crisis-economica-y-asegurar-la-paz-encolombia-articulo-19391/
8 Revista Semana, Colombia empobrecida, 16. Januar 2016, in: http://www.semana.com/nacion/galeria/bolsadevaluacion-hara-mas-pobres-colombianos/457036-3