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HSP Manual 1-9
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1
Die Konzeption der Hamburger Schreibprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.1
Wozu dient die Hamburger Schreibprobe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.2
Empirische Grundlagen der HSP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.3
Zur Wortauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.4
Das Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.4.1 Wortbezogene Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.4.2 Auswertung der Graphemtreffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.4.3 Vergleich verschiedener Jahrgangsformen der HSP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.5
Die Erfassung der Rechtschreibstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.5.1 Der Begriff „Rechtschreibstrategie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.5.2 Wechselbeziehungen zwischen den Rechtschreibstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.5.3 Zum Verhältnis zwischen Rechtschreibstrategien
und orthographischen Phänomenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
1.5.4 Zur Erfassung der Rechtschreibstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
1.5.5 „Lupenstellen“ zur Bestimmung der Strategiewerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1.5.6 Die Interpretation der Strategieprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
1.5.7 Beispiele für die Interpretation von Strategieprofilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.6
Weitere Kennwerte der HSP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
1.6.1 Überflüssige orthographische Elemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
1.6.2 Oberzeichenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
2
Zur Gültigkeit der Hamburger Schreibprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.1
Zum Verhältnis von Lesen und Rechtschreiben im Lernprozess . . . . . . . . . . . . . 61
2.2
Zusammenhänge zwischen Rechtschreibleistung in der HSP
und in der Lehrerbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2.3
Zum Vergleich der HSP mit anderen Rechtschreibtests
und zur Übertragbarkeit des Strategiekonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.4
Strategieprofile und Lernentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
2.5
Rechtschreibleistungen und Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.6
Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen:
Zur Rolle der persönlichen Bedeutung beim Rechtschreiblernen. . . . . . . . . . . . 80
2.7
Rechtschreibleistungen zweisprachig aufwachsender Kinder . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.8
Rechtschreibung und Dialekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3
Daten zur Verfahrensentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
3.1
Stichproben für die Vergleichswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
3.2
Rohwerteverteilung und statistische Kennwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
3.3
Schwierigkeiten und Trennschärfen der Schreibaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3.4
Zuverlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.5
Objektivität der Auswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
4
Lernbeobachtung mit der Hamburger Schreibprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
4.1.
Nadine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
4.2.
Jens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.3.
Vergleich zweier Lernentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
5
Förderung orthographischer Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
5.1
Förderung selbst gesteuerten und eigenaktiven Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
5.2
Förderunterricht: präventiv, integrativ und kooperativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
5.3
Rechtschreiblernen als Fertigkeitsentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
5.4
Rechtschreiblernen mit eigenen Wörtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
5.5
(Förder-) Unterricht als Beitrag zum Lernen des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
5.6
Förderunterricht und Lernmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
5.7
Beispiele für Übungen zur Förderung von Rechtschreibstrategien . . . . . . . . 160
6
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Übersicht über die Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
• Wichtige Rechtschreibphänomene in den Wörtern der HSP . . . . . . . . . . . . . 182
• Lupenstellen für die Rechtschreibstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
• Schwierigkeiten und Trennschärfen:
- für die wortbezogene Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
- der Graphemtreffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
- der Lupenstellen für die alphabetische Strategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
- der Lupenstellen für die orthographische Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
- der Lupenstellen für die morphematische Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
- der Lupenstellen für die wortübergreifende Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
7
HSP Manual 1-9
Einführung
Die Hamburger Schreibprobe bildet ein Gesamtkonzept zur Diagnose des Rechtschreiblernens in der Schule. Mit Hilfe der Hamburger Schreibprobe erhalten Sie
eine sichere Grundlage für die Planung von Fördermaßnahmen. Ihr liegt ein akutelles Konzept zur Feststellung grundlegender Fähigkeiten im Rechtschreiben zugrunde. Sie berücksichtigt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über das Rechtschreiblernen und ermöglicht Ihnen, den erreichten Stand des Rechtschreibkönnens Ihrer Schüler differenziert zu erheben.
Die Hamburger Schreibprobe zielt auf die Erfassung von orthographischem Strukturwissen und grundlegenden Rechtschreibstrategien. Mit ihr wird sowohl die
richtige Schreibung von Wörtern als auch die Zahl der richtig geschriebenen Grapheme ausgewertet. Die Hamburger Schreibprobe stellt damit einen Beitrag zur
Überwindung der Defizit-Sichtweise auf die Schreibungen der Schüler dar. Nicht
die Fehler stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das Gekonnte, das sich
auch in teilweise richtigen Schreibungen zeigt.
Es liegen verschiedene Versionen mit bundesweiten Vergleichswerten für die Klassenstufen 1 bis 9 vor, so dass die Rechtschreibleistungen über viele Jahre hinweg
nach einem einheitlichen Konzept erfasst und somit Lernfortschritte gut beobachtet werden können.
Die HSP differenziert vor allem im unteren Leistungsbereich. Die Versionen für
die Grundschule (HSP 1 bis HSP 4/5) bieten darüber hinaus auch für fortgeschrittene Rechtschreiblerner genügend hohe Anforderungen. Für die Sekundarstufe
stehen mit der HSP 5-9 B (Basisanforderungen) für die Erfassung der orthographischen Grundfertigkeiten und der HSP 5-9 EK (Erweiterte Kompetenz) für die Erfassung fortgeschrittener Rechtschreibsicherheit zwei verschiedene Versionen zur Verfügung, die auch kombiniert angewendet werden können.
Tabelle 1 (Seite 9) zeigt Erhebungszeitpunkte und Vergleichswerte der verschiedenen HSP-Versionen.
Das vorliegende Handbuch dient der Einführung und Erläuterung des Gesamtkonzepts der Hamburger Schreibprobe. Für die einzelnen Versionen der Hamburger
Schreibprobe liegen gesonderte Anleitungshefte vor, die die erforderlichen Hinweise zur Durchführung und Auswertung sowie die Vergleichstabellen enthalten.
Für die praktische Durchführung der HSP benötigen Sie für jeden Schüler ein Testheft, in dem Sie auch die Schemata für die Auswertung der Schreibprobe finden. Die
Anleitungshefte enthalten als Kopiervorlagen graphische Schemata für die Darstellung der Strategieprofile sowie eine Liste für die Klassenergebnisse.
Ein umfassendes diagnostisches Konzept erfordert eine gründliche Einführung.
Dementsprechend ist diese Handreichung recht umfangreich. Damit Sie die Erläuterungen gezielt nutzen können, möchten wir Ihnen im Folgenden die Gliederung
und die inhaltlichen Schwerpunkte vorstellen.
EINFÜHRUNG
8
EINFÜHRUNG
• Die theoretische Grundlegung des diagnostischen Konzepts wird im
ersten Kapitel dargestellt. Da es in diesem Konzept wesentlich um
die Auswertung von Rechtschreibstrategien geht, sind die Ausführungen im Abschnitt 1.5 für das Verständnis dieses Diagnoseverfahrens
besonders wichtig.
• In Kapitel 4 finden Sie zwei Fallbeispiele, die Ihnen Anregungen für
die Interpretation der Ergebnisse geben.
• Die Hamburger Schreibprobe zielt nicht nur auf die Erfassung von
Rechtschreibfähigkeiten, sondern will auch dazu beitragen, aktuelle
Erkenntnisse über das schriftsprachliche Lernen in den Unterricht
einzubeziehen. Dazu finden Sie im Kapitel 5 eine Darstellung der lernpsychologischen und didaktischen Prinzipien, die dem Konzept der
Hamburger Schreibprobe zugrunde liegen, sowie Hinweise für die Förderung der grundlegenden Rechtschreibstrategien.
• Im Kapitel 2 finden Sie umfangreiche Belege dafür, dass die Hamburger Schreibprobe relevante Aspekte der schriftsprachlichen Kompetenz
erfasst (Gültigkeit). Die einzelnen Abschnitte behandeln u.a. das Verhältnis von Lesen und Schreiben, die Rechtschreibstrategien in der
Lernentwicklung, Rechtschreibung in selbst verfassten Texten, Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, Besonderheiten zweisprachig
aufwachsender Kinder sowie Rechtschreibung in verschiedenen Dialektregionen. Die dort ausgeführten Aspekte des Rechtschreiblernens
geben weitere Hinweise zur Interpretation der mit der Hamburger
Schreibprobe erzielten Ergebnisse sowie ihrer Berücksichtigung im
Unterricht.
• Im Kapitel 3 werden jene Analysen und Ergebnisse dargestellt, die für
die Entwicklung der Hamburger Schreibprobe bedeutsam gewesen sind
(Testkonstruktion). Dieses Kapitel wendet sich in erster Linie an Leser,
die sich für die teststatistischen Grundlagen der HSP interessieren.
• In einem Glossar werden die im Text verwendeten teststatistischen
Fachausdrücke und einige linguistische Begriffe erläutert.
Die Hamburger Schreibprobe wurde im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojekts entwickelt und bereits in vielen Schulklassen erprobt. Gleichwohl ist ein
Verfahren nie „fertig“ und ein für allemal festgelegt. Ihre praktische Erfahrung wird
mithelfen, die Hamburger Schreibprobe weiter zu verbessern. Darum möchten wir
Sie bitten, uns Ihre Kritik und Anregungen mitzuteilen.¹
1 Kontaktadresse: Dr. Peter May | Henriettenstr. 45 | 20259 Hamburg | E-mail: [email protected].
9
EINFÜHRUNG
HSP Manual 1-9
TABELLE 1: Übersicht über die Versionen der HSP
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Erhebungszeitpunkt
HSP-Version
Vergleichswerte liegen vor
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Mitte Klasse 1
HSP 1–M1
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 1
HSP 1–E1
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Mitte Klasse 2
HSP 1–M2
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 2
HSP 2
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Mitte Klasse 3
HSP 3
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 3
HSP 3
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Mitte Klasse 4
HSP 4/5
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 4
HSP 4/5
– für alle Schüler
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Anfang Klasse 5
HSP 4/5
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 5
HSP 5-9 (B) und (EK)
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 6
HSP 5-9 (B) und (EK)
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 7
HSP 5-9 (B) und (EK)
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 8
HSP 5-9 (B) und (EK)
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
– (B) für Sonderschulen (Lernbehinderte)
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ende Klasse 9
HSP 5-9 (B) und (EK)
– für alle Schüler
– für Haupt-, Real- und Gesamtschulen
– für Gymnasien
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
10
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
1
Die Konzeption der
Hamburger Schreibprobe
1.1 Wozu dient die
Hamburger Schreibprobe?
Die Hamburger Schreibprobe dient der Erfassung des Rechtschreibkönnens von
Schülern im Grundschulalter sowie in der Sekundarstufe I. Sie ist sowohl für die
Einschätzung individueller Lernstände als auch für die Erhebung klassenbezogener
Leistungen geeignet.
Für die verschiedenen Versionen der Hamburger Schreibprobe (HSP 1+, HSP 2, HSP
3, HSP 4/5, HSP 5-9 (B) und HSP 5-9 (EK)) liegen bundesweite Vergleichswerte vor.
Für die HSP 4/5 zur Bestimmung der Lernausgangslage zu Beginn des fünften
Schuljahres sowie für die Sekundarstufenversion HSP 5-9 gibt es Vergleichswerte
über alle Schulformen sowie gesonderte Vergleichswerte für Haupt-, Real- und
Gesamtschulen einerseits und Gymnasien andererseits. Für die Klasse 8 liegen
zudem Vergleichswerte für Sonderschulen (Lernbehinderte) vor.
Mit der Hamburger Schreibprobe kann die Rechtschreibung aller Leistungsniveaus
untersucht werden. Die Konstruktion und die Art der Auswertung der Hamburger
Schreibprobe sind so angelegt, dass eine Differenzierung insbesondere im unteren
und untersten Leistungsbereich möglich wird, aber auch für fortgeschrittene
Rechtschreiblerner genügend Anforderungen geboten werden. Die Hamburger
Schreibprobe ist so konzipiert, dass mit vergleichsweise geringem Aufwand umfassende Informationen über die individuellen Lernstände der Schüler gewonnen werden. Die Testergebnisse liefern eine sichere Grundlage sowohl für binnendifferenzierende Maßnahmen im Unterricht als auch für die gezielte Förderung von Schülern mit Rechtschreibschwierigkeiten.
Durch ihre weitreichende Differenzierung im unteren Leistungsbereich ist die HSP
zur Bestimmung der Förderbedürftigkeit (sog. LRS-Diagnose) sowie auch im Rahmen sonderpädagogischer Leistungsüberprüfungen und der Planung sonderpädagogischer Fördermaßnahmen einsetzbar.2 Des weiteren liegen positive Erfahrungen
mit dem Einsatz der HSP im Bereich der Erwachsenenalphabetisierung vor.3
2 Im Sonderschulbereich sollte im Allgemeinen
eine Version der HSP verwendet werden, die
mindestens zwei Jahre unterhalb der für die gleiche Klassenstufe der Regelschule vorgesehenen
Form liegt.
3 Das Konzept der strategiebezogenen Erfassung von Rechtschreibleistungen kann bei
erwachsenen Analphabeten eingesetzt werden,
da mit der HSP auch teilweise richtige Schreibungen differenziert erfasst werden. Siehe dazu
den Bericht von Nickel (1998), der die Anwendung der HSP 2 als informellen Test bei Erwachsenen in der Alphabetisierung demonstriert,
indem er die strategiebezogenen Vergleichswerte
zur Beschreibung von Rechtschreibprofilen heranzieht.
11
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Die Hamburger Schreibprobe besteht aus Einzelwörtern und Sätzen.4 Die Bedeutung der Wörter und Sätze wird durch Illustrationen veranschaulicht. Das Erfassen
der Bedeutung der zu schreibenden Wörter ist eine wichtige Bedingung des Rechtschreibens. Sie wird durch die Bildvorgabe gesichert. Zugleich können die Schüler
in ihrem individuellen Tempo schreiben, nachdem sie mit den Wörtern vertraut
gemacht worden sind. Damit entfällt weitgehend das gleichschrittige Schreiben, das
bei Diktaten für bessere wie schwächere Schreiber stets eine Belastung darstellt. (Ein
Kreuzworträtsel für diejenigen, die schon fertig sind, verhindert das Bedrängen der
noch Schreibenden.)
Da es bei der Erfassung der orthographischen Kompetenz vor allem darauf
ankommt festzustellen, was ein Lerner bereits kann und wo er noch Hilfen benötigt,
sollen auch schwächere Schüler zum Schreiben ermutigt werden. Sollte es dennoch
einmal vorkommen, dass Schüler Wörter auslassen, so dürfen diese nicht einfach als
falsch gewertet werden. Denn das Auslassen von Wörtern kann verschiedene Gründe haben (Motivationsverlust, Unaufmerksamkeit, Ausweichen vor der Aufgabe,
Resignation u.a.) Es kommt jedoch relativ selten vor, dass Schüler kein einziges Graphem in einem Wort richtig schreiben können. Daher sollten die Schüler die ausgelassenen Wörter möglichst nachschreiben. Andernfalls müssen die Werte, in die die
fraglichen Wortstellen eingehen, unter Berücksichtigung des Lernstandes des betreffenden Kindes geschätzt werden. 5
Die Hamburger Schreibprobe kann als Gruppentest mit der ganzen Klasse oder mit
einzelnen Schülern durchgeführt werden. Das Bearbeiten des Testhefts beansprucht
nach unserer Erfahrung auch bei leistungsschwächeren Schülern weniger als eine
Unterrichtsstunde.
Die Auswertung erfolgt sowohl auf der Wortebene als auch auf der Buchstaben- bzw.
auf der Graphemebene. Ermittelt wird neben der Zahl richtiger Wörter die Zahl richtig geschriebener Grapheme („Graphemtreffer“). Der Vorteil dieses Verfahrens
besteht darin, dass die Rechtschreibleistung mit einer vergleichsweise geringen Zahl
von Wörtern zuverlässig und ökonomisch erfasst werden kann und auch bei orthographisch schwierigen Wörtern Näherungslösungen gewertet werden können.
Anhand einer Auswahl von „Lupenstellen“ können auf einfache Weise Vergleichswerte für die einzelnen Rechtschreibstrategien ermittelt werden. Durch diese Bestimmung von Strategieprofilen werden Störungen im Aneignungsprozess differenziert
erfassbar. Solche Störungen zeigen sich nicht nur in einem allgemeinen Zurückbleiben im Vergleich zu den Mitschülern derselben Klassenstufe, sie zeigen sich auch in
auffälligen Verhältnissen verschiedener Rechtschreibstrategien zueinander.
4 Abweichend davon besteht bei der HSP 5-9
(EK) die Aufgabe in der Beurteilung vorgegebener Schreibungen in einem Text.
5 Das Testkonzept der HSP gleicht insofern
dem „Testing-the-Limit“-Konzept, weil es im
Gegensatz zu herkömmlichen Leistungstests
nicht nur das reine Ergebnis (also die „Performanz“) berücksichtigt, sondern auf die zugrundeliegende „Kompetenz“ zielt, also auf die diagnostische Fragestellung, über welche Fähigkeiten der Schüler (unter entsprechenden Bedingungen) verfügen kann.
12
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Mit der Hamburger Schreibprobe wird die individuelle Rechtschreibleistung eines
Schülers oder einer Schülerin durch folgende Werte bestimmt:
1. Zur raschen Ermittlung grober Vergleichsergebnisse kann die Zahl richtig
geschriebener Wörter herangezogen werden.
2. Die Zahl richtig geschriebener Grapheme („Graphemtreffer“) dient der Einschätzung des erreichten Niveaus des Rechtschreibkönnens.
3. Die Werte für die Lupenstellen zeigen den Grad der Beherrschung der Rechtschreibstrategien: Mit den folgenden vier Rechtschreibstrategien werden grundlegende Zugriffsweisen von Kindern auf Schrift beschrieben. Sie dienen der
Bestimmung des jeweils erreichten individuellen Lernstandes.
Alphabetische Strategie
Damit wird die Fähigkeit beschrieben, die artikulierten Laute mit
Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen schriftlich festzuhalten.
Diese Zugriffsweise basiert auf der Analyse des eigenen Sprechens
(„Verschriftlichen der eigenen Artikulation“).
Orthographische Strategie
Damit wird die Fähigkeit beschrieben, die einfache Laut-BuchstabenZuordnung unter Beachtung orthographischer Prinzipien und Regeln
zu erweitern und zu modifizieren. „Orthographische Elemente“ sind
zum einen solche, die sich der Lerner als von der Verschriftlichung der
eigenen Artikulation abweichend merken muss („Merkelemente“, z.B.
Zahn, Vater, Hexe). Zum anderen sind dies Elemente, deren Verwendung hergeleitet werden kann („Regelelemente“, z.B. Koffer, stehen,
Hand).
Morphematische Strategie
Damit wird die Fähigkeit beschrieben, bei der Herleitung der Schreibungen die morphematische Struktur der Wörter zu beachten. Sie
erfordert sowohl die Erschließung des jeweiligen Wortstammes wie
bei Staubsauger und Räuber (morphematisches Bedeutungswissen)
als auch die Zerlegung komplexer Wörter in Wortteile wie bei Fahrrad
und Geburtstag (morphologisches Strukturwissen).
Wortübergreifende Strategie
Damit wird die Fähigkeit beschrieben, beim Schreiben von Sätzen und
Texten weitere sprachliche Aspekte zu beachten, unter anderem die
Wortart für die Herleitung der Groß- bzw. Kleinschreibung, die Wortsemantik für die Zusammen- bzw. Getrenntschreibung, die Satzgrammatik z.B. für die Kommasetzung und die Verwendungsart eines Satzes
z.B. als wörtliche Rede. Hier erfordert die Herleitung der Schreibung
eines Wortes und das Setzen des Satzzeichens die Einbeziehung größerer sprachlicher Einheiten (Satzteil, ganzer Satz, Textpassage).
13
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Die Ausprägung dieser Rechtschreibstrategien und der Grad ihrer Integration kann
anhand eines Strategieprofils bestimmt werden.
4. Überflüssige orthographische Elemente deuten auf noch bestehende Unsicherheiten beim Anwenden der orthographischen Strategie hin. Je nach erreichtem Lernstand können die Gründe für überflüssige orthographische Elemente
unterschiedlich sein: weil orthographische Elemente beim Überformen der
alphabetischen Strategie zunächst „übergeneralisiert“ verwendet werden oder
weil beim Schreiben der orthographischen Elemente die Morpheme nicht genügend beachtet werden.
5. Oberzeichenfehler: Sie weisen auf den Grad der Sorgfalt und auf die Kontrolle
beim Schreiben hin.
Mit Hilfe dieser verschiedenen Merkmale der Rechtschreibfähigkeit ermöglicht die
Hamburger Schreibprobe auch eine qualitative Auswertung der Schreibergebnisse,
die eine Voraussetzung für die gezielte Förderung ist.
1.2 Empirische Grundlagen der HSP
Der Entwicklung der Hamburger Schreibprobe liegen die Ergebnisse eines umfassenden Forschungsprojekts zugrunde, das die Herausbildung orthographischer und
textualer Kompetenz in der Schule erforschte (May 1990, 1993).6
Es wurden die Schreibungen von über 200 Wörtern (Einzelwörter und Sätze) sowie
Aufsätze zu verschiedenen Themen im Hinblick auf die Entwicklung der Rechtschreibfähigkeit von Klasse 1 bis Klasse 9 ausgewertet. Aus diesem Fundus wurden
die Aufgaben für die Hamburger Schreibprobe ausgewählt. Durch die Einbeziehung
von Aufsatzschreibungen in die Testentwicklung konnte belegt werden, dass die mit
der Hamburger Schreibprobe erhobenen Fähigkeiten für die Rechtschreibleistungen in selbst verfassten Texten derselben Schüler übertragbar sind (vgl. Balhorn &
Vieluf 1990, May 1999a).
Ein zentrales Forschungsergebnis besteht in der Bestimmung und Abgrenzung von
Strategien bei der Realisierung der Schreibungen, die bei Schülern in bestimmten
Phasen ihres Rechtschreiblernprozesses dominieren. Die Herausbildung und
zunehmende Integration dieser grundlegenden Rechtschreibstrategien zu einer
übergreifenden Gesamtstrategie des Rechtschreibens bildet neben dem Einprägen
6 Dieses von 1990 bis 1994 durchgeführte
Forschungsprojekt wurde in den Jahren 2000
und 2001 ergänzt und fortgeführt durch eine
bundesweite Erhebung von Rechtschreibleistungen und der Befragung von Lehrkräften
zu den Lehr- und Lernbedingungen.
14
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
wortspezifischer Schreibungen den Kern dessen, was wir als orthographische Kompetenz bezeichnen. Die Zuordnung individueller Schreibweisen zu diesen dominanten Rechtschreibstrategien, an denen sich eine gezielte Förderung orientieren kann,
ist neben der Bestimmung der allgemeinen Rechtschreibsicherheit das Hauptanliegen der Hamburger Schreibprobe.
Grundlage hierfür ist die Auswertung der Schreibungen von insgesamt über 23.000
Schüern aller Klassenstufen der Grundschule sowie aller Schulformen der Sekundarstufe aus allen Bundesländern. Damit können die orthographischen Fähigkeiten
von Schülern einer Klassenstufe auf dem Hintergrund der Entwicklung der Rechtschreibfähigkeiten von Klasse 1 bis 9 verglichen werden. Die Querschnitterhebungen wurden ergänzt durch verschiedene Längsschnitterhebungen über mehrere
Jahre. Dadurch konnte die Entwicklung der Rechtschreibfähigkeiten derselben
Schüler untersucht werden.7
Darüber hinaus wurden die Lehrerinnen und Lehrer der an den Erhebungen beteiligten Klassen zu den Unterrichtsbedingungen befragt, so dass Lernentwicklungen
auch auf dem Hintergrund unterschiedlicher pädagogischer und didaktischer Konzeptionen interpretiert werden konnten.8
7 Die Längsschnittdaten stammen aus Ham-
burg (ca. 400 Schüler von Klasse 1 bis 6,
ca. 250 Schüler von Klasse 2 bis 4 und ca. 600
Schüler von Klasse 5 bis 6) sowie Rostock
(ca. 100 Schüler von Klasse 1 bis 4). Bei den
Hamburger Längsschnitterhebungen wurde
auch die Leseleistung mit Hilfe der Hamburger
Leseprobe (May & Arntzen 2000) erhoben.
8 Im Rahmen des Projekts „Lesen und Schreiben für alle“ (PLUS) wurden Textkompetenz
und Rechtschreibleistungen bei ca. 2000 Hamburger Schülern von Klasse 1 bis 4 erhoben und
zusammen mit Merkmalen des Klassen- und
Förderunterrichts analysiert (May 1994c, 2001c).
15
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
1.3 Zur Wortauswahl
Mit den Wörtern und Sätzen der HSP 1+, HSP 2, HSP 3 und HSP 4/5 werden diejenigen Anforderungen an die orthographischen Fähigkeiten erfasst, die Kinder als
Kompetenz im Verlauf der Grundschulzeit erwerben sollten.
In den Lehrplänen werden die Ziele des Rechtschreibunterrichts für die Grundschule vorgegeben. Hier wird festgelegt, in welchem Ausmaß bestimmte orthographische Kenntnisse und Fertigkeiten erreicht werden sollen. Auf dieser Grundlage
bestimmen wir die Kompetenz, die Kinder im Laufe der Grundschulzeit mindestens
erwerben, folgendermaßen:
Kinder sollen ihnen bekannte und häufig verwendete Wörter orthographisch schreiben können. Sie sollen ihre Artikulation verschriftlichen und dabei orthographische Besonderheiten berücksichtigen können. Dies schließt die Fähigkeit ein, Wörter nach
ihren morphematischen Bausteinen durchgliedern zu können.
Auf der Textebene kommen die Beugung (Flexion) der Wörter sowie die Verwendung von Satzzeichen (Interpunktion) hinzu. Zu erwarten sind des Weiteren das Befolgen einfacher Regeln für die
Kommasetzung (Komma zwischen Hauptsätzen und bei Aufzählungen) und die Verwendung von Redezeichen.
Die Sicherheit im Befolgen satzabhängiger Regeln wie die Großschreibung von substantivierten Formen ist für den Grundschulunterricht – hierin besteht ein weitgehender Konsens – allenfalls
fakultativ.
Die Schreibaufgaben der Grundschulversionen der Hamburger Schreibprobe wurden entsprechend dieser Zielbestimmung ausgewählt. In der HSP 5-9 (B und EK)
werden darüber hinaus weitere Aspekte des wortübergreifenden Rechtschreibens –
wie Großschreibung, Kommasetzung, „dass“-Schreibung und andere satzabhängige Regelungen – erfasst.
Die Schreibaufgaben der Hamburger Schreibprobe sollen lehrgangsübergreifend
jenes Strukturwissen erfassen, das den Kern orthographischen Wissens und Könnens ausmacht. Die Wörter müssen deshalb solche Phänomene in genügender Anzahl enthalten, die die wichtigsten alphabetischen, orthographischen und morphematischen Zugriffe prüfen, durch die die Rechtschreibkompetenz am Ende der
Grundschulzeit (und darüber hinaus) gekennzeichnet ist. Wegen der großen Leistungsstreuung in Jahrgangsklassen muss das Wortmaterial ein Spektrum unterschiedlicher Schwierigkeitsniveaus bieten, so dass die Schreibprobe genügend hohe
Anforderungen an sichere und auch angemessene Anforderungen an noch unsichere Schreiber stellt.
16
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
TABELLE 1.3:
Rechtschreibphänomene, die in den Wörtern der HSP enthalten sind
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Alphabetisch zu schreibende mehrgliedrige Grapheme: <ch> und <sch> (Handtuch, Päckchen, Schwimmbad); pf (schimpft, Strumpfhose); ei (Stein, Eimer, beim); au
(Staubsauger)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Unterscheidung von Vokalen, insbesondere von Kurzvokalen: i/e (Spinne, Windmühle, sitzt); u/o (Strumpfhose, Geburtstag); ü/ö (Nüsse, Eichhörnchen)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Unterscheidung zwischen m/n: schimpft, Strumpfhose
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Grammatisch bestimmte Phonemunterscheidung zwischen m/n: dem, am, beim
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Unterscheidung zwischen gespannten und ungespannten Explosivlauten: Bäckerei,
Gespenst, Postkarte, Kerze
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Konsonantenverbindungen, einschließlich sog. Übergangskonsonanten (Briefträger, Fernseher, knackt, schimpft, Eichhörnchen, Schnecke)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Besondere Grapheme, deren Lautwert mit anderen Graphemen dargestellt werden
kann: <x>, <qu> (Max, Quarkkuchen); <v> (vor); <ß> als scharfes /s/ (Gießkanne, Fußballmannschaft, beißt)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Rechtschreibmuster, die artikulatorisch schwierig zu erschließen sind: -er (Blätter,
Räuber, Lehrerin); -ar (Briefmarke, Torwart); -ur (Regenwurm, Geburtstag)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
sp-/st-Schreibung am Wortanfang (Stein, Spiegel, Strumpfhose) und in komplexen
Wörtern (Gespenst, Frühstück)
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Längezeichen:
- h als Längezeichen am Stammende in offener Tonsilbe, wo das h als Silbenanlaut
gesprochen werden kann: Rollschuhe, Fernseher, gehen
- h am Stammende in offener Tonsilbe, wobei das Längezeichen durch die Operation „Verlängern“ als Silbenanlaut gesprochen werden kann: Fernsehprogramm,
Frühstück
- h im Stamminneren vor einem Konsonanten: Zähne, ihn, Windmühle, Lehrerin,
Verkehrsschild, Hauptbahnhof
- ie: Stiefel, Briefträger, Spielplatz, Gießkanne
- oo, aa: doofe, Ehepaar
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
17
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Kürzezeichen:
- Konsonantenverdopplung zwischen zwei Vokalen: Anna, Koffer,
Blätter, Bäckerei, Katze, Schnecke, Nüsse, eingewickeltes, Packung
- in Endstellung: kann, wenn, Mann, Spielplatz, Frühstück, Spinnennetz, Reißverschluss, Fahrradschloss, überall
- in Endstellung innerhalb eines Kompositums: Schwimmbad, Fußballmannschaft,
Rollschuhe
- in Endstellung vor Fuge: Frühstücksei
- in Endstellung vor Endung: verletzte, Päckchen, Stückchen, (öffnen)
- silbisch mit einem Flexionsmorphem verschmolzen: schafft, knackt, bekommt,
sitzt, ausgepackt, starrt, spuckt
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Auslautverhärtung:
- Ableitung durch Rückführung auf die Grundform: fragt, schreibt, pflegt
- Ableitung durch Pluralbildung: Geburtstag, Fahrrad, Verkehrsschild, Nilpferd
- Ableitung
durch
Pluralbildung
nach
erfolgter
Dekomposition:
Handtuch, Windmühle, Fahrradschloss
- Ableitung nach Stammerschließung, ggf. mit Wortartenwechsel: Schubkarre,
Staubsauger, Schiedsrichter, dauernd
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Abzuleitende Umlautungen:
- Ableitung durch Singularbildung: Mäuse, Zähne, Blätter
- Ableitung nach Stammerschließung, ggf. mit Wortartenwechsel: Bankräuber,
Verkäuferin, Bäckerei, Briefträger, Päckchen
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Kompositumschreibung:
Fugen-s: Geburtstag, Schiedsrichter
Phonemverschmelzung: Schlüsselloch, Fahrradschloss, Handtuch, Spinnennetz,
Quarkkuchen
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Präfix-Schreibung: versucht, verletzte, vergessen, Verkäuferin, Verkehrsschild
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Fremdwortschreibungen: Familie, Computer, Bohrmaschine, Nilpferd, Sekretärin
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Satzabhängige Schreibungen:
- satzabhängige Groß- bzw. Kleinschreibung: der doofe Computer, das verletzte Nilpferd, Nachmittags
- dass-Schreibung: ... merkt, dass er ...
- satzabhängige Wortartenbestimmung: wenn man .../ der Mann
- grammatische Kongruenz: formale Abstimmung der Deklination („in hohem“/
„im hohen“, „Stück vom Hund“, „zum ersten“)
Satzzeichenregelungen: Kommasetzung zwischen Haupt- und Nebensatz, Anführungszeichen in Verbindung mit Kommasetzung, Doppelpunkt und Fragezeichen
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
18
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Die Wortauswahl der HSP bezieht sich auf keinen bestimmten Grund- oder Übungswortschatz. Zwar geschieht Rechtschreiblernen in hohem Maße durch die Analyse
von „Modellwörtern“ bzw. von deren Bestandteilen (Morphemen, häufigen Buchstabengruppen), die die orthographischen Phänomene beinhalten und die Rechtschreibregelungen repräsentieren. Diese „Modellwörter“ sind jedoch für verschiedene Lehrgänge und letztlich für jeden einzelnen Lerner unterschiedlich, weshalb
sich ein lehrgangsübergreifendes Diagnoseverfahren zur Erfassung von orthographischer Kompetenz nicht an einem einzigen – wie auch immer bestimmten –
Grundwortschatz orientieren kann.
Die Wörter und Sätze sind so gewählt, dass sie den Schülern der verschiedenen Klassenstufen einen sorgfältig bestimmten Ausschnitt orthographischen Wissens und
Könnens abverlangen. Tabelle 1.3 zeigt eine Übersicht über wichtige Rechtschreibphänomene, die als Kriterien für die Auswahl der Wörter und Sätze in der HSP herangezogen wurden.9 Auf diese Weise kann mit verhältnismäßig wenigen Wörtern
und Sätzen eine differenzierte Einschätzung des individuellen Lernstandes vorgenommen werden. Damit vermeidet das Verfahren eine Überforderung von Schülern
mit Rechtschreibschwierigkeiten und ist zugleich arbeits- und zeitökonomisch auszuwerten.
Um die Bedeutung der Wörter durch Illustrationen zu vermitteln, umfassen die verschiedenen Versionen der HSP je nach Klassenstufe zwischen 4 und 16 Nomen als
Einzelwörter und ein bis fünf Sätze mit flektierten Wortformen, Strukturwörtern
und weiteren Nomen. Die Wörter der einzelnen Versionen der HSP umfassen insgesamt zwischen 40 und 339 Grapheme.10 Auf der Grundlage empirischer Analysen
wurden die mit der HSP erfassten orthographischen Phänomene systematisch variiert, um unterschiedliche Schwierigkeitsgrade zu bieten.
9 Eine Aufstellung der in den Wörtern der
10 Eine Übersicht über alle Graphemstellen
einzelnen HSP-Versionen enthaltenen Rechtschreibphänomene enthalten die Listen RSP 1
bis RSP 5-9 im Anhang.
der einzelnen HSP-Versionen geben die Tabellen ST1-GT bis ST59-GT im Anhang.
19
HSP Manual 1-9
1.4
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Das Auswertungsverfahren
In den folgenden Abschnitten werden die theoretischen Überlegungen zum Auswertungsverfahren vorgestellt. Hinweise für das praktische Vorgehen bei der Auswertung finden Sie in den Anleitungsheften für die einzelnen HSP-Versionen.
1.4.1 Wortbezogene Auswertung
Um einen ersten raschen Überblick über die Rechtschreibleistung zu erhalten, können zunächst die richtig geschriebenen Wörter gezählt werden. Dies führt bei den
meisten Schreibern, deren Leistungsvermögen der oberen Hälfte der Vergleichsgruppe zuzurechnen ist (Prozentrang ≥ 50) zu hinreichend aufschlussreichen Werten für die allgemeine Rechtschreibleistung.
Dieses einfache Auswertungsverfahren bietet sich auch dann an, wenn es um vorwiegend quantifizierende Vergleiche geht, z.B. um einen Vergleich verschiedener
Großgruppen oder um den Zusammenhang zwischen Rechtschreib- und anderen
Schulleistungen.
Immer dann jedoch, wenn es um spezifische Rechtschreibleistungen geht, etwa bei
der Bestimmung des Lernzuwachses eines einzelnen Schülers oder beim Erfassen
von Unterrichtserfolgen einer bestimmten Methode, reicht das wortbezogene Auswertungsverfahren nicht aus.
Bei Kindern, deren Rechtschreibleistung nach der wortbezogenen Auswertung relativ schwach erscheint, sowie bei Kindern, deren Rechtschreibergebnis erwartungswidrig ausfällt, sollten Sie zusätzlich die im Folgenden beschriebene Auswertung der
Graphemtreffer sowie der Lupenstellen zur Bestimmung der Rechtschreibstrategien
durchführen.
1.4.2 Auswertung der Graphemtreffer
Die entscheidende Auswertungsmethode der Hamburger Schreibprobe beruht auf
der Anzahl richtig geschriebener Grapheme (sog. Graphemtreffer). Dieses Verfahren trägt, im Unterschied zu Verfahren, die nur die Anzahl richtig bzw. falsch
geschriebener Wörter ermitteln, der Tatsache Rechnung, dass Lerner sich die orthographischen Prinzipien schrittweise aneignen. Lernpsychologisch bedeutsam ist es,
auch teilweise richtige Lösungen zu erfassen, denn in den Teillösungen zeigen sich
fast immer gelungene Operationen. Auf diese Weise wird es möglich, zwischen
unterschiedlichen Schreibweisen zu differenzieren, die Ausdruck qualitativ verschiedener Lernstände sind. Damit lassen sich verschiedene Grade der Annäherung
an die Normschreibung unterscheiden, so dass gezielte Fördermaßnahmen eingeleitet werden können.
20
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Dass die Beurteilung von Schreibungen nach dem Maßstab „richtig/falsch“ nicht
genügend zwischen unterschiedlichen Lernniveaus differenziert, trifft um so mehr
zu, je früher im Laufe der Lernentwicklung Schreibungen erhoben werden bzw. je
weniger entfaltet eine individuelle Schreibleistung ist.
Am Ende der Grundschulzeit und in der Sekundarstufe kann die Mehrzahl der
Schüler einen Großteil der Wörter richtig schreiben und nur noch selten enthält ein
geschriebenes Wort mehr als einen Fehler. Für die meisten Schüler würde es auf dieser Stufe daher für die Feststellung der Rechtschreibleistung genügen, die Zahl der
richtig geschriebenen Wörter zu zählen. Dies gilt jedoch nicht für die frühe Lernstandsbestimmung und für die Förderdiagnose bei älteren Lernern mit ausgeprägten Rechtschreibschwierigkeiten. Um sie „im Blick zu haben“, d.h., um gestörte
Lernverläufe frühzeitig aufzudecken, ist die Hamburger Schreibprobe konzipiert
worden.
Am Beispiel verschiedener Schreibungen des Wortes „Fahrrad“ lässt sich zeigen, wie
wichtig eine differenzierte Erfassung des erreichten Lernstandes ist und auf welche
Weise qualitativ unterschiedliche Schreibungen mit Hilfe der Graphemauswertung
berücksichtigt werden können (siehe Tabelle 1.4.1).
TABELLE 1.4.1: Unterschiedliche Maßstäbe für die Bewertung am
Beispiel verschiedener Schreibungen des Wortes „Fahrrad“
B E W E R T U N G S M A S S S TA B
11
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Schreibung richtig/
Realisiertes Rechtschreibwissen
Graphemfalsch
treffer
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
FT
falsch
alphabetisches Schreiben: verkürzte Lautfolge
1
Fart
falsch
alphabetisches Schreiben entfaltet
2
Farat
falsch
vollständiges alphabetisches Schreiben
3
Farad
falsch
orthographisches Regelelement bezeichnet
4
Fahrad
falsch
orthographisches Merkelement bezeichnet
5
Fahrrad
richtig
Kompositum morphematisch durchdrungen
6
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Die Schreibung *FT stellt eine noch wenig differenzierte Verschriftlichung der eigenen Artikulation dar, in der An- und Auslaut in der Art einer „Skelettschrift“
bezeichnet werden.12 Mit *Fart wird das Wort lautlich schon deutlich ausdifferenziert. In artikulatorischer Hinsicht ist die Schreibung *Farat vollständig. Bei der
Schreibung *Farad wird zusätzlich ein orthographisches Element (Auslautverhär11 Die Groß- bzw. Kleinschreibung bleibt
hier außer Betracht.
12 In Analogie zur Entwicklung der Fähigkeiten zur bildnerischen Personendarstellung
könnte man hier auch von schriftsprachlichen
„Kopffüßlern“ sprechen.
21
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
tung) realisiert. Eine weitere Entwicklung des orthographischen Schreibens stellt
*Fahrad (Berücksichtigung des Merkelements <ah>) dar. Die normgemäße Schreibung Fahrrad weist darauf hin, dass hier die beiden Stammmorpheme „Fahr“ und
„Rad“ erfasst und in ihrer konstanten Schreibweise im Kompositum dargestellt
wurden.
Bei der Auswertung nach Graphemtreffern werden Buchstaben zusammengenommen, wenn sie in orthographischer Hinsicht eine Einheit bilden. Dazu gehören
•
•
•
•
Diphthonge (ei, au, eu/äu)
mehrgliedrige Konsonanten (z.B. ch, sch, pf, qu)
Vokale mit Längezeichen (z.B. ie, ih, ieh, ah, oo)
Doppelkonsonanten als Kürzezeichen (z.B. ll, mm, ck, tz)
In vielen Wörtern gibt es demnach weniger Graphemstellen als Buchstaben (z.B.
F/ah/r/r/a/d, R/o/ll/sch/uh/e).13
Die Unterscheidung zwischen richtig geschriebenen Buchstaben und Graphemen
ist im Hinblick auf die differenzierte Erfassung orthographischer Elemente bedeutsam. Darüber hinaus ermöglicht die Graphembewertung eine größere Objektivität
bei der Auswertung, da zwischen richtiger Schreibung der einzelnen Grapheme und
mehrdeutigen Schreibungen differenziert werden kann. So ist beispielsweise bei
der Schreibung *Faharad die Zahl richtig geschriebener Buchstaben schwer zu
bewerten, während dies bei der Graphemauswertung eindeutig möglich ist.14
Vor allem aber ermöglicht die Einführung der graphembezogenen Auswertung die
Erfassung von sog. Rechtschreibstrategien, die auf der Basis einer nur wortbezogenen Auswertung nicht möglich wäre.
Die Graphemtreffer, definiert als die Summe der richtig geschriebenen Grapheme,
bilden den Hauptkennwert der Hamburger Schreibprobe. Dieser Wert, in den alle
anderen Kennwerte einfließen, bündelt das Maß für den erreichten Stand des Rechtschreibkönnens. Er ist, wie durch die Angaben im Abschnitt 3.4 belegt, sehr zuverlässig, er differenziert genügend in allen Bereichen des Leistungsspektrums, und
besitzt eine hohe Gültigkeit für die Bewertung der Rechtschreibleistung, wie die
Korrelationen mit anderen Vergleichsmaßen für schriftsprachliche Leistungen zeigen (siehe Abschnitte 2.1 bis 2.5). Für die Interpretation der übrigen Kennwerte der
Hamburger Schreibprobe sollte stets auch dieser Gesamtwert als Maß für die allgemeine Rechtschreibleistung berücksichtigt werden.
13 Für die Auswertung der Graphemtreffer
legen wir einen pragmatisch bestimmten Graphembegriff zugrunde, nach dem sich gleiche
Phänomene möglichst gleichen Kategorien
zuordnen lassen. So fassen wir die Buchstabenverbindung <pf> in Wörtern wie „Nilpferd“
und „schimpft“ stets als ein Graphem auf
– unabhängig von der unterschiedlichen Sil-
bentrennung (Nil-pferd, schimp-fen). Durch die
Vorgabe der Graphemkästchen in den Auswertungsschemata der Testhefte wird die Einheitlichkeit der Graphemzuordnung gewährleistet.
14 Das Vorgehen bei der Auswertung der Graphemtreffer ist ausführlich in den Anleitungsheften für die einzelnen HSP-Versionen erläutert.
22
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
1.4.3 Vergleich verschiedener Jahrgangsformen der HSP
Wie Sie die ermittelte Rechtschreibleistung einer Schülerin bzw. eines Schülers mit
Hilfe der Tabellen für die bundesweiten Normen in Prozenträngen bzw. T-Werten
ausdrücken, wird in den Anleitungsheften für die einzelnen Versionen der HSP
beschrieben. Mit Hilfe dieser Normwerte können Sie die Leistungen in verschiedenen Jahrgangsversionen der HSP miteinander in Beziehung setzen. Bei dieser
Zuordnung legen Sie einen sozialen Maßstab an, d.h., es wird geprüft, inwieweit
der individuelle Lernzuwachs im Vergleich zum Lernfortschritt anderer Lerner
höher oder niedriger ausfällt.
Sind Sie jedoch eher an einer Analyse des individuellen Lernfortschrittes interessiert, so bietet sich eher ein sachlicher Vergleichsmaßstab an. Für eine solche individuelle Lernentwicklungsanalyse kann die Zahl der richtigen Lösungen (Wörter,
Graphemtreffer oder Lupenstellen) auch in Prozentwerten ausgedrückt werden.
Damit können Sie auf der sachlichen Ebene Lernfortschritte eines Schülers auch in
den Fällen feststellen, wo der Prozentrang zwar unverändert blieb, der Schüler jedoch mehr Wörter, Grapheme oder Lupenstellen richtig geschrieben hat als zuvor.
Die entsprechenden Zahlenwerte finden Sie ebenfalls in den Tabellen der einzelnen
Anleitungshefte.
Zwar sind die einzelnen Versionen der Hamburger Schreibprobe wegen ihres mit
der Klassenstufe ansteigenden Schwierigkeitsgrades nur annähernd miteinander
vergleichbar; da jedoch gleichzeitig auch die Leistungsfähigkeit in der Altersgruppe
wächst, können die Rechtschreibfortschritte einzelner Schüler mit Hilfe der Prozentangaben gut dargestellt werden. Auch bei der Bewertung der Rechtschreibsicherheit in selbst verfassten Texten hat sich die Angabe des Prozentwertes richtig
geschriebener Grapheme bewährt (siehe dazu May 1999a).
Abbildung 1.4.2 zeigt die Entwicklung des Anteils richtiger Grapheme bei Schülern
unterschiedlicher Leistungsniveaus in den Jahrgangsversionen der HSP.15 Während
sich die Werte zwischen den Leistungsgruppen zu Beginn der Lernentwicklung
drastisch unterscheiden, nähern sich die Anteile richtig geschriebener Grapheme in
allen Gruppen allmählich dem Maximalwert. Das bedeutet, dass auch die Schüler
mit Rechtschreibschwierigkeiten im Laufe der Zeit die meisten Grapheme richtig
schreiben.16
15 Die Halbjahreswerte für die HSP 5-9
wurden geschätzt.
16 Die Basisversion der HSP für die Sekundarstufe (HSP 5-9 B) differenziert entsprechend
vorwiegend im schwächeren Leistungsbereich;
für die Erfassung von Leistungen bei fortgeschrittenen Rechtschreibern sollte dann die Version für die erweiterte Kompetenz (HSP 5-9 EK)
eingesetzt werden.
23
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
HSP Manual 1-9
- HSP 1
1M
HSP 1
1E
HSP 1
2M
HSP 2
E
HSP 3
M
HSP 3 HSP 4/5 HSP 4/5 HSP 4/5 HSP 5-9
E
4M
4E
A5
E5
HSP 5-9
E6
HSP 5-9
E7
HSP 5-9
E8
ABBILDUNG 1.4.2: Anteil richtiger Grapheme bei Schülern
unterschiedlicher Leistungsstufen von Klasse 1 bis 917
17 Die entsprechenden Angaben für die Strategiewerte der HSP und für die unterschiedlichen
Schulformen in der Sekundarstufe finden Sie
im Abschnitt 3.2 (Tabelle 3.2.3).
HSP 5-9
E9
24
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
1.5 Die Erfassung
von Rechtschreibstrategien
1.5.1 Der Begriff „Rechtschreibstrategie“
In der Rechtschreibdiagnostik und -didaktik wurde der Begriff „Strategie“ früher
kaum verwendet. Überhaupt ist der Prozess des Zustandekommens von Schreibweisen begrifflich selten scharf gefasst: Schreibweisen seien „eingeprägt“, würden
„gemerkt“, „abgerufen“ oder gingen routiniert „von der Hand“; Regeln würden
angewendet oder befolgt – der Erklärungswert solcher Bestimmungen ist gering.
Aussichtsreicher für ein Verstehen des Orthographielernens ist der Prozess des
Erschreibens, die kognitive Konstruktion von Schreibweisen. Schreibungen – auf
welchem Fertigkeitsniveau auch immer – basieren auf einer „Theorie“ des Schreibenden und individuell ausgebildeter Vorgehensweisen. Die Vorstellungen des Kindes von der Schrift und der Verschriftlichung und seine entsprechenden Operationen suchen wir im Begriff der Strategie18 zu fassen. Mit dem Begriff der Strategie bzw. der Unterscheidung bestimmter Teilstrategien wollen wir also die Prozesse charakterisieren, mit denen Schreibungen erzeugt werden.
Mit fortschreitendem Erwerb greifen die verschiedenen Strategien als Teilhandlungen zunehmend ineinander und ergänzen sich zu einer komplexen Gesamtstrategie
(vgl. May 1993). Sie sind jeweils regelgeleitet und untereinander systematisch verknüpft. In genetischer – also in einer didaktisch an Entwicklung und Förderung
interessierten – Betrachtung gilt es jedoch, diese Teilstrategien getrennt zu halten,
um erfassen zu können, wie sie sich ausbilden und ob und inwieweit sie sich miteinander verschränken. Über das Verhältnis der Teilstrategien zueinander – dies ist
ein wesentliches Ergebnis unserer Untersuchungen – lassen sich individuelle Lernverläufe bestimmen und abgrenzen. Das Verhältnis der einzelnen Strategiewerte
lässt Aufschlüsse über die „normale“ oder eine auffällige Schreiblernentwicklung zu.
Mit der analytischen Bestimmung der im Folgenden ausgeführten Teilstrategien
lässt sich der Prozess des Orthographieerwerbs eines Kindes genauer bestimmen,
festhalten und in seiner Tendenz (zunehmende Integration der Teilzugriffe oder
Verharren in einseitigen Zugriffsweisen) erkennen. Insofern ist der Begriff der Stra18 Handlungstheoretisch werden die Begriffe
„Strategie“ oder „strategisches Handeln“ als
Verknüpfen und Abstimmen verschiedener
Teilhandlungen (Operationen) zum Erreichen
eines Ziels definiert. Auch im alltagsweltlichen
Gebrauch des Wortes Strategie ist das Abstimmen von Teilaspekten bzw. Teilhandlungen
gemeint. So sprechen wir von Spielstrategien
und in einem solchen Begriff schwingt Berechnung, Kalkulation, fehlende Offenheit, allemal
eine hohe Bewusstheit und Planung mit. Diese
Aspekte sind mit dem Begriff „Rechtschreibstrategie“ allerdings nicht gemeint. Zwar bedeutet Schreiben eine Vergegenständlichung
von Sprache, also einen bewussteren Sprachgebrauch als üblicherweise in der gesprochenen
Sprache, auch werden bestimmte Operationen
zur Entscheidung und zur Kontrolle einer
bestimmten Schreibweise bewusst vollzogen,
aber eine durchgängige Bewusstheit für die
eigenen Zugriffsweisen auf Sprache und Schrift
ist für Lerner damit nicht gegeben.
25
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
tegie und die Differenzierung in Teilstrategien für die Hamburger Schreibprobe und
die damit bestimmbaren Ergebnisse für eine Förderung von grundlegender Bedeutung.
Die Orthographie ist aus linguistischer Sicht umfassend und klar „geregelt“, vom
Lernenden dagegen wird sie zu Beginn des Lernprozesses wesentlich einzelheitlich
aufgefasst. Sogar eine für Schriftkundige selbstverständliche „Regel“, nämlich dass
man im Deutschen von links nach rechts schreibt, muss zunächst gelernt werden.
Regeln werden von den Kindern normalerweise nicht als Merksätze auswendig
gelernt. Sie entdecken die Regeln in den Wörtern, denen sie gewissermaßen „eingeschrieben“ sind.19 Wie Sprachlernen überhaupt, so ist auch der Erwerb der
Orthographie über weite Strecken ein intuitiver, d.h. nicht von außen gesteuerter
Lernprozess. Kinder lernen, indem sie handeln und sich an Rückmeldungen orientieren. Häufig können Kinder Rechtschreib“regeln“ im Sinne von Merksätzen erst
dann verstehen, wenn sie diesen Regeln bereits intuitiv folgen. Dann ist die sprachliche Form der Regel eine Bündelung bereits erworbenen Wissens und wirkt zusätzlich handlungsleitend.20
Regeln, die das Handeln leiten, sind also mehr als „Vorschriften“. Sie sind verallgemeinerte Erfahrungen. Orthographische Regeln helfen Kindern zu entscheiden, was
sie tun müssen, um richtig zu schreiben, oder was sie tun müssen, um sich die geltenden Konventionen für eine Schreibung zu merken. Regeln dienen der Auswahl von
Operationen in Entscheidungssituationen. Eine solche Regel könnte beispielsweise
lauten: „Durch Verlängern eines Wortes kann ich den Buchstaben für den Auslaut
‚sprechbar‘ machen.“ Eine solche Handlungsregel setzt die (intuitive) Kenntnis der
orthographischen Vorschrift über die Schreibung von Wörtern der Auslautverhärtung mit Stimmtonverlust voraus. Und diese Vorschrift muss vorher durch einschlägige Erfahrungen erkannt worden sein.
Kein Handeln geschieht ohne Regeln. Aber zu einer Strategie wird regelgeleitetes
Handeln erst, wenn die erkannten Regeln immer wieder und zunehmend systematisch das Handeln steuern.
Wenn ein Kind z.B. entdeckt, dass in manchen Wörtern <v> statt <f> geschrieben
wird, und es allmählich eine Regel über die <v>-Schreibung in Vorsilben ausbildet,
so folgt daraus regelgeleitetes Handeln, das sich aber noch auf einzelne bzw. wenige
Phänomene bezieht. Eine Strategie wird daraus, wenn das Kind mehrere solcher
Wortbildungsvorschriften entdeckt, sie als für das Schreiben vieler Wörter konstitutiv erkennt und daraus die Routineoperation entwickelt, Wörter mehr oder weni19 Probst (1988, S. 12) spricht in diesem Zusammenhang von „impliziten Regeln“, die „der
Sprache ‚objektiv‘ inhärent“ sind und sich „in
der mentalen Repräsentation des Sprachbenutzers (mehr oder weniger vollständig und differenziert) abbilden“.
20 Siehe zum Erwerb von Regelwissen auch
Abschnitt 5.3, wo ein Stufenmodell zur Entwicklung vom Neuling zum Experten im Rechtschreiben vorgestellt wird.
26
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
ger systematisch nach Bausteinen (Vorsilben, Stamm, Endungen usw.) zu durchgliedern, um die Schreibweise zu klären. Eine andere Strategie würde in diesen Fällen auch zum Ziel führen, nämlich – aufgrund der Erfahrung, dass die meisten Wörter, die mit der Lautfolge /fer/ beginnen, mit „v“ geschrieben werden – sich die wenigen Wörter zu merken, in denen die Lautfolge /fer/ nicht mit „v“ geschrieben wird
(fertig, fern, Ferkel).
Welche Merk- und Rechtschreibstrategien zu welchem Zeitpunkt ausgebildet und
bevorzugt werden, ist individuell durchaus verschieden und hängt auch von der
orthographischen Struktur der Lernwörter, die als Musterwörter zur Ausbildung
kognitiver Schemata dienen, sowie von den Instruktionen und Modellhandlungen
der schreibkundigen Vorbilder ab.
Die Unterscheidung grundlegender Rechtschreibstrategien für das Wortschreiben
geht davon aus, dass die Regeln, die der Schriftlerner entdeckt und denen er schreibend folgt, bestimmten Prinzipien zugeordnet werden können, die der deutschen
Schrift zugrunde liegen. Neben dem Prinzip, so zu schreiben, wie es Schriftkundige
vormachen, und sich die Buchstabenkombinationen zu merken (logographemisches
Prinzip) sind vor allem die beiden Grundprinzipien relevant, die als „alphabetisches
Prinzip“ (Laut-Buchstaben-Zuordnung) und als „morphematisches Prinzip“
(Stammkonstanz und Konstanz der Wortbildungsbausteine) bekannt sind. Daneben
bzw. dazwischen gibt es verschiedene „orthographische Prinzipien“, die auf der
Grundlage des morphematischen Prinzips das alphabetische Prinzip modifizieren
(z.B. orthographische Elemente im Wortstamm wie Länge- und Kürzezeichen).
Beobachtet man die schriftsprachliche Entwicklung von der ersten Klasse an über
mehrere Jahre, so lässt sich die Herausbildung orthographischer Kompetenz als ein
schrittweiser Aufbau immer komplexer werdender Zugriffsweisen auf die Schriftsprache nachzeichnen, und es können qualitativ gut gegeneinander abgrenzbare
Rechtschreibstrategien unterschieden werden. Nach dem heutigen Erkenntnisstand
lassen sich vier Hauptstrategien unterscheiden, nach denen Schreiblerner die Prinzipien und Konventionen unseres Schriftsystems rekonstruieren und Wörter
verschriftlichen.
ó Logographemische Strategie
Schon lange vor der Schulzeit wissen Kinder, dass Zeichen „für etwas stehen“, dass
Zeichen etwas repräsentieren (z.B. + = „Krankenhaus“, Ω = „Kopfhörer“). Aus ihrer
Erfahrung mit sog. Logographemen – Logos aus Buchstabenzeichen (z.B. VW, P für
„Parkplatz“, BP für „Tankstelle“) bzw. Wörtern, die als Logos „gelesen“ werden (wie
Q uelle, FANTA oder POLIZEI) – entwickeln viele Kinder die Vorstellung, man könne
von der graphischen Gestalt wie bei einer Bilderschrift unmittelbar auf die Bedeutung schließen. Deshalb ist zu dieser Zeit „FANTA“ etwas anderes als „Fanta“; und
die Buchstabenfolge „PO“ kann – in beliebigen Wörtern – für „Polizei“ stehen, weil
sie dem Kind aus diesem Bedeutungszusammenhang vertraut ist. Beim logographe-
27
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
mischen Schreiben wird die Schreibung von Wortteilen (Wortanfängen, Silben),
Wörtern und kurzen Sätzen unabhängig von der Lautung bzw. Artikulation als graphemisches Muster gemerkt. Ein Lautbezug wird nicht hergestellt.
Die (Selbst-) Instruktion für das „logographemische Schreiben“ könnte lauten:
„Merke dir die Form und die Anordnung der Zeichen (Buchstaben).“
Verschiedene Schreibwörter unterscheiden sich letztlich allein durch ihre unterschiedlichen Buchstabenkombinationen. Insofern kann die logographemische
Strategie des Einprägens der Buchstabenfolgen prinzipiell immer zur richtigen
Schreibung der Wörter führen. Von der Speicherfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses her wäre es ohne weiteres denkbar, sich die Wörter eines durchschnittlich verwendeten Schreibwortschatzes rein logographemisch zu merken – so wie es
bekanntlich beim Erwerb der chinesischen Begriffsschrift geschieht. Prinzipiell wäre
dies auch bei einer alphabetischen Sprache wie dem Deutschen möglich, denn von
den ca. 200.000 Wörtern der deutschen Sprache werden von den meisten Menschen
nur einige tausend verwendet. Allerdings wäre die logographemische Strategie als
alleinige Erwerbsstrategie bei unserer Laut-Buchstaben-Schrift wenig ökonomisch
und es würde auch bei hoher Motivation und ständigem Üben viel länger dauern,
um genügend Wörter und Wortformen für das Schreiben gehaltvoller Texte zu
spreichern. Deshalb müssen Schreiblerner auch andere Strategien erwerben und mit
der logographemischen Strategie verknüpfen.
Die Strategie des „logographemischen Schreibens“ spielt nicht nur am Anfang des
Schrifterwerbs eine wichtige Rolle (z.B. beim Schreiben des eigenen Namens und
anderer für das Kind bedeutsamer Wörter). Auf sie wird auch in fortgeschrittenen
Phasen des Rechtschreiblernens zurückgegriffen, z.B. bei der Kontrolle des Schreibentwurfes: Die Praxis des „Löschblattschreibens“ sucht die vertraute Version zu finden, was häufig gelingt. In fortgeschrittenen Fertigkeitsstufen des Rechtschreibens
können gewandte Schreiber einige hundert bis etliche tausend Wörter und Wortformen logographemisch schreiben. Dazu gehören beispielsweise Satzfunktionswörter (Artikel, Konjunktionen, Präpositionen usw.). Auch die meisten Wortbildungsmorpheme (z.B. Vorsilben, Endungen) werden mit der Zeit ebenso logographemisch geschrieben wie besonders häufig geschriebene Wortstämme. Die logographemische Strategie bezieht sich also nicht nur auf ganze Wörter, sondern auch
auf Wortteile. Daher bedeutet logographemisches Schreiben nicht dasselbe wie die
Wiedergabe ganzheitlich gespeicherter Wort„bilder“.21
21 Es ist sinnvoll, zwischen den Begriffen
„logographemische Strategie“ und „Wortbildeinprägen“ zu unterscheiden. Nach der Auffassung der Wortbildtheorie werden vollständige
Wörter als ganzheitliches visuelles Bild gespeichert (siehe ausführlich Scheerer-Neumann
1986). Logographemisches Schreiben muss sich
jedoch nicht auf ein ganzes Wort beziehen,
sondern kann sehr unterschiedliche Einheiten
aufgreifen. Dagegen wäre es nach Auffassung
der Wort“bild“theorie bedeutsam, welche graphische Gestalt ein Wort als Ganzes hat. Die
logographemische Strategie ist demnach erheblich flexibler handhabbar als ein Merken von
„Wortbildern“.
28
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
ó Alphabetische Strategie
Spätestens im ersten Schuljahr lernen die meisten Kinder, dass sie für die Identifikation der durch Buchstabenfolgen repräsentierten Gegenstände nicht nur die äußere
Form der Schrift heranziehen können, sondern dass sie einen „Umweg“ über die eigene Aussprache (Artikulation) machen müssen: Sie erkennen, dass die Schrift lautsprachliche Informationen „enthält“. Diese Erkenntnis ist für den weiteren Lernprozess von grundlegender Bedeutung. Die Kinder sind damit zunehmend in der Lage,
ihre eigene Aussprache mit Hilfe der ihnen bekannten Buchstaben zu analysieren.
Idealtypisch nimmt der Lernprozess dabei folgenden Verlauf: Zunächst geben Kinder ganze Wörter mit nur einzelnen Buchstaben (z.B. *p für „Räuber“) wieder. Im
nächsten Schritt schreiben sie Folgen von Buchstaben (*rp, *ropa) und können
immer größere sprachliche Einheiten (Silben, Wörter, einfache Sätze) mehr oder
weniger vollständig anhand der eigenen Aussprache verschriftlichen. Schließlich
können sie beliebige Wörter so schreiben, dass sie für andere und für sie selbst lesbar sind (*roiba).
Beim alphabetischen Schreiben wird das Schreiben dem Lautschriftprinzip gemäß
mit Hilfe der eigenen Artikulation gesteuert und kontrolliert. Dabei werden den
einzelnen Lauten (Phonemen) einzelne Buchstaben (Grapheme) zugeordnet. Diese
„alphabetische Strategie“ entwickelt sich vom Verschriftlichen einzelner markanter
Laute über die vollständige „lautgetreue“ Darstellung der eigenen – dialektal und
soziolektal gefärbten – Aussprache hin zur Verschriftlichung der Standardlautung
unter Beachtung der geläufigsten Laut-Buchstaben-Zuordnungsregeln (z.B. *Reuber statt *Roiba).22
Noch im Laufe des ersten Schuljahrs erkennen die meisten Kinder, dass es keine 1:1Beziehung zwischen lautsprachlichen und schriftsprachlichen Elementen gibt. Sie
beachten, dass ein Laut mit einer Buchstabenkombination wiedergegeben werden
kann (sch, ch). Ebenso beachten sie, dass für eine Lautkombination nur ein Buchstabe geschrieben wird (z.B. z für /ts/). Und sie lernen den schwierigen Umgang mit verschiedenen „Lautwerten“ derselben Buchstaben (insbesondere der Vokale) kennen.
Damit wird bereits der nächste wesentliche Lernschritt angebahnt: die Erkenntnis,
dass eine Vielzahl von Wörtern anders geschrieben wird, als die eigene Aussprache
nach dem alphabetischen Verschriftlichungsprinzip nahe legt. Mit der Aneignung
der geläufigsten Rechtschreibmuster (z.B. eu statt *oi oder *oj, er statt *a), die das
rein lautlich orientierte Schreiben modifizieren, gelangen die Kinder an die Schwelle zum orthographischen Schreiben.
22 Daher ist es sinnvoll und notwendig, zwi-
schen alphabetischer Strategie und dialektaler
Verschriftung zu unterscheiden: Die mundartliche Verschriftung bildet die jeweiligen regionalen Aussprachevarianten ab, sodass Schreiber
verschiedener Regionen dieselben Wörter entsprechend ihrer Aussprache unterschiedlich
schreiben. Die alphabetische Strategie schließt
darüberhinaus auch die Fähigkeit ein, sich beim
Rechtschreiben an der hochsprachlichen Standardlautung zu orientieren, sodass nicht mehr
alle dialektalen bzw. soziolektalen Nuancen verschriftet werden.
29
A DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
HSP Manual 1-9
Das entscheidende Merkmal der alphabetischen Strategie bleibt jedoch stets, dass
die Schreibung anhand der eigenen Artikulation prinzipiell nachvollziehbar und
darstellbar ist.
Die (Selbst-) Instruktion für das „alphabetische Schreiben“ könnte lauten:
„Achte auf die eigene Aussprache und schreibe für jeden Laut
einen Buchstaben.“23
Für langsamer lernende Kinder bereitet die Aneignung des alphabetischen Schreibens noch über das erste Schuljahr hinaus große Schwierigkeiten, da bei ihnen die
notwendige phonologische Bewusstheit nicht genügend entwickelt ist. Bei diesen
Kindern ist es wichtig, die Entwicklung der alphabetischen Strategie qualitativ zu
erfassen, d.h. das Ausmaß zu bestimmen, in dem die Schreibungen bereits die Prinzipien des alphabetischen Schreibens berücksichtigen. Daher bietet die HSP 1+
(Mitte des ersten bis Mitte des zweiten Schuljahres) eine qualitative Auswertung verschiedener Entwicklungsstadien der alphabetischen Rechtschreibstrategie.24
Bei den meisten Kindern zeigt sich die Ausdifferenzierung der alphabetischen Strategie in Form typischer Schreibungen, die den erreichten Stand der alphabetischen
Analyse erkennen lassen:
• verkürzte alphabetische Schreibung:
Bezeichnen einzelner markanter Laute (z.B. *M für „Mäuse“, *T für
„Hund“) und einfacher Lautfolgen (z.B. *MS für „Mäuse“, *HT für
„Hund“)
• entfaltete alphabetische Schreibung:
vervollständigte Schreibung von Lautfolgen (z.B. *Mse für „Mäuse“,
„HOT für „Hund“)
• vollständige alphabetische Schreibung:
lesbare Schreibungen, ggf. mit dialektaler Färbung (z.B. *Moise,
*Hont) und mit sog. Übergangskonsonanten (z.B. *Flige statt *Fige);
• optimierte alphabetische Schreibung:
Beachten relevanter Lautunterschiede (v.a. bei Kurzvokalen und
Explosivlauten: *Hunt, *Flige und nicht *Flike) und konstanter
Schreibmuster (*Meuse und nicht *Moise)
23 Genau genommen lautet die erforderliche
(Selbst-) Instruktion für die alphabetische Strategie nicht: „Schreibe, wie du sprichst“, sondern: „Schreibe, wie die Hochsprache klingt.“
Oder allgemeiner: „Schreibe, wie du schreibnützlich sprichst!“ (vgl. Naumann 1997, S. 213)
Auf diese Dialektik zwischen Sprachwahrnehmung und Rechtchreibwissen zielt auch die
Formulierung: „Man schreibt, wie man spricht,
wie man schreibt.“ (Neumann 1997)
24 Bei besonders gravierenden Rückständen
im alphabetischen Schreiben sollte darüber
hinaus der erreichte Entwicklungsstand hinsichtlich relevanter Vorläuferfertigkeiten für
den Schriftspracherwerb, insbesondere die phonologische Bewusstheit, überprüft werden
(siehe Jansen u.a 1999, Küspert & Schneider
1999).
30
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
ó Orthographische Strategie
Bis zum Ende der Grundschulzeit entdeckt der Großteil der Schüler die wichtigsten
orthographischen Regelungen (sp-/st-Schreibung am Wort- bzw. Stammanfang,
Auslautverhärtung, Umlautableitung, Länge- und Kürzebezeichnungen), erprobt
diese schreibend und kann sie in einer Vielzahl von Wörtern beachten.
Beim orthographischen Schreiben werden die Laut-Buchstaben-Beziehungen
den orthographischen Regelungen („Vorschriften“) entsprechend modifiziert. Die
Entscheidung für die Laut-Buchstaben-Zuordnung ergibt sich nicht mehr ausschließlich aus der Beachtung der eigenen Artikulation.
Zu unterscheiden sind zwei Arten von orthographischen Elementen: solche, die der
Lerner sich schlicht merken muss, und solche, für die es Verfahren (Operationen)
der Bestimmung („Regeln“) gibt. Zu den Merkelementen gehören z.B. die Längezeichen. Zwar gibt es auch hier allgemeine Regeln (z.B. die Dauer bzw. Offenheit des
Vokals: /ka:n/ vs. /kán/ ➞ Kahn vs. kann), doch gelten für die Bezeichnung der Länge
nur Wahrscheinlichkeitsbeziehungen: Bei langem i wird die Länge fast immer mit ie
gekennzeichnet, bei anderen Vokalen wird die Länge meist nicht gekennzeichnet.
Dagegen lassen sich bei den Regelelementen (z.B. Kürzebezeichnung, Auslautverhärtung und Umlautung25) Verfahren (Operationen) nutzen, die zur normgemäßen
Schreibung führen.
Die Bezeichnung „Regelelemente“ im Gegensatz zu „Merkelemente“ meint nicht,
dass Merkelemente etwa nicht geregelt seien. Betont werden soll mit der Bezeichnung „Regelelemente“, dass die entsprechenden Stellen durch bestimmte Verfahren
erschlossen, also die zugrunde liegenden Regeln operativ bestimmt werden können,
was bei „Merkelementen“ nicht gleichermaßen möglich ist.
In Bezug auf den Aneignungsprozess ist zu berücksichtigen, dass diese orthographischen Elemente zwar durchgängig geregelt sind, für Lerner aber zunächst noch
unzureichend und bruchstückhaft geregelt erscheinen. Die regelhaften Beziehungen
werden von ihnen erst allmählich – als Verallgemeinerung einzelwortbezogenen
Wissens – realisiert.
Die (Selbst-) Instruktion für das „orthographische Schreiben“ könnte lauten:
„Merke dir die von der Lautung abweichende Schreibung der Wortstelle
und/oder nutze eine dir bekannte Vorschrift (‚Regel‘) für die Schreibung.“
25 In der Perspektive des Lerners, der etwa
Schreibungen wie „schreibt“ oder „Päckchen“
durch eine auf den Stamm bezogene Operation
entscheidet, also „schreiben“ oder „packen“ bildet, sind dies Realisationen einer morphematischen Strategie. Obwohl nicht eindeutig gesagt
werden kann, dass Lerner, denen solche Schrei-
bungen gelingen, diese durch morphematische
Operationen gewonnen haben, benutzen wir
die orthographischen Regelelemente, die sich
auf die Auslautverhärtung und die Umlautableitung beziehen, in der Hamburger Schreibprobe zur Bestimmung der morphematischen
Strategie (siehe Abschnitt 1.5.4).
31
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
ó Morphematische Strategie
Alle Wörter sind aus Morphemen (Vorsilben, Stämme, Fugen, Endungen) gebildet
und die Morphemkonstanz ist – neben dem Lautbezug – das wichtigste Konstruktionsprinzip deutscher Rechtschreibung.26 Wenn ein Schreiber dieses Grundprinzip
kennt, kann er die Wortschreibungen sozusagen nach einem „Baukastenprinzip“
rekonstruieren, der kognitive Aufwand beim Schreiben wird ökonomisch genutzt
und das Gedächtnis wird dadurch enorm entlastet.
Beim morphematischen Schreiben werden die orthographischen Elemente im
Rückgriff auf die morphematische bzw. morphologische Struktur eines Wortes verwendet. Die orthographischen Elemente müssen nicht mehr einzelwortbezogen
gemerkt werden, wenn der Schreiber das Morphem kennt bzw. ein Wort als aus ihm
bekannten Morphemen zusammengesetzt erkennt.
Innerhalb der Strategie, die wir „morphematisch“ nennen, gibt es zwei verschiedene Arten von Zugriffsweisen, bei denen einerseits das morphematische Bedeutungswissen und andererseits das morphologische Strukturwissen genutzt wird.
Bei morphosemantischen Operationen wird nach der Bedeutung der Wörter und
ihrer Teile gesucht. Über die Erschließung der Wortbedeutung kann die Schreibung
aus dem Grundwort abgeleitet werden.
Beispiel Staubsauger:
• Ein Staubsauger saugt Staub (morphosemantische Operation).
• Staub ist mit staubig verwandt, daher „b“.
Mit Hilfe von morphologischen Operationen werden die für die Rechtschreibung
relevanten Einheiten über die Durchgliederung des Wortes in Wortteile, also die
Segmentierung von Wortbausteinen, bestimmt. Nach der Durchgliederung in
Wortbausteine ergibt sich die Schreibung aus der Beachtung von stammbezogenen
Regeln (insbesondere die der Morphemkonstanz) und über die Kenntnis von
Wortbildungsmorphemen (z.B. Vorsilben, Endungen):
Beispiel Verkäuferin:
• Verkäuferin gliedert sich in die Wortteile ver – käuf – er – in
(morphologische Operationen).
• Daraus ergeben sich ver statt *fer, er statt *err und in statt *en.
• (Ver)käuf kommt von (ver)kaufen (morphosemantische Operation),
daher äu.
26 Präziser muss von relativer Konstanz ge-
sprochen werden. Die Tatsache der systematischen Vokalvariation bei starken Verben (wie
etwa sprechen, sprachen, sprich, gesprochen) verdeutlicht durch lautliche Unterscheidung
die verschiedenen Zeiten und Personen, die ein
Sprecher meint.
32
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
An diesem Beispiel wird das Ineinandergreifen der morphosemantischen und der
morphologischen Zugriffe deutlich: Ohne das Erkennen des Stammes ist eine
Bedeutungszuschreibung nicht möglich und ohne Kenntnis der Bedeutung ist es
schwer möglich, den Stamm auch als solchen zu erkennen.
Beispiel Geburtstag:
• Geburtstag = Geburt – s – tag, also der „Tag der Geburt“:
• daher ts statt *z.
Das Gewinnen semantischer Transparenz erleichtert die Morphemsegmentierung
und die Kenntnis des Fugenmorphems „s“ erleichtert wiederum die morphematische Bedeutungserschließung.
Gemeinsam ist beiden Zugriffen, dem morphosemantischen und dem morphologischen, die analytische Durchdringung von Wortbildungen. Die morphematische
Strategie zielt also auf die Erzeugung von Transparenz der Wortbildungen. Komplex
gebildete Wörter wie Staubsauger, Verkäuferin oder Geburtstag sind für einen
Schreiber transparent, wenn er sie aufschließen und in seine Bausteine zerlegt denken kann. Darin zeigt sich ein Zusammenspiel von Struktur- und Bedeutungswissen, das sich u.a. orthographisch realisiert und ausdrückt.
Die (Selbst-) Instruktion für das „morphematische Schreiben“ könnte lauten:
„Gliedere die Wörter in ihre Bausteine,
suche nach verwandten Wortstämmen
und leite die Schreibung von diesen ab.“
Die Fähigkeit, komplexe Wörter nach Bausteinen zu durchgliedern, ist Voraussetzung für die Bestimmung der Einheiten, auf die sich orthographische Regelungen beziehen. Das Erkennen von Wortfamilien, das Wissen um Morphemkonstanz,
die Kenntnis von Flexionsformen, das Zurückgreifen auf Grundformen – dies alles
erfordert und fördert das gesamte Sprachwissen und -können. Damit ist diese Strategie die umfassendste und weitreichendste. Schreiber, die dieses Wissen haben,
können im Zweifelsfall orthographisch relevante Verfahrensweisen anwenden, um
die Schreibweise eines Wortes richtig zu entscheiden.27
ó Wortübergreifende Strategie
Beim Schreiben von Sätzen und Texten müssen weitere linguistische Aspekte beachtet werden, die nicht nur einzelwortbezogen geregelt sind. Dazu gehören u.a. die
Wortart (für die Herleitung der Groß- bzw. Kleinschreibung), die Wortsemantik
27 Streng genommen weiß erst jemand, der
beim Schreiben die morphematische Strategie
anwendet, was er eigentlich redet, denn erst
dann schreibt er, was er über die Wörter denkt
(vgl. Grüning 1999).
33
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
(Zusammen- bzw. Getrenntschreibung), die Satzgrammatik (z.B. Kommasetzung,
„dass“-Schreibung), die Verwendungsart des Satzes (z.B. als wörtliche Rede) und die
grammatische Kongruenz (formale Abstimmung der Deklination (z.B. „in hohem
Bogen“, „zum ersten“).
Die Schreibung der einzelnen Wörter bzw. der Satzzeichen muss dabei unter Einbeziehung größerer sprachlicher Einheiten (Satzteil, ganzer Satz, Textpassage)
bestimmt werden. Entsprechend fassen wir die dafür notwendigen Zugriffsweisen
unter dem Begriff der „wortübergreifenden Strategie“ zusammen. 28
1.5.2 Wechselbeziehungen
zwischen den Rechtschreibstrategien
Die im Abschnitt 1.5.1 wiedergegebene Reihenfolge der Rechtschreibstrategien entspricht bei den meisten Schülern ihrer Abfolge als dominante Strategien im Verlaufe des Schrifterwerbs. Zunächst dominiert die alphabetische Strategie beim Schreiben und kennzeichnet den erreichten Stand der Rechtschreibfähigkeit. Sie erweitert
sich zum orthographischen Schreiben, das in einem morphematischen Schreiben
als integrierende Strategie aufgeht. Dies lässt sich zeigen, wenn man die Schreibungen derselben Wörter von vielen Schülern in regelmäßigen Abständen über längere
Zeiträume hinweg vergleicht.
In welchen Zeiträumen die verschiedenen Strategien herausgebildet werden, wird
auch von der Art des Rechtschreibunterrichts beeinflusst. So schrieben beispielsweise Grundschulkinder in der DDR relativ früh nach morphematischen Gesichtspunkten, weil diese durch den Lehrgang frühzeitig besonders betont wurden (siehe
May 1995). Demgegenüber schreiben Kinder, die zunächst vorwiegend zum Verschriftlichen ihrer Artikulation anhand von Anlauttabellen angeregt werden, relativ
lange dominant alphabetisch. Gleichwohl eignen sich die meisten Kinder, wenn sie
genügend häufig lesen und schreiben, – in relativer Autonomie zum Unterricht – die
verschiedenen Strategien eigenaktiv und intuitiv auch dann an, wenn diese im Unterricht wenig explizit gefördert werden, denn die grundlegenden Schriftprinzipien
sind ja „den Wörtern eingeschrieben“.
Tabelle 1.5.1 zeigt die Entwicklung typischer Schreibungen des Wortes „Fahrrad“.
Bezogen auf fünf verschiedene Leistungsgruppen zeigt sich eine vergleichbare –
wenn auch zeitlich ganz unterschiedlich gestreckte – Lernentwicklung: vom verkürzten über das entfaltete alphabetische Schreiben zur Berücksichtigung orthographischer Elemente und schließlich zum morphematischen Schreiben.
28 Aspekte der „wortübergreifenden Strategie“
werden ab der HSP 4/5 erhoben. Allerdings
überprüft die HSP 4/5 lediglich elementare
Zugriffsweisen auf der Satzebene, die von vielen Kindern am Ende der Grundschule bereits
beherrscht werden, während die Sekundarstufenversionen HSP 5-9 (B) und HSP 5-9 (EK)
im Rahmen der wortübergreifenden Strategie
weiterführende Zugriffsweisen erfassen.
34
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
TABELLE 1.5.1: Abfolge typischer Schreibungen von „Fahrrad“
in verschiedenen Leistungsgruppen
L E I S T U N G S G R U P P E 29
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klassenstufe
I
II
III
IV
V
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 1:
fa--rat
fa--rat
fa--r-t
f---r-t
------Mitte
fa--rat
f-----––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 1:
fa--rat
fa--rat
fa--rat
fa--rat
f-----t
Ende
fa--rad
f---r-t
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 2:
fa--rad
fa--rat
fa--rat
fa--rat
fa--r-t
Mitte
fa--rad
fa--rat
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 2:
fah-rad
fa--rad
fa--rat
fa--rat
fa--rat
Ende
fahrrad
fah-rad
fa--rad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 3:
fahrrad
fah-rad
fa--rad
fa--rat
fa--rat
Mitte
fa--rad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 3:
+
fah-rad
fah-rad
fa--rad
fa--rat
Ende
fahrrad
fah-rad
fa--rad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 4:
+
fahrrad
fahrrad
fah-rad
fa--rad
Mitte
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 4:
+
+
+
fah-rad
fa--rad
Ende
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 5:
+
+
+
fah-rad
fa--rad
Ende*
fahrrad
fah-rad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 7:
+
+
+
fah-rad
fah-rad
Ende*
fahrrad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Klasse 9:
+
+
+
fah-rad
fah-rad
Ende*
fahrrad
fahrrad
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
* Ab Klasse 5: „Fahrrad“ im Kompositum „Fahrradschloss“.
29 Die fünf Leistungsgruppen setzen sich folgendermaßen zusammen: Gruppe I: 25 Prozent
leistungsstärkste Schreiber; Gruppen II und III:
jeweils 25 Prozent des oberen bzw. unteren
Durchschnitts; Gruppen IV und V: 25 Prozent
schwächste Schreiber; darin enthalten Gruppe
V: 5 Prozent schwächste Schreiber. Die Daten
stammen aus der Hamburger Längsschnittuntersuchung von Klasse 1 bis 6 sowie aus den
Querschnittuntersuchungen der Klassen 7 und
9. Zum Verfahren, wie typische Schreibungen
ermittelt werden, und zu weiteren typischen
Schreibungen siehe May (1990).
35
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Für den Erwerb der jeweils „höheren“ Strategie ist es erforderlich, dass der Lerner
zuvor die elementarere(n) Strategie(n) häufig angewendet hat, so dass diese bereits
ein gewisses Fertigkeitsniveau erreicht haben. Erst die zunehmende Beherrschung
und Sicherheit bisheriger Zugriffsweisen schafft die Grundlage für das Befassen mit
neuen Teilaspekten des Rechtschreibens und deren Berücksichtigung bei der
Wortrekonstruktion. Gleichzeitig wird die vorangehende Strategie auch nach Aufnahme einer neuen Strategie weiterhin entfaltet, vervollkommnet und „automatisiert“. Es besteht also ein dialektischer Zusammenhang zwischen den Rechtschreibstrategien: Die elementareren Strategien werden durch die weiterreichenden Strategien nicht einfach abgelöst, sondern „aufgehoben“, d.h. aufgenommen und weitergeführt und schließlich organisch zu einer vielschichtigen und flexiblen Gesamtstrategie verbunden. Die einzelnen Strategien lassen sich dann nurmehr analytisch
trennen. Kompetente und geübte Schreiber wissen schließlich meist nicht einmal
mehr, wie sie eigentlich zur richtigen Schreibung gekommen sind. Nur bei besonders schwierigen Schreibungen greifen auch sie gezielt auf einzelne operative Verfahren zurück (siehe auch Abschnitt 5.3).
Das allmähliche Zusammenwachsen der einzelnen Rechtschreibstrategien wird
durch die Ergebnisse der Längsschnittanalysen belegt. Am Anfang der Lernentwicklung werden die verschiedenen Strategien relativ unabhängig voneinander beim
Rechtschreiben verwendet. Die Schreiblerner setzen bei verschiedenen Schreibaufgaben jeweils unterschiedliche Strategien ein. Bei ungestörter Lernentwicklung sind
sie immer besser in der Lage, die einzelnen Strategien aufgabenbezogen zu adaptieren, zu kombinieren und aufeinander zu beziehen, so dass die einzelnen Strategien
immer mehr zu einer einzigen komplexen, „multioperationalen“ Gesamtstrategie
zusammenwachsen.
Bei allen Lernern zeigt sich die Aneignung einer neuen Rechtschreibstrategie zunächst in deren unzureichend spezifizierten und darum fehlerhaften Anwendung.
Dies lässt sich für alle Phasen der Schreibentwicklung belegen:
• In der Phase, in der die Kinder Wörter vorwiegend lautorientiert
verschriftlichen, findet man nicht selten
– das besondere Betonen (Spannen) von Explosivlauten (*katn für
„Garten“, *ropa für „Räuber“) oder auch
– das Anreichern der Phonemfolgen durch zusätzliche Lautbezeichnungen (*raeitaer für „Reiter“, *rouibar für „Räuber“, *kham für
„Kamm“).
• In der Phase des Überformens der alphabetischen Verschriftlichung
durch geläufige Rechtschreibmuster kommt es häufig zu deren unspezifizierter („übergeneralisierender“) Anwendung (*sofer für „Sofa“,
*limonarde für „Limonade“).
36
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
• Die Phase der Übernahme spezifischer Rechtschreibregelungen ist
gekennzeichnet durch einen oft „inflationären“ Gebrauch orthographischer Elemente, etwa das häufige Bezeichnen der Vokalkürze und
-länge (z.B.*munnd für „Mund“, *fehrnseher für „Fernseher“).
In der Übergangszeit können die neuen Zugriffsweisen die vorher verfügbare Rechtschreibstrategie so weit überlagern, dass der Anteil normgerechter Schreibungen
vorübergehend sinkt. Insbesondere schwache Schreiber zeigen häufig große Niveauunterschiede bei verschiedenen Wortschreibungen: Während sie bei einigen Wörtern orthographische Elemente und Rechtschreibregeln korrekt verwenden, schreiben sie andere Wörter nur lautorientiert oder sogar bruchstückhaft.30
Auch wenn sich bei den meisten Schülern eine zeitliche Aufeinanderfolge ihres
Erwerbs zeigt, ist das Verhältnis der verschiedenen Strategien zueinander nicht primär und durchgängig als „leichter“ bzw.„schwieriger“ zu kennzeichnen. So gelingen
einfache orthographische Elemente und morphematisch begründete Schreibungen
bereits, lange bevor schwierige Wortstellen nach der alphabetischen Strategie richtig rekonstruiert werden. Doch unterscheiden sich die Strategien deutlich hinsichtlich der Reichweite ihrer Anwendbarkeit und des kognitiven Aufwandes beim
Erschließen von relevanten Merkmalen: Die jeweils weiterreichende und damit
höhere Rechtschreibstrategie ermöglicht mit geringerem kognitiven Aufwand die
Erfassung und Speicherung größerer schriftsprachlich relevanter Einheiten. Jede
Strategie erfordert spezifische kognitive Operationen, die beim Schreiben von Wörtern und Texten aufeinander aufbauen, sich ergänzen und gegenseitig stützen.
Die verschiedenen Rechtschreibstrategien greifen beim realen Schreiben in komplexer Weise ineinander: Elementarere Strategien bereiten die Aneignung „höherer“
Strategien vor, und die Anwendung weiterführender Strategien ermöglicht auch, die
bereits beherrschten Zugriffsweisen zu spezifizieren und zu optimieren.
Beispiele dafür, wie elementarere Strategien höhere Strategien vorbereiten und
deren Anwendung erleichtern:
• Die logographemische Strategie ermöglicht die richtige Schreibung
von Wörtern bzw. Wortteilen mit orthographischen Elementen (z.B.
bei häufigen Funktionswörtern wie „die“, „und“), auch wenn noch kein
spezifisches Wissen über orthographische Prinzipien erworben ist.
30 Insofern ist für die Einzelfallanalyse neben
der höchsten bereits realisierten Zugriffsweise
(im Sinne einer „erreichbaren Zone“) immer
auch das niedrigste Niveau (im Sinne der „noch
aktuellen Auseinandersetzung“) zu beachten
(vgl. die „Minimum-Maximum“-Auswertung
in Balhorn & Vieluf 1990).
37
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
• Die alphabetische Strategie ist erforderlich bei der Entscheidung, ob
zusätzliche Buchstaben ohne Lautwert geschrieben werden sollen oder
nicht (z.B. nach langen und kurzen Vokalen), auch ist die Beachtung
der Auslautverhärtung nicht ohne Lautbezug möglich (Hund wg.
/hunde/).
• Die Schreibung ableitbarer Wortstellen (Auslautverhärtung, Umlautung) erfolgt zunächst einzelwortspezifisch (quasi logographemisch).
Durch Verallgemeinerung des Stammprinzips können jedoch in der
Folge strukturgleiche Wörter immer nach diesem Prinzip geschrieben
werden, so dass die einzelne Schreibung nicht mehr „gemerkt“ werden
muss.
Beispiele dafür, wie eine höhere Rechtschreibstrategie die Weiterentwicklung elementarer Strategien fördert:
• Die Differenzierung von kurzen Vokalen wird beim alphabetischen
Schreiben durch die Kenntnis von orthographischen Modifizierungen
des Lautprinzips (*Munt statt *Mont) oder durch morphematische
Segmentierung (Lehrer/in statt *Lehrer/en) erleichtert oder sogar erst
ermöglicht, da sich unter dem Einfluss der höheren Rechtschreibstrategie die elementarere Strategie ausdifferenziert (sog. „Rechtschreibsprache“, die auf die orthographisch relevanten Aspekte der Lautung
Bezug nimmt).
• Ebenso wird das orthographische Schreiben durch das Wissen um
Wortbausteine und Wortbedeutungen wesentlich erleichtert; dazu
gehören z.B. die Regel, dass Länge- und Kürzezeichen nur im Wortstamm markiert werden31, oder die Differenzierung der Schreibung
von Homonymen nach der Wortbedeutung bzw. der Morphemgrenze
(vgl. die Schreibung von Kante – kannte).
• Auch das logographemische Schreiben wird durch die Kenntnis höherer Rechtschreibstrategien erleichtert. So fördert die Kenntnis häufig
vorkommender Wortteile das Ausgliedern von „Merkeinheiten“, und
die Kenntnis von Übergangswahrscheinlichkeiten der Buchstaben
stützt die Schreibkontrolle (z.B. folgen <tz> und <ß> nie auf Konsonanten und stehen nie am Wortanfang, und <gg> steht nie am Wortende).
In verschiedenen Phasen der Lernentwicklung werden die gleichen Rechtschreibstrategien beim Schreiben derselben schriftsprachlichen Phänomene durchaus auf unterschiedliche Weise in Anspruch genommen: Werden orthographische
31 Ausnahmen bilden Verdopplungen in den
Endungen -innen und -isse.
38
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Elemente zunächst wortspezifisch gemerkt, folgt der Schreiblerner in einer späteren
Phase verallgemeinerbaren Regeln, und zu einem noch späteren Zeitpunkt wird das
Verwenden orthographischer Elemente bei manchen vertrauten Wörtern so selbstverständlich, dass der Schreiblerner sie gleichsam „automatisch“ setzt (siehe Abschnitt 5.3).
Am Beispiel der Schreibungen des Wortes „Fahrrad“ lässt sich zeigen, wie sich die
Beziehungen zwischen dem Schreiben der einzelnen Wortstellen und den Rechtschreibstrategien, die dem Schreiblerner bereits zur Verfügung stehen, verändern.
Während das <f> und das zweite <a> bereits am Ende des ersten Schuljahres von
fast allen Kindern richtig geschrieben werden, können die meisten Kinder die
orthographischen Elemente <ah> und <d> sowie die Morphemverbindung <rr>
noch nicht erfassen (siehe Tabelle 1.5.2). Die Korrelationen dieser nicht-alphabetisch zu schreibenden Stellen zu den jeweiligen Werten für die „orthographische“
und für die „morphematische“ Rechtschreibstrategie sind am Ende des ersten
Schuljahres relativ hoch (zwischen .37 und .53). Das bedeutet, dass diese Stellen die
mit ihnen theoretisch gefassten Strategien auch faktisch repräsentieren.
TABELLE 1.5.2: Zusammenhänge zwischen dem Verschriftlichen der Wortstellen
von „Fahrrad“ und dem Grad der Beherrschung der Rechtschreibstrategien am Ende von Klasse 1 und Klasse 4 32
Ende der ersten Klassen (n = 408)
Ende der vierten Klassen (n = 426)
Korrelation mit
Korrelation mit
Wortstelle
richtig
„alphabetischer
Strategie“
„orthographischer
Strategie“
„morphematischerStrategie“
Wortstelle
richtig
„alphabetischer
Strategie“
„orthographischer
Strategie“
„morphematischerStrategie“
fahrrad
94
.09
.02
.03
99
.07
.05
.06
fahrrad
17
.30
.53
.29
97
.17
.22
.20
fahrrad
16
.33
.40
.43
84
.28
.37
.57
fahrrad
90
.22
.10
.13
99
.21
.14
.20
fahrrad
29
.30
.27
.37
98
.08
.10
.13
32 Die Daten entstammen der Hamburger
Längsschnittstichprobe (siehe May 1990). Zu
beiden Zeitpunkten wurde das Beherrschen
der drei Rechtschreibstrategien anhand derselben bzw. ähnlicher Wörter bestimmt: Blätter,
Brief(träger), Fahrradschloß/ss, Handtuch,
(Bank-) Räuber, Spinne(nnetz), Staubsauger, verkleidet bzw. Verkäuferin, Windmühle, Zähne. Zur
Bestimmung der Kennwerte für die Rechtschreibstrategien siehe Abschnitt 1.5.4.
39
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Gegen Ende der vierten Klasse gibt es nur noch wenige Kinder, die Fehler bei den
Wortstellen <ah> und <d> machen. Allein das <rr> bereitet noch einem größeren
Teil der Kinder Schwierigkeiten, weil sie das Wort nicht als Kompositum erkennen.
Und auch nur noch das <rr> hat eine engere Beziehung zu den zu diesem Zeitpunkt
erfassten Rechtschreibstrategien, während die Wortstellen <ah> und <d> kaum
noch mit den Werten für die orthographische und morphematische Strategien korrelieren, also wenig von den damit erfassten Fähigkeiten repräsentieren.
Daraus folgt: Kinder schreiben ein Wort wie „Fahrrad“ am Ende der ersten und am
Ende der vierten Klasse nach unterschiedlichen Verfahren: Zu Beginn müssen drei
Wortstellen in besonderer Weise bemerkt und gemerkt (<ah>) bzw. durch Verlängerung und Ableitung der Wortstämme rekonstruiert werden (<d> und <rr>). Am
Ende der vierten Klasse dürften die Kinder das Wort – mit Ausnahme der Morphemverknüpfung <rr> – weitgehend „gekonnt“ schreiben. Daher differenziert das
Wort „Fahrrad“ am Ende der Grundschule erheblich weniger zwischen verschiedenen Graden der orthographischen Kompetenz als gegen Ende der ersten Klasse.
1.5.3 Zum Verhältnis von Rechtschreibstrategien
und orthographischen Phänomenen
Schon im Laufe des zweiten Schuljahres schreibt kaum ein Kind mehr ausschließlich an der eigenen Aussprache orientiert. Die Schüler verfügen über einen ständig
wachsenden „Geläufigkeitswortschatz“ aus Wörtern, über deren Schreibweise sie
normalerweise nicht mehr nachdenken, weil sie weitgehend automatisiert geschrieben werden. Dazu zählen Satzfunktionswörter (Artikel, Pronomen, Präpositionen,
Konjunktionen, zahlreiche Adverbien) und eine Vielzahl häufig geschriebener Substantive, Verben und Adjektive. Auch ist den meisten Kindern nach einiger Zeit das
erweiterte Buchstabeninventar vertraut, mit dem die Laute der gesprochenen Sprache schriftlich wiedergegeben werden (z.B. Doppelkonsonanten, Längezeichen), sie
befolgen die wichtigsten Regeln, die für das Schreiben deutscher Wortstämme sowie
geläufiger Fremdwörter gelten. Damit verfügen die Kinder zugleich über die wichtigsten Operationen, um angemessene Entscheidungen über die Schreibung jener
Wörter zu treffen, deren Schreibweise ihnen noch nicht (vollständig) vertraut ist.
Von den Wörtern des Geläufigkeitswortschatzes abgesehen, merken sich die Kinder
in der Regel nicht die Schreibweise ganzer Wörter, sondern sie entwickeln so etwas
wie „Listen“ orthographisch relevanter Merkmale von Wörtern, die sie „Musterwörtern“ zuordnen. Von diesen Musterwörtern ausgehend, wenden sie Operationen
auf weniger vertraute bzw. unbekannte Wörter an, um deren Schreibweise zu rekonstruieren (vgl. Balhorn & Vieluf 1985). Beim einzelnen Wort wird häufig nicht nur
eine einzige Operation vollzogen, sondern es werden mehrere Operationen aufeinander bezogen, je nach Komplexität der zu treffenden Entscheidung (vgl. May
1993).
40
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Deshalb gibt es auch große Unterschiede hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, mit
der ein und dasselbe orthographische Phänomen (z.B. die Längenbezeichnung des
/i/) in verschiedenen Wörtern erkannt und realisiert wird. So ist z.B. die Wahrscheinlichkeit für die Richtigschreibung der Wörter „Fahrrad“ bzw. „Verkehr“
erheblich niedriger, wenn sie nicht allein, sondern als Teile eines komplexeren Wortes („Fahrradschloss“ oder „Verkehrsschild“) geschrieben werden (siehe Tabelle
1.5.3). Für die Wahrscheinlichkeit der Richtigschreibung des einzelnen Phänomens
ist demnach neben der relevanten Rechtschreibstrategie die Einbettung in die
Umgebung eines Wortes (und ggf. des Satzes und sogar des Textes) entscheidend.33
TABELLE 1.5.3: Wort(teil)schreibungen in unterschiedlich komplexen
Aufgabenstellungen (Ende Klasse 4)
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Wort(teil) richtig
(ohne Großschreibung)
Großschreibung am
Wortanfang richtig
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
„das Verkehrsschild“
33,3 %
97,5 %
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
„Polizisten regeln den Verkehr.“
48,1 %
84,4 %
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
„Der Polizist knackt das Fahrradschloss.“
52,6 %
93,6 %
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
„Wimpel flattern am Fahrrad.“
70,1 %
96,1 %
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Wertet man die Schreibungen der Schüler nur hinsichtlich der beherrschten bzw.
noch nicht beherrschten orthographischen Phänomene aus, wie es noch in vielen
Diagnoseverfahren geschieht, so erfasst man nur die Oberfläche der ihren Schreibungen zugrunde liegenden Zugriffsweisen und vernachlässigt die Einbettung der
Phänomene in unterschiedlich komplexe Umgebungsbedingungen. Die Kenntnis
der verschiedenen orthographischen Phänomene und Regelungen ist zwar eine Voraussetzung für richtiges Schreiben, doch erfordert orthographische Kompetenz
mehr als das Merken von orthographischen Elementen und die Anwendung von
Regeln. Erst Morphologie und Morphematik bestimmen die Geltung der orthographischen Regelungen im Einzelnen. Deshalb ist die Erzeugung von Transparenz der
Wortbildungen – also Sprachanalyse – ein wichtiger Teil der Rekonstruktion der
33 Siehe ausführlich May (1993). Hierzu finden sich auch zahlreiche Beispiele von – oberflächlich betrachtet – identischen Rechtschreibphänomenen in verschiedenen Wörtern der
HSP-Versionen, die zum gleichen Zeitpunkt
teilweise sehr unterschiedlich häufig richtig
geschrieben werden, in den Listen „ST ...“ im
Anhang. Dort sind die prozentualen Häufigkeiten, mit der die Wortstellen in den verschiedenen Klassenstufen richtig geschrieben werden,
angegeben.
41
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Schreibungen. Ein nur auf orthographische Phänomene ausgerichtetes Rechtschreibtraining würde schon aus diesem Grunde zu kurz greifen. Mit der Bündelung
der auf einzelne orthographische Elemente und Regeln gerichteten Operationen zu
übergreifenden Strategien versuchen wir die grundlegenden Zugriffsweisen auf die
Schrift zu fassen, die es in der Förderung anzuregen und zu stützen gilt.
1.5.4 Zur Erfassung der Rechtschreibstrategien
Mit der Hamburger Schreibprobe werden die Schreibergebnisse analysiert, der Prozess des Schreibens selbst und die geistige Tätigkeit der Schüler ist direkt nicht
zugänglich. Auf diese kann nur durch Interpretation der Produkte geschlossen werden. Abgesehen von Verfälschungen der Ergebnisse, beispielsweise durch Abschreiben, können die Schreibungen von Wörtern individuell sehr unterschiedlich
zustande kommen. Wo der eine Schreiber sich die Wortstelle schlicht „gemerkt“ hat,
nutzt eine andere Schreiberin eine Folge von Operationen. Wir können deshalb im
Einzelfall nicht unmittelbar von einer bestimmten Schreibung auf die zugrunde liegende Rechtschreibstrategie schließen. In der Summe der vielen verschiedenen in
der Hamburger Schreibprobe enthaltenen anspruchsvollen Wortstellen, die sich in
„ungeübten“ Wörtern auf eine bestimmte Weise rekonstruieren lassen, können wir
aber mit hinreichender Sicherheit auf die entwickelte Fähigkeit des Kindes schließen, bestimmte Strategien nutzen bzw. noch nicht nutzen zu können.
Für die wortbezogenen Rechtschreibstrategien („alphabetisch“, „orthographisch“,
„morphematisch“) sowie die „wortübergreifende Strategie“ (ab HSP 4/5 erfasst)
können mit Hilfe der Hamburger Schreibprobe Leistungsniveaus bestimmt werden.
Dies wird dadurch möglich, dass die Auswertung der Hamburger Schreibprobe
hauptsächlich auf der Basis der Phonem-Graphem-Zuordnungen erfolgt. Denn um
bestimmte Wörter richtig schreiben zu können, müssen häufig mehrere Strategien
gleichzeitig eingesetzt werden (vgl. das Beispiel „Fahrrad“ in Abschnitt 1.5.2).
Würde man Rechtschreibstrategien auf der Basis der Schreibung ganzer Wörter
erfassen wollen, so müssten Wörter gewählt werden, die die einzelnen Strategien in
„reiner Form“ abfordern. (Die Nachteile solcher Reduktionen zeigen die häufig eintönigen Fibel- oder Übungswortschätze.) So aber können beliebige gehaltvolle
Wörter, die dem altersgemäßen Wortschatz der Schüler entsprechen und die verschiedenartige orthographische Schwierigkeiten enthalten, differenziert nach den
relevanten Rechtschreibstrategien ausgewertet werden.
Aus dem umfangreichen Gesamtkorpus der in den Erhebungen verwendeten
Schreibwörter wurden solche ausgewählt, die die wichtigsten orthographischen
Phänomene enthalten und unterschiedliche Rechtschreibstrategien abfordern (vgl.
Abschnitt 1.4).
Um die Zuordnung der verschiedenen schriftsprachlichen Phänomene zu Rechtschreibstrategien praktikabel und für die Versionen der Hamburger Schreibprobe
42
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
für die verschiedenen Klassenstufen einheitlich zu gestalten, wurden die folgenden
zwei Prinzipien zugrunde gelegt und daraus Richtlinien für die Zuordnung der einzelnen Wortstellen zu den Rechtschreibstrategien bestimmt.
˘ Eine Wortstelle wird nur einer einzigen Rechtschreibstrategie
zugeordnet.
Trotz der Tatsache, dass an der Darstellung des einzelnen Phänomens mehrere Strategien beteiligt sein können, wird eine Wortstelle jeweils nur einer einzigen Strategie zugeordnet.
So lassen sich prinzipiell alle Wortstellen nach der alphabetischen Strategie schreiben, aber das alphabetische Verschriftlichen von Wortstellen, bei denen normalerweise andere Strategien erforderlich sind, wird durch die vermutete Inanspruchnahme einer anderen Strategie beeinflusst. Aus diesem Grund werden alle Wortstellen, die einer anderen Strategie zugeordnet werden, nicht auch noch alphabetisch
bewertet. Dadurch werden mögliche Strategie-Interferenzen für die Auswertung
weitgehend vermieden.
Ebenso können alle Grapheme, weil sie stets Teil eines Morphems sind, nach der
morphematischen Strategie geschrieben werden. Dies trifft besonders auf Wortstellen zu, die Teil eines Suffixes (Vorsilbe, Endung) sind, wie z.B. Verkäuferin oder
Lehrerin. Hier wird die artikulatorisch schwierige Unterscheidung des Kurzvokals
(/i/ vs. /e/) durch Kenntnis des entsprechenden Morphems (-in) unterstützt bzw.
geklärt. Umgekehrt ist nicht auszuschließen, dass die Schreibung von ts in einem
Wort wie Geburtstag im Einzelfall auch ohne Rückführung auf die Morpheme
„Geburt“ und „Tag“ plus Fugen-s zustande kommt. Jedoch ist eine sichere Ableitung
der normgemäßen Schreibung ohne das Erfassen der im Wort enthaltenen Bedeutungen nur schwer möglich.
˘ Gleichartige Phänomene werden stets nur einer Strategie zugeordnet.
Da die Hamburger Schreibprobe in den verschiedenen Jahrgangsversionen dem Ziel
dienen soll, Lernfortschritte zu dokumentieren, wurden gleichartige Phänomene
nicht verschiedenartigen Strategien zugeordnet, obwohl dies aus linguistischer Sicht
im Einzelfall nahe gelegt würde.
Dies betrifft insbesondere die Phänomene der Auslautverhärtung und Umlautableitung: In den einfachen Fällen (z.B. Blätter, Hand) ist zur Ableitung der orthographischen Elemente eine morphematische Operation nicht zwingend erforderlich. Es genügt das Verlängern (Hände) bzw. die Bildung der Singularform (Blatt),
um auf die richtige Schreibung der Aus- bzw. Umlautung zu schließen. In diesen
Fällen wären die beiden Phänomene in engem Verständnis als geregelte
orthographische Elemente aufzufassen und theoretisch der „orthographischen Strategie“ zuzuordnen. Anders ist dies bei Wörtern wie Verkäuferin, Staubsauger oder
Schiedsrichter. Bei derartigen Wörtern muss zunächst der Stamm erschlossen wer-
43
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
den, bevor solche Operationen wie Verlängern und Bildung der Grundform greifen
können. Diese Wortstellen repräsentieren die „morphematische Strategie“. Aber
auch schon solche Operationen wie das Verlängern (Hand wegen Hände) oder die
Bildung der Grundform eines Wortes (Blätter wegen Blatt) beinhalten bereits eine
Bezugnahme auf den Stamm und bilden deshalb eine Art „Keimform“ der morphematischen Strategie, die später in komplexeren Morphemsegmentierungen und
Stammableitungen aufgehoben und erweitert wird.
Deshalb haben wir uns entschlossen, die orthographischen Phänomene „Umlautableitung“ und „Auslautverhärtung“ insgesamt der morphematischen Strategie zuzuordnen. Auf dieser Grundlage können Vorformen des morphematischen Schreibens schon ab Mitte des ersten Schuljahres mit Hilfe der Hamburger Schreibprobe
erfasst werden. Allerdings haben wir bei den Versionen der Hamburger Schreibprobe ab dem vierten Schuljahr unter die „Lupenstellen“ für die morphematische Strategie solche „einfachen“ Auslaut- und Umlautableitungen (wie in Blätter und Bild)
nicht aufgenommen, sondern nur Stellen mit komplexeren Ableitungen (wie Verkäuferin, Schiedsrichter) als Lupenstellen bestimmt. Bei schwächeren Rechtschreibern kann es aber durchaus noch von Interesse sein zu ermitteln, inwieweit sie die
„einfachen“ Vorformen für die morphematische Strategie in Wörtern wie Fahrrad
oder Blätter beherrschen.
Die Zuordnungen der Wortstellen zu Rechtschreibstrategien wurden theoretisch
bestimmt (siehe Abschnitt 1.5.1). Dabei haben wir uns jedoch nicht nur auf relativ
einfach zu klärende Phänomene (wie z.B. Länge- oder Kürzezeichen) beschränkt,
sondern haben eine vollständige Zuordnung aller Phänomene vorgenommen.
Damit legen wir nicht nur einheitliche Richtlinien für die Auswertung fest, um die
Objektivität des Tests zu gewährleisten, sondern stellen zugleich ein Modell vor, das
auch für die Analyse der Schreibungen beliebiger Wortschätze Anwendung finden
kann, die in vorgegebenen oder in freien Texten geschrieben werden. Dass es dabei
mitunter zu problematischen Kategorisierungen kommt (z.B. Familie), liegt in der
Natur des Gegenstandes. Die theoretisch gesetzten Zuordnungen wurden empirisch
überprüft. Das Ergebnis der Korrelationsanalyse – die Wortstellen korrelieren mit
derjenigen Rechtschreibstrategie, der sie zugeordnet wurden, höher als mit einer
anderen Rechtschreibstrategie – bestätigt das Ergebnis der theoretischen Analyse.34
˘ Richtlinien für die Zuordnung der einzelnen Wortstellen zu den Rechtschreibstrategien:
Der alphabetischen Strategie werden alle Wortstellen zugeordnet, deren Schreibung mit Hilfe der Artikulation grundsätzlich geklärt werden kann.
34 Die Zuordnungen der Wortstellen in den
einzelnen HSP-Versionen zu den Rechtschreibstrategien und die Korrelationen zwischen den
Wortstellen und den verschiedenen Strategien
sind in den Tabellen ZRS 1 bis ZRS 5-9 sowie
ST 1 bis ST 5-9 im Anhang dargestellt.
44
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Dazu gehören auch Buchstabenkombinationen (z.B. Stein, Rollschuhe, schimpft),
Kurzvokale (z.B. Regenwurm anstelle von *-worm) und sehr häufige SprechSchreib-Muster (z.B. Blätter). Solche Laut-Buchstaben-Zuordnungen sind in frühen Stadien der Lernentwicklung schwierig zu realisieren und stellen lernpsychologisch gewissermaßen eine Vorform orthographischer Elemente dar. Jedoch
können auch solche Wortstellen, deren Schreibung artikulatorisch schwierig zu klären ist, durch eine entsprechend geschulte Sprechweise („Rechtschreibsprache“ oder
„Pilotsprache“; vgl. Betz & Breuninger 1987) erschlossen und mit Hilfe der bekannten Buchstaben und Buchstabenkombinationen richtig geschrieben werden.
Im grundsätzlichen Unterschied dazu können spezifisch orthographische Elemente
nicht ausschließlich alphabetisch geklärt werden. So ist beispielsweise die Umlautschreibung ä und äu in ableitbaren Wortstämmen nicht ausschließlich alphabetisch
zu bestimmen – wenn auch die Lautsprache bei der Ableitung des Wortstammes
erforderlich ist. D.h., die alphabetische und die morphematische Strategie führen zu
verschiedenen Graphemen (z.B. *Roiber oder *Reuber vs. Räuber).
Der orthographischen Strategie werden alle Wortstellen zugeordnet, die einerseits
nicht allein mit Hilfe der alphabetischen Strategie darstellbar sind und die andererseits nicht zwingend die Beachtung morphematischer Regelungen erfordern. Dazu
gehören folgende orthographische Elemente:
Merkelemente
•
•
•
•
•
Längezeichen (ie, ih, ah, oo usw.),
x (weil mehrfach repräsentierbar: x, chs, ks, cks, gs),
qu (weil alphabetisch kw darstellbar),
v in Wörtern wie Vater, vor (nicht jedoch in Präfixen wie ver-)
ß als Zeichen für das scharfe (stimmlose) /s/ wie in Gießkanne, da das
gleiche Phonem alphabetisch auch durch <s> bezeichnet werden kann
(Gras).
Regelelemente
• sp-/st-Schreibung am Wort-/Stammanfang,
• Kürzezeichen (Konsonantenverdopplung, ck, tz).35
Der morphematischen Strategie werden alle Stellen zugeordnet, deren Schreibung
die Beachtung morphosemantischer bzw. morphologischer Aspekte erfordert. Dazu
gehören
35 Die Kürzebezeichnung ist viel stärker als
die Längebezeichnung regelhaft, kann also analytisch operativ erschlossen werden. Die Schreibungen be/komm/t, knack/t oder Päck/chen sind
durch eine morphematische Analyse und durch
die Regel der Konsonantenverdopplung eindeutig zu erschließen. Wir haben jedoch aufgrund
von lernlogischen Überlegungen davon
Abstand genommen, die Kürzebezeichnung
der morphematischen Strategie zuzuordnen.
Im Unterschied dazu, aber ebenso aus lernlogischen Gründen, wurden die unterschiedlich
komplexen Fälle von Umlautableitung und
Auslautverhärtung im Ganzen der morphematischen Strategie zugeordnet.
45
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
• die Schreibung von Vorsilben, soweit sie eine lautabweichende Schrei•
•
•
•
bung erfordern (z.B. Verkäuferin),
die Schreibung aufeinander folgender gleicher Buchstaben bei Komposita, die lautsprachlich zusammenfallen (z.B. Fahrrad),
die Schreibung von Wortfugen, die nach der alphabetischen Strategie
auch anders geschrieben werden können (z.B. Geburtstag statt
*Geburztag),
Umlautableitung (z.B. Blätter, Verkäuferin)
Auslautverhärtung (z.B. Handtuch, Staubsauger).
Der wortübergreifenden Strategie werden neben den Satzzeichen selbst auch jene
Wortschreibungen zugeordnet, bei deren Klärung wortübergreifende Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen bzw. bei denen die Berücksichtigung der
grammatischen Position die Entscheidung für eine bestimmte Schreibung wesentlich stützt. Dazu gehören u.a.
• Satzzeichen, z.B. Gliederungs-, Frage- und Anführungszeichen
• Herleitung der Groß- bzw. Kleinschreibung (z.B. der doofe Computer,
Mann – man)
• Zusammen- bzw. Getrenntschreibung
• grammatisch bestimmte Endungen (z.B. „in/m hohem/n Bogen“,
„mit dem Schiedsrichter“36)
Die hier vorgenommene Operationalisierung der Graphemtreffer sowie der Lupenstellen für die einzelnen Rechtschreibstrategien wurde in mehreren Studien an verschiedenartigen Textsorten (Diktatschreibungen, Rechtschreibtests, Aufsätze)
erprobt.37 Dabei erwies sich die Praktikabilität des Modells der strategiebezogenen
Auswertung. Anhand der hier vorgeschlagenen Operationalisierung der Rechtschreibstrategien können demnach auch andere Schreibungen der Schüler, beispielsweise in selbst verfassten Texten oder Klassendiktaten, kategorisiert und nach
den Strategien ausgewertet werden (siehe May 1999a). Voraussetzung ist lediglich,
dass die Texte genügend Wörter mit verschiedenartigen schriftsprachlichen Phänomenen enthalten.
Gegenüber der strategiebezogenen Auswertung von Texten aus dem Unterrichtsalltag bietet die Hamburger Schreibprobe darüber hinaus neben der Systematik der
Wortauswahl den entscheidenden Vorteil, dass das erreichte Niveau der Schreibungen mit einer großen Stichprobe verglichen und Profile für die Beherrschung der
einzelnen Strategien bestimmt werden können. Daher wird empfohlen, zusätzlich
36 Obwohl das Wort „dem“ ausschließlich
alphabetisch zu erschließende Elemente enthält, ist die aus Lerner- bzw. Schreiberperspektive schwierige Unterscheidung zwischen „dem“
und „den“ wesentlich grammatisch bestimmt,
so dass die Berücksichtigung der Satzkonstruk-
tion für die Schreibung mitentscheidend ist.
Infolgedessen ordnen wir derartige Phänomene
nicht der alphabetischen Strategie, sondern
den wortübergreifenden Zugriffsweisen zu.
37 Siehe dazu die Abschnitte 2.3 und 2.5 sowie
ausführlicher May 1985, 1994c.
46
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
zur regelmäßigen Analyse der „Gebrauchstexte“ in größeren Abständen (mindestens
einmal jährlich) auch die Hamburger Schreibprobe durchzuführen, um objektive
Anhaltspunkte für die Bestimmung der Lernstände der Schüler zu gewinnen.
1.5.5 „Lupenstellen“ zur Bestimmung der Strategiewerte
Um den Arbeitsaufwand bei der Auswertung der Hamburger Schreibprobe zu reduzieren, wurde für jede der Rechtschreibstrategien eine Auswahl von Wortstellen und
Satzzeichen getroffen, die als „Lupenstellen“ für die Strategien dienen (siehe die
Tabellen ZRS 1 bis ZRS 5-9 im Anhang). Die Anzahl der richtig geschriebenen
Lupenstellen für jede Rechtschreibstrategie bildet den jeweiligen „Strategiewert“.
Diese Werte kennzeichnen für jeden Schüler den Grad der Beherrschung der verschiedenen Strategien. Da nicht nur der Gesamtwert der Hamburger Schreibprobe,
sondern auch die Werte für die einzelnen Strategien eine ausreichend hohe Zuverlässigkeit besitzen (siehe Abschnitt 3.4), ist eine individuelle Profilauswertung
möglich.
Die Zahl der Lupenstellen für die verschiedenen Strategien bestimmt sich vor allem
aus der Notwendigkeit, genügend Stellen für eine individuell trennscharfe Bewertung zu gewinnen. Dies erwies sich insbesondere bei den Lupenstellen für die alphabetische Strategie in höheren Klassenstufen als schwierig, da bei den einzelnen
alphabetisch zu schreibenden Wortstellen für sich genommen nur noch sehr wenige
Fehler vorkommen. Daher wurden teilweise mehrere Graphemstellen zu einer „kritischen Wortstelle“ zusammengefasst.
Die Zuordnung der einzelnen Wortstellen zu den Rechtschreibstrategien sagt noch
nichts über die Schwierigkeit der zu schreibenden Phänomene aus. Die Auswahl der
Lupenstellen erfolgte unter verschiedenen Gesichtspunkten. Dazu gehört die Vermeidung von Wortstellen, die einer „Fehlerverlockung“ durch im Wort an anderer
Stelle auftretende Phänomene (z.B. *Fehrnsehprogramm, *Vehrkehrsschild) unterliegen. Auch wird in einigen Wörtern die Aufmerksamkeit durch vor- bzw. nachgestellte Schwierigkeiten gebunden und von eigentlich „leichten“ Stellen „abgezogen“
(siehe Abschnitt 1.5.3). Die Häufigkeit, mit der die einzelnen Wortstellen in den
Vergleichsgruppen richtig geschrieben wurden (sog. statistische Schwierigkeiten)
sind den Tabellen ST 1 bis ST 5-9 im Anhang zu entnehmen. Die dort zusammengestellten Angaben können helfen, auch die Schreibungen jener Wortstellen zu
interpretieren, die nicht als Lupenstellen für die Strategiewerte ausgewählt wurden.
So ist es beispielsweise mit Hilfe der Angaben in den Tabellen „ST-GT ...“ möglich,
die Sicherheit bei der Darstellung eines bestimmten orthographischen Phänomens
(z.B. Kürzezeichen) in verschiedener Einbettung (intersilbisch: Kanne, am Stammende: Kamm, im Stamm mit weiteren Konsonanten: kannst) festzustellen. Dies kann
helfen, den Lernerfolg nach einer entsprechenden Unterrichtseinheit in der Klasse
einzuschätzen.
47
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
HSP Manual 1-9
1.5.6 Die Interpretation der Strategieprofile
Wie im Abschnitt 1.5.1 ausgeführt, eignen sich die Kinder die Prinzipien der Schriftsprache schrittweise an, und üblicherweise bilden sich im Laufe der Lernentwicklung die hauptsächlichen Rechtschreibstrategien in der angegebenen zeitlichen
Abfolge heraus. Wie Abbildung 1.5.4 zeigt, werden die weiterführenden Strategien
bereits erprobt, noch bevor die alphabetische Strategie vervollkommnet ist.38
Diese Abfolge dominanter Strategien und ihre allmähliche Vervollkommnung gilt
grundsätzlich für Schüler mit ganz unterschiedlichem schriftsprachlichen Lerntempo und Leistungsvermögen (vgl. die Schreibungen des Wortes „Fahrrad“ in Tabelle
1.5.1). In diesem Sinne sind leistungsschwächere Rechtschreiber in der Regel vor
allem lernverzögerte Rechtschreiber, die sich die wichtigsten schriftsprachlichen
Prinzipien erheblich langsamer, aber auf prinzipiell gleiche Weise und in derselben
Abfolge aneignen wie gute Rechtschreiblerner.39
ABBILDUNG 1.5.4: Prozentuale Anteile richtig geschriebener Wortstellen, ent-
sprechend den drei Rechtschreibstrategien „alphabetisch“ (A),
„orthographisch“ (O) und „morphematisch“ (M), am Ende der
ersten, zweiten und vierten Klasse 40
Richtige
Lupenstellen
in Prozent
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
A
O
M
A
Klasse 1
O
Klasse 2
M
A
O
M
Klasse 4
Zwischen guten und schwachen Rechtschreiblernern gibt es jedoch nach den Ergebnissen zahlreicher Längsschnittuntersuchungen auch deutliche Unterschiede. Bei
Kindern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen, die im frühen (schrift-) sprachlichen Unterricht nicht genügend Grundlagen erworben haben, wenig Motivation
38 Verstöße gegen die alphabetische Schreibung kommen durchaus auch in höheren Klassenstufen noch vor, allerdings vorwiegend bei
schwächeren Schreibern und natürlich weniger
häufig als Fehler bei anderen Rechtschreibstrategien.
39 Siehe dazu ausführlicher May 1990, 1993.
40 Das Ausmaß der Beherrschung der drei
Rechtschreibstrategien wurde anhand folgender
zehn Wörter ermittelt, die in allen Klassenstufen der Grundschule erhoben wurden: Blätter,
Briefmarke, Fahrrad, Handtuch, (Bank)Räuber,
Spinne(nnetz), Staubsauger, Verkäuferin,
Windmühle, Zähne.
48
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
zum Lesen und Schreiben entwickeln oder im außerschulischen Bereich zu wenig
Anregungen finden, zeigen sich häufig auch umfassende Störungen der Lern- und
Persönlichkeitsentwicklung, die nicht nur als Lernverzögerung zu verstehen sind.41
Als Anzeichen für Störungen der Lernentwicklung können vor allem folgende Phänomene interpretiert werden:
• Sog. Pseudoschreibungen („willkürliche Schreibungen“), bei denen
die Schreibung vermutlich nicht durch die Anwendung von schriftspezifischen Strategien zustande kommt, sondern eher als ein „So-tunals-ob“ zu interpretieren ist (z.B. *FUUTA für „Blätter“ oder perseverierte Buchstabenfolgen wie *kxkx). Solche Schreibungen, die allerdings in höheren Klassenstufen kaum noch vorkommen, signalisieren
die psychische Notlage eines schreibversagenden Kindes, das gleichwohl etwas Vorzeigbares zu Papier bringen möchte (vgl. May 1990).
• Häufige diffuse Verwendung orthographischer Elemente ohne
Berücksichtigung struktureller Aspekte (z.B. *fherrckeuhffen für „Verkäuferin“, *varathschlohs für „Fahrradschloss“) bei gleichzeitig niedrigen Werten für „orthographisches“ und „morphematisches Schreiben“;
dies können Zeichen für eine grundlegende Konfusion in Bezug auf
das orthographische Regelsystem sein.42
• Eine Vielzahl von sog. Flüchtigkeitsfehlern, z.B. fehlende oder falsch
platzierte Oberzeichen; darin können sich eine mangelnde Sorgfalt
beim Schreiben (z.B. als Ausdruck einer geringen Wertschätzung des
Schreibprodukts infolge von Motivationsverlust) oder auch eine misslingende Aufmerksamkeitssteuerung (z.B. infolge von Überforderung)
ausdrücken.
Störungen der Lernentwicklung lassen sich mit Hilfe der Hamburger Schreibprobe
nicht direkt nachweisen, doch kann der Vergleich verschiedener Teilleistungen
wichtige Hinweise auf eventuelle Störungen und deren mögliche Ursachen geben.
Für die Gesamtleistung sowie die einzelnen Teilleistungen eines Kindes werden mit
Hilfe der Tabellen im Anhang der betreffenden Anleitungshefte Vergleichswerte
(Prozentränge und T-Werte) bestimmt und damit die Leistung des einzelnen Kindes zur Leistungsverteilung in der Vergleichsstichprobe in Beziehung gesetzt. Man
41 Siehe dazu Strehlow, U. et al. (1992), Esser
& Schmidt (1993), Klicpera & Klicpera-Gasteiner (1995), May (2001).
42 Bei der Interpretation „überflüssiger orthographischer Elemente“ ist allerdings Vorsicht
geboten, da es auch bei ungestörter Lernentwicklung häufig zu „Übergeneralisierungen“
von orthographischen Prinzipien kommt.
Dies gilt vor allem für den Übergang vom weitgehend alphabetischen zum orthographischmorphematischen Schreiben (siehe Abschnitt
1.5.2). Deshalb müssen überflüssige orthographische Elemente stets im Verhältnis zu den
anderen Strategiewerten betrachtet werden.
49
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
ermittelt also, ob die einzelnen Teilleistungen dem oberen, mittleren oder unteren
Leistungsbereich der Vergleichsgruppe zuzuordnen sind. Aus dem Vergleich der einzelnen Teilleistungen miteinander lassen sich Hinweise auf mögliche Auffälligkeiten
oder sogar Störungen gewinnen, die im Rahmen einer individuellen Förderung
gezielt bearbeitet werden können.
Aus dem Verhältnis der Werte für die verschiedenen Rechtschreibstrategien können
sich verschiedene Kombinationen ergeben, die sich in einem Strategieprofil darstellen lassen.
Beim fortschreitenden Schriftspracherwerb kommt es auf das Modifizieren und
Überformen des alphabetischen Schreibens durch die Verwendung orthographischer Elemente und die Fundierung der Schreibung in einer morphematischen
Durchgliederung der Wörter an. Deshalb wird bei der Interpretation von Strategieprofilen vor allem das Verhältnis des alphabetischen Schreibens einerseits zu den
weiterreichenden Strategien des orthographischen bzw. des morphematischen
Schreibens andererseits in den Blick genommen.
Die möglichen Kombinationen der wortbezogenen Rechtschreibstrategien lassen
sich zu drei Haupttypen zusammenfassen (siehe Kasten).
Wenn anhand der Vergleichswerte für die einzelnen Rechtschreibstrategien ein
„ausgeglichenes“ Strategieprofil ermittelt wird, bedeutet dies nicht, dass die Kinder
die orthographische und morphematische Strategie ebenso sicher beherrschen wie
die alphabetische Strategie. Die Tatsache, dass die Kinder in der Regel einen höheren Anteil der alphabetischen Wortstellen richtig schreiben (siehe Abbildung 1.5.4),
geht in die Vergleichswerte ein. Deshalb ist genauer von einem relativ ausgeglichenen Strategieverhältnis zu sprechen.
Beim Strategieprofil „alphabetische Dominanz“ herrscht das Verschriftlichen
anhand der eigenen Artikulation vor; dagegen werden orthographische und/oder
morphematische Regeln und Strukturen nicht genügend beachtet. Während eine
„alphabetische Dominanz“ des Schreibens zu Beginn des Schrifterwerbs zu erwarten
ist, können sich im weiteren Verlauf des Erwerbsprozesses ernsthafte Störungen des
Aneignungsprozesses ergeben, wenn ein Kind in dieser Strategie verharrt.
Bei Strategieprofilen mit „orthographisch-morphematischer Dominanz“ operiert
der Schreiber offenbar bereits vielfach mit orthographischen Elementen bzw. beachtet morphematische Aspekte, ohne dass das alphabetische Schreiben entsprechend
entwickelt ist bzw. kontrolliert wird. Dieser Profiltyp verweist fast immer auf eine
frühe Störung des Aneignungsprozesses, da das alphabetische Verschriftlichen die
elementare Form des Schreibens darstellt. Grundlegende Verstöße gegen alphabetische Prinzipien bei gleichzeitig durchschnittlichen bis guten orthographisch-morphematischen Leistungen können z.B. auf einen Sprachfehler oder eine andere
grundlegende Störung hinweisen, die bis dahin unentdeckt bzw. unbehandelt geblieben ist und die den weiteren Lernprozess beeinträchtigen kann.
50
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
(1) Ausgeglichenes Strategieverhältnis: Die Punktsumme für das alphabetische Schreiben ergibt annähernd denselben Vergleichswert (Prozentrang bzw. T-Wert) wie für das orthographische und morphematische Schreiben. Hier ist – bezogen auf den erreichten Stand des Rechtschreibkönnens – die Integration der verschiedenen Rechtschreibstrategien gelungen.
(2) Alphabetische Dominanz: Der Wert für das alphabetische Schreiben
ist deutlich höher als der Wert für orthographisches und/oder für morphematisches Schreiben. Innerhalb des Strategieprofils mit „alphabetischer Dominanz“ können sich folgende Konstellationen ergeben:
• ausgeprägt alphabetische Dominanz: Der Wert für die alphabetische Strategie ist deutlich höher als die Werte für die beiden
anderen Strategien.
• alphabetisch-orthographische Dominanz: Die Werte für alphabetisches und orthographisches Schreiben sind deutlich höher als
der Wert für morphematisches Schreiben.
• alphabetisch-morphematische Dominanz: Die Werte für alphabetisches und morphematisches Schreiben sind deutlich höher
als der Wert für orthographisches Schreiben.
(3) Orthographisch-morphematische Dominanz: Die Werte für orthographisches und/oder morphematisches Schreiben sind deutlich höher als
der Wert für alphabetisches Schreiben. Innerhalb dieses Profiltyps können sich folgende Konstellationen ergeben:
• orthographische Dominanz: Der Wert für orthographisches
Schreiben ist deutlich höher als die Werte für die beiden anderen
Strategien.
• orthographisch-morphematische Dominanz: Die Werte für das
orthographische und morphematische Schreiben sind deutlich
höher als der Wert für alphabetisches Schreiben.
• morphematische Dominanz: Der Wert für morphematisches
Schreiben ist deutlich höher als die Werte für die beiden anderen
Strategien.
51
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
HSP Manual 1-9
Mit Ausnahme der besten Schreiber, bei denen sich schon wegen der geringen Fehlerzahl die Strategiewerte kaum unterscheiden, sind die verschiedenen Strategieprofile auf allen Leistungsniveaus vorzufinden (siehe dazu Abschnitt 2.4).
Da die verschiedenen Strategiewerte miteinander korrelieren, ist zu erwarten, dass
bei den meisten Schülern die Werte für die einzelnen Strategien sowie der Gesamtpunktwert eine annähernd gleiche Höhe haben. Sollten sich bei einzelnen Schülern
deutliche Unterschiede zwischen den Prozenträngen für die verschiedenen Strategien zeigen, so ist dies stets als ein Hinweis auf eine individuelle Besonderheit zu
werten, der sorgfältig geprüft werden sollte.
Bei der Interpretation muss allerdings beachtet werden, dass sich Strategiewerte erst
dann statistisch voneinander unterscheiden, wenn die Differenz mindestens 10 TWerte beträgt.43 Die entsprechenden T-Werte finden Sie ebenfalls in den Vergleichstabellen der Anleitungshefte für die einzelnen HSP-Versionen. Dort finden Sie für
eine graphische Interpretation der Strategieprofile im Anhang eine Kopiervorlage,
in die Sie die einzelnen Strategiewerte des Schülers abtragen und so das Verhältnis
der einzelnen Strategien zueinander „sichtbar“ machen können.
1.5.7 Beispiele für die Interpretation
von Strategieprofilen44
LENA schreibt in der HSP 2 140 Grapheme von 148 möglichen richtig. Der
entsprechende Prozentrang beträgt 78,
d.h., Lena schreibt besser als drei Viertel aller Zweitklässler. Die nebenstehenden Werte für die einzelnen Rechtschreibstrategien weisen ebenfalls recht
gute Ergebnisse aus (Prozentränge zwischen 63 und 94, T-Werte zwischen 53
und 60).
Lena: HSP 2, Ende Klasse 2
Lupenstellen
PR
T-Wert
A
19
63
53
O
12
79
58
M
8
84
60
GT
140
78
58
Zwischen den Werten für die alphabetische, orthographische und morphematische
Strategie bestehen keine signifikanten Unterschiede, denn dazu müsste die Differenz zwischen ihnen mindestens 10 T-Werte betragen. Dieses ausgewogene Verhältnis der wortbezogenen Strategien belegt, dass Nina die Integration der einzelnen Rechtschreibstrategien bereits auf hohem Niveau gelingt. Sie kann beim Rechtschreiben der Wörter auf vielfältige und differenzierte Verfahren zurückgreifen und
diese angemessen aufeinander beziehen.
43 Zur Erläuterung dieser „kritischen Diffe-
renz“ siehe Abschnitt 3.4.1.
44 Zu ausführlichen Interpretationen von
Schreibungen und Strategieprofilen siehe die
Fallbeispiele in Kapitel 4.
52
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
TINA erzielt in der dritten Klasse mit 181
von 191 möglichen Graphemtreffern
eine durchschnittliche Gesamtleistung in
der HSP 3, die einem Prozentrang von 53
entspricht. Die differenzierte Auswertung ihrer Schreibungen nach den Werten für die einzelnen Rechtschreibstrategien ergibt folgendes Ergebnis:
Tina schreibt alle 20 alphabetischen Lupenstellen richtig. Der betreffende Strategiewert entspricht dem PR 77 und liegt
demnach im hohen Leistungsbereich.
Auf ihre Leistungen in der orthographischen und der morphematischen Rechtschreibstrategie (PR 29 bzw. 38, T-Werte
44 bzw. 47) trifft dies jedoch nicht im
gleichen Maße zu. Tinas Werte für die
orthographische und morphematische
Strategie liegen im unteren Durchschnittsbereich.
Tina: HSP 3, Ende Klasse 3
Lupenstellen
PR
T-Wert
A
20
77
57
O
11
29
44
M
7
38
47
GT
181
53
51
Tinas Strategieprofil
PR
T-Wert
99,4
99,2
98,9
98,6
98,2
97,7
97
96
95
95
93
92
90
89
86
84
82
79
76
73
69
66
62
58
54
50
46
42
38
35
31
27
24
21
18
16
14
12
10
8
7
6
4,5
3,6
2,9
2,3
1,8
1,4
1,1
0,8
0,6
75
74
73
72
71
70
69
68
67
66
65
64
63
62
61
60
59
58
57
56
55
54
53
52
51
50
49
48
47
46
45
44
43
42
41
40
39
38
37
36
35
34
33
32
31
30
29
28
27
26
25
Im Vergleich zum Wert für die alphabetische Strategie sind diese beiden TWerte um 10 und mehr Punkte niedriger. Damit weist das Verhältnis der
Rechtschreibstrategien auf eine alphabetische Dominanz hin. Die Verschriftlichung der eigenen Artikulation gelingt
Tina schon sehr gut, wohingegen sie
orthographische Elemente und morphematische Strukturen noch weniger
beachtet. Diese Unausgewogenheit der
Rechtschreibstrategien könnte ihre Ursache darin haben, dass Tina sich beim
Rechtschreiben vorwiegend auf den
A
O
M
Grundsatz „Schreibe, wie du sprichst“
stützt. Dagegen hat sie bisher vermutlich zu wenige Verfahren erprobt, um zu klären, wo orthographische Elemente zu markieren sind und wie Wörter in Bausteine
(Morpheme) zu gliedern sind. Tina sollte verstärkt angeregt werden, Wörter auf
sprachsystematische Prinzipien hin zu analysieren.
53
HSP Manual 1-9
MIRCO schreibt in der HSP 4/5, die zu
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Mirco: HSP 4/5, Anfang Klasse 5
(alle Schulformen)
Beginn des 5. Schuljahres im Rahmen
einer Lernausgangserhebung durchgeLupenführt wird, 262 von 277 Graphemen
stellen
PR
T-Wert
richtig. Seine Leistung entspricht nach
A
19
8
36
der Tabelle für alle Schularten einem
O
18
60
53
Prozentrang von 36. Dieses insgesamt
durchschnittliche Ergebnis ist bei Mirco
M
14
72
56
mittels der Strategiewerte zu differenWÜ
13
24
43
zieren, denn die Vergleichswerte für die
orthographische und morphematische
GT
262
36
47
Strategie liegen deutlich höher als derjenige für die alphabetische Strategie.
Während sein Ergebnis beim morphematischen Schreiben (PR 72) von nur 28 Prozent seiner Altersgruppe übertroffen wird, zeigen in diesem Alter nur 8 Prozent der
Schüler eine noch schwächere Leistung in der alphabetischen Strategie.
Mircos Stärke insbesondere beim morphematischen Durchgliedern der Wörter
und (etwas weniger ausgeprägt) beim Beachten orthographischer Regelungen steht
eine Schwäche bei der alphabetischen Verschriftlichung gegenüber. Die bei Mirco zu
beobachtende Diskrepanz zwischen den Rechtschreibstrategien ist in diesem hohen
Ausmaß relativ selten und deutet meist auf besondere Schwierigkeiten beim Rechtschreiblernen oder eine Störung bei der Aneignung hin.
Bei Mirco könnte die Ursache für die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Strategieleistungen darin liegen, dass er Deutsch als Zweitsprache erworben
hat. Er findet in seiner Artikulation noch nicht genügend sichere Anhaltspunkte
zum alphabetischen Erschließen und zur Kontrolle seiner Schreibungen. Ein anderer Grund für eine derartige Unausgewogenheit des Strategieprofils könnte eine
frühe Störung bei der Aneignung des alphabetischen Prinzips der Schriftsprache
sein. Es sollte beispielsweise überprüft werden, ob Hör- oder Sprachfehler vorliegen,
die sich auf die Artikulation auswirken könnten.
54
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
HANNES besucht eine Gesamtschule und erzielt in der sechsten Klasse 320 von 339
möglichen Graphemtreffern in der HSP 5-9 B, was nach der Vergleichstabelle für
sechste Klassen (Haupt-, Real- und Gesamtschulen) einem Prozentrang 49 und
damit einer durchschnittlichen Leistung entspricht. Um Hannes’ orthographisches
Können differenzierter zu analysieren, werden seine Werte für die einzelnen Rechtschreibstrategien in das Profilschema eingetragen.
Die Prozentränge für die alphabetische, orthographische und morphematische Strategie liegen ebenfalls im Durchschnittsbereich und
zwischen ihnen bestehen keine signifikanten
Unterschiede. Dieses ausgeglichene Verhältnis
der wortbezogenen Strategien besagt, dass
Hannes die Integration der einzelnen Rechtschreibstrategien auf dem erreichten Niveau
seines Könnens gut gelingt. Er kann beim
Rechtschreiben der Wörter offenbar auf genügend differenzierte Verfahren zurückgreifen
und diese angemessen aufeinander beziehen.
Hannes: HSP 5-9 B, Klasse 6,
(Haupt-, Real- und Gesamtschulen)
Lupenstellen
PR
T-Wert
A
28
44
49
O
21
57
52
M
17
56
51
WÜ
12
14
39
GT
320
46
49
Hannes’ Strategieprofil
PR
T-Wert
99,4
99,2
98,9
98,6
98,2
97,7
97
96
95
95
93
92
90
89
86
84
82
79
76
73
69
66
62
58
54
50
46
42
38
35
31
27
24
21
18
16
14
12
10
8
7
6
4,5
3,6
2,9
2,3
1,8
1,4
1,1
0,8
0,6
75
74
73
72
71
70
69
68
67
66
65
64
63
62
61
60
59
58
57
56
55
54
53
52
51
50
49
48
47
46
45
44
43
42
41
40
39
38
37
36
35
34
33
32
31
30
29
28
27
26
25
A
O
M
WÜ
Im Unterschied dazu trifft Hannes nur 12 der
20 Lupenstellen für die wortübergreifende
Strategie. Dieses Ergebnis entspricht einem
Prozentrang von 14, wird also von 86 Prozent
seiner Altersgenossen übertroffen. Die Differenz zwischen seinem T-Wert für die „wortübergreifende Strategie“ und seinen T-Werten
für die wortbezogenen Rechtschreibstrategien
übersteigt die kritische Differenz von 10,
wonach bei ihm eine Dominanz der wortbezogenen Strategien festzustellen ist.
Ein Grund könnte sein, dass Hannes sich auch
beim Schreiben von Sätzen noch vorwiegend
auf die Rechtschreibung der einzelnen Wörter
konzentriert, ohne die Einbettung der Schreibungen in den Satzzusammenhang genügend
zu beachten. Es könnte auch sein, dass er noch
nicht genügend Kenntnisse über satzabhängige
orthographische Regelungen hat.
55
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
1.6 Weitere Kennwerte der HSP
1.6.1 Überflüssige orthographische Elemente
Als „überflüssige orthographische Elemente“ bezeichnen wir Buchstaben und
Buchstabenkombinationen, die an anderer Stelle als orthographische Elemente korrekt verwendet werden und dort auch vorgeschrieben, an der betreffenden Stelle
jedoch fehlplatziert sind.
Dazu gehören in erster Linie überflüssige Längezeichen (z.B. *Vehrkehrsschield, *Tohrwart, *schiempft) und Kürzezeichen (*Winndmühlle,
*Fammillie, *Lehrerrin), die sowohl in „legaler“ Position (*schimmft,
*Verkäuhferrin) als auch in „illegaler“ Position (z.B. *Vehrkehrsschild,
*sietzt) vorkommen45, sowie die Verwendung seltener Grapheme anstelle der üblichen Grapheme für die Bezeichnung derselben Phoneme,
z.B. überflüssige v- oder ph-Schreibung (*Vahradschloss, *Phernsehprogram), y-Schreibung (*Windmyle, *Frystyck) oder ß-Schreibung (*Verkehrßschild).
Grundsätzlich nicht als „überflüssige orthographische Elemente“ sind
solche Buchstaben und Buchstabenverbindungen zu werten, die lediglich eine Hinzufügung alphabetisch zu schreibender Elemente darstellen. Beispiele dafür sind Lauthinzufügungen wie bei *Bankreuiber
oder *Compjuter sowie Wortveränderungen wie *Fernsehnprogramm,
*Briefeträger oder *Rolltschuhe, bei denen die Regeln für die Kompositumbildung nicht beachtet werden, oder sinnverändernde Wortergänzungen wie *Frühstückstisch und *Strumpfhosen.
Des Weiteren werden solche Schreibungen nicht in die Kategorie
„überflüssige orthographische Elemente“ aufgenommen, an denen ein
gefordertes orthographisches Element durch ein falsches ersetzt wird
(z.B. *Gihßkanne, *Giesskanne, *Leererin, *Faarradschloss, *Nüße).46
45 Die von Brinkmann & Brügelmann (1992,
S. 14) vorgeschlagene Unterscheidung zwischen
„illegalen“ Rechtschreibmustern, die eine „Verletzung ihrer konventionellen Anwendungsbedingungen“ darstellen, und „legalen“ Übergeneralisierungen wird in der Auswertung der
HSP nicht getroffen, da diese Gegenüberstellung sich in der Testanalyse als diagnostisch
wenig trennscharf erwiesen hat. Bei der Einzelanalyse kann diese Differenzierung dennoch
relevant sein.
46 Wenn derartige Schreibungen häufiger
vorkommen – beim einzelnen Kind oder in der
Klasse – , sollten diese aufmerksam registriert
und unterrichtlich aufgegriffen werden, da solche Schreibungen ebenfalls zeigen, dass der Umgang mit orthographischen Elementen noch
unsicher ist.
56
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Aus Gründen der Auswertungsobjektivität beziehen sich die in den Vergleichstabellen der HSP-Anleitungshefte angegebenen Vergleichswerte für „überflüssige orthographische Elemente“ ausschließlich auf Elemente der folgenden Kategorien:
• überflüssige Länge- und Kürzezeichen, einschließlich unzulässiger
Wortstellen für diese Elemente, und
• überflüssige v-Schreibung.
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Überflüssige orthographische Elemente sind meist Anzeichen für eine noch unsichere Anwendung der orthographischen Strategie bzw. deren unzureichende
Einbindung in morphematische Strukturen (siehe Kasten „h-Schreibung“). Beim
Übergang vom vorwiegend alphabetischen Schreiben zum orthographisch überformten Schreiben kommen solche überflüssig verwendeten orthographischen Elemente relativ häufig vor (siehe Abschnitt 1.5.2), weil die Lerner noch unsicher bei
der Anwendung orthographischer und morphematischer Prinzipien sind.
Dass solche Schreibungen in dieser Zeit keineswegs als Anzeichen für eine Lernstörung, sondern im Gegenteil meist als produktive Erprobungsversuche zu interpretieren sind, zeigt die Beobachtung schnell lernender Kinder, die „überflüssige orthographische Elemente“ schon im ersten Schuljahr schreiben, während langsamer lernende Schreiber erst später damit experimentieren.
Die Interpretation dieser Elemente muss daher stets unter Berücksichtigung des gesamten Lernstandes erfolgen. Im weiteren Verlauf der Lernentwicklung weist ein
hoher Wert für „überflüssige orthographische Elemente“ meist auf eine unsystematische und unzureichende Aneignung von orthographischen Prinzipien hin und signalisiert eine Störung des Lernprozesses. Dies v.a. dann, wenn die Werte für die
orthographische und morphematische Strategie gleichzeitig relativ niedrig ausfallen.
Die Interpretation der „überflüssigen orthographischen Elemente“ ist dann relativ
leicht, wenn die Genese der Schreibung (lern-) logisch nachvollziehbar erscheint.
Beispiele dafür sind:
• Bei den überflüssigen Längezeichen ist dem Kind die Schreibung des
Stammes nicht bekannt und es setzt für lang gesprochene Vokale ein
Längezeichen ein (*Tohrwart, *Famielie).
• Ein an anderer Stelle des zu schreibenden Wortes gefordertes orthographisches Element bewirkt eine Fehlerverlockung, so dass auch (oder
nur) dort ein solches Element geschrieben wird, wo es fehlplatziert ist
(*Fehrnsehprogramm, *Vehrkehrsschild).
• Das Kind hat eine zu einfache Vorstellung von der Regel über die Konsonantenverdopplung und schreibt an einer Stelle, an der ein weiterer
Konsonant im Wortstamm folgt, einen doppelten Konsonanten
(*Winndmühle, *schimmpft, *Bannkräuber).
57
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
• Die morphologische Struktur des Wortes wird vom Kind nicht erfasst,
oder/und es weiß noch nicht, dass Kürzezeichen (fast immer) nur im
Wortstamm geschrieben werden (*Verkäuferrin, *beckommt).
• Das Kind vermutet aufgrund der Buchstabenanordnung eine Analogie
zu einem bekannten Wortbaustein (*Vernsehprogramm, *Verkäuverin).
• Das Kind artikuliert das zu schreibende Wort anders – häufig aus dem
Bestreben heraus, besonders prägnant zu artikulieren –, sodass eigentlich kurze Vokale lang gesprochen und infolgedessen mit einem Längezeichen versehen werden (*schiempft, *Spienenetz, *Giskahne).
Schwieriger zu beurteilen sind Schreibweisen mit solchen Buchstabenfolgen, die wie
orthographische Elemente aussehen, aber ebenso auf Aufmerksamkeitsfehler (z.B.
in Form einer Handlungswiederholung, eine sog. Perseveration) zurückgeführt
werden könnten. Dazu gehören beispielsweise Konsonantenverdopplungen an
Wortstellen, an denen es nach den orthographischen Grundprinzipien keine Verdopplung geben darf (z.B. *Schmmetelin, *knnakt). Gerade am Beginn der Phase, in
der die Kinder auf orthographische Elemente aufmerksam werden und diese
schreibend erproben, kommt es häufiger vor, dass sie solche Elemente auch an
unzulässigen Stellen verwenden. Bei der Beurteilung, ob solche zusätzlichen Zeichen als „überflüssige orthographische Elemente“, als Fehler infolge mangelnder
Aufmerksamkeit und Kontrolle oder als diffus geschriebene Buchstaben zu werten
sind, sollte daher stets der individuelle Lernstand des einzelnen Kindes berücksichtigt werden.
Probleme bei der Beurteilung bereiten auch solche Buchstaben, die an dieser Stelle
infolge einer vermeintlichen Auslautverhärtung – also infolge einer wortstammbezogenen Operation – geschrieben worden sein können (z.B. *Torward,
*Quargkuchen), jedoch ebenso eine Verwechslung der Phonem-Graphem-Zuordnung bedeuten können. Im ersten Fall wären diese Schreibungen als eine falsche
Anwendung der morphematischen Strategie zu bewerten, im zweiten Fall dagegen
als Fehler beim alphabetischen Schreiben. Hier sollte man zur Beurteilung auch auf
andere Schreibungen des Kindes zurückgreifen, das Kind befragen, wie es auf die
konkrete Schreibung gekommen ist und es strukturell ähnliche Wörter schreiben
lassen.
58
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Zutreffende und überflüssige „h“-Schreibung 47
Der Anteil der Kinder, die in „Fernseher“ das „h“ an der richtigen Stelle bezeichnen, steigt von einem knappen Drittel gegen Mitte des zweiten Schuljahres auf 95 Prozent am Ende der Grundschule. Lässt man die Kinder allerdings
„Fernsehprogramm“ schreiben, sinkt der Anteil Ende der vierten Klasse auf 80
Prozent (siehe Tabelle). Ein Teil der Kinder gewinnt demnach die „h“-Schreibung nicht aus der Erkenntnis, dass Wortstämme im Prinzip stets gleich geschrieben werden („sehen“ → also auch „Fernseher“ und „Fernsehprogramm“),
sondern schreibt es nur dann, wenn es als silbentrennendes Zeichen „hörbar“
gemacht werden kann (sehen und Fernseher, aber *Fernseprogramm). Ist ein
direkter Zugriff auf die Artikulation nicht möglich, so erkennen diese Kinder
in /fernse:/ nicht das „sehen“ wieder. Ähnliche Beobachtungen kann man bei
Morphemkombinationen in flektierten Verben und Adjektiven machen (z.B.
knacken, aber *knakt oder *knagt; merken, aber *mergt). Diese Schreibungen
stehen für eine nicht genügend ausgebildete Morphembewusstheit.
Anders ist die Entwicklung beim Wortteil „fern“: Gegen Mitte des zweiten Schuljahres beträgt der Anteil jener Kinder, die fälschlicherweise ein „h“ im Wortteil
„fern“ schreiben (Fehrnseher o.ä.), nur 6 Prozent. Aber dieser Anteil steigt auf
33 Prozent in der Mitte des vierten Schuljahres (in „Fernsehprogramm“ 35 Prozent), um dann in der Sekundarstufe allmählich zurückzugehen.
„Fernseher“
„Fernsehprogramm“
Kl. 2
Mitte
Kl. 2
Ende
Kl. 3
Mitte
Kl. 3
Ende
Kl. 4
Mitte
Kl. 4
Ende
Kl. 4
Ende
Kl.5
Kl. 7
Kl. 9
Fernseh... ohne „h“
64
44
31
22
9
5
20
12
6
1
Fernseh... mit „h“
6
13
17
26
33
30
35
34
19
13
Warum ist der Wortteil „fern“ so schwierig, der als Einzelwort wenig Schwierigkeiten bereiten dürfte? Die Schüler, die *Fehrnseher schreiben, haben eine
noch diffuse Vorstellung, wo das „h“ stehen muss, weil sie in dem komplexen
Wort „Fernsehprogramm“ nicht die Grundform von „sehen“ rekonstruieren,
aber durch häufiges Lesen von Wortverbindungen mit „Fernseh..“ um die
Existenz des „h“ wissen. In dieser unsicheren Entscheidungssituation wird das
Teilwort „Fern“ nicht als konstantes Morphem (also als feste Einheit, als Superzeichen) in die Analyse einbezogen, sondern ebenfalls für die Positionierung des „h“ disponiert. Wenn die Schüler dann das zu bezeichnende „h“
schon in Fehrn“ platziert haben, ist es bei vielen Schreibern gedanklich sozusagen erledigt und wird dann nicht mehr an der vorgeschriebenen Stelle aufgegriffen: Das Ergebnis ist eine Variante von *Fehrnseprogramm.
47 Aus: May (1993). Die Daten für dieses Bei-
spiel entstammen dem Projekt „Herausbildung
von orthographischer und textualer Kompe-
tenz“, das mit Schülern der Klassenstufen 1 bis
9 aus Hamburg und anderen Städten durchgeführt wurde.
59
HSP Manual 1-9
DIE KONZEPTION DER HAMBURGER SCHREIBPROBE
Eine didaktische Konsequenz aus diesen Beobachtungen wäre, die Schüler
zunächst solche Wörter schreiben zu lassen, in denen die eigenständigen
Bedeutungseinheiten transparenter erscheinen (im Falle von „fern“ z.B. Wörter wie „Ferne“, „Fernglas“, „Fernsehturm“), schreiben zu lassen. Mit der
Bewusstheit für semantische Einheiten werden sie das Morphem „fern“ dann
auch in „Fernsehprogramm“ suchen, wo das „in die Ferne sehen“ wegen der
Vertrautheit mit dem Gesamtwort nicht so leicht in das Blickfeld gerückt werden kann.
Ähnliche Beobachtungen kann man bei der Schreibung von „Verkehrsschild“
machen, wo die Variante *Vehr ... etwa dreimal häufiger vorkommt als beim
Wort „Verkäuferin“, in der die „eh“-Schreibung nicht durch nachfolgende
Wortstellen provoziert wird.
Erst wenn die Konstantschreibung von Morphemen als tragendes Prinzip
der Orthographie vertraut ist, wird das Schreiben solcher Präfixe wie „ver“,
„ge“ usw. nicht mehr durch nachfolgende Längezeichen beeinträchtigt. Nach
dem Kennenlernen der gängigen orthographischen Regelungen besteht demnach ein wesentlicher Lernschritt darin, die orthographischen Elemente in
bedeutungstragende Einheiten, d.h. der Stamm-Morpheme, einzubetten sowie
generell Wörter morphematisch zu durchgliedern.
1.6.2 Fehler bei Oberzeichen
Das Setzen von Oberzeichen (i-Punkte, t-Striche, Umlautzeichen) ist für die meisten
Kinder schon ab dem zweiten Schuljahr kein Problem mehr. Treten hier weiterhin
Fehler auf, so hat dies im Allgemeinen wenig mit der orthographischen Kompetenz
im engeren Sinne zu tun.48
Fehlende und falsch platzierte Oberzeichen sowie Satzpunkte deuten eher auf ein
„Performanz“-Problem hin: Die Kinder beachten eine ihnen eigentlich vertraute
Regel nicht und verzichten auf eine Kontrolle ihrer Schreibung.
Hohe Werte für Oberzeichenfehler zeigen meist eine zu geringe Sorgfalt beim Schreiben oder eine mangelnde Aufmerksamkeitskontrolle an. Als Ursachen sind sowohl
ungenügende Motivation und Werthaltung (z.B. weil dem Schreiber das Produkt
gleichgültig ist) als auch Störungen der kognitiven Prozesse (z.B. weil das Beachten
der orthographischen Prinzipien bereits alle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat) in Betracht zu ziehen.
48 Nach unseren Untersuchungen korrelieren
Fehler bei Oberzeichen nur relativ gering mit
der Rechtschreibleistung. Sie kommen aber
häufiger bei schwächeren Rechtschreibern vor
und Jungen machen hier durchschnittlich deutlich mehr Fehler als Mädchen (vgl. May 1994a).

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