Hirtenfeuer in den Beskiden

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Hirtenfeuer in den Beskiden
Hirtenfeuer in den Beskiden
Der Standard, Martin Pollack, 19. Oktober 2012
foto: ingrid schemel
"Die bunten Trachten wirken fröhlich, doch die Ortsnamen rufen düstere Erinnerungen wach,
an Aussiedlung und Vertreibung": Lemken-Treffen im Dörfchen Zdynia (Polen).
Jedes Jahr treffen sie einander im ehemaligen Galizien,
um ihrer schmerzlichen Geschichte zu gedenken: Martin
Pollack hat ein Festival der Lemken besucht.
Rychwald, Bodnarka, Snitnytsya, Svyatkova, Ropytsya Ruska, Volovets' ... Burschen und
Mädchen tragen Tafeln mit Namen von Orten, kyrillisch geschrieben, obwohl wir in Polen
sind, im ehemaligen Galizien. Auf einer schmalen Schotterstraße ziehen sie zum Festgelände.
Die bunten Trachten wirken fröhlich, doch die Ortsnamen rufen düstere Erinnerungen wach,
an Aussiedlung und Vertreibung. Der "Umzug der aus ihren heimatlichen Gebieten
Vertriebenen zum 65. Jahrestag ihrer Deportation", so der offizielle Name des Marsches,
"erinnert an eine schmerzliche Geschichte, die uns geprägt hat", sagt Natalka Hladyk,
dunkelhaarig, jung, hübsch, eine der Organisatorinnen der Watra Lemkowska. Die Watra, was
so viel wie Hirtenfeuer bedeutet, ist weltweit das größte Festival der Lemken, das jedes Jahr
im Dörfchen Zdynia in den Niederen Beskiden, nahe der slowakischen Grenze, stattfindet.
Die Lemken gehören zur ostslawischen Bevölkerungsgruppe der Russinen und sprechen, je
nach Standpunkt, einen ukrainischen Dialekt oder eine eigene Sprache. In der Ukraine werden
sie gern dem Staatsvolk zugerechnet, wogegen viele Lemken protestieren, die auf ihre
gesonderte ethnische Identität pochen. Ein Teil gehört der orthodoxen Kirche an, andere sind
griechisch-katholisch, Unierte, die den Papst anerkennen, doch den Gottesdienst nach
byzantinischem Ritus feiern. Bei der Watra spielen religiöse Unterschiede keine Rolle. "Egal,
ob orthodox oder uniert", sagt ein alter Mann, breite Schultern, mächtiger Schnauzbart, der
eigens aus Lemberg angereist ist, "wir sind stolz, Lemken zu sein."
Wie viele Teilnehmer heuer zur Watra gekommen sind, vermag keiner zu sagen.
Zwölftausend? Fünfzehntausend? Aus Polen, der Ukraine, der Slowakei, aus Kanada und den
USA, Auswanderer und deren Nachkommen auf der Suche nach ihren Wurzeln. Zwischen
1890 und 1914 sind rund 800.000 Ukrainer, auch viele Lemken, aus der
Habsburgermonarchie nach Übersee emigriert, weil sie zu Hause kein Auslangen fanden. Die
Wirtschaften waren zu klein, die Böden karg, die Kinder zu zahlreich. Unter ihnen auch die
Eltern von Andy Warhol, die sich noch Varchola nannten und aus dem Lemkenweiler Miková
bei Medzilaborce im Nordosten der Slowakei in die USA auswanderten.
Für die Besucher der Watra wurde eine ganze Zeltstadt errichtet, Zdynia zählt gerade einmal
220 Seelen, Hotels und Pensionen sind rar in der Gegend. Der Regen hat den Wiesen
zugesetzt, die Leute waten durch Schlamm, doch die Stimmung ist prächtig, da wird gegrillt,
gebraten und getrunken, Gruppen aus der Ukraine und Polen spielen auf, Horpyna,
Drewutnia, Lemkowyna, Karpaty und Dollars Brothers ("lemkischer Pop-Rock Disco Funk"),
spontan finden sich Junge und Alte zusammen, singen Volkslieder und tanzen dazu.
Es gibt es Diskussionen und Bücherstände, Ausstellungen mit historischen Fotografien, auch
über heikle Themen wie das Verhältnis von Polen und Ukrainern zwischen 1939 und 1947. In
dem von Natalka Hladyk betreuten Literaturzelt finden Begegnungen mit Autoren statt. Meist
ist das Zelt gerammelt voll, etwa bei der Begegnung mit Pawel Smolenski, Reporter der
Tageszeitung Gazeta Wyborcza, der einen Band mit literarischen Reportagen über die
historisch belasteten Beziehungen zwischen Polen und Ukrainern vorstellt: ein mutiges Buch,
in dem er über das Unrecht schreibt, das den Lemken vor 65 Jahren von ihren polnischen
Landsleuten zugefügt wurde.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebten rund 100.000 Lemken in den Beskiden,
Bergbauern, Waldarbeiter, Hirten, Zimmerleute und Steinmetze, wahre Künstler, wie die
Holzkirchen und die Steinkreuze auf den Friedhöfen und an den Straßen bezeugen. Doch sie
waren immer eine ethnische Minderheit - und wurden daher von den Behörden als Pro blem,
manchmal auch als Gefahr angesehen. Als die Rote Armee 1944 die Gebiete befreite, einigten
sich Polen und die Ukrainische SSR auf einen "Bevölkerungsaustausch", angeblich freiwillig,
aber es wurde auch Druck ausgeübt. Rund 450.000 Ukrainer, unter ihnen 70.000 Lemken,
verließen ihre polnische Heimat in Richtung Ukraine, umgekehrt wurden knapp 800.000
Polen aus der Ukraine nach Polen "repatriiert". Die Umsiedlungen, die auf "ethnische
Säuberungen" hinausliefen, stießen auf Widerstand.
In der Ukraine und den von Russinen, Lemken und Bojken, bewohnten Gebieten Polens
kämpften Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee, UPA, gegen die Kommunisten,
für eine unabhängige Ukraine. In ihrem Kampf hatte sich die UPA zeitweise mit
Hitlerdeutschland verbündet, was ihren Anhängern den Ruf von Kollaborateuren und
Mördern eintrug. Wie so oft ist die Geschichte allerdings komplizierter.
"Die Trennlinie zwischen Partisanen, die Helden sind, und solchen, die zu Verrätern und
Banditen werden, ist dünn, es ist unmöglich, eine klare Unterscheidung zu treffen", sagt
Pawel Smolenski. In seinen Reportagen räumt er auf mit den in Polen nach wie vor
weitverbreiteten Stereotypen der Ukrainer als grausame Banditen und Mörder.
Im April 1947 starteten die polnischen Kommunisten eine "Strafaktion" gegen alle noch in
Südostpolen verbliebenen Angehörigen der ukrainischen Volksgruppen. Zum Anlass nahmen
sie die Ermordung eines hochrangigen polnischen Militärs durch die UPA. In Wahrheit war
die bloß ein willkommener Vorwand, die Aussiedlung der "ukrainischen Nationalisten" war
längst eine beschlossene Sache. In der sogenannten "Aktion Weichsel" wurden alle Lemken
zwangsweise in Gebiete im Norden und Westen Polens umgesiedelt, aus denen zuvor die
Deutschen vertrieben worden waren. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht,
ganze Regionen beinahe entvölkert, erst nach 1956 durften Lemken vereinzelt in ihre Dörfer
zurückkehren, doch oft fanden sie nur noch Wildnis vor. Oder sie wurden von den neuen
Siedlern als unwillkommene Eindringlinge betrachtet, wenn sie die eigenen Häuser, Friedhöfe
und Kirchen zurückforderten. Viele Dörfer sind verschwunden, auf Wanderungen durch
entlegene Täler stößt man zwischen bewaldeten Hügeln, im hohen Gras, auf ihre Spuren,
verwilderte Obstbäume, Reste von Friedhöfen, einzelne Steinkreuze, wenn man genau
hinschaut, kann man manchmal die Umrisse von Fundamenten entdecken.
Seit ein paar Jahren gibt es in den Beskiden eindrucksvolle Denkmäler für die
verschwundenen Dörfer, mitten in der Wildnis trifft man plötzlich auf Holztüren mitsamt
Türstock, symbolische Erinnerungen an die Dörfer, die hier einmal standen. Radocyna,
Nieznajowa, Dlugie, Czarne - nach diesem "verschwundenen Dorf" wurde der Verlag
benannt, den Monika Sznajderman mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Andrzej Stasiuk, in
den Beskiden leitet. Die beiden leben im einstigen Lemkendorf Wolowiec, ukrainisch
Volovets', "out in the now here", in den dünn besiedelten Hügeln nahe der slowakischen
Grenze. Monika Sznajderman bringt die wichtigsten Autoren Ostmitteleuropas heraus, viele
fanden über die Vermittlung von "Czarne" den Weg in den deutschen Sprachraum, so der
ukrainische Autor Juri Andruchowytsch. Auch die Bücher von Pawel Smolenski erscheinen
bei "Czarne".
Etwas außerhalb der nur noch aus ein paar Häusern bestehenden Ortschaft Czarne steht ein
steinerner Obelisk aus dem Jahre 1934, zur Erinnerung an den Märtyrertod des Hl. Maksym
Sandowycz aus Zdynia, wo die Watra gefeiert wird. Auf dem Friedhof von Zdynia liegt der
einzige Heilige, den die Lemken hervorgebracht haben, begraben. Maksym San dowycz war
ein orthodoxer Priester, der im September 1914 von den österreichischen Militärbehörden
wegen angeblicher Sympathien für die Russen erschossen wurde, ohne Prozess oder
gerichtliches Urteil.
Er war nicht der einzige Lemke, der die Willkür der Österreicher zu spüren bekam. Auf dem
Obelisken in Czarne wird auch der Opfer von Thalerhof gedacht. In Thalerhof bei Graz wurde
im Ersten Weltkrieg ein KZ eingerichtet, in das tausende Lemken deportiert wurden, weil
man sie der Spionage oder bloß Sympathie für die gegnerischen Russen verdächtigte. Viele
kamen in Thalerhof elend ums Leben. Der Name ist in der westlichen Ukraine und in
Südostpolen noch heute als Ort des Schreckens und unverschuldeten Leidens bekannt. Ein
Kreuz für die Opfer von Thalerhof, 1933 errichtet, findet man auch in der Ortschaft Bartne in
der Nähe der Kreisstadt Gorlice.
Auch wir Österreicher haben in diesen Gebieten, die einst zu Galizien gehörten, Spuren
hinterlassen. Kriegerfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg, viele schön renoviert, aber auch
Kreuze und Gräber, die an Schandtaten erinnern, an behördliche Willkür und Grausamkeit.
Auch das gehört zu Galizien. Auch dessen wird bei der Watra in Zdynia gedacht.(DER
STANDARD, Album, 20.10.2012)
Martin Pollack, geb. 1944, ist ein vielfach ausgezeichneter Journalist, Autor und literarischer
Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm das gemeinsam mit Christoph Ransmayer verfasste
Buch "Die Wolfs Jäger. Drei polnische Duette". (S. Fischer)