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22 Magazin Freitag 9. Januar 2015 Zwischen Ratio und Religion New Kids on the Net LITERATUR Der englische Schriftsteller Ian McEwan erzählt in seinem neuen Roman «Kindeswohl» von einem realen Rechtsstreit. Das bestürzende Justizdrama um eine brillante Richterin und einen religiösen Jungen entwickelt sich zu einer zartbitteren und höchst menschlichen Geschichte. MUSIK Sie covern Hits und basteln ihre eigenen Clips übers Gamen oder Am-SeeHängen. Das reicht für eine kleine Internetsensation und volle Konzertsäle. Meine Damen und Herren, die Lochis! Noch nie gehört? Sie sind nicht allein. Falls aber Teenager in Ihrem Haushalt herumtollen, dürften Sie wissen, von wem die Rede ist. Denn pubertierende Menschen kommen dieser Tage kaum an diesen Lochis vorbei. Man liebt oder hasst sie. Auf der Facebook-Seite stehen Liebesbekundungen («Ihr seid die Besten und so süss») neben Fiesheiten («Zwei minderwertige Hackfressen!»). Beides untrügliche Beweise für den Erfolg zweier cleverer Jungs. Insgesamt siebzehn Romane und Kurzgeschichtenbände hat der britische Autor Ian McEwan seit 1975 veröffentlicht, und mit jedem neuen Buch wagte er sich weiter in die reale Welt. Auch sein neues Werk mit dem Titel «Kindeswohl» entwickelte er eng entlang einer tatsächlichen Begebenheit: Als Vorlage diente ihm ein besonders tragischer Rechtsfall, von dem ihm ein befreundeter Richter erzählte. Die Geschichte springt dann auch gleich ohne viel Zaudern mitten hinein ins Geschehen: Fiona Maye, Ende fünfzig, Familienrichterin am High Court in London, bekannt für ihre Eloquenz, Gedankenschärfe und Gewissenhaftigkeit, flucht, wie sie es seit Teenagertagen nicht mehr getan hat. «Du Idiot! Du verdammter Idiot!», wirft sie ihrem Mann Jack ungehalten an den Kopf. Eine gerechtfertigte Beschimpfung angesichts seines erbärmlichen Plans, mit sechzig Jahren eine aussereheliche Affäre einzugehen. Legitime Sterbehilfe? So weit, so bekannt die Ausgangssituation. McEwan spart sich daher die üblicherweise folgenden, erschöpfenden Diskussionen eines streitenden Ehepaars. Den privaten Tumult nutzt er vielmehr als emotionalen Türöffner für ein wesentlich brisanteres Thema: Was passiert, wenn Recht und Religion unvereinbar aufeinanderprallen? An diesem trüben Sonntagabend, an dem Fiona von Jacks geplanter Untreue erfährt, meldet sich ihr Assistent mit einer eiligen juristischen Anfrage: Darf ein Spital einen Patienten zu einer lebensrettenden Behandlung zwingen, auch wenn dieser sie aus religiösen Gründen ablehnt? Fiona bleiben für ihre Entscheidung weniger als vierundzwanzig Stunden. Sie beschliesst – höchst ungewöhnlich für eine Richterin ihres Rangs –, den 17-jährigen leukämiekranken Jugendlichen persönlich zu befragen. Verweigert er eine Bluttransfusion le- Bezieht Stellung zu ethischen Zwangslagen: Der britische Erfolgsautor Ian McEwan. diglich auf Geheiss der streng religiösen Eltern, oder glaubt der Junge tatsächlich an die Lehren der Zeugen Jehovas? Die Begegnung am Krankenbett setzt eine emotionale Kettenreaktion in Gang, auf die weder die analytische Richterin noch der feinfühlige Jüngling vorbereitet sind. Plädoyer für die Vernunft McEwan beschreibt Fiona Mayes explosiven Fall mit angenehm kühler Nüchternheit. Die logische Argumentationsstruktur der Richterin, in der sie sich wie- derkehrend auf atheistische Moralisten wie Immanuel Kant bezieht, ist ein deutliches Plädoyer für eine Justiz, bei der religiöse Dogmen, falsch verstandene Toleranz oder politische Korrektheit keine Rolle spielen. Dass sich die Haltung seiner engagierten Streiterin für Besonnenheit und Ratio mit seiner eigenen deckt, machte der 66-Jährige kürzlich, pünktlich zum Erscheinungstermin der englischen Originalausgabe, unmissverständlich deutlich: Jede Religion, so McEwan sinngemäss, fusse auf der Ge- ANZEIGE wissheit der eigenen Wahrheit. Doch wie könne bei weltweit 6000 Religionen jede einzelne im Recht sein? «Nur der säkulare Glauben», so die Antwort des Autors, «garantiert die nötige Freiheit für eine vernünftige Rechtsprechung.» Ohne überhebliche Geste Nun wäre McEwan nicht ein ganz Grosser seines Metiers, würde er in seinen Romanen nicht klar Stellung zu realen ethischen Zwangslagen beziehen. Wundersamerweise glückt ihm dies im- Joost van den Broek mer wieder ohne überhebliche Geste oder verkniffenen Starrsinn. Vielleicht, weil er – bei allem intellektuellen Erkenntniswillen – nie die pulsierenden Herzen seiner Figuren vergisst. Musik, Poesie, Liebe und Schrecken, Schuldgefühle, Scham, Witz, Zuversicht und Zärtlichkeit, all das findet nun auch in «Kindeswohl» seinen angestammten Platz. Alice Werner Durch und durch komponierte erotisch-dekadente Welten, Starporträts oder Landschaften: An der «Photo 15» in den Zürcher Maag-Hallen wird die ganze Vielfalt der Schweizer Fotografie zelebriert. Die mittlerweile grösste Werkschau der hiesigen Branche geht bereits in ihre zehnte Runde. 150 Fotografinnen und Fotografen aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin sind dieses Jahr dabei. Newcomer wie Etablierte sorgen für einen aufregenden Mix. Aus dem Kanton Bern sind insgesamt vier Fotografen mit dabei. Darunter etwa Remo Neuhaus, der mit ausdrucksstarken Porträts von Bun- Pullis, Shirts und Armbänder Dass man von Klicks nicht leben kann, wissen indes auch die zwei Jünglinge. Darum verkaufen sie auf ihrer Fankleider-Website Pullis, Shirts und Armbänder. Jetzt wagen sie auch den Sprung auf Konzertbühnen. Vorerst mit Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes. 224 Seiten. Schweizer Fotografie – von kontrovers bis klassisch WERKSCHAU In den Zürcher Maag-Hallen zeigen an der «Photo 15» 150 Schweizer Fotografen ihre liebsten Bilder des letzten Jahres. Fleiss ist der Preis Heiko und Roman Lochmann sind 15-jährige Zwillingsbrüder aus einem Dorf in der Nähe von Frankfurt. Im September 2011 haben sie ihr erstes Video auf Youtube hochgeladen, seither befeuern sie mit mehreren Clips pro Woche ihren Hype. Wie vor ein paar Jahren der kanadische Schnellstarter Justin Bieber versuchen sie das Potenzial des Internetvideokanals als Sprungbrett für eine Musikkarriere zu nutzen. Neben harmlosen Sketchvideos und viel Geplapper ist ihr Kerngeschäft die Parodie von Hits. Sie spielen Songs von Popstars wie Cro oder David Guetta nach und singen dazu, was Teenager heute so umtreibt: «Lass uns am See hängen!» Oder: «Ich zocke den ganzen Tag.» Oder gar: «Wo ist das Ladekabel meines Handys?» Dazu basteln sie Videoclips. «Durchgehend online» – ein selbst komponierter Song, das gibts mittlerweile auch – wurde zehn Millionen Mal angeklickt. Zum Vergleich: Cro, derzeit eine grosse Nummer der deutschen Popmusik, schafft es mit seinem Hit «Bad Girl» auf gut neun Millionen Betrachter. desrätin Simonetta Sommaruga oder dem Berner Künstler Sbiti auf sich aufmerksam machte. An der «Photo 15» präsentiert er unter anderem ein Gruppenbild der Fussballer Zinédine Zidane, Paolo Maldini und Luis Figo. Olaf Martens, ein gebürtiger Deutscher, der in Bern ein Atelier hat, präsentiert kontroverse Bildwelten mit Fetischcharakter. Martens setzt auf Gegensätze: Mal posieren verführerische Frauen vor schäbiger Kulisse, mal schafft er eine Analogie zwischen einer Tänzerin im Tutu und einem weissen Huhn. Von solch inszeniertem Körperkult bis zur sachlichen Dokumentation ist alles vertreten. Helen Lagger Hauen einen Internethit nach dem anderen raus: Die Lochis. zvg grossem Erfolg, sie füllen in ihrer eben gestarteten Tournee Säle mit mehreren Tausend Plätzen. Am Sonntag treten sie erstmals in der Schweiz auf. Warum dieser Erfolg? Das Rätsel lässt sich wohl aus Erwachsenensicht nicht gänzlich lösen. Die Texte sind mässig originell, der Pipi-Kaka-Humor infantil, und die Posen lösen angesichts des alterstypischen Hautbildes der Teenager fast schon Mitleid aus. Aber den Gleichaltrigen gefällts, vielleicht ganz einfach darum, weil die Locherbuben ihre Alltagsbanalitäten selbstbewusst, aufgestellt, charmant und mit beeindruckender Ausdauer raushauen. Michael Feller Ausstellung: ab heute bis Dienstag, 13. Januar, in den Zürcher Maag-Hallen. Mehr Infos: www.photo-schweiz.ch Konzert: Die Lochis, So, 11. Ja- nuar, 18 Uhr, X-Tra, Zürich. www.ticketcorner.ch